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Seit Ein Sportstück (1998) beziehen sich Elfriede Jelineks Theatertexte mit unnachahmlicher Konsequenz auf die griechische Tragödie. Vor dem Hintergrund von Rechtspopulismus, MeToo und Klimakrise durchkreuzt die Autorin den Blick von Aischylos, Sophokles und Euripides und que(e)rt dadurch Kategorisierungen im Hinblick auf Gender, Klasse und Ethnizität. Silke Felber beschreibt Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung erstmals an der Schnittstelle von Theater-, Literatur- und Kulturwissenschaft. In Form einer materialreichen Studie bringt dieses Grundlagenwerk Gesten der Klage und der Wut zum Vorschein, die bis in die Antike und gleichzeitig in eine ungewisse Zukunft weisen.
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Seitenzahl: 592
Silke Felber (PD Dr.) forscht und lehrt im Spannungsfeld von Theater-, Literatur- und Kulturwissenschaft. Sie ist Preisträgerin der renommierten Awards »Hertha Firnberg« und »Elise Richter« des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF.
Seit Ein Sportstück (1998) beziehen sich Elfriede Jelineks Theatertexte mit unnachahmlicher Konsequenz auf die griechische Tragödie. Vor dem Hintergrund von Rechtspopulismus, MeToo und Klimakrise durchkreuzen die Texte den Blick von Aischylos, Sophokles und Euripides und que(e)ren dadurch Kategorisierungen im Hinblick auf Gender, Klasse und Ethnizität. Silke Felber beschreibt Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung erstmals an der Schnittstelle von Theater-, Literatur- und Kulturwissenschaft. In der materialreichen Studie kommen Gesten der Klage und der Wut zum Vorschein, die bis in die Antike und gleichzeitig in eine ungewisse Zukunft weisen.
Silke Felber
Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund (FWF): PUB960-G und Unterstützung aus den Mitteln der Open-Access-Förderung der mdw - Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
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Erschienen 2023 bei mdwPress, Wien und Bielefeld© Silke Felber
Umschlaggestaltung: Bueronardin
Umschlagabbildung: Elfriede Jelinek: Wut. Regie: Hermann Schmidt-Rahmer. Theater Freiburg 2019. Foto: Thilo Reuter.
Lektorat und Korrektorat: Michaela Maywald
Print-ISBN: 978-3-8376-6702-8
PDF-ISBN: 978-3-8394-6702-2
EPUB-ISBN: 978-3-7328-6702-8
Cover
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Einleitend
1 Routen, Wegmarken, Aussichten
1.1 Reisende Gesten?
1.1.1 Die Geste als Travelling Concept
1.1.2 Es ist Sprechen und aus
1.1.3 Zitierend unterbrechen. Gesten mit Walter Benjamin denken
1.2 Dramaturgien des (Dis‑)Kontinuitiven
1.2.1 Vom epischen Theater Brechts zum gestischen Theater Jelineks
1.2.2 Cut and Paste – Bausteine einer widerständigen Praxis
1.2.3 Jelineks Tragödienfortschreibungen – ein (Forschungs‑)Abriss
1.2.4 Umbruch und Auftritt: Zwischen Mythos und Tragödie
2 Antigone post Fukushima
Kontaminierte (Sprech‑)Flächen
2.1 Antigone auf der Spur
2.2 Doing Mourning Doing Difference
2.3 Das Nachleben der Klage
2.4 (P‑)Reenactments des Unsagbaren
3 Gesten im Dazwischen
Von der Unmöglichkeit des Wir
3.1 In Between
3.2 Eigenartig andersartig
3.3 Who’s who? Zur Performativität von Zugehörigkeit
3.4 Gesten alterisierender Nostrifizierung
3.5 Schiffbruch mit Zuschauer*in
4 Die Bakchen im Skizirkus
Posttraumatische (Text‑)Körper
4.1 Schnee Weiß
4.2 Vermittelnde Instanzen. Wer spricht?
4.3 Zwischen Satyrn und Satire. Eine Spurensuche
4.4 In den schneeweißen Alpen. Interreferenzielle Schichtungen
4.5 Wehe, sie spuren nicht! Verfahren der Gewalteinschreibung
4.6 Posttraumatische Dramaturgien
4.7 Ästhetiken des Dissoziativen
5 Vibrant Matter
Von tobenden Waffen, klagenden Geigen und vielsagenden Textilien
5.1 Wenn Affekte auftreten
5.2 Thing‐Power
5.3 Kleider. Machen. Leute.
6 Zu einer Ästhetik des Paratragischen
6.1 Tragödie versus Komödie: Divergenzen und Annäherungen
6.1.1 Figurenpersonal, Dramaturgie und Sprache
6.1.2 Maske und Kostüm
6.1.3 Metatheatralität und Aufführungskontext
6.1.4 Chor
6.2 Aristophanes und Jelinek. Verfahren des Paratragischen
6.2.1 (Tages‑)Politische Allusionen und ad‑personam‐Attacken
6.2.2 Chorisches Sprechen zwischen tragoidia und comoidia
6.2.3 Sprachliche Verfahren des Paratragischen
6.2.4 Autoreferenzialität und Metatheatralität
6.2.5 Groteske Körperlichkeit
6.3 Wahnsinnig komisch? Parakomische Momente bei Euripides und Jelinek
7 Abschließend
8 Verzeichnisse
8.1 Siglenverzeichnis
8.2 Literaturverzeichnis
8.3 Abbildungsverzeichnis
Über mdwPress
Streift man heute durch die Ruinen des Dionysostheaters am Südhügel der Athener Akropolis, so ist man geneigt zu vergessen, welch unglaubliche Imposanz einst von dem für 17.000 Theaterzusehende konzipierten Gebäude ausgegangen ist. Im Vergleich zu diesem kolossalen Gebilde musste der dazugehörige Dionysostempel skandalös unscheinbar angemutet haben. Die heute nicht mehr erhaltene kleine Steinkonstruktion befand sich direkt hinter der skené, dem ursprünglich hölzernen Bühnengebäude – also sprichwörtlich im Schatten des gigantischen Theaters. Was dieses winzige Heiligtum dennoch so besonders machte, waren die dort zu Ehren des Theatergottes Dionysos aufgehängten mormolukeia: Theatermasken, die in siegreich aus den agonalen Festspielen hervorgegangenen Produktionen mitgespielt hatten und die danach an deren Sponsoren, die einflussreichen choregoi, erinnerten. Gleichzeitig stimmten diese Masken die Theaterbesucher auf künftige Aufführungen der Großen Dionysien ein. Sie ergänzten den auf der anderen Straßenseite, im Odeion, stattfindenden proagon, d.h. die Zeremonie, im Rahmen derer die antretenden Dichter gemeinsam mit den Schauspielern dem potenziellen Publikum ihr dramatisches Programm vorstellten. Die zurück in die Vergangenheit und gleichzeitig vorwärts in die unmittelbare (Theater‑)Zukunft weisenden mormolukeia des Dionysostempels waren über eine niedrige Mauer für alle Passant*innen sichtbar – auch für die vielen, die nicht an den Theateraufführungen teilnehmen durften, nämlich Versklavte, Metöken und Frauen1. Als materialisierte Huldigungen an das Theater markierten sie einen Anhaltspunkt für Einheimische und Reisende.
Tatsächlich stellte der Dionysostempel mit seinen so prominent figurierenden Theatermasken den Verkehrsknotenpunkt Athens dar. Hier kreuzten sich drei der wichtigsten Transit‐ und Tourismusrouten des antiken Griechenlands. Am Dionysostempel überschnitten sich die Wege unzähliger Menschen und deren Gedanken, Befürchtungen und Hoffnungen. Er fungierte als Wegmarke und Referenzpunkt zu einer Zeit, die sich im massiven Umbruch befand. Manifest wurde dieser Umbruch in den Tragödien und Komödien, die im dahinter gelegenen Dionysostheater gezeigt wurden – freilich wie gesagt für einen restriktiveren Kreis als für jenes Publikum, das sich auf den Straßen davor traf. Die Texte des Aischylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes, die aus den Dionysischen Wettspielen so erfolgreich hervorgingen und die uns heute nach wie vor begeistern und verstören, waren Orientierungshilfen in einer Welt, die an der Schwelle zu einer neuen politischen Ordnung stand. Damals galt es, die aufkommende Idee der Demokratie auszutesten, das Verhältnis von Religion und Staat neu zu beleuchten und ethisch‐moralische Dilemmata durchzudeklinieren. All die hitzigen Debatten darum, all die abfälligen Kommentare und leidenschaftlichen Plädoyers, die Aischylos und Co dazu inspirierten, diese Fragen vor der Folie der alten Mythen zu verhandeln – all dies hat sich auch in die Straßen rund um die Akropolis und die dazugehörige Architektur eingeschrieben.
Abbildung 1: Dionysostheater Athen 2017. Foto: Silke Felber.
Eine der drei Reiserouten, die sich am Dionysostempel kreuzten, ist die noch heute in Athen vorzufindende Tripodenstraße. Ihren Namen gaben ihr die zahlreichen Dreifüße, die die einst an die sechs Meter breite Straße säumten. Diese Dreifüße wurden zu Ehren von choregoi aufgestellt, die als Gewinner aus den Dithyramben, also den Chorwettstreiten, hervorgegangen waren. Heute ist von der ehemaligen Pracht dieses Boulevards nicht mehr viel zu erahnen. Erhalten ist allein jenes Denkmal, das in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts im Auftrag des Choregen Lysikrates erbaut wurde und das an dessen Sieg im Zuge der Dionysischen Festspiele im Jahr 335/334 v. Chr. erinnert. Es besteht aus einem Sockel, auf dem sich ein sechssäuliger Tempel erhebt.
»Ja, ein paar attische saeulen stehen noch, auch ich, wenn auch etwas schief.«2 So kommentierte Elfriede Jelinek im Jahr 2016 via E‑Mail mein Vorhaben, mich intensiv mit den Überresten der attischen Tragödie innerhalb ihrer Theatertexte auseinanderzusetzen. Ich arbeitete damals als Postdoc an der Forschungsplattform Elfriede Jelinek der Universität Wien und begann, mich brennend für Jelineks Bezüge auf die Ästhetik des griechischen Theaters zu interessieren, die von der Forschung bis dato auffallend wenig beachtet worden waren. Diese Neugier formte die Basis für meine Habilitationsschrift, die von folgender These ausgeht: Jelineks Referenzen auf die griechisch‐antike Tragödie gehorchen einem spezifischen Modus der Unterbrechung, der mit Walter Benjamin als gestisch bezeichnet werden kann. Im intermittierenden Rekurs auf die Tragödie erteilt Jelinek dem teleologischen Denken von Geschichte und dramatischer Handlung eine klare Absage und stört gleichzeitig binär angelegte Konzeptionen wie damals/heute und belebt/unbelebt. Im Fortschreiben der Tragödie, so meine Annahme, durchkreuzt die Autorin den männlichen Blick der alten Dichter und que(e)rt dabei nach wie vor wirksam werdende Kategorisierungen und Zuschreibungen im Hinblick auf Gender, Klasse und Ethnizität.
Das Verfahren des Durchkreuzens ist aber nicht nur Untersuchungsgegenstand dieses Buchs. Es beschreibt auch den dafür gewählten methodischen Zugang, der sich an der Schnittstelle von Theater‐ und Literaturwissenschaft situiert. Indem ich Elfriede Jelineks Arbeiten und den antiken Tragödien aus einer transdisziplinären Perspektive begegne, adressiere ich einerseits die in der Jelinek‐Forschung vorherrschende Tendenz, die Theatertexte Jelineks entweder aus einem genuin literaturwissenschaftlichen Blickwinkel oder mit einem ausschließlich theaterwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse zu lesen. Andererseits intendiere ich dadurch, den in der Forschung zum antiken Theater als symptomatisch geltenden Gap zwischen Philologie, Archäologie und Theaterwissenschaft zu überwinden. David Wiles’ 2008 erhobener Befund, wonach die Auseinandersetzungen mit der antiken Tragödie und Komödie in einem akademischen Umfeld stattfinde, »that permits insufficient dialogue between literary study, archaeology, and theatre studies,«3 ist nach wie vor gültig. Dementsprechend besteht der Analysekorpus meiner Arbeit sowohl aus Theatertexten als auch aus materiellen Artefakten wie antiken Vasen, Steintafeln und Pinakes sowie aus Inszenierungsdokumenten.
Der erste Abschnitt dieses Buchs – Routen, Wegmarken, Aussichten – skizziert Jelineks Theater der (Tragödien‑)Durchquerung in dessen fundamentaler Bedeutung und stellt die methodischen und theoretischen Grundlagen meiner Untersuchung vor. Die darauffolgenden Kapitel können unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.
Antigone post Fukushima befasst sich mit dem Theatertext Kein Licht. Epilog? (2012), den Jelinek ein Jahr nach der Natur‐ und Nuklearkatastrophe in Fukushima (Japan) verfasst hat und in dem sie sich auf Sophokles’Antigone bezieht. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die Geste der Klage, die – wie ich anhand von Sepulkralkeramiken demonstrieren werde – im antiken Griechenland hauptsächlich von als Frauen gelesenen Personen performt wurde und die eine durch und durch widerständige Kulturtechnik darstellte. Das subversive Potenzial, das von ihr ausging, war der ausschlaggebende Grund dafür, dass die damit in Zusammenhang stehenden Praktiken ausgerechnet im Zuge der Demokratisierungsbestrebungen des Solon radikal eingeschränkt wurden. Ausgehend von diesen Beobachtungen fragt das Kapitel danach, welche Rolle die politisch so relevante Kulturtechnik der (Toten‑)Klage in der sophokleischen Antigone spielt und wie sie sich als Geste der Anklage in Jelineks Fukushima‐Epilog ein‐ bzw. fortschreibt.
Der Abschnitt Gesten im Dazwischen beleuchtet einen der meistrezipierten Theatertexte Elfriede Jelineks, nämlich Die Schutzbefohlenen (2013–2016). Der Theatertext dockt an die Hiketiden des Aischylos an, d.h. an eine Tragödie, in der ein Chor asylsuchender Frauen das Demokratieverständnis der Athener herausfordert. Das sogenannte Andere, so werde ich zeigen, fungiert in Aischylos’ Hiketiden als Kalibrierungsorgan zur Auslotung der eigenen politischen Ordnung. Basierend auf dieser Annahme widmet sich das Kapitel dem zweifelhaften Wir, das Jelinek im Fortschreiben des chorischen Sprechens der Hiketiden in Szene setzt und das – ähnlich wie in der antiken Tragödie – die elementaren Fragen und Probleme der demokratischen Ordnung aufwirft, um die der Text kontinuierlich kreist. Von Interesse ist dabei einerseits, inwiefern Jelineks texttheatrales Verfahren die Machtbeziehungen offenlegt, durch die politische Teilhabe inszeniert wird. Andererseits wird untersucht, wie Regisseur*innen mit der Performativität von Zugehörigkeit, die Jelineks Text auf den Plan ruft, umgehen.
Im Unterschied zu dem viel besprochenen und zahlreich aufgeführten Text Die Schutzbefohlenen ist Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier) (2018) bislang kaum rezipiert worden. Als Antwort auf dieses Desiderat verschreibt sich das Kapitel Die Bakchen im Skizirkus einer eingehenden Analyse dieses jüngeren Textes, der sich auf die jahrelang vertuschten und verleugneten Missbrauchsfälle innerhalb des Österreichischen Skiverbands (ÖSV) bezieht. Im Fokus der Untersuchung steht die spezifische Dramaturgie, die Jelinek im Rückgriff auf Bauelemente der antiken Tragödie (v.a. auf den Botenbericht) entwickelt, um das Spannungsfeld von Macht, Geschlecht und nationaler Identitätskonstruktion zu dekonstruieren. Die Spuren der Gewalt, die der Theatertext im Verstricken von Euripides’ Bakchen, Sophokles’Die Satyrn als Spürhunde und NietzschesGenealogie der Moral zutage befördert, weisen rückwärts in die Vergangenheit und lassen Ansätze einer posttraumatischen Ästhetik bereits in der griechischen Tragödie sichtbar werden.
Das Kapitel Vibrant Matter widmet sich dem merkwürdigen Eigenleben, über das Objekte innerhalb der antiken Tragödie verfügen. Gegenstände wie die Waffen des Herakles oder die Robe der Medea verweisen auf eine spezifische Agency, die von Jelinek reanimiert wird. Tatsächlich treten »Dinge« in den Theatertexten der Autorin oftmals als eigenständige Akteur*innen auf und entfalten im dynamisch‐affektiv aufgeladenen Austausch mit anderen humanen oder nichtmenschlichen Akteur*innen ihre Energie. Das palimpsestartige Verfahren, das Jelinek dabei anwendet und dem das Kapitel in Form von Close Readings nachspürt, macht die Welt als komplexes Geflecht von organischen und anorganischen Entitäten erfahrbar, die sich unvorhersehbar zusammenschließen und dadurch bestimmte – bei Jelinek freilich vornehmlich desaströs anmutende – Affekte und Effekte erzeugen. Diesbezüglich untersucht werden die Herakles‐Fortschreibung Wut (2016), die sich mit den Pariser Anschlägen von 2015 befasst, der Theatertext Kein Licht. (2011), der sich auf Sophokles’Die Satyrn als Spürhunde bezieht, und Das Licht im Kasten (2017) – ein Theatertext, der im Rekurs auf Euripides’ Bakchen die katastrophalen Bedingungen beleuchtet, unter denen Mode in Billiglohnländern produziert wird.
Wenngleich sich Jelineks Theatertexte durch einen intensiven Bezug auf Aischylos, Sophokles und Euripides auszeichnen, so sind es dennoch keine Tragödien, die die Autorin im Fortschreiben dieser antiken Dichter produziert. Ihre Texte changieren vielmehr zwischen dem Tragischen und dem Komischen; sie evozieren Pathos, brechen dieses aber sogleich wieder. Paradoxerweise verweist Jelineks Theaterästhetik gerade durch ihren intensiven Bezug zum Tragischen auf die komische Tradition der Alten Komödie: Auch Dichter wie Aristophanes hegten eine große Vorliebe dafür, bestimmte Tragödien aufzugreifen, diese zu überschreiben und die Verfasser dieser Tragödien explizit zu adressieren bzw. zu persiflieren. Ausgehend davon schlägt das abschließende Kapitel vor, Jelineks Theater der (Tragödien‑)Durchquerung als Ästhetik des Paratragischen zu lesen.
Vorarbeiten zu dieser Arbeit entstanden im Rahmen meines Forschungsprojekts Dramaturgies of the (Dis‑)Continuative, das ich von 2016 bis 2019 an der Universität Wien und an der Ghent University (S:PAM Studies in Performance Arts & Media) leitete. Das Projekt wurde vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF im Rahmen des Postdoc‐Programms Hertha Firnberg finanziert. Wichtige Impulse lieferte die interdisziplinäre Tagung Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart, die ich gemeinsam mit meiner Mitarbeiterin Wera Hippesroither konzipiert und im November 2017 im Künstlerhaus Wien und am Institut für Theater‑, Film‐ und Medienwissenschaft der Universität Wien veranstaltet habe. Eine intensive Arbeit an der Habilitationsschrift ermöglichte mir meine Elise‐Richter‐Stelle des FWF und ein Visiting Research Fellowship an der Faculty of Classics der University of Oxford, zu dem mich Fiona Macintosh im Frühjahr 2020 eingeladen hatte.
Es gibt viele Menschen, die dieses Buch dabei unterstützt haben, Gestalt anzunehmen. Allen voran erwähnt sei Hilde Haider. Nachdrücklich hervorheben möchte ich zudem Evelyn Annuß, Inge Arteel, Estelle Baudou, Max Bergmann, Ernst Marianne Binder (†), Thomas Binder‐Reisinger, Stefan Büttner, Anke Charton, Adam Czirak, Darija Davidovic, Uta Degner, Theresa Eisele, Helen Farnik, Freda Fiala, Laura Gianvittorio, Senad Halilbašić, Ulrike Haß, Wera Hippesroither, Hanna Huber, Stefan Hulfeld, Pia Janke, Katharina Koch, Doris Kolesch, Fiona Macintosh, Annemarie Matzke, Monika Meister, Bettine Menke, Katharina Pewny, Gabriele C. Pfeiffer, Julia Prager, Nancy Rabinowitz, Freddie Rokem, Irina Rosen, Lena Sharma, Oliver Taplin, Eva Waibel und Johanna Zorn. Besonders inspirierend wirkten die beiden Summer Schools des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz (IFK) unter der Leitung von Thomas Macho in Maria Taferl (2016) und Linz (2019) sowie die daraus hervorgegangene Schreibgemeinschaft mit der Zeithistorikerin Elisa Heinrich. Herzlich bedanke ich mich bei Teresa Kovacs für eine langjährige Denkkomplizinnenschaft. Und nicht zuletzt erwähnen möchte ich Mascha, die den Entstehungsprozess dieses Buches mit herausfordernden Fragen und überraschenden Beobachtungen begleitet und im Endspurt immer wieder für einen reichhaltig gefüllten Kühlschrank gesorgt hat. Danke!
1 Ob Frauen gänzlich von den Spielen ausgeschlossen waren oder zumindest als Korbträgerinnen bzw. auf den hintersten Rängen partizipieren durften, ist in der Forschung nach wie vor umstritten.
2 Elfriede Jelinek an Silke Felber, E‑Mail vom 30.8.2016.
3 Wiles, David: »The Poetics of the Mask in Old Comedy.« In: Revermann, Martin/Wilson, Peter (Hg.): Performance, Iconography, Reception: Studies in Honour of Oliver Taplin. Oxford: Oxford University Press 2008, S. 374–392, hier S. 379.
Au‑dessus des capitalesDes idées fatalesRegarde l’océanVoyage, voyageDominique Albert Dubois, Jean‐Michel Rivat
Am Abend des 17. Mai 2019 veröffentlichten die Süddeutsche Zeitung und Der Spiegel eine Videoaufnahme, die dazu beitragen sollte, einen der größten politischen Skandale Österreichs aufzudecken. Kernmoment des kolportierten Materials ist eine Szene, die einen Mann in eindrücklicher Pose zeigt. Er streckt seinen rechten Arm und die dazugehörigen Zeige‐ und Mittelfinger nach vorne aus und umschließt diesen Arm auf Höhe des Handgelenks mit der linken Hand. Die Geste ist auch ohne die beigefügte Untertitelung (»Gudenus: Glock, Glock.«) kinderleicht zu entschlüsseln: Hier mimt jemand einen Schützen mit Handfeuerwaffe. Innerhalb kürzester Zeit avancierte die Abbildung dieser Szene zur Chiffre der sogenannten Ibiza‐Affäre. Das Foto zeigt den damaligen Nationalratsabgeordneten und geschäftsführenden Parteiobmann der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) Johann Gudenus gemeinsam mit dem damaligen Vizekanzler und Bundesparteiobmann der FPÖ Heinz‐Christian Strache bei einem heimlich gefilmten Gespräch mit einer angeblichen Oligarchen‐Nichte in einer angemieteten Villa auf der spanischen Insel Ibiza. Aus der aufgezeichneten Unterhaltung geht die Bereitschaft der beiden Politiker zu korrupten Machenschaften, zur Übernahme parteiunabhängiger Medien und zur Umgehung von Gesetzen hinsichtlich der Parteienfinanzierung hervor. Die Veröffentlichung der Aufnahmen führte umgehend zum Rücktritt von Strache und Gudenus und in weiterer Folge zur Aufkündigung der Koalition durch den damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
Jelineks Antwort auf »Ibizagate« kam prompt. Noch im selben Jahr verfasste die Autorin den Theatertext Schwarzwasser, der den potenziellen Machtrausch von Politikern einer schonungslosen, messerscharfen Analyse unterzieht und dabei die Orgien der Bakchen, denen Euripides seine gleichnamige Tragödie gewidmet hat, als Folie heranzieht. Das Schlüsselmoment des Ibiza‐Videos setzt der Theatertext in Form einer Anrede (des Publikums?) in Szene:
Sie haben mich doch vorhin noch im Fernsehn gesehn, also kann ich nicht gleichzeitig dort gewesen sein!, denken Sie nach! Es kann sowieso nicht stimmen, das kann nicht ich gewesen sein, meine Tochter hat gar keinen Sohn, ich weiß ja nicht, wer das war, der mich schuf, doch ich weiß, daß ich diese Bilder schuf, die ich mir vom Menschen gemacht habe, der Mensch hat sie hoch übertroffen mit seinem Schattenspiel, er spielt Pistole und Schießen, er spielt Schuß und Schütze, wozu sonst die Waffe, welche er auch noch spielt? Als Schatten hält man ihn ja noch aus, den mimisch versierten Mann, sprechen kann er nicht, aber spielen!1
Abbildung 2: v.l.n.r.: Johann Gudenus, Heinz‐Christian Strache, unbekannt. Foto: Harald Schneider/APA/picturedesk.com.
Der, der nicht sprechen, sehr wohl aber spielen kann, über‐setzt den mittlerweile weltweit als Gattungsbezeichnung für Handfeuerwaffen jeder Art fungierenden Namen des österreichischen Waffenherstellers Glock in Bewegung. Protagonistin dieser Szene aber ist die Geste selbst. Sie fungiert – und zwar analog zu dem von Jelinek verfremdend zitierten Versuch Gudenus’, seine eigenen mangelnden Russisch‐Kenntnisse be‑deutend zu kompensieren – als Platzhalterin für etwas, das verbal nicht ausgedrückt werden kann. Diese Geste zeigt Präsenz an, ist gleichzeitig aber auch Repräsentation. Innerhalb dieser Differenz bringt sie all das zum Vorschein, was sie auf paradoxe Weise genauso verdeckt: den milliardenschweren Konzern, der sich hinter dem österreichischen Unternehmer Gaston Glock verbirgt, dessen Verstrickungen zu rechtspopulistischen Politikern wie Jörg Haider, die strukturelle Gewalt innerhalb der US‑amerikanischen Polizei, die seit den 1980er‐Jahren mit Pistolen der Marke Glock ausgestattet wird, die gezielte Platzierung der »Glock« innerhalb von Hollywood‐Filmen, ihren Einfluss auf die Populärkultur, v.a. im Hinblick auf Gangsta‐Rap und Hip‐Hop, und nicht zuletzt das problematische Männlichkeitsbild, das in diesem Kontext perpetuiert wird.
Gesten reisen. Sie bewegen sich zwischen unterschiedlichen Räumen und Zeiten, verändern ihre Bedeutung oder werden gar obsolet. An ihnen haften Spuren des Damals ebenso wie Relikte des Zukünftigen. In ihnen zeigt sich die Vergangenheit und spiegelt sich die »Theater‐Erfahrung der Wiederholung als Theater,«2 wie es Günther Heeg ausdrückt. Gesten vagabundieren im Terrain des Sowohl‐als‐auch, in der unsicheren Zone zwischen Intention und Zufall, zwischen Affekt und Effekt; sie bewegen sich mitunter im Niemandsland, das sich inmitten der Ambivalenzen von Tragischem und Komischem auftut. Gesten changieren zwischen Sprache und (Körper‑)Bewegung, aber auch zwischen unterschiedlichen Diskursen und (akademischen) Disziplinen. Sie beschäftigen die Altphilologie,3 die Psycholinguistik und die Soziologie4 ebenso wie die Kunst‑, Musik‑, Theater‑, Film‐ und Medienwissenschaften.5 Freilich variiert dabei das Einverständnis darüber, was eine Geste tatsächlich ausmacht, und verändert sich von turn zu turn. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er‐Jahre werden Gesten in der hauptsächlich (sozial‑)psychologisch ausgerichteten Forschung »maßgeblich als nonverbale kulturabhängige und milieubedingte Mittel der Kommunikation aufgefasst, die sich wie sprachliche Zeichen entziffern lassen.«6 Veronika Darian und Peer de Smit heben hervor, dass das Verständnis von Gesten als Trägerinnen dechiffrierbarer Bedeutung erst Mitte der 1940er‐Jahre mit Maurice Merleau‐Ponty nachhaltig infrage gestellt wird. Merleau‐Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung hat die Aufmerksamkeit »auf die erfahrbare Anwesenheit von Gefühlen in der Geste […]«7 gelenkt und die Auffassung, wonach der Geste eine ausschließlich repräsentative Funktion zukomme, radikal infrage gestellt. 65 Jahre später wird Doris Kolesch konstatieren, dass die Geste »jedem gesagten Gehalt vorausgeht und ihn übersteigt.«8 Merleau‐Ponty, die Leibphilosophie Hermann Schmitz’ und innovative Auseinandersetzungen mit dem Gestischen, wie wir sie bei Giorgio Agamben und Jean‐Luc Nancy finden, haben »den Boden für eine vermehrt leiborientierte Erforschung von Gesten seit den 1990er‐Jahren bis heute«9 geebnet, so Darian und de Smit.
Auf ihrer Reise von Zeit zu Zeit und von Disziplin zu Disziplin sammeln Gesten also eine Vielzahl an äußerst heterogenen Be‑Deutungen und Begrifflichkeiten. Mika Ishino und Gale Stam konstatieren im Vorwort ihres Sammelbands Integrating Gestures. The Interdisciplinary Nature of Gesture: »The term ›gestures‹ has many different meanings and the gestures that each researcher examines are not always the same.«10 Zu einem ähnlichen Schluss gelangen Sebastian Schinkel, Gerald Blaschke und Nino Ferrin, denen zufolge die Beschäftigung mit Gesten bedeutet,
[…] mit einem verhältnismäßig diffusen Begriff konfrontiert zu sein, der je nach Forschungsinteresse und theoretischen Grundlagen auf unterschiedlich umrissene Phänomenbereiche fokussiert und entsprechend verschieden konzipiert ist. […] Weitgehend Übereinstimmung besteht darin, dass der Begriff auf begrenzte Bewegungssequenzen im Fluss physiologischer Motorik bezogen ist, die durch ein körperlich verfasstes Selbst initiiert und durch ihre Wahrnehmung als Bewegungsfigur signifikant werden.11
Warum also nicht die Geste als Travelling Concept fassen? Die Kulturwissenschafterin Mieke Bal hat unter diesem Begriff Paradigmen subsumiert, die das Wissen von Kultur und das Sprechen darüber bestimmen und die mitunter zu Verständigungsschwierigkeiten zwischen diversen Disziplinen führen (können). Bal beschreibt dieses Phänomen anhand von Begriffen wie Narrativität, Gedächtnis, Kultur und Performativität. All diesen Konzepten ist ihrer Beobachtung nach gemein, dass sie reisen – und zwar zwischen Disziplinen ebenso wie zwischen einzelnen Wissenschafter*innen, zwischen historischen Epochen und zwischen geografisch zerstreuten akademischen Communitys. In diesem ständigen Prozess des Reisens erlangen Konzepte stets neue, voneinander abweichende Bedeutungen oder aber werden von alternativen Konzepten verdrängt und in weiterer Folge obsolet. Tatsächlich ist die Bedeutung von Konzepten niemals fixiert, sondern ergibt sich aus der Art und Weise, wie wir sie verwenden, uns aneignen, übersetzen und auf dem neuesten Stand halten – immer wieder und immer anders. »All of these forms of travel render concepts flexible. It is this changeability that becomes part of their usefulness for a new methodology that is neither stultifying and rigid nor arbitrary or ›sloppy‹.«12 Bal verwendet das Konzept des Reisens in seiner historischen Dimension und bezieht sich dabei auf die Tradition des Schelmenromans: »Hazardous, exciting and tiring, travel is needed if you are to achieve new experiences.«13 Darüber hinaus leitet sie das Konzept des Travelling aus Jonathan Culler’s Ausführungen zu Performance und Performativität ab,14 was Teresa Kovacs und Katharina Pewny dazu inspiriert hat, Travelling Concepts für die Analyse von transkulturellem Theater und transkultureller Performance fruchtbar zu machen.15
Zurecht haben Fabian Goppelsröder und Ulrich Richtmeyer die Geste als »Richtschnur einer Kritik der etablierten Vorstellung von Sprache, Kommunikation und Wissen«16 bezeichnet. Mit der Schemenhaftigkeit des Gestenbegriffs nämlich geht eine Unbestimmtheit einher, die laut Gunter Gebauer daraus resultiert, »dass sich Gesten nicht wie Sprachzeichen zu einem System ordnen lassen.«17 So mischen sich etwa, im Gegensatz zum Prozess der Lautartikulation, Gesten und nicht intendierte Körperbewegungen und verunmöglichen dadurch eine klare Differenzierung. Die Geste figuriert mithin als (disziplinäres) Schwellenphänomen, dessen »zentrale Bedeutung für die Inszenierung, Aufführung und Praxis menschlicher Kommunikation und Interaktion«18 innerhalb der Forschung mehr und mehr ins Bewusstsein gelangt. Die Geste als wanderndes Konzept zu begreifen, ermöglicht es, die terminologische Diffusität, die von ihr ausgeht, produktiv zu nutzen. Sie gibt sich dadurch als Phänomen zu erkennen, das imstande ist, Ordnungen des Denkens ins Wanken zu bringen, Kategorien zu stören und das Verhältnis von Körper und Schrift neu zu beleuchten.
Aus anthropologischer Sicht handelt es sich bei der Geste um ein genuin theatrales Phänomen, das (1) auf dem Prinzip der mimesis basiert, (2) ein rezipierendes Gegenüber benötigt und sich (3) als gemeinschaftsstiftend wiewohl ‑abgrenzend erweist. Gesten können mit Christoph Wulf »als ästhetische Handlungen, als kulturelle Aufführungen«19 gelesen werden, die an ein situatives soziokulturelles Umfeld gekoppelt sind. Um sie (re‑)produzieren und rezipieren zu können, benötigt es ein implizites (Körper‑)Wissen, das über mimetische Prozesse erworben wird. Wahrgenommene Gesten werden als solche verstanden, indem sie mental nachgeahmt werden: »In der Anähnlichung an die Gesten eines Anderen werden seine Körperlichkeit und seine Gefühlswelt erfahren.«20 Die Geste kann daher nicht nur als »Akteur des transkulturellen Theaters«21 bezeichnet werden, wie dies Günther Heeg tut. Sie ist vielmehr grundsätzliche Akteurin des transkulturellen Zusammenlebens, Zusammenagierens und Zusammenspielens.
Das spezifische Körper‐Wissen, das für die erfolgreiche Entschlüsselung gestischer Codes vonnöten ist, wird u.a. im Zuge von bestimmten Ritualen weitergegeben. In diesem Zusammenhang spielen religiöse Gesten des Klagens, Opferns, Segnens oder Sühnens eine entscheidende Rolle. Aber auch weltliche Institutionen stellen Gesten zur Verfügung, die von ihren Vertreter*innen und Adressat*innen wiederholt vollzogen werden und somit eine Identifikation bewirken und gleichzeitig abbilden. Wulf hält in diesem Zusammenhang fest:
Über den mimetischen Vollzug von Gesten wird eine soziale Gemeinsamkeit erzeugt, in deren Rahmen die sozialen Beziehungen unter anderem mit Hilfe von Gesten geregelt werden. Gefühle der Zugehörigkeit werden durch den rituellen Vollzug von Gesten erzeugt und bestätigt. Dies gilt nicht nur für Institutionen, sondern auch für professionelle, schichten‑, geschlechts‐ und funktionsspezifische Gruppen. Insofern mimetisches Handeln Menschen befähigt, ein Verhältnis zur Welt körperlich auszudrücken und darzustellen, bringt es auch neue Gesten hervor.22
Daraus lassen sich zwei elementare Rückschlüsse ableiten. Zum einen fungieren Gesten als Marker von Humandifferenzierungen, die sich an Leitkategorien wie Ethnizität, nationaler und religiöser Zugehörigkeit, Leistung und Geschlecht orientieren und die dazu dienen, Menschen von anderen zu distinguieren bzw. sie auf der Basis von geteilten Eigenschaften unter Mitgliedschaften zu subsumieren. Somit erzeugen sie nicht nur soziale Gemeinsamkeit, sondern konstituieren gleichzeitig auch soziale Hierarchien und Ausschlüsse. Zum anderen sind Gesten nicht festgeschrieben, sondern einem steten Wandel ausgesetzt. Sie können im Laufe der Zeit obsolet werden, an Bedeutung verlieren (wie etwa der Handkuss, der seine herrschaftssoziologische Dimension im europäischen Raum eingebüßt hat) oder aber ihre Bedeutung verändern.
Dieser spezifischen transformativen Kraft der Geste kommt im Theater bzw. im Tanz eine besondere Rolle zu, wie Erika Fischer‐Lichte hervorhebt. Im Rückbezug auf die Schauspielerszene in Heiner Müllers Inszenierung von BrechtsDer Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (Berliner Ensemble 1995) zeichnet Fischer‐Lichte den Vorgang der körperlichen Verwandlung nach, der grundsätzlich mit dem mimetischen Einüben bestimmter Gesten einhergeht. Sie unterzieht dabei die Bewegungen des Ui‑Darstellers Martin Wuttke, der auf der Bühne zu stehen, zu sitzen und zu gehen erlernt, einer eingehenden Analyse. Die Aneignung spezifischer Körpertechniken, so leitet Fischer‐Lichte daraus ab, transformiere den Leib jedes auszubildenden Schauspielers nach und nach bzw. bringe diesen neu hervor. Diese Transformation wiederum bilde die »Voraussetzung für eine weitere Verwandlung – für die Darstellung einer Figur.«23 Das Beispiel der Schauspielerszene führt laut Fischer‐Lichte vier elementare gestische Prozesse vor, nämlich
(1) die Formung des Leibes durch spezifische, kulturell determinierte Körpertechniken, (2) die Umformung des Leibes im Schauspielunterricht durch den Erwerb nicht‐alltäglicher Körpertechniken, (3) die Anwendung dieser Körpertechniken bei der Darstellung von dramatischen Figuren sowie (4) ihre Wirkungen auf die Zuschauer.24
Diese paradigmatische Definition erscheint mir aus unterschiedlicher Hinsicht problematisch. (1) spricht aus ihr ein primordiales Kulturverständnis, das von abgrenzbaren Kulturen ausgeht und dabei tendenziell eher Trennendes fokussiert, statt Gemeinsames hervorzuheben. Indem Fischer‐Lichte im Rückgriff auf Bourdieu von einem »für die betreffende Kultur typischen und charakteristischen leiblichen Habitus«25 ausgeht, läuft sie Gefahr, ethnosomatische Humankategorisierungen zu reproduzieren. (2) stellt sich die Frage, wie ihre Erwägungen aktuell, d.h. vor dem Hintergrund eines Theaters, in dem vermehrt Menschen ohne schauspielerische Ausbildung, d.h. etwa Laien und Kinder, aber auch Tiere und Objekte agieren, zu bewerten sind. Und (3) wäre zu überlegen, wie sich ein solches Verständnis gestischer Prozesse zu postdramatischen Theatertexten und ihren Inszenierungen verhält, in denen die Kategorie der Figur zwar, wie Jens Roselt betont, keineswegs obsolet geworden ist, jedoch »innovative und kreative Formen zu deren Gestaltung [erfordert].«26
Explizit stellt sich diese Frage für die jüngeren Theatertexte Elfriede Jelineks, die keinerlei Figuren im herkömmlichen Sinn hervorbringen, sondern laut Ulrike Haß vielmehr »den sprechenden Körper, der im szenischen Dispositiv des Theaters als Ort der Abwesenheit erscheint […].«27 Jelinek selbst hält diesbezüglich in einem Essay für Jossi Wieler fest:
Und sie sprechen, wie gesagt, immer, meine Figuren. Außerhalb ihres Sprechens existieren sie nicht, und ich verweigere auch die Illusion, daß sie außerhalb dieses Sprechens auch nur existieren könnten. Ich bin Damen‐ und Herrenausstatterin. Ich statte mit Sprache aus, die alles ist und sein kann, ja, unter Umständen sogar nur Beigabe, unter Umständen, die der Regisseur herzustellen hat.28
Was Fischer‐Lichte also als transformative Kraft der Geste bezeichnet, betrifft bei Jelinek die Sprache und das Sprechen an sich. Die Sprache fungiert hier als Katalysator, der Figuren evoziert, die nur in ihrem Sprechen vorkommen. Jelineks Theaterästhetik verlangt mithin nach einer Begrifflichkeit, die es erlaubt, sowohl das Sprechen als auch das Schreiben als gestischen Akt zu begreifen. Sie fordert das Analyseinstrumentarium einer Theaterwissenschaft heraus, die unter Geste »eine wiederholte Bewegung bzw. Haltung des menschlichen Körpers oder seiner Glieder, die als signifikant angesehen wird,«29 versteht. Im Gegensatz dazu ist meiner Ansicht nach ein erweiterter Gestenbegriff gefragt, der sich im Sinne Giorgio Agambens dem Dualismus von Mittelbarkeit und Zweck entzieht.30 Ein Begriff mithin, der die Geste mit Vilém Flusser als »eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeuges, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt,«31 erfahrbar macht.
Vilém Flussers Denken der Geste ist erstaunlich elastisch. Es schließt das Lieben ebenso ein wie das Zerstören, das Fotografieren, das Pfeiferauchen und das Telefonieren. Darüber hinaus – und das scheint mir im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Jelineks Arbeiten für das Theater äußerst fruchtbar – fasst Flusser auch das Schreiben als Geste auf. Das Schreiben, so der Medienphilosoph, sei eine »Geste der Arbeit«, durch die sich das Denken artikuliere.32 Und doch drücke diese Geste weniger etwas aus, als dass sie sich als durchdringender, eindringlicher Akt erweise. Schreiben meine nicht, etwas an die Oberfläche zu bringen, sondern vielmehr, an einer solchen zu kratzen, sie zu durchstoßen. Flusser denkt die Geste des Schreibens mithin nicht als eine konstruktive, sondern als eine inskriptive, ein‐dringliche Geste, die sich durch unterschiedliche Schichten zu arbeiten hat.
Jelineks intertextuelles Schreibverfahren lässt sich als eine solche frikative Prozedur erfahren, die diverse Schichten durchdringt und dabei Spuren hinterlässt. Das Schreiben der Autorin ist kein Be‑schreiben und kein Um‑schreiben – es ist ein Schreiben, das sich an kanonisierten Texten reibt und diese im Sinne Walter Benjamins gegen den Strich der Geschichte bürstet. So behauptet Jelinek in einem Interview anlässlich der Uraufführung ihres sich auf GoethesUrfaust stützenden Sekundärdramas FaustIn and out: »Der erste Impetus war sicher schon, sich diesem Marmorblock Goethe zu nähern, mit schwachen Fingernägeln ein bisschen an ihm zu kratzen.«33 Dieses ritzende Verfahren ist freilich ein höchst politisches, aufdeckendes, das Jelinek heranzieht im unermüdlichen Bestreben, die verdrängte Wahrheit über die Shoah ans Tageslicht zu bringen. So heißt es an anderer Stelle:
[…] die deutsche (und österreichische) Geschichte hat ja etwas Vampirhaftes, das heißt sie kann nicht sterben, sie kommt immer wieder heraus, und gerade dann, wenn man sie besonders tief begraben glaubt, schon ist sie wieder da. […] Man kratzt nur mit einem Fingernagel, und schon öffnet sich erneut der Boden und wird wieder bodenlos.34
Erst nach dem Durchdringen mehrerer Schichten, so Flusser, »erst dann, wenn die Virtualität auf den Widerstand der Wörter stößt,«35 entschließe man sich zu schreiben. Davor könne das, was man auszudrücken begehrt, »ebenso gut auf eine andere Geste hindrängen, die der musikalischen Komposition oder die der Malerei zum Beispiel.«36 Tatsächlich betont Jelinek selbst immer wieder, (auch) Musikerin zu sein, und stellt die Tätigkeiten des Schreibens und des Komponierens konsequent in einen Kontext: »Ich würde sagen, dass ich mit Worten komponiere.«37 Besonders in jüngeren Interviews und Gesprächen unterstreicht die Autorin oft den Einfluss, den ihre musikalische Ausbildung auf ihre Schreibverfahren gehabt habe.38 Erinnert sei an dieser Stelle zudem an die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaft, die ein ihrer Begründung für die Vergabe des Nobelpreises an Jelinek den »[…] musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen […]«39 hervorgehoben hat. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch Jelineks steter Hinweis darauf, ausschließlich tippend zu schreiben. Mit der Hand, die »sehr schwer ist und jeden Stift, jeden Faserschreiber, vor allem jede teure Füllfelder rasch abbricht,«40 habe sie lediglich die ersten Gedichte verfasst, danach stets die Schreibmaschine verwendet, um bereits 1983 auf den Computer umzusteigen, wie sie nicht ohne (Selbst‑)Ironie bemerkt:
Als ich eine Schreibmaschine bekam, lernte ich sofort Zehnfinger blind schreiben. Ich schreibe wahnsinnig schnell, weil ich Musikerin bin und schreibe, so schnell ich denken kann. Ich denke allerdings nicht sehr schnell. Inzwischen schreibe ich gleich in den Computer, weil das der Übermittlung zwischen den Gedanken und der Notation den geringsten Widerstand entgegensetzt.41
Dem »Widerstand der Wörter«, von dem Flusser spricht, begegnet Jelinek also mit dem Computer, den sie ähnlich fasst wie Flusser die von ihm als »Klavier« bezeichnete Schreibmaschine. Das Tippen auf der hämmernden Maschine, so Flusser, sei »in spezifischerer Weise graphische Geste als das Schreiben mit der Füllfeder.«42
Hervorzuheben aber ist, dass die Geste des Schreibens bei Jelinek hauptsächlich auf ein Sprechen abzielt. Wenngleich ihre Texte typografisch betrachtet durchwegs prosaartig anmuten, so unterscheidet die Autorin doch ganz bewusst zwischen solchen, die zum Lesen bestimmt sind, und jenen, die des Theaters bedürfen. Anlässlich von Simon Stephens‘ Inszenierung von Ein Sportstück äußert sie sich dazu in einem Interview wie folgt:
In spite of the fact my plays often look like prose – as they consist of long monologues – they are actually not prose. My plays are texts written to be spoken, while prose narrates. Plays are designed for collective reception, prose for individual reception. So you can’t simply say my plays are a kind of prose, since they don’t narrate anything. They talk. They speak.43
Tatsächlich zeichnet sich die Sprache von Jelineks Theatertexten dadurch aus, dass sie sich adressiert, wie Ulrike Haß hervorhebt, und zwar »[…] nicht an jemanden, nicht an eine Öffentlichkeit. Vielmehr stellt sie Öffentlichkeit, die nicht vorgängig ist, her und beansprucht diese in einem Sprechen, das unabhängig von seiner Aktualität zu hören ist.«44 Dieses Sprechen könnte man mit Flusser als ein besessenes Sprechen fassen. Wer spricht, sei von Worten besessen, und zwar von den Worten anderer, so Flusser im Heranziehen des Rilke’schen Propheten, der Worte speit wie der Vulkan Steine.45 »Versucht man also, das Wort zu Wort kommen zu lassen, dann sagt es von sich, daß der Mensch nicht spricht, sondern daß er gesprochen wird […].«46 Ein solches unbeherrschbares, unkontrolliertes Sprechen ist es auch, das Jelineks Texte evozieren. Beate Hochholdinger‐Reiterer zufolge haben wir es mit einem »eruptiven Sprechen, das ein Erbrechen assoziiert« und dabei einen autoaggressiven Schauspieler*innenkörper hervorbringt, zu tun.47 Jelinek selbst beschreibt diesen Vorgang in ihrem theaterästhetischen Essay Es ist Sprechen und aus wie folgt:
Das Theater ist Verbrauch, nicht nur meiner Lebenskraft, sondern Verbrauch an sich, es wird ja auch die Lebenskraft der Schauspieler verzehrt von etwas Gefräßigem, das von meinem Chaos übrigblieb, bei einem Chaos ist es wurst, ob alles weg oder alles noch da ist; die Texte fressen die Schauspieler auf, welche sie aber schon vorher gefressen haben, um sie wieder ausspucken zu können […].48
Die Assoziationen zur derben, von unmissverständlichen Anspielungen auf sexuelle und fäkale Prozesse kontaminierten Komik des Wiener Hanswurst, die diese Zeilen aufrufen, lassen Jelineks Theaterästhetik im Lichte einer kulinarisch besetzten österreichischen Tradition erscheinen: Bezüge zur Nahrungsaufnahme und zu ihrer Absonderung ziehen sich durch die Possen von Johann Nepomuk Nestroy ebenso wie durch die Stücke von Franz Grillparzer, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Bernhard oder Werner Schwab.49 Im Zentrum des Tragikomischen, das der Rückgriff auf Ess‑, Trink‐ und Fäkalprozeduren jedenfalls evoziert – und dies bringt Jelinek in ihrem Essay auf den Punkt –, steht dabei stets der menschliche Körper: der Schauspieler, der von Texten gefressen wird, die er selbst gefressen hat und wieder ausspuckt. Das Sprechen lässt sich also mit Jelinek gleichsam als einverleibende wiewohl als ausspeiende Geste verstehen, die sich wiederum in einem symbiotischen Verhältnis zur Geste des Schreibens befindet. Wie der speiende Rilke’sche Prophet von den Worten gesprochen wird, so werden die Jelinek’schen Schauspieler*innen von ihnen vereinnahmt: »Die Schauspieler SIND das Sprechen. Sie sprechen nicht«, heißt es bereits 1997 im programmatischen Essay Sinn egal. Körper zwecklos.50
Jelineks Sprechen ist aber nicht nur »Sprechen und aus«, sondern ist stets gekoppelt an ein Schweigen, d.h. an »jene Geste, welche das Wort aufhält, bevor es in den Mund kommt.«51 Doch während im Schweigen nach Flusser »das Wort zu Wort und zum Strahlen«52 gelangt, ist es bei Jelinek ein beredtes Schweigen, das sich vernehmen lässt, eine leere Mitte, in die gesprochen wird:
Und selbst in dieser Leere, in die unaufhörlich hineingesprochen wird, nicht, damit sie gefüllt werde, wieder mit Sprechen natürlich, nein, auch nicht mit widernatürlichem Schweigen, weil mir Schweigen auf der Bühne sofort auf den Geist geht, also gegen meine Natur, sondern damit diese Leere sich als Leere überhaupt erst konstituieren kann. Und in dieser Leere tritt dann, als Hauptdarstellerin, die Ruhe auf, die nie eintritt, sondern eben: auf. Ich meine damit, daß nicht die Ruhe das Ziel dieses unaufhörlichen Sprechens ist, daß dieses Sprechen nicht gestillt werden soll wie eine Blutung aus einem lebenswichtigen, verzweifelt um Sauerstoff pulsierenden Organ, sondern die Ruhe soll erreicht werden, indem sie gerade: nicht erreicht wird, sondern immer nur fast.53
Die zitierte Passage entstammt dem Essay Text‐Wut, in dem Jelinek – der Untertitel (Ein Vorhaben) weist darauf hin – ihre damals im Entstehen begriffene Arbeit Ulrike Maria Stuart reflektiert. Dieser 2006 durch Nicolas Stemann zur Uraufführung gebrachte Theatertext lässt Maria Stuart und Elisabeth I auf die beiden RAF‐Mitglieder Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin treffen und zieht Schillers Dramen als Prätexte heran, »um mein [Jelineks, Anm. SF] eigenes Sprechen in diese ohnehin schon bis zum Bersten vollen Textkörper der beiden Großen Frauen, dieser Protagonistinnen, auch noch hineinzulegen.«54 Im Rückgriff auf »Schillers Personal« entwirft Jelinek »Figuren, die aufeinander ein[sprechen], als gälte es ihr Leben […]. Sie reden aber auch um ihr Schweigen, diese Figuren, sie schweigen nur selten. Daher sind sie lebende Tote.«55
Tatsächlich wimmelt es in Jelineks Theatertexten (aber auch in Romanen wie Die Kinder der Toten) von Wiedergängern, die auf die blinden Flecke der Geschichte hindeuten, die auf die von der Geschichte Unterdrückten verweisen, die die Leerstellen der identitätsstiftenden großen Erzählungen sichtbar machen. Das Schweigen, das ex negativo in diesen Texten aufgerufen wird, lässt sich mithin als Chiffre eines verdrängenden bzw. leugnenden kollektiven Umgangs mit dem Holocaust lesen, der in Österreich immer noch nachwirkt. So umkreist etwa der 2008 entstandene Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) im Rückgriff auf die antike Form des Botenberichts die Vorkommnisse rund um das Massaker von Rechnitz, bei dem an die 200 ungarisch‐jüdische Zwangsarbeiter im Zuge eines »Gefolgschaftsfests« gezielt und kaltblütig von Nazis erschossen wurden. Vergleichbar mit den intensiven, aber erfolglosen Grabungen, die Archäolog*innen in den Jahren 1966–1969, 2006 und 2017 anstellten, um den Ort des Massengrabs ausfindig zu machen,56 nimmt Jelinek Bohrungen vor und stellt sich im Versuch, das Unaussprechliche zum Sprechen zu bringen, dem von Flusser diagnostizierten Widerstand der Wörter. Die Schichten, durch die sie sich bei diesem Unternehmen bohrt, kehren als intertextuelle Überlagerungen wieder und lassen Vergangenheit, Zukünftiges und Gegenwart zusammenrücken.
Dieses Verfahren erweist sich als konstitutiv für Jelineks Tragödienfortschreibungen, die virulente Themen unserer Zeit vor der Folie antiker Prätexte (im Falle von Rechnitz sind es Die Bakchen des Euripides) verhandeln und Geschichte dadurch einerseits als konstruiert und andererseits als niemals abgeschlossen begreifbar machen. Darüber hinaus impliziert diese ästhetische, dem Palimpsest‐Prinzip gehorchende Prozedur eine zeitliche Schichtung, die an die unabdingbare Aufführbarkeit der Texte gekoppelt ist. In ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Nestroy‐Autor*innenpreises 2013 äußert sich Jelinek diesbezüglich wie folgt: »Zwei Zeiten werden aufeinander geschmissen, die, die auf der Bühne abgeht (und niemandem abgeht, es wäre auch in Ordnung, wenn das alles nicht stattfände), und die im Zuschauerraum.«57 Jelineks Schichtungsverfahren erweisen sich somit als »genuin theatral und werden durch den Akt des Sprechens nochmals potenziert.«58 Die Sprache ist mithin unmittelbar an den Körper des Schauspielers/der Schauspielerin gekoppelt, wobei »[d]ie Möglichkeit, diesen Körper als Darsteller einer menschlichen Gestalt zu verstehen, […] durch eine Zeitverschiebung im Sprechen, die eigentlich eine Ortsverschiebung impliziert, unterlaufen [ist].«59 Sprache und Sprechen begegnen sich bei Jelinek in einem spezifischen Moment, der die transitorische Eigenheit des Theaters unterstreicht und darin das durch und durch Politische zu erkennen gibt, das dem Theater grundsätzlich innewohnt. »Achtung! Das Vergangene findet jetzt statt!«, heißt es im Untertitel zu Es ist Sprechen und aus, und im Rekurs auf Martin Heidegger weiter:
Vielleicht kann man es so sagen: Indem die Natur, die vom Theater unvollkommen nachgeahmt wird, endlich erwacht (eine Natur, die es bei mir nicht gibt, aber vielleicht das Wesen der Natur: den Überfluß? Das Überflüssige, danke, daß sie mich daran erinnern!), kommt ihr Kommen, kommt das Kommen dieser Menschen, die meine Texte sprechen, als das Zukünftigste aus dem ältesten Gewesenen hervor (und so spricht auch der Denker immer wieder aus mir hervor, nur leider völlig falsch, oder bin ich hier falsch?, weil man die Denker anders verstehen muß, vielleicht gar nicht), als ein Gewesenes, das nie veraltet, weil es seiner Natur nach immer das Jüngste ist, eigentlich das Letzte, das Letzte, das entstanden ist und jeden Abend – das Letzte wird das Erste sein – wieder neu entsteht und stattfindet […].60
Jelineks Geste des Schreibens materialisiert sich als Geste des Sprechens und weist als solche sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Dadurch wirft sie, wie Ulrike Haß treffend bemerkt, implizit stets die Frage auf, »was es heißt, nach Auschwitz Theater zu machen, etwas darzustellen oder etwas zu schreiben.«61
Der Raum der Jelinek’schen Sprache erweist sich mit Flusser gesprochen als »Innenraum des Sprechens«, der »zwar von Worten gefüllt [ist], aber diese Worte verwirklichen sich erst und werden in diesem Sinne Ideen, wenn sie ausgesprochen werden.«62 In diesem Zusammenhang kommt der Dimension des Klangs eine besondere Bedeutung zu – eine Bedeutung, auf die Monika Meister mehrmals in Bezug auf die performative Qualität von Jelineks Theatertexten hingewiesen hat. Meister beschreibt im Unterstreichen der Differenz von Sprache und Sprechen einen »Resonanzraum«, den »der gesprochene Text, der verlautbarte, durch die Stimme zum Klingen gebrachte Text« hervorbringen würde.63 Die »polyphone Klanglichkeit« eröffnet ein in‑between zwischen Sprache und Sprechen, das sich in einem »Nebeneinander von Ich und Wir, von kollektiven Stimmen und Einzelstimmen« materialisiert.64
Was Meister in Bezug auf Über Tiere und Winterreise diagnostiziert, gilt auch für andere Theatertexte Jelineks, die vermehrt auf Sprechinstanzen verzichten und in der Forschung gemeinhin als »Sprachflächen« oder »Textflächen«65 bezeichnet werden.66 Wenngleich jüngere Ansätze dazu übergehen, diese Begriffe mit Termini des Rhizomatischen zu ergänzen bzw. zu ersetzen, so werden diese der Dynamik, die Jelineks changierende Wir/Ich‐Konstellationen erzeugen, doch nicht hinlänglich gerecht. Gemeinsam mit Teresa Kovacs habe ich dafür plädiert, Jelineks ästhetische Verfahren der Defiguration als »schwärmendes Schreiben« zu fassen, um nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Dimension reflektieren zu können, die die stets zwischen einem undefinierten Wir und einem nicht weniger abstrusen Ich changierenden Figurationen in ihren Texten aufrufen.67 So konstituieren sich etwa die Sprechinstanzen in Die Schutzbefohlenen stets »aus dem Nichts, verdichten sich zu einer scheinbaren Autorität, lösen sich aber sofort wieder auf und lassen damit jede Autorität brüchig erscheinen.«68 Sie widersetzen sich fixen Zuschreibungen und verunmöglichen dadurch Identifikation und Einfühlung im aristotelischen Sinne. Die Denkfigur des Schwarms erlaubt es, solche Figurationen als »Körper ohne Oberfläche,«69 als »Kollektiv ohne Zentrum«70 zu begreifen und den temporären Hierarchien, die Jelineks kaskadenhaft angelegte Theatertexte entwerfen, analytisch zu begegnen. Gleichzeitig wird dadurch offensichtlich, wie unmittelbar diese Texte von einer performativen Setzung abhängig sind, oder, anders gesagt: wie sehr die Geste des Schreibens der Geste des Sprechens bedarf.
Doch wie ist es möglich, dieser aporetischen Dependenz von Schreiben und Sprechen zu begegnen, die in Bezug auf Jelineks Theater(texte) evident wird? Wie können diese intrinsisch miteinander verknüpften gestisch‐poietischen Prozesse der Verkörperung, die stets zwischen einem transitiven »etwas Zeigen« und einem intransitiven »sich Zeigen« changieren, hinlänglich analysiert werden? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, möchte ich nach Vilém Flusser noch einen weiteren Denker des Gestischen in meine Überlegungen miteinbeziehen, nämlich Walter Benjamin.
Mit Walter Benjamin gedacht figuriert die Geste grundsätzlich in einem Zwischen. Sie mäandert zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Text und Aufführung. Sie ist die »Mutter der Dialektik«, wie Benjamin in Bezug auf Brechts episches Theater betont, das er als genuin gestisch begreift: »Die Geste ist sein Material, und die zweckmäßige Verwertung dieses Materials seine Aufgabe.«71 Tatsächlich sind Benjamins Reflexionen zur Geste untrennbar mit Bertolt Brechts Bestrebungen hinsichtlich eines neuen, nicht mehr aristotelischen Theaters verknüpft und befinden sich mithin an der Schnittstelle von geschichtsphilosophischem und ästhetischem Erkenntnisinteresse. Benjamins Betrachtungen differenzieren nicht zwischen dem Dramatiker, Theoretiker und Regisseur Brecht – sie speisen sich aus Theatertexten und programmatischen Notaten Brechts, aber auch aus eigenen Erinnerungen an selbst miterlebte Aufführungen. Insofern sind sie für ein Denken fruchtbar zu machen, das Theater als Prozess begreift: als Prozess, innerhalb dessen die Geste des Schreibens und die Geste des Sprechens einander bedingen.
Lange Zeit ist man in der Forschung davon ausgegangen, dass sich Benjamin dem Gestischen erstmals in seinen Versuchen über Brecht gewidmet hatte.72 Diese Annahme entspricht jedoch einem Irrtum, wie Mi‑Ae Yun nachweisen konnte.73 Benjamins Interesse für die Geste manifestiert sich bereits im Programm eines proletarischen Kindertheaters, das er 1928/29 für die lettische Theatermacherin Asja Lacis verfasste, die nach der Revolution von 1917 in der russischen Stadt Orjol ein Theater mit Kriegswaisenkindern gegründet hatte.74 Sie war es auch, die das erste Zusammentreffen Brechts und Benjamins initiiert hatte, zu dem es 1924 kam, das jedoch – dem Desinteresse Brechts geschuldet – zunächst ohne Folgen blieb.75 Eine intensivere Annäherung fand erst im Mai 1929 statt – und zwar unmittelbar nach der Premiere der Brecht‐Inszenierung von Marieluise FleißersPioniere in Ingolstadt, die am 1. April über die Bühne des Theaters am Schiffbauerdamm ging. In einer Notiz Benjamins zu dieser Aufführung findet sich erstmals eine auf Brecht verweisende Verwendung des Gesten‐Begriffs. Benjamin schreibt hier:
Die Worte der Fleißer tragen erstaunlich viel. Sie haben das Gestische in der Sprache des Volkes, schöpferische Gewalt, die sich zu gleichen Teilen aus einem entschiednen Ausdruckswillen und aus Verfehlen und Ausgleiten zusammensetzt, vergleichbar der Geste des Exzentrikers.76
Es ist anzunehmen, dass das Prinzip der Geste von Anfang an elementarer Bestandteil der Gespräche zwischen Brecht und Benjamin gewesen ist. Die ersten publizistischen Auseinandersetzungen Benjamins mit Brecht stützen diese Hypothese. So heißt es in der am 6. Juli 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Arbeit Aus dem Brecht‐Kommentar im Rekurs auf das Fragment Untergang des Egoisten Johann Fatzer: »›Der zweite Versuch <Geschichten vom Keuner>‹, sagt der Verfasser, ›stelle einen Versuch dar, Gesten zitierbar zu machen.‹«77 Als Gesten führt Benjamin hier jene »der Armut, der Unwissenheit, der Ohnmacht« an, die wiederum eine zitierbare »Haltung« hervorrufen würden. Zitierbar aber sind demnach »auch die Worte, die sie begleiten.«78
Wenngleich Benjamin seinen Text Aus dem Brecht‐Kommentar für den am 24. Juni 1930 gehaltenen Radiovortrag Bert Brecht leicht abänderte, so übernimmt er darin die Passage über den Versuch der Zitierbarkeit der Geste wortwörtlich.79 Auffällig an diesem Folgetext ist, dass Benjamin hier Brechts schriftstellerische Arbeit weniger als »Werk« liest, sondern vielmehr als »Apparat, Instrument«80 und somit den konstruktivistischen Charakter von Brechts Texten hervorhebt, der wiederum auch für Benjamins Arbeiten charakteristisch ist: ein konstruktivistischer Charakter, der freilich auf eine spezifische, ihm inhärente Dialektik verweist. Denn dieses Instrument des Geschriebenen sei, so Benjamin weiter, »je höher es steht, desto mehr der Umformung, der Demontierung und Verwandlung fähig.«81 Vor allem Brechts Auseinandersetzung mit der chinesischen Literatur habe gezeigt, »daß der oberste Anspruch, der dort an Geschriebenes gestellt wird, seine Zitierbarkeit ist. Es sei angedeutet, daß hier eine Theorie des Plagiats gründet, bei der den Witzbolden sehr schnell der Atem ausgehen wird.«82 Der konstruktivistische Charakter von Brechts schriftstellerischem »Apparat« erweist sich mithin als gekoppelt an eine dekonstruktivistische, demontierende Partikularität, die in Benjamins geschichtsphilosophischer Rhetorik widerhallt. Im Passagen‐Werk heißt es dazu:
Das Geschehen, das den Historiker umgibt und an dem er teil nimmt, wird als ein mit sympathetischer Tinte geschriebener Text seiner Darstellung zu Grunde liegen. Die Geschichte, die er dem Leser vorlegt, bildet gleichsam die Zitate in diesem Text und nur diese Zitate sind es, die auf eine jedermann lesbare Weise vorliegen. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird.83
Das von Benjamin in Bezug auf Brecht so früh herausgearbeitete politisch‐ästhetische Prinzip der (De‑)Montage und des Zitats bildet die Grundlage seiner Überlegungen hinsichtlich einer materialistischen Geschichtsschreibung, die in den Thesen Über den Begriff der Geschichte gipfeln. Brecht erhält diese Thesen – gemeinsam mit der Todesnachricht Benjamins – im August 1941 und zeigt sich unmittelbar von ihnen angetan.84 Die positive Resonanz verwundert nicht – schließlich greift Benjamin in den Thesen Überlegungen aus seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf, an dem er gemeinsam mit Brecht im Sommer 1936 in Skovsbostrand redaktionell gearbeitet hatte.85 Angelegt aber sind diese Überlegungen bereits im Passagen‐Werk. Das hebt auch Theodor W. Adorno hervor, wenn er behauptet, dass die Thesen »die erkenntnistheoretischen Erwägungen zusammenfassen, deren Entwicklung die des Passagenentwurfs begleitet hat.«86 Umso interessanter erscheint mir der Umstand, dass sich Benjamin Brecht gegenüber in Bezug auf diese große, ihm so wichtige Arbeit eigentümlich zurückhaltend verhielt. Während er Theodor und Gretel Adorno sowie Gershom Scholem regelmäßig den Fortschritt seiner Arbeit beschrieb, aber auch Siegfried Kracauer, Hugo von Hofmannsthal und Max Horkheimer immer wieder darüber unterrichtete, ist nur ein einziger, mit 20. Mai 1935 datierter Brief an Brecht erhalten, in dem Benjamin »mein Buch – das große, über das ich Ihnen einmal berichtete,«87 anspricht. Im Sommer 1938, den er zum vierten (und letzten) Mal bei Brecht in Skovsbostrand verbringt, arbeitet er intensiv daran – man kann davon ausgehen, dass die (vorläufige) Durchsicht der Materialien dort vorgenommen bzw. abgeschlossen worden ist.88 Zudem schreibt Benjamin zu dieser Zeit intensiv an seinem Baudelaire‐Fragment, einem »Miniaturmodell« des Passagen‐Werks, wie er selbst in einem Brief an Max Horkheimer bemerkt.89 Doch dürfte sich Brecht nicht sehr positiv zu dieser Arbeit geäußert haben. In einem Brief an seine Freundin Kitty Marx‐Steinschneider spricht Benjamin davon, seine Arbeit »trotz aller Freundschaft zu Brecht in größter Abgeschiedenheit durchzuführen. Sie enthält ganz bestimmte Momente, die für ihn nicht zu assimilieren sind.«90 Tatsächlich notiert Brecht am 25. Juli 1938 in seinem Arbeitsjournal:
Benjamin ist hier. Er schreibt an einem Essay über Baudelaire. Da ist gutes, er weist nach, wie die Vorstellung von einer bevorstehenden geschichtslosen Epoche nach 48 die Literatur verbog. Der Versailler Sieg der Bourgeoisie über die Kommune wurde vorauseskomptiert. Man richtete sich mit dem Bösen ein. Es bekam Blumenform. Das ist nützlich zu lesen. Merkwürdigerweise ermöglicht ein Spleen Benjamin, das zu schreiben. Er geht von etwas aus, was er Aura nennt, was mit dem Träumen zusammenhängt (dem Wachträumen). Er sagt: wenn man einen Blick auf sich gerichtet fühlt, auch im Rücken, erwidert man ihn. (!) Die Erwartung, daß, was man anblickt, einen selber anblickt, verschafft die Aura. Diese soll in letzter Zeit im Zerfall sein. Zusammen mit dem Kultischen. Benjamin hat das bei der Analyse des Films entdeckt, wo Aura zerfällt durch die Reproduzierbarkeit von Kunstwerken. Alles Mystik, bei einer Haltung gegen Mystik. In solcher Form wird die materialistische Geschichtsauffassung adaptiert! Es ist ziemlich grauenhaft.91
Der Eintrag demonstriert, dass Brechts Urteil über Benjamin bei weitem nicht so uneingeschränkt enthusiastisch ausfiel wie umgekehrt. Brecht schätzte Benjamin hauptsächlich als Kritiker seiner eigenen Arbeiten und erwartete von ihm »fachmännische Urteile,«92 wie es Margarete Steffin, die Benjamins Aufsatz Was ist das epische Theater? für Brecht abgeschrieben hatte, auf den Punkt brachte.93 In diesem heute so viel zitierten Text überträgt Benjamin die von Brecht ins Spiel gebrachte Geste erstmals auf dessen Theater.
Was ist das epische Theater? entstand anlässlich der Mann ist Mann‐Inszenierung im Staatlichen Schauspielhaus Berlin. Wenige Wochen vor der Premiere am 6. Februar 1931 hatte Brecht in seinen Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« zum ersten Mal theoretische Überlegungen zum epischen Theater publiziert, die nun von Kritikern wie Alfred Kerr oder Bernhard Diebold vor der Folie der Mann ist Mann‐Aufführung auf ihre Haltbarkeit geprüft wurden.94 Die aus diesem komparatistischen Verfahren resultierende Kritik Diebolds führte dazu, dass der Essay niemals in der Frankfurter Zeitung, wo er veröffentlicht werden sollte, abgedruckt worden ist.95 Dass die Geste im Fokus dieser bahnbrechenden Brecht‐Analyse steht, wird schon aus dem Typoskript Studien zur Theorie des epischen Theaters ersichtlich, das offenbar eine Vorarbeit zu dem 1931 fertiggestellten Aufsatz darstellt. »Das epische Theater ist gestisch«, lautet der erste Satz dieses programmatischen Entwurfs, der bereits in nuce wesentliche Überlegungen Benjamins zum Theater Brechts enthält und sich an drei grundsätzlichen Fragen abarbeitet: »Erstens, woher bezieht das epische Theater seine Gesten? Zweitens, was versteht man unter einer Verwertung von Gesten? Als drittes würde sich dann die Frage anschließen: auf Grund welcher Methoden findet im epischen Theater die Verarbeitung und Kritik der Gesten statt?«96 Was Benjamin hier in wenigen Sätzen skizziert, führt er im eigentlichen Aufsatz Was ist das epische Theater? näher aus. Als unverwechselbare Vorzüge der Geste hebt er zum einen ihre minimale Verfälschbarkeit hervor und zum anderen den Umstand, dass sie »einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende«97 habe. Daraus leite sich die ihr inhärente Dialektik ab, die Benjamin zu folgendem Schluss führt: »Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen. Für das epische Theater steht daher die Unterbrechung der Handlung im Vordergrunde.«98 Die Unterbrechung von Abläufen wiederum bewirke die für Brechts Theater so zentrale Entdeckung von Zuständen.
Es ist nur konsequent, dass sich Benjamin im Versuch, diese Überlegung so anschaulich wie möglich zu gestalten, auf eine von Brecht konzipierte Figur stützt, nämlich auf den Keuner:
Das primitivste Beispiel: eine Familienszene. Plötzlich tritt da ein Fremder ein. Die Frau war gerade im Begriff, ein Kopfkissen zu ballen, um es nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen, um einen Schupo zu holen. In diesem Augenblick erscheint in der Tür der Fremde. »Tableau«, wie man um 1900 zu sagen pflegte. Das heißt: der Fremde stößt jetzt auf den Zustand: zerknülltes Bettzeug, offenes Fenster, verwüstetes Mobiliar. […] So dringt Keuner – so heißt der Fremde – in die Höhle des einäugigen Ungetüms »Klassenstaat«.99
Was Benjamin hier in Bezug auf Brechts Theater ausführt, beschreibt gleichzeitig einen wesentlichen Ansatz seiner geschichtsphilosophischen Erwägungen. Wie Keuner einen Ablauf unterbricht und dadurch alle Beteiligten aus ihrem Zusammenhang reißt, so bewirkt der materialistische Geschichtsschreiber durch sein zitierendes Verfahren, dass »der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird,«100 wie es im weiter oben bereits angeführten Notat aus dem Passagen‐Werk heißt.
Tatsächlich dürften sich die beiden Denker intensiv über Fragen des Diskontinuitiven ausgetauscht haben. Wenngleich Benjamin Brecht gegenüber eher zurückhaltend mit seinen Passagen verfuhr, so sind es doch leitmotivische Formulierungen dieser Arbeit, die in Brechts Texten widerhallen. In einem Nachtrag zum Messingkauf, den Brecht in seinem Arbeitsjournal am 3. August 1940 notiert, heißt es programmatisch:
Bei der aristotelischen Stückkomposition und der dazugehörigen Spielweise (die beiden Begriffe sind eventuell umzustellen) wird die Täuschung des Zuschauers über die Art und Weise, wie die Vorgänge auf der Bühne sich im wirklichen Leben abspielen und dort zustande kommen, dadurch gefördert, daß der Vortrag der Fabel ein absolutes Ganzes bildet. Die Details können nicht einzeln mit ihren korrespondierenden Teilen im wirklichen Leben konfrontiert werden. Man darf nichts »aus dem Zusammenhang reißen«, um es etwa in den Zusammenhang der Wirklichkeit zu bringen. Das wird durch die verfremdende Spielweise abgestellt. Die Fortführung der Fabel ist hier diskontinuierlich […].101
Die Unterbrechung ist es mithin, an der Brecht den wesentlichen Unterschied zwischen dem herkömmlichen und dem von ihm propagierten nichtaristotelischen Theater festmacht. Er will ein das Prinzip der Diskontinuität ins Zentrum rückendes Theater. Die zitierte Notiz, die diese Forderung so eindrücklich belegt, ist nicht nur von BenjaminsPassagen‐Arbeit geprägt.102 Gleichwohl spricht aus diesen Zeilen die Lektüre der zweiten Version des Essays Was ist das epische Theater?, die bei Brecht zunächst – schenkt man einem Brief Margarete Steffins Glauben – auf wenig Zuspruch gestoßen ist.103 Wenngleich Benjamin selbst diesen 1939 anonym in Maß und Wert publizierten Text als eine gering überarbeitete Version des zehn Jahre zuvor entstandenen Brecht‐Essays beschreibt,104 so ist dieser tatsächlich als eigenständige Arbeit zu betrachten. Was ist das epische Theater? <2> rekurriert auf neue Texte und Inszenierungen Brechts und enthält Schlüsseltermini, an denen wesentliche Bewegungen abgelesen werden können, die sowohl die Theatertheorie Brechts als auch das Benjamin’sche Denken der 1930er‐Jahre prägen. Die Unterbrechung wird hier von Benjamin erstmals als Methode zur »Entdeckung (Verfremdung) von Zuständen«105 beschrieben und erfährt als solche innerhalb von Benjamins Beschäftigung mit Brechts nicht‐aristotelischer Dramaturgie eine besondere Aufmerksamkeit. Auffallend ist, dass sich Benjamin in diesem Zusammenhang vorrangig einer kinematografischen Begrifflichkeit bedient:
Das epische Theater rückt, den Bildern des Filmstreifens vergleichbar, in Stößen vor. Seine Grundform ist die des Chocks, mit dem die einzelnen, wohlabgehobenen Situationen des Stücks aufeinandertreffen. Die Songs, die Beschriftungen, die gestischen Konventionen heben eine Situation gegen die andere ab.106
Die von der filmischen Montage inspirierte Unterbrechung offenbart sich mithin als Methode zur Entdeckung von durch den Chock erfahrbar werdenden Zuständen. Die Gesten, die wir durch eine derartige Unterbrechung erhalten, zeigen den Menschen aber nicht als Subjekt seiner eigenen Handlungen, sondern vielmehr als dem Geschehen ausgesetzt, wie die Philosophin Kim Hyun‐Kang unterstreicht: »Die Geste ist der Modus des Außer‐sich‐Seins schlechthin.«107
Dass sowohl Benjamin als auch Brecht eine spezielle Faszination für den (Stumm‑)Film (den Brecht übrigens grundsätzlich als »Gestentafel«108 bezeichnete) hegten, ist bekannt. Interessant aber erscheint mir, dass beide auch in ihren theatertheoretischen Schriften darauf zurückkommen – und zwar mit dem Effekt, das ent‐ und aufdeckende Potenzial der unterbrechenden Geste hervorzukehren. Eindrücklich zeigt sich das in einer 1945 entstandenen Passage des Messingkauf, in der es heißt:
Der Augsburger nahm einen Film von der Weigel