Treadstone – Exil - Robert Ludlum - E-Book

Treadstone – Exil E-Book

Robert Ludlum

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Beschreibung

Adam Hayes hat beschlossen, seine tödlichen Fähigkeiten nicht länger in den Dienst der Geheimorganisation Treadstone zu stellen. Stattdessen will er nur noch Aufträge übernehmen, die er selbst moralisch vertreten kann. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abschütteln. Als er nach einem Angriff auf sein Flugzeug bei einer Mission in Burkina Faso notlanden muss, findet er sich allein auf unwegsamem Territorium wieder. Ihm auf den Fersen sind nicht nur die Extremisten, die ihn beschossen haben. Auch sein ehemaliger Arbeitgeber ist plötzlich an der Verfolgung beteiligt. Kann Hayes seine Haut retten und sich einen Weg in sicheres Gelände bahnen?

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Seitenzahl: 398

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Das Buch

Adam Hayes hat seit fast fünf Monaten niemanden mehr getötet. Das ist sicher nichts, womit man prahlen kann, trotzdem möchte er diese Serie nicht abreißen lassen. Doch wer einmal für das geheime Treadstone-Programm der CIA staatlich sanktionierte Morde begangen hat, zieht Schwierigkeiten an wie ein Magnet Eisenspäne. Spätestens als Hayes einem skrupellosen Schmugglerring in die Quere kommt, stellt er fest, dass er seine Prioritäten neu setzen muss. Ab sofort gibt es für ihn nur noch ein Ziel: selbst zu überleben.

Die Autoren

Joshua Hood war fünf Jahre lang bei den Amerikanischen Luftlandetruppen und anschließend Teil eines SWAT-Teams in Memphis, Tennessee, wofür er mit der Lifesaving Medal ausgezeichnet wurde. Seit 2016 ist er Thriller-Autor.

Robert Ludlum erreichte mit seinen Romanen, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, weltweit eine Auflage von über 300 Millionen Exemplaren. Robert Ludlum verstarb im März 2001. Sein Werk wird von wechselnden Autoren fortgeführt.

Weitere Informationen über Robert Ludlum und seine Bücher finden Sie am Ende dieses Buchs.

ROBERT LUDLUMJOSHUAHOOD

TREADSTONE

EXIL

THRILLER

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Norbert Jakober

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe THE TREADSTONE EXILE erschien 2021 bei G. P. Putnam’s Sons.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 07/2023

Copyright © 2021 by Myn Pyn LLC

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Rainer Schoettle

Umschlaggestaltung: ZeroMedia, München, unter Verwendung von Motiven von © Trevillion/Silas Manhood; FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26881-7V001

www.heyne.de

Prolog Mahé, Seychellen

Es war kurz vor Mitternacht, als der Sikorsky S-92 so tief über die Petite-Anse-Bucht hinwegflog, dass sich die Kokospalmen auf dem Privatstrand des Kempinski-Resorts im Abwind der Rotorblätter beugten.

Ganz hinten im Helikopter saß André Cabot in seinem bequemen Ledersitz und ließ seine grauen Augen zu der Tausend-Dollar-Flasche japanischem Whisky schweifen. Er hatte den achtzehn Jahre alten Yamazaki Single Malt vorige Woche auf einer Geschäftsreise in Macau entdeckt. Cabot konnte nichts Besonderes daran finden, doch seine Gastgeber hatten von nichts anderem geredet.

»Sie sollten eine Flasche kaufen und nach Mahé mitnehmen«, hatte ihm einer geraten. »Das könnte Pritchard ein bisschen aufheitern.«

Die anderen lachten – offensichtlich auf Cabots Kosten, auch wenn er den Witz nicht verstand.

Er steckte den Seitenhieb weg, zwang sich zu einem Lächeln und machte gute Miene zum bösen Spiel. Er wusste, dass er unter Beobachtung stand und dass alles, was er sagte und tat, an Nigel Pritchard auf den Seychellen übermittelt wurde.

Cabot hatte immer wieder über das Gespräch nachgedacht, hatte sich alle Einzelheiten in Erinnerung gerufen. Wie ihr Gelächter ihn zuerst verwirrt, dann erzürnt hatte, als ihm klar geworden war, dass sie über ihn lachten.

Noch vor einem Monat haben sie es nicht einmal gewagt, mir in die Augen zu schauen; heute lachen sie mich aus, ohne Konsequenzen zu befürchten.

Die Wut glühte in seinen Adern wie eine Flamme an der Zündschnur, doch bevor es zu einem seiner gefürchteten Ausbrüche kam, wurde die Wut durch die Frage gedämpft, die ihn seither quälte.

Haben die Männer am Tisch etwas gewusst, was ich nicht weiß?

Als Gründer und CEO von DarkCloud Cybersecurity hatte Cabot sich einen Namen und ein Vermögen damit gemacht, die Geheimnisse der Reichen und Mächtigen ausfindig zu machen, die Millionen dafür bezahlten, dass nichts davon ans Licht kam. Er hatte die Computer von Regierungen gehackt, Wahlen manipuliert und, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, Firmengeheimnisse von einigen der umsatzstärksten US-Unternehmen gestohlen. Der Gedanke, dass es irgendwo da draußen ein Rätsel gab, das er nicht lösen konnte, verfolgte ihn bis in seine Träume.

Cabot hatte Nachforschungen angestellt und sein Netzwerk von Spionen, Hackern und Spitzeln eingesetzt, doch weder auf den Straßen noch in den Tiefen des Internets war auch nur das Geringste ausfindig zu machen. Wie oft er auch fragte, die Antwort war immer die gleiche: »Es gibt keine Probleme. Alles läuft wie immer.«

Doch Cabots Bauchgefühl sagte ihm etwas anderes.

»Die lügen.«

Er hatte den Gedanken ganz leise ausgesprochen, sodass seine Stimme im Brummen des Triebwerks kaum zu hören war, doch als er den Kopf hob, überraschte es ihn nicht, dass der Mann mit den breiten Schultern und der weißen Narbe am Hals ihn ansah.

»Die lügen, Beck«, wiederholte Cabot grimmig. »Ich weiß es.«

»Soll ich etwas unternehmen?«, fragte der Deutsche im rauen Flüsterton seiner kaputten Stimmbänder.

»Halten Sie sich bereit«, sagte Cabot.

Als der Helikopter aufsetzte, war Beck schon auf den Beinen, die Sig Sauer 226 wie eine Spielzeugpistole in seiner fleischigen Pranke. Mit einer angesichts seiner Größe überraschenden Geschmeidigkeit eilte er zur Tür und stieg auf den Asphalt hinaus.

Als er Augenblicke später in die Kabine zurückkam, war sein Gesicht vor Zorn gerötet.

»Gibt es ein Problem?«, fragte Cabot.

»Er hat keinen Wagen geschickt.«

Im Geschäft ging es ebenso wie im Krieg darum, den Feind zu verunsichern. Deshalb wusste Cabot sofort, was Nigel im Schilde führte.

»Rufen Sie im Terminal an – die sollen uns einen Wagen schicken«, entschied er und ging zu den eingebauten Walnussholzschränken.

»Wird gemacht«, sagte Beck.

Während der Deutsche den Anruf machte, tippte Cabot seinen Code ein und wartete auf das Klicken des Magnetschlosses, ehe er die Tür öffnete.

Drinnen befanden sich zwei Tresore. In einem bewahrte er Geld und andere Wertsachen auf, mit denen er Regierungs- und Zollbeamte bestach, wenn er im Ausland seinen Geschäften nachging; der zweite Safe war für alles andere da.

Er öffnete den zweiten Tresor, entschied sich unter den darin aufbewahrten Waffen für die Glock 42, lud die Pistole durch und schob sie in die Jackentasche. Als er den Safe und die Schranktür schloss, wartete Beck bereits mit dem silbernen Aktenkoffer, den er mit einer Handschelle an seinem Handgelenk befestigt hatte.

»Bringen wir’s hinter uns«, sagte Cabot und ging nach vorn zum Cockpit.

»Was ist mit der Flasche?«, fragte Beck.

Cabot überlegte einen Augenblick, sie hierzulassen, doch da Nigel wahrscheinlich schon wusste, dass er den teuren Whisky mitbringen würde, beschloss er, den Schein zu wahren.

»Die nehmen wir mit«, entschied Cabot.

Im Vergleich zu dem luxuriösen Mercedes-Maybach, mit dem Nigel ihn für gewöhnlich abholen ließ, war der Cadillac Escalade einfach nur ein Auto, das seinen Zweck erfüllte. Doch Cabots Gedanken kreisten mehr darum, wie viel bei diesem Geschäft auf dem Spiel stand. Also stieg er, ohne zu murren, in den Wagen ein.

Sie fuhren in nördlicher Richtung die Anse Soleil Road entlang; ihr Ziel glitzerte in der Ferne wie ein Edelstein. Tagsüber war das Casino Club Liberté ein unscheinbares Gebäude, dessen elegante Fassade aus Glas und Stein vom Schimmern des Indischen Ozeans und dem satten Grün der Narrabäume überstrahlt wurde.

Doch wenn die Sonne unterging und das Casinopersonal die Abdeckungen von den auf dem Dach montierten Himmelsstrahlern nahm, leuchtete das Haus mit einer Lichtstärke von zwei Millionen Candela.

Es gab nicht mehr viele Inselbewohner, die sich an die bescheidenen Anfänge des Casinos erinnerten, als die Einheimischen hierherkamen, um sich einen billigen Drink zu genehmigen und ihr Kleingeld in die Spielautomaten zu werfen.

Bis im Jahr 2002 Nigel in die Stadt kam und das Haus für einen Spottpreis kaufte. Die meisten, auch Cabot, fanden, dass er zu viel für den alten Schuppen bezahlt habe, doch der schlaue Engländer belehrte sie eines Besseren, indem er darauf setzte, dass die Poker-Welle von den Vereinigten Staaten auch in diesen entlegenen Winkel der Welt überschwappen würde.

Er sollte recht behalten. Es dauerte ein Jahr, bis er die anderen Casinos verdrängt hatte und das runderneuerte Haus aus der Taufe hob. Als einzige legale Spielstätte der Insel etablierte sich der Club Liberté bald als Zentrum der Unterhaltung in der Region.

Als begeisterter Spieler besuchte auch Cabot das Casino immer wieder gern, doch als der Escalade das Tor passierte und die gepflasterte Auffahrt zum Haupteingang hinauffuhr, war er so angespannt, dass er keine Sekunde an die Freuden des Spiels denken konnte.

Der Fahrer hielt neben dem scharlachroten Teppich, auf dem ein Türsteher im Smoking wartete.

Bevor er die Autotür öffnen konnte, sprang Beck aus dem Wagen, ohne sich die Mühe zu machen, die Pistole an der Hüfte zu verbergen.

Er schob den Mann beiseite und knurrte: »Sag deinem Boss, Monsieur Cabot ist da.« Während der Mann im Smoking ins Haus eilte, überblickte der bullige Deutsche das Gelände, ehe er sich wieder zum Wagen wandte.

»Alles klar.«

Cabot stieg aus, strich die Jacke des grafitgrauen Anzugs von W.W. Chan & Sons glatt, griff prüfend zur Pistole in der Jackentasche und ging zum Eingang. Er hatte noch nicht einmal die Treppe erreicht, als ihm ein Mann mit glatt zurückgekämmtem schwarzem Haar und eng geschnittenem Anzug im italienischen Stil entgegenkam, ein breites Grinsen im Gesicht.

»Monsieur Cabot«, begann er auf Französisch, »es freut mich sehr, Sie …« Er stockte, und sein Lächeln verschwand, als er den Escalade am Bordstein stehen sah. »Oh, merde.«

»Das sehe ich auch so.«

»Bitte glauben Sie mir, Monsieur Cabot, das war ein Versehen, keine Absicht.«

»Kein Problem«, log Cabot. »Wenn Sie so freundlich wären … ich bin etwas spät dran.«

»Natürlich«, nickte der Mann eifrig. »Mr. Pritchard erwartet Sie im VIP-Zimmer.«

Sie traten ein. Cabot erwiderte das grüßende Nicken der grauhaarigen Männer, die auf ledernen Clubsesseln saßen und ihre Wunden leckten, nachdem sie wahrscheinlich stattliche Summen verspielt hatten. Durch eine Doppeltür aus Teakholz gelangte er in den Spielbereich.

Der Raum war vollgepackt mit den Reichen und Skrupellosen der Insel. Mit Goldketten behangene Männer und mit Kollagen aufgespritzte Frauen drängten sich um die Tische, rauchten und setzten Tausende Dollar beim Roulette oder Seven-Eleven.

Cabot folgte dem Mann die mit Teppich ausgelegte Treppe hinauf und an mehreren Zimmern vorbei, bis sie eine mit Gold eingelegte Doppeltür erreichten.

»Wenn Monsieur gestatten«, sagte der Mann und trat ein.

Cabot zog den Ärmel hoch und sah auf die Rolex Daytona an seinem Handgelenk. Der Minutenzeiger hatte die volle Stunde passiert; die Tatsache, dass er sich verspätet hatte, war ihm noch unangenehmer als der Zigarettenrauch, der ihm in den Augen brannte.

Eine halbe Minute später war der Mann zurück, hielt ihm die Tür auf und sagte mit einer angedeuteten Verbeugung: »Mr. Pritchard erwartet Sie im Hauptzimmer.«

Wurde auch Zeit.

Cabot durchquerte das Wohnzimmer mit seinen pastellfarbenen Wänden, den kirschgebeizten Regalen und zwei cremefarbenen Couchen und gelangte in einen größeren Raum mit einem leeren, filzbespannten Spieltisch und einer grob gezimmerten Bar, wo zwei leicht bekleidete Mädchen ihn über ihre Champagnerflöten hinweg beäugten, aus denen sie ihren Veuve Clicquot süffelten.

Er ignorierte die Mädchen; sein Blick war unverwandt auf die zwei Männer gerichtet, die in riesigen Lehnstühlen in der Mitte des Zimmers saßen.

»Ah, Bertie, schau, wer endlich da ist«, sagte Nigel Pritchard mit einem boshaften Grinsen im fleischigen Gesicht.

Du fetter Scheißkerl.

»Wir hatten ein Transportproblem«, sagte Cabot.

»Ah, hat Ihr alter Sikorsky endgültig den Geist aufgegeben?«

»Nein.« Cabot hatte Mühe, seinen Zorn zu beherrschen. »Das Problem lag nicht auf meiner Seite.«

»Na ja, jetzt sind Sie ja da.«

»Ich glaube, er hat sogar ein Geschenk mitgebracht«, sagte der andere und deutete mit einem Kopfnicken auf die Flasche in Becks Hand.

»Das muss der berühmte Yamazaki sein, von dem mir unsere Freunde in Macau erzählt haben.« Pritchards Augen leuchteten, als er sich aus dem Stuhl wuchtete und durchs Zimmer wankte.

Nigel hatte offenbar getrunken. Für einen Augenblick schien es, als wollte er dem Deutschen die Whiskyflasche aus der Hand reißen. Seine Finger waren nur noch Zentimeter vom Flaschenhals entfernt, als ihn etwas in Becks Augen innehalten ließ.

Er erstarrte, zog die Hand zurück, als hätte er eine Schlange im Unterholz gesehen, und leckte sich nervös über die Lippen.

Bist ja doch nicht so dumm, wie du aussiehst, Nigel.

Pritchard riss seine Augen von der Flasche los und wandte sich an Cabot. »Und?«, blökte er gereizt.

»Geben Sie sie dem Hund«, sagte Cabot auf Deutsch zu seinem Leibwächter.

Beck reichte Nigel die Flasche, der zuerst das Label begutachtete, ehe er sie an eine der Nutten an der Bar weitergab.

»Schenk uns einen Drink ein, Liebes«, sagte er und forderte Cabot mit einer Geste auf, sich ihm gegenüber zu setzen.

Cabot ließ sich auf dem Stuhl nieder. Das herablassende Grinsen des Mannes zu seiner Linken ließ aufs Neue den Zorn in ihm hochsteigen. Er musste seine ganze beträchtliche Willenskraft aufbieten, um keine Miene zu verziehen und nicht auf die Provokation zu reagieren. Dass es ihm nicht ganz gelang, wusste er, als Nigel mit einem süffisanten Grinsen fragte: »Sie erinnern sich doch an Bertie, oder?«

Cabot wusste nicht, ob er sich auf seine Stimme verlassen konnte, und nickte nur.

»Wie dumm von mir. Natürlich erinnern Sie sich – er hat ja einmal für Sie gearbeitet«, spöttelte Nigel.

»André«, sagte sein ehemaliger Mitarbeiter mit einem Kopfnicken.

»André«nennst du mich, du rotznasiger kleiner Scheißer?

Als die Drinks kamen, hatte das Geplänkel ein Ende. Während Nigel einen Schluck von seinem Whisky nahm, holte Bertie einen Laptop hervor und stellte ihn auf den Tisch.

»Haben Sie das Geld?«

Im nächsten Augenblick war Beck an Cabots Seite, öffnete die Handschelle und legte den Koffer vor seinem Chef auf den Tisch.

»Fünfhunderttausend, wie vereinbart.« Cabot öffnete den Koffer, in dem sich ein dicker Stapel Inhaberschuldverschreibungen befand.

Bertie nickte, tippte einen Code ein, drückte die Eingabetaste und drehte den Laptop zu Cabot. Dieser zog eine goldene Lesebrille aus der Tasche.

Das ist es.

Er setzte die Brille auf, beugte sich vor, nahm den Laptop und stellte ihn auf seinen Schoß. Mit pochendem Herzen begutachtete er die Diagramme und Pläne, registrierte die Standorte der Sicherheitskräfte und der Großrechenanlagen – alles, was er wissen musste, um die Operation durchführen zu können, die sein Unternehmen – und sein Leben – retten würde.

Er hatte fast das ganze Dokument studiert und verspürte eine riesengroße Erleichterung. Als er die allerletzte Seite erreichte, entwich die ganze Euphorie aus ihm wie Luft aus einem platzenden Ballon.

Die Codes … wo zum Teufel sind die Codes?

Cabot starrte auf den Bildschirm und fragte sich, warum die Daten fehlten. Dann blickte er zu Nigel auf, der ihn über den Rand seines halb leeren Whiskyglases hinweg beäugte.

»Wir hatten einen Deal«, zischte Cabot.

»Ja, aber das war, bevor Sie die Sache in Uganda verbockt haben.«

»Wovon reden Sie?«, knurrte Cabot.

»Was sagst du dazu, Bertie? Er hat wirklich gedacht, er kann es geheim halten«, spottete Nigel, und seine feisten Wangen zitterten vor Lachen. »Hat gedacht, keiner merkt, dass er für die ugandische Regierung spioniert und ihr geholfen hat, die Wahl zu manipulieren.«

»Oder dass die französische Regierung ihn nicht mehr nach Afrika reisen lässt«, setzte Bertie höhnisch hinzu, »seit sie angefangen hat, das Vermögen von DarkCloud zu beschlagnahmen.«

»Wie viel?«, kam Cabot sofort auf den Punkt.

»Noch einmal fünfhunderttausend«, sagte Nigel und wischte sich die Tränen aus den Augen. »In Anbetracht Ihrer finanziellen Schwierigkeiten würde ich den Deal annehmen, bevor sich der Preis erhöht.«

»Sie werden das Geld auf Nigels Konto auf den Caymans überweisen«, erklärte Bertie. »Und wenn ich die Bestätigung erhalte …«

Cabot hatte genug gehört.

Er sprang auf, riss die Glock aus der Tasche und zielte auf Berties Stirn. »Ich zahle lieber sofort.«

Die Pistole zuckte in seiner Hand, als die Kugel den Kopf des Getroffenen zurückriss, dann wirbelte Cabot herum und feuerte Nigel zwei Kugeln in den Bauch.

»Sorgen Sie dafür, dass die Mädchen still sind«, rief er auf Deutsch. Kaum hatte er den Befehl ausgesprochen, hörte er ein sattes Klatschen und das Wimmern einer der Frauen an der Bar.

»Jetzt seid endlich still, Mädchen, sonst muss ich eure hübschen Hälse aufschlitzen«, warnte Beck.

Auf seinem Stuhl starrte Nigel auf sein blutgetränktes Hemd, ehe er zu Cabot aufblickte. »Was … was haben Sie getan?«, presste er mit weit aufgerissenen Augen heraus.

Cabot drosch ihm die Pistole in den Mund. Nigel kippte vom Stuhl, Blut und abgebrochene Zähne spritzten durch die Luft. Bevor der Dicke auf dem Boden aufprallte, packte Cabot ihn am Hemd.

»Wo sind die Codes?« Cabot drückte ihm den Lauf der Glock ins Gesicht. »Sag es mir, dann stirbst du schnell. Wenn du mich anlügst, zieht dir Beck mit einer Glasscherbe die Haut ab.«

»Gra… Grand-Bassam.«

»Wo in Grand-Bassam? Wer hat die Codes?«

Seine Antwort kam so leise, dass Cabot sich hinunterbeugen musste, um ihn zu verstehen. Erst nachdem Nigel es wiederholt hatte und Cabot sich sicher war, dass der Engländer die Wahrheit gesagt hatte, ließ er ihn los und drückte ihm die Glock auf die Brust.

»Jetzt ist dir das Lachen vergangen, was, Dicker?« Dann drückte er ab.

1 Ceuta, Spanien

Es war später Nachmittag und brütend heiß, als Carlito Rocha die Yamaha YZ125 auf dem Hügel zum Stehen brachte, von dem man die Calle Real überblickte. Vor einer Stunde war die Straße noch von Autos verstopft und von Fußgängern bevölkert gewesen, die sich auf den gepflasterten Gehsteigen vor den Schaufenstern der Boutiquen drängten.

Doch nun war Siesta und die Straße wie ausgestorben. Das einzige Geräusch war das Knattern des Zweitakters, als Carlito auf seinem Geländemotorrad den Hügel hinunterbrauste und in die Gasse am Ende des Blocks einbog.

Er hielt bei einem grünen Müllcontainer, schob das Motorrad dahinter und wuchtete es mit der Ferse seines zerschlissenen Tennisschuhs auf den Kickständer. Er hatte es so abgestellt, dass der Vorderreifen zur Straße zeigte. Einen Moment lang überlegte er, den Motor laufen zu lassen, für den Fall, dass jemand die Polizei rief und er schnell abhauen musste.

Nein, dann klaut es mir jemand, dachte er.

Carlito zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, wischte sich den Schweiß von der Stirn, zog die Riemen seines Rucksacks straff und ging zu der fünf Meter entfernten Metalltür. Er gab acht, nicht auf die zerbrochenen Bierflaschen und die Abfälle zu treten, die überall herumlagen. Kurz vor der Tür blieb er wie angewurzelt stehen.

Was zum Teufel ist das?

Er hätte nicht sagen können, was es war, aber irgendetwas stimmte nicht. Er ließ den Blick in die Richtung schweifen, aus der er gekommen war, und suchte die Mündung der Gasse nach irgendeiner Bedrohung ab, doch da war weit und breit niemand zu sehen.

Carlito zögerte und dachte an den Plan, den er sich vor einer Woche zurechtgelegt hatte. Nun fragte er sich, warum er es je für eine so brillante Idee gehalten hatte, das Barrio del Príncipe zu verlassen, das heruntergekommene Arbeiterviertel, das er wie seine Westentasche kannte, und sich im nördlich gelegenen Barrio de Borizu niederzulassen.

Die Antwort war damals nicht anders gewesen als jetzt. Er war in das nördliche Viertel übersiedelt, nachdem seine Familie im Zuge der Wirtschaftskrise von 2008 ihr zweistöckiges Haus am Meer verlassen und in eine schäbige kleine Wohnung hatte ziehen müssen. Nachdem sein Vater das letzte bisschen Geld, das ihnen geblieben war, verpulvert hatte, um sich zu Tode zu trinken, war Carlito die Verantwortung zugefallen, für seine Mutter und seine jüngeren Schwestern zu sorgen.

Er hatte sich bemüht, das Richtige zu tun und einen Job zu finden, doch die wirtschaftliche Lage in der Stadt war trist und geregelte Arbeit kaum noch zu finden. In dieser Situation blieben ihm nur zwei Möglichkeiten: hungern oder stehlen.

Und Carlito hatte das Hungern satt.

Also beschloss er, es in einem besseren Viertel zu versuchen und von Einbrüchen in Hotels beim Hafen zu leben, wo die guiris – die reichen Touristen – wohnten.

Er dachte an seine Mutter und seine Schwestern, die in ihrer schäbigen Wohnung saßen und hungerten. Sie zählen auf dich, Feigling, sagte er sich.

Carlito nahm die graue Skimaske aus der Gesäßtasche und zog sie über seine lockigen braunen Haare. Die Maske war schmutzig und stank nach Schweiß, doch das machte ihm nichts aus. Er holte das Brecheisen aus dem Rucksack und ging zur Tür.

Mit einer geübten Bewegung schob er die Spitze knapp oberhalb des Schlosses in den Spalt und zog den Griff des Brecheisens zurück. Der Riegel bewegte sich, gab aber nicht nach.

»Komm schon, Miststück«, fluchte er und stemmte den Fuß gegen die Wand.

Er lehnte sich zurück und zog, bis seine Arme zitterten und der Schweiß aus allen Poren drang. Er keuchte, seine Lippen bewegten sich in stillem Gebet, als er irgendeinen Gott, der ihn vielleicht hörte, anflehte, die Tür aufgehen zu lassen, bevor ihn die Kräfte verließen.

Mit einem jähen Ruck schwang die Tür auf, und Carlito verlor das Gleichgewicht.

Er stolperte nach hinten, und das Brecheisen glitt ihm aus den Händen. Das metallische Klappern auf dem Beton jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

Scheiße.

Mit pochendem Herzen hob er das Werkzeug auf und schob es in den Rucksack. Hinter der offenen Tür war es dunkel wie in einem Grab. Lauf, schrie seine innere Stimme. Schwing dich auf das Motorrad und verschwinde.

Doch sein knurrender Magen und der Gedanke an seine Familie in der schäbigen Wohnung behielten die Oberhand.

Carlito kramte in seinem Rucksack, nicht um irgendein Werkzeug – den rostigen Hammer oder den Bolzenschneider – herauszuholen. Seine Finger schlossen sich um den Griff der 44er Magnum, die er vorige Woche gestohlen hatte.

Der schwere Revolver in der Hand gab ihm seine Sicherheit zurück. Wer oder was auch immer ihn da drin erwartete – er war derjenige mit der Knarre in der Hand.

Mir kommt keiner blöd, dachte er und ging hinein.

Als Adam Hayes beim Hostal La Perla ankam, hatte er schon hundertzweiundfünfzig Tage niemanden mehr getötet. Es war nichts, womit man prahlen konnte, nicht einmal in einer gesetzlosen Stadt wie Ceuta, doch er wollte diese Serie von mordfreien Tagen nicht abreißen lassen. Deshalb stand er einen Augenblick draußen, begutachtete die verwitterte gelbe Fassade des La Perla und fragte sich, ob die Herberge die fünfundzwanzig Euro wert war, die ein Zimmer laut dem verblassten Schild kostete.

Es ist ja nur für eine Nacht.

Mit diesem Gedanken betrat er das Haus. Die »Lobby« passte zur Fassade: vier nackte Betonwände und ein zerschlissener Linoleumboden, zwei abgewetzte Couchen und ein verschrammter Holztisch mit verblichenen Reisezeitschriften.

Immerhin sah Hayes keine Ratten, was vermuten ließ, dass das Haus einigermaßen sauber war. Noch wichtiger war, dass keine Drecksäcke herumlungerten, wie Hayes ihnen mit Sicherheit begegnet wäre, hätte er eines der heruntergekommenen Hotels aufgesucht, in denen er sich in seinem früheren Leben einquartiert hatte.

Hotels, in denen sich Mörder, Zuhälter und Menschenhändler herumtrieben – die Art von Kundschaft, die Hayes’ Abzugfinger zucken ließ und seine Serie mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte reißen lassen.

Er ging zum Empfangstisch, wo der Nachtportier den Blick auf den Fernseher in der Ecke geheftet hatte.

»Ja?«, fragte er, ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden.

»Ein Zimmer«, sagte Hayes in akzentfreiem Spanisch. »Eins im Erdgeschoss, ganz hinten, wenn eins frei ist.«

»Jaja, wie Sie wollen«, sagte der Portier.

Ohne aufzublicken, fischte er die fünfundzwanzig Euro vom Tresen, die Hayes hingelegt hatte. Seine Hand wanderte unter die Theke und kam mit einem Schlüssel zurück, an dem ein verblichener Plastikanhänger baumelte.

»Zimmer 107«, sagte er, ohne das Geschehen im Fernsehen aus den Augen zu lassen. »Ganz hinten, bei den Toiletten.«

»Gracias.«

Hayes nahm den Schlüssel und folgte dem Marihuanageruch in einen Gang, der von zwei nackten Glühbirnen beleuchtet wurde. Er ließ seinen inneren Autopiloten übernehmen und folgte ganz der Routine, die er sich in Tausenden Einsatzstunden für Treadstone angeeignet hatte. Körper und Geist arbeiteten unabhängig von seinem bewussten Denken. Sein Blick fiel auf eine offene Tür, er verlangsamte automatisch seine Schritte, die Hand ging zum Griff der Pistole im Holster an der Taille.

Doch in dem Zimmer lauerte kein bewaffneter Killer; Hayes sah nur eine Gruppe ungewaschener Rucksacktouristen, die sich einen Joint teilten.

»Willst du einen Zug?«, fragte ihn einer der Burschen auf Französisch.

»Nein danke.«

Er ging weiter, blieb beim Notausgang stehen und vergewisserte sich, dass die Tür verriegelt war, ehe er Zimmer 107 betrat. Er hatte seine Arbeit für Treadstone vor zwei Jahren beendet und eigentlich angenommen, dass er es in Zukunft nicht mehr nötig haben würde, in heruntergekommenen Hotels abzusteigen. Das war ein Irrtum, wie ihm der verschrammte Resopaltisch und die uralte Klimaanlage über dem durchhängenden Bett deutlich machten.

Es ist ja nur für eine Nacht.

Seither waren drei Tage vergangen.

Die Klimaanlage hatte schon nach dem ersten Tag den Geist aufgegeben; seither war es drückend heiß im Zimmer. Zu heiß, um zu schlafen oder zu denken oder irgendetwas anderes zu tun als dazusitzen und zu schwitzen.

Doch Hayes beherrschte die Kunst des Erduldens. Er hatte diese Fähigkeit in seiner Zeit bei Treadstone perfektioniert – in jenem Special-Access-Programm der CIA, das ihn einst vom Militär abgeworben und zu einem staatlich sanktionierten Killer gemacht hatte.

Das Leinenhemd klebte am Rücken, als er am Tisch saß und das Magazin aus der STI Staccato XC holte und die Pistole zum dritten Mal an diesem Tag auseinandernahm.

Hayes ließ sich Zeit, wischte mit einem Tuch über das Trijicon-Miniatur-Reflexvisier und nahm den Schlitten ab. Er hatte gerade die Schließfeder und die Führungsstange auf ein ölgetränktes Hemd auf dem Tisch gelegt, als sein Mobiltelefon endlich klingelte.

Wurde aber auch Zeit.

»Da?«, meldete er sich und stellte das Telefon auf Freisprechen.

»Marina Hércules, weißt du, wo das ist?«, fragte die Stimme auf Russisch.

In den drei Tagen, die Hayes in dem stickigen Zimmer verbracht hatte, war er nicht untätig gewesen. Er hatte nicht nur seine Ausrüstung instand gehalten und regelmäßig die Pistole gereinigt, sondern sich auch den Plan eingeprägt, den er sich bei einem seiner Streifzüge durch die Stadt besorgt hatte.

»Ja, ich weiß, wo das ist.«

»Gut. Sei in einer Stunde in der Sky Bar. Und komm allein.«

Hayes trennte die Verbindung, setzte die Pistole zusammen, legte das Magazin ein, lud eine Kugel in die Kammer und stand auf. Er schob die STI ins Holster und trat ans Bett, auf dem sein gepackter Rucksack lag.

In seiner Zeit bei den Green Berets in Afghanistan hatte er gelernt, aus dem Rucksack zu leben und mit dem Nötigsten auszukommen. Außer dem, was er am Leib trug, hatte er nur ein zusätzliches Hemd, eine Hose, einen kleinen Kulturbeutel und vier Paar Socken dabei.

Was er sonst noch bei sich hatte, war dazu da, sich gegen potenzielle Angreifer zur Wehr zu setzen.

Hayes zog das Hemd aus, schnallte sich eine Kevlar-Schutzweste um und schob ein Extramagazin mit 9-mm-Hohlspitzpatronen in die Gürteltasche. Nachdem er den Reisegeldbeutel mit seinem Pass und Bargeld am Bauch befestigt hatte, zog er das Hemd wieder an. Er steckte ein Bündel Euroscheine in die rechte Hosentasche, das Microtech-Troodon-Schnappmesser in die linke, schulterte den Rucksack und ging zur Tür.

Hayes trat auf den Flur hinaus, schloss die Tür ab und ging in Richtung Büro. Als er am Notausgang vorbeiging, flog die Tür auf. Die grelle Sonne, die den dunklen Flur flutete, explodierte wie eine Blendgranate vor seinen Augen, sodass er für einen Augenblick nichts sehen konnte.

Sein Instinkt übernahm die Führung, ließ ihn einen schnellen Schritt nach links machen und mit der rechten Hand die Pistole aus dem Holster ziehen. Blinzelnd suchte er nach einem Ziel, als eine maskierte Gestalt in den Flur trat und eine Pistole auf Hayes’ Gesicht richtete.

2 Ceuta, Spanien

Hayes musterte den Mann erstaunlich ruhig, obwohl der Lauf der 44er Magnum wie ein Tunnel vor seinen Augen gähnte. Er nahm jedes noch so kleine Detail wahr, das Gewicht der Neunmillimeter in seiner Hand, den Druck seines Fingers am Abzug, die Stimme in seinem Kopf, die wie verrückt schrie.

TÖTEIHN. TÖTEIHN.

Hayes wusste, dass weder die Stimme noch die extreme Ruhe, die ihn in solchen Augenblicken überkam, natürliche Reaktionen waren. Es waren künstliche Emotionen, die ihm die Wissenschaftler von Treadstone antrainiert hatten, als sie ihn zum Killer einer Regierungsbehörde gemacht hatten.

Zu einem Raubtier, das darauf abgerichtet war zu töten, ohne mit der Wimper zu zucken.

Doch er hatte genug vom Töten. Dass der Mann, der ihm gegenüberstand, noch atmete, war der beste Beweis dafür, wie weit er sich bereits verändert hatte.

Hayes brachte die innere Stimme zum Schweigen, drängte sie zurück, bis sie nur noch als lästiges Hintergrundsummen zu hören war, und konzentrierte sich ganz auf den Mann mit der Pistole. Vielleicht war es die Angst in den Augen des Maskierten oder das Zittern der Pistole in seiner Hand – irgendetwas ließ ihn zögern und abwarten.

Ließ ihn nach einem Grund suchen, den Mann nicht zu töten.

Er nahm den Finger vom Abzug, ließ die Pistole sinken und betete, dass er nicht den größten Fehler seines Lebens gemacht hatte.

»Ganz ruhig«, sagte er auf Spanisch.

»G-Geld … ich w-will Geld.«

Die Stimme des Mannes war rau, aber nicht tief; Hayes wusste, dass er keinen Mann vor sich hatte, sondern einen Teenager.

Nein, ich töte sicher keinen jungen Burschen.

»Wie heißt du?«, fragte er und schob die Pistole ins Holster.

»Was?«

»Dein Name.«

»C-Carlito«, stammelte der Bursche.

»Hör zu, Carlito, warum …«

»Nein, Sie hören mir zu. Ich will Ihr Geld, sonst e-erschieße ich Sie.«

Markige Worte, doch Hayes nahm es ihm nicht ab.

»Jemanden zu erschießen ist keine Kleinigkeit«, sagte er und machte einen Schritt vor.

»S-stehen bleiben.«

Hayes ignorierte ihn, trat noch einen Schritt vor, bis er nur noch Zentimeter von der Pistole entfernt war. Nah genug, um zu sehen, dass Carlitos Zeigefinger sich weiß verfärbte, als er den Druck auf den Abzug verstärkte.

»Okay, ganz ruhig.«

Mit dem Zimmerschlüssel in der Hand hob Hayes die Arme und drehte die Handflächen nach außen, ohne die Pistole aus dem Blick zu verlieren, die auf sein Gesicht zielte. Er war fest entschlossen, die Situation gewaltlos zu lösen, doch als er das Klicken der Abzugsfeder hörte, war er sich nicht sicher, ob das noch möglich war.

Es machte letztlich keinen Unterschied, ob der Junge ihn wirklich erschießen wollte oder ob ihm nicht bewusst war, dass er den Abzug zu fest drückte. In beiden Fällen würde Hayes mit einer Kugel im Gesicht enden.

Ich hab genug von diesem blöden Spiel.

Seine Hände waren fast auf einer Höhe mit Carlitos Augen, als Hayes die Finger spreizte und den Zimmerschlüssel fallen ließ.

Das Licht, das durch die offene Tür hereinfiel, ließ den fallenden Schlüssel funkeln. Der unerwartete Lichtblitz lenkte Carlitos Aufmerksamkeit ab. Hayes beobachtete seine Augen und wartete auf den richtigen Moment. Als der Blick des Jungen abschweifte, schlug er zu.

Mit der linken Hand packte er den Lauf, mit der rechten die Trommel des Revolvers. Seine Finger schlossen sich um den Hahn und sicherten ihn, ehe er dem Jungen die Waffe entriss.

Im nächsten Augenblick war alles vorbei. Hayes drückte dem Jungen den Lauf des Revolvers gegen die Stirn.

»N-nicht schießen«, flehte der Junge.

Hayes ließ die Pistole sinken und schob sie in den Hosenbund. »Ich töte keine jungen Burschen«, sagte er und zog das Geldbündel aus der Hosentasche.

Verwirrt blickte Carlito auf das Geld, dann ins Hayes’ Gesicht.

»Ich … ich verstehe nicht.«

»Da gibt es nichts zu verstehen, Junge. Nimm das Geld und verschwinde.« Hayes drückte ihm das Geldbündel in die Hand. »Na los, worauf wartest du?«

Carlito schob das Geld in die Hosentasche und wandte sich zur Tür, während Hayes seinen Zimmerschlüssel aufhob.

»Eins noch, Junge«, rief er ihm nach. »Tu dir selbst einen Gefallen und hör auf, mit Waffen herumzufuchteln.«

Zwanzig Minuten später saß Hayes im Café La Habana, einen doppelten Wodka Tonic vor sich auf der schneeweißen Tischdecke. Das Geld, das er Carlito gegeben hatte, war eigentlich für den Rest des Monats gedacht gewesen. Seine edle Geste hatte eine momentane Lücke in seine Finanzen gerissen.

Du bist ein Idiot, meldete sich die Stimme in seinem Kopf.

Vielleicht, dachte Hayes und nahm einen Schluck von seinem Drink, aber ich bin lieber pleite, als einen Toten mehr auf dem Gewissen zu haben.

Die bittere Mischung von Limette, Tonic und geschmolzenem Eis machte die drückende Hitze für einen Augenblick erträglicher; vor allem aber beruhigte der Wodka seine angespannten Nerven. Er widerstand dem Drang, sich noch einen zu gönnen; für die bevorstehende Aufgabe brauchte er einen klaren Kopf.

Hayes blickte hinaus zur Hafenmündung und der Westport-Tri-Deck-Jacht, die an der Strandmauer vorbeiglitt. Die Luxusjacht war der beste Beweis dafür, wie sehr die Stadt sich seit seinem letzten Besuch verändert hatte.

Er lutschte einen Eiswürfel und bewunderte das Geschick, mit dem der Kapitän das riesige Fahrzeug in den Hafen lenkte. Hayes verfolgte das elegante Manöver, bis er die rothaarige Frau auf dem Sonnendeck bemerkte. Der kleine Junge, den sie in den Armen hielt, ließ seine Gedanken nach Hause in die Vereinigten Staaten schweifen.

Zu seiner Frau Annabelle und seinem dreijährigen Sohn Jack. Nach seinem Ausscheiden aus Treadstone hatte er ihr versprochen, alles zu tun, um die Gewalt hinter sich zu lassen und die Wut zu bezähmen, die ein Teil der Verhaltensmodifikation war, der die Ärzte ihn unterzogen hatten, um ihn in eine Killermaschine zu verwandeln.

Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um sein Versprechen zu halten, war so weit gegangen, seine Sachen in den alten Chevy zu packen und sich für anderthalb Jahre in ein selbst gewähltes Exil im Bundesstaat Washington zurückzuziehen. Er hatte seinen Stolz überwunden und sich an eine Seelenklempnerin in Tacoma gewandt, hatte die Medikamente genommen, die sie ihm verschrieben hatte, und ihr geglaubt, wenn sie ihm »enorme Fortschritte« bescheinigte.

Doch er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Vergangenheit ihn einholte und in eine Situation brachte, in der ihm nichts anderes übrig blieb als zu tun, was er am besten konnte: töten. Und so war es auch gekommen.

Hayes war sich darüber im Klaren gewesen, dass seine Taten Konsequenzen nach sich ziehen würden. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn Levi Shaw, der Direktor von Treadstone, ihn für eine Weile in irgendeinen abgelegenen Winkel der Erde verbannt hätte.

Aber nie hätte er sich träumen lassen, dass sie ihn aus dem Land jagen würden, mit dem Vermerk PNG im Reisepass.

Persona non grata.

Diplomatensprache für »Verpiss dich«.

Es hatte ihn hart getroffen, die Vereinigten Staaten verlassen zu müssen, vor allem, weil er seine Frau und seinen dreijährigen Sohn zurücklassen musste. Doch wenn er nicht freiwillig gegangen wäre, hätte es wahrscheinlich nicht lang gedauert, bis ein Kollege von einer Regierungsbehörde ihm eine Kugel in den Hinterkopf gejagt hätte.

Hayes riss sich mit einem Kopfschütteln von der Vergangenheit los und nahm sich einen Augenblick, um seine Gedanken zu klären, ehe er nach Westen blickte.

Mit ihrer weißen Stuckfassade und der purpurroten Markise war die Sky Bar kaum zu übersehen. Doch das Funkeln der untergehenden Sonne auf dem blauen Meer machte es ihm schwer, die eintretenden Leute zu identifizieren. Hätte sein Kontaktmann nicht ein so auffälliges Hawaiihemd getragen, hätte er ihn wahrscheinlich übersehen.

Mit der Serviette wischte Hayes die Fingerabdrücke von seinem Glas, schnappte sich seinen Rucksack und stand auf. Bei der Tür blieb er einen Augenblick stehen und studierte die sonnengebräunten Gesichter, die an ihm vorbeiströmten, achtete auf Geschwindigkeit und Körperhaltung der Passanten und entspannte sich schließlich.

Es war eine minimale und doch markante Veränderung seiner äußeren Erscheinung. Die Anspannung wich aus seinen blauen Augen, seine Schultern lockerten sich, sodass er wie ein ganz normaler Urlauber auf einem Nachmittagsspaziergang aussah, als er auf die Straße hinaustrat.

Er schlenderte Richtung Westen, doch während sein Körper entspannt war, blieben seine Augen wachsam, suchten jeden Eingang und jede Gasse ab. Mithilfe der Spiegel der geparkten Autos und der Schaufenster überprüfte er, was sich hinter ihm abspielte. Erst als er sich sicher war, dass ihm niemand folgte, bog er in die Gasse zur Sky Bar ein.

Er versteckte den Rucksack hinter einem Stapel leerer Bierkästen beim Hintereingang und drehte am Türgriff.

Verschlossen.

Doch darauf war Hayes vorbereitet.

Aus der Gesäßtasche zog er ein Nylonetui, ging in die Hocke und warf einen prüfenden Blick auf das Schloss.

Dann wollen wir mal.

Mit einem Spanner bewegte er den Schließzylinder, schob den Pick ins Schloss und begann die Stifte zu bearbeiten. Vor drei Jahren hätte er die Tür geöffnet, bevor der Besitzer den Schlüssel aus der Tasche ziehen konnte.

Schlösser zu knacken war jedoch eine Fähigkeit, die nachließ, wenn man aus der Übung kam.

Komm schon, du Mistkerl.

Die Sekunden dehnten sich zu Stunden. Ihm war schmerzlich bewusst, dass ihn jederzeit jemand sehen konnte, der an der Mündung der Gasse vorbeiging. Er war nahe daran, die Tür einzutreten, als er die Stifte endlich in der richtigen Position hatte und der Türgriff sich drehte.

Gott sei Dank, dachte er und schlüpfte durch die Tür.

Über die Personaltreppe gelangte er in den ersten Stock und in die Küche. Ohne die neugierigen Blicke der Köche und Tellerwäscher zu beachten, ging er zu der Stahltür und spähte durch das zerkratzte Plexiglasfenster in den Speisesaal.

Es war noch nicht Zeit fürs Abendessen; die schwarzhaarige Hostess stand gelangweilt hinter ihrer Mahagonitheke. Draußen auf der Terrasse saßen ein paar ältere Gäste bei Salat und Wein und genossen den Sonnenuntergang.

Wirklich belebt war nur die Bar, wo Hayes schließlich auch seine Kontaktperson, Wladimir Drugow, mit dem Rücken zu ihm an einem Tisch sitzen sah. Sein grell geblümtes Hemd wölbte sich über seiner beachtlichen Leibesfülle, seine grauen Augen fixierten die halb leere Flasche Wodka, die vor ihm auf dem Tisch stand.

Hayes trat durch die Tür und wartete, bis Wlad das Glas zum Mund führte, ehe er hinter ihn trat und ihm den Zeigefinger gegen den Hinterkopf drückte.

»Ne dwigajsja.« Keine Bewegung.

Wlad zuckte zusammen und kippte sich den Wodka übers Hemd.

»Was soll das, verdammt?«, protestierte er auf Russisch. »Ich hätte fast einen Herzinfarkt gekriegt.«

Hayes lächelte gezwungen und setzte sich zu ihm, während Wlad mit einer Serviette über sein Hemd wischte.

»Als ich in Syrien stationiert war, gab es da so eine lästige kleine koschetschka – eine Katze, die ständig um das Haus herumschlich. Sie tauchte zu den unmöglichsten Zeiten auf und machte allen Angst.«

»Und? Hast du sie getötet?«

Wlad sah ihn finster an. »Nein, ich habe sie nicht getötet. Eine Glocke habe ich ihr umgehängt.«

»Eine Glocke?«

»Damit ich sie kommen höre.«

»Ich hätte nie gedacht, dass du so ein Katzenfreund bist.«

»Die Katze war genau so eine Plage wie du.« Wlad griff nach der Flasche. »Aber man nimmt es in Kauf, weil es immer noch besser ist, als allein zu sein, oder?«

Hayes sah schweigend zu, wie der Russe die Wodkaflasche an die Lippen setzte und einen kräftigen Schluck nahm.

»Weißt du, was wirklich eine Plage ist, Wlad? Drei Tage in einem beschissenen Zimmer zu hocken, während dein Kontaktmann sich besäuft.«

Der Russe setzte die Flasche ab, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und warf Hayes einen finsteren Blick zu.

»Ich … ich, äh …«

Hayes hob die Hand, um ihm klarzumachen, dass er keine Ausreden hören wollte.

»Mich interessiert nur, ob du Kontakt aufgenommen hast.«

»Ich verstehe dich nicht – dass du ein solches Risiko eingehst für …«

»Wo findet das Treffen statt?«, fiel Hayes ihm ins Wort. »Das ist alles, was ich wissen will.«

Wlad war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden; sein Gesicht rötete sich, und seine Augen funkelten so zornig, dass Hayes einen Moment lang glaubte, er würde das Messer ziehen, das er an der Hüfte trug.

Von allen Russen, die Hayes begegnet waren, war Wlad noch der umgänglichste – oder war es gewesen, bevor er wieder mit dem Trinken angefangen hatte. Hayes wusste nicht, was den Mann aus der Bahn geworfen hatte, aber im Laufe des letzten Monats war ihm aufgefallen, dass Wlad immer mehr trank und immer weniger schlief. Die ungesunde Kombination ließ den Mann bei der kleinsten Kleinigkeit explodieren.

»Mogador.«

»Marokko – das ist Lucas Territorium.« Hayes verzog angewidert das Gesicht.

»Ist das ein Problem?«, fragte der Russe.

Hayes blickte stirnrunzelnd aus dem Fenster, wo ein schwarzes Schnellboot mit dröhnendem Motor in den Hafen brauste.

»Wann?«, fragte er.

»In acht Stunden.«

»Ist das dein Ernst?«, fragte er und fixierte den Russen stirnrunzelnd.

»Da.« Wlad zog ein Mobiltelefon aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Sie werden dich anrufen.«

»Dann mache ich mich besser auf den Weg.« Hayes schnappte sich das Handy und stand auf.

»Das ist Zeitverschwendung«, meinte der Russe und griff nach der Wodkaflasche.

Hayes schob das Handy in die Gesäßtasche, beugte sich blitzschnell vor und nahm die Flasche vom Tisch, bevor Wlads Finger sie berührten.

»Verdammt, was soll das?«

»Du hast genug gehabt.«

Zornrot sprang Wlad auf, hatte plötzlich das Messer in der Hand und ließ es aufschnappen.

»Du hast mir gar nichts zu befehlen!«

Hayes blickte auf die Klinge und funkelte den Russen finster an.

»Einer muss dir ja sagen, was Sache ist.«

Vor Wut bebend kam Wlad um den Tisch herum.

In seiner Zeit bei Treadstone hatte Hayes gelernt zu vermeiden, unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die seine Mission gefährden konnte. Ein Blick in Wlads Gesicht machte ihm klar, dass das nicht mehr möglich war.

Gut, wie du willst.

Hayes trat vor, packte Wlad am Handgelenk und drehte das Messer nach unten, während er den Russen zu sich zog. Seine linke Hand schnellte hoch und zielte – Daumen und Zeigefinger gespreizt – auf Wlads Hals.

Er traf ihn hart, aber kontrolliert, sodass der Schlag im allgemeinen Stimmengewirr kaum zu hören war.

Hayes hätte den Russen am liebsten k. o. geschlagen, doch er widerstand dem Drang und blickte sich kurz um.

Bisher war die Auseinandersetzung unbemerkt geblieben, doch das konnte sich schnell ändern. Hayes wusste aus Erfahrung, dass solche Situationen zwangsläufig eskalierten, wenn es wie heiße Lava durch seine Adern zu strömen begann. Dann war es nur eine Frage der Zeit, bis er die Pistole zog und dem Russen eine Kugel in die Stirn jagte.

Unter Aufbietung seiner ganzen Selbstbeherrschung packte er Wlad am Gürtel und zerrte ihn zur Toilette.

Als er die erste Kabine erreichte, hämmerte sein Herz wie ein Maschinengewehr, und sein Atem kam in kurzen, keuchenden Zügen. Er setzte den Russen unsanft auf den Klodeckel und hatte nur einen Gedanken: Hau ab, bevor du völlig die Beherrschung verlierst.

Wlad krachte mit dem Rücken gegen die Wand, was seine Lebensgeister weckte.

Er blickte auf, hob die Hand schützend an den Hals und blinzelte, als würde er aus tiefer Trance erwachen.

»Ich … ich …«, begann er mit heiserer Stimme.

Doch Hayes hörte gar nicht zu.

Er stieß sich von der Wand ab, spürte den Hemdkragen wie eine Schlinge um den Hals.

Ich krieg keine Luft.

Mit zitternden Fingern öffnete er den obersten Knopf und taumelte zum Waschbecken, drehte auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

Reiß dich zusammen.

Als sein Kopf klarer wurde, drehte Hayes das Wasser ab, trocknete sich das Gesicht mit ein paar Papiertüchern ab und ging zur Tür.

»Du brauchst mich!«, rief Wlad ihm nach.

Normalerweise hätte allein die Tatsache, dass er den Russen am Leben ließ, ausgereicht, um mit reinem Gewissen wegzugehen.

Doch diesmal war es anders.

Er hatte einem Arzt in Burkina Faso etwas versprochen – und er würde nicht zulassen, dass Wlad ihn zu einem Lügner machte.

Verdammt.

Als er sich an den Russen wandte, brüllte die Stimme in seinem Kopf wie ein Ausbilder auf dem Exerzierplatz.

Du baust Mist! Der Mann ist ein räudiger Hund. Ein Tier. Tu der Welt einen Gefallen und jag ihm eine Kugel in den Kopf, bevor es zu spät ist.

»Ich will, dass du die Flasche nicht mehr anrührst und nüchtern wirst«, sagte er.

»Ja … klar.«

»Fahr raus zum Flugplatz, lass die Maschine auftanken und warte auf mich. Hast du verstanden?«

»Ja.«

»Und Wlad – wenn du noch einmal mit dem Messer auf mich losgehst, bringe ich dich um.«

3 Washington, D. C.

Das Lincoln Town Car hielt vor dem Besucherzentrum des US-Kongresses, und Treadstone-Direktor Levi Shaw stieg aus. Er zeigte dem Sicherheitsbeamten seinen Ausweis und legte seine abgewetzte Aktentasche auf das Röntgengerät. Nachdem er seine Taschen geleert hatte, trat er durch den Metalldetektor und ging zum Aufzug, wo ihn zwei Pitbulls in Diensten der Regierungsbehörden erwarteten, beide in identischen blauen Anzügen.

»Morgen, Tommy«, sagte er und sah den Hauch eines Lächelns im Mundwinkel des hochgewachsenen Mannes.

»Direktor Shaw«, gab der Mann kopfnickend zurück, folgte ihm in den Aufzug und schob seine Ausweiskarte ins Lesegerät.

Das Licht blinkte grün, und die Tür schloss sich mit einem Zischen. Tommy drückte den Knopf mit dem Pfeil nach unten.

»Wir sind unterwegs«, sprach er in sein Funkgerät.

»Nur damit Sie’s wissen«, sagte Shaw, griff in die Hosentasche und zog einen Hundertdollarschein heraus, »der letzte Ball … das war eine glatte Fehlentscheidung.«

»Der war meilenweit aus«, erwiderte Tommy grinsend, nahm den Hunderter und hielt ihn ans Licht.

»Echt jetzt?«, wunderte sich Shaw.

»Bei euch CIA-Jungs weiß man nie.«

»Das kränkt mich jetzt aber«, sagte Shaw.

Tommy zuckte mit den Schultern und steckte den Hunderter ein, nachdem er sich vergewissert hatte, dass er echt war.

»Also, was gibt’s?«, fragte Shaw, nun wieder sehr ernst.

Tommy griff nach dem Funkgerät an seiner Hüfte, drehte am Knopf und wartete, bis das rote Licht ausging, ehe er antwortete.

»Ich weiß nicht, was Sie getan haben, aber da scheint jemand ziemlich angepisst zu sein.«

»Geht’s ein bisschen genauer, Tommy?«

»Es geht um Ihren Burschen – mehr weiß ich auch nicht.«

Scheiße.

»Danke, ich schulde Ihnen was.«

»Ist das Mindeste, was ich tun kann, Sir.« Tommy schaltete sein Funkgerät wieder ein, bevor der Aufzug zum Stehen kam.

Mit einem Zischen ging die Tür auf, und Shaw folgte seinem Aufpasser den Gang entlang. Seine Lackschuhe knirschten auf dem frisch gewachsten Boden.

Die meisten hätten in diesem Ort nur ein typisches Kellergeschoss einer Regierungsbehörde gesehen, mit unscheinbaren grauen Wänden und unbeschilderten Türen, die man keines Blickes würdigte. Für Shaw hatte dieser Keller jedoch eine ganz besondere Bedeutung; er rief ihm in Erinnerung, wie weit er es in den letzten sechs Monaten gebracht hatte. Der Aufstieg aus den tiefsten Tiefen des Pentagons, in die man ihn mit Operation Treadstone verbannt hatte, war völlig unerwartet gekommen. In diesem als »Friedhof« bezeichneten inoffiziellen Kellergeschoss hatte die Organisation finanziell ausgehungert ihrem Ende entgegengesehen.

Für Shaw war es schmerzhaft gewesen zuzusehen, wie sein Lebenswerk langsam zugrunde ging, aber er hatte sich damit abgefunden. Und dann, im buchstäblich letzten Moment, kam die Rettung, und Shaw war wieder mitten im Geschehen.

Doch das war schon wieder Vergangenheit – nun zählte nur noch, was auf der anderen Seite der Stahltür am Ende des Ganges passieren würde.

Jetzt heißt es hellwach sein, sagte er sich, als er in einen kurzen Gang einbog, der an einer Tür endete.

Auf den ersten Blick war es eine ganz gewöhnliche Tür. Das einzige Detail, das auf den besonderen Zweck des Raumes schließen ließ, war das blutrote Schild mit der Aufschrift ZUTRITTVERBOTEN. Als Tommy seine Karte über das Lesegerät zog, öffnete sich das Magnetschloss mit einem leisen Klick. Allein die Stärke der Tür bewies, dass es sich um kein gewöhnliches Büro handelte.

Ein streng dreinblickender Mann in schwarzer Uniform stand beim Röntgenscanner, ein anderer saß in einer kugelsicheren Kabine. Beide waren bewaffnet, doch im Gegensatz zu den blank polierten Pistolen in den Holstern der Sicherheitsbeamten oben im Erdgeschoss waren die Sig Sauer an ihren Hüften von jahrelangem Gebrauch abgenutzt.

»Guten Morgen, Direktor«, sagte der Mann am Röntgenscanner. »Legen Sie bitte die Tasche auf das Band und den Inhalt Ihrer Taschen in die Schale.«

Shaw befolgte die Anweisung, auch wenn er die Prozedur schon beim Betreten des Gebäudes über sich hatte ergehen lassen. Doch diesmal musste er nicht durch ein Magnetometer gehen, sondern wurde zu einem Ganzkörperscanner geleitet und aufgefordert, die Hände auf den Kopf zu legen.

»Alles in Ordnung«, sagte der Mann in der kugelsicheren Kabine.