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Nachdem sich Michael alias Tristan, Alice, Claire, Bene und Damian in der Theater-AG angefreundet haben, feiern sie gemeinsam ihren Schulabschluss. Danach trennen sich ihre Wege. Damian und Claire studieren, Bene gondelt als Animateur auf einem Kreuzfahrtschiff durch die Welt und Alice hat eine Ausbildung zur Malerin begonnen. Nur von Tristan weiß niemand etwas Genaueres. Als im Moor nahe ihrer Heimat eine Leiche gefunden wird, die Michaels Tristan-Kostüm trägt, ahnen die vier, dass ihr Freund die Partynacht nicht überlebt hat. Sie sind fest entschlossen, das Rätsel um Tristans Tod zu lüften. Doch schon bald stellt sich heraus: Er war nicht der Einzige mit einem Geheimnis.
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Sie lernen sich in der Theater-AG der Abschlussklasse kennen: Michael, den seit seiner letzten Hauptrolle alle nur noch Tristan nennen, Alice, Claire, Bene und Damian. Fünf Freunde, die das bestandene Abi so richtig feiern wollen. Dafür kommen sie in dem verlassenen Bootshaus von Claires Eltern ein letztes Mal zusammen. Danach trennen sich ihre Wege. Bis im Moor nahe ihrer Heimat eine Leiche auftaucht – in Michaels Tristan-Kostüm. Als den vier Freunden dämmert, dass er die Partynacht nicht überlebt hat, sind sie fest entschlossen, das Rätsel um Tristans Tod zu lüften. Doch schon bald stellt sich heraus: Tristan war nicht der Einzige mit einem Geheimnis.
Für euch, die ihr Bücher so sehr liebt,
dass ihr sie zu eurem Beruf gemacht habt –
und ganz besonders für unseren ehemaligen Deutschlehrer.
*
»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
Und grün des Lebens goldner Baum.«
Johann Wolfgang von Goethe
Er rennt einen Pfad entlang, weg vom Meer. Dabei lässt er nicht nur das Lachen und die Musik hinter sich, sondern auch den warmen Schein des Feuers und die bunt blinkenden Lichter. Er schlägt sich durch die Dunkelheit, der Mond nur eine bleiche Sichel am Himmel. Wege durch den Morast, denen er nicht traut, denn zu groß ist die Angst, dass sie ins Nichts führen. War es ein Fehler, diese Abkürzung zu nehmen? Wen das Moor einmal verschlingt, den gibt es nicht so leicht wieder her.
Er ist allein, muss sich beeilen, muss sie warnen, bevor es zu spät ist. Birkenäste ragen über den Weg wie schimmernde Gebeine. Zweige schlagen gegen seine bloßen Schienbeine. Er merkt nichts davon. Rennt und keucht, tastet dabei immer wieder nach seiner Hosentasche. Vergeblich. Was er sucht, ist nicht da.
Der Boden federt unter seinen Tritten. Das Moor um ihn herum knarzt und gurgelt wie ein hungriges Tier, das auf Beute lauert. Ein Vogel fliegt auf und krächzt ein Unheil verkündendes Lied. Er scheucht die Kreaturen auf, die schon schlafen. Ein unwilliges Geraschel setzt ein. Er kann nichts hören außer dem Keuchen, das aus seiner Lunge dringt.
Eine warme Flüssigkeit rinnt seine Schläfe hinab, das Wegwischen hat er längst aufgegeben. Eine Hand hat er zur Faust geballt, drückt sie in die Rippen, dort, wo es sticht. Es ist der Wind in seinem Gesicht, der dem Schmerz etwas entgegenhält. Der Wind und ein Gedanke, der in seinem Kopf hämmert. Wem nie … Wem nie durch Liebe …
Alles dreht sich, oben und unten kehren sich um. Er taumelt, weiß nur noch, dass er vorankommen muss. Doch er spürt, dass der Boden unter seinen Füßen fester wird, zuverlässiger. Sein Ellbogen schrammt an einem Birkenstamm entlang. Dann lichten sich die Bäume.
Das muss Gras unter seinen Füßen sein. Endlich, die Salzwiesen. Nun geht es steil den Deich bergauf. Er holt keuchend Luft, jeder Atemzug schmerzt. Seine Finger krallen sich beim Aufstieg in Grasbüscheln fest, damit er nicht wegrutscht. Aber dann spürt er etwas anderes. Harter, kalter Straßenbelag.
Plötzlich schneidet ein Lichtstrahl durch die Finsternis. Geblendet hebt er eine Hand vor die Augen. Scheinwerfer. Der Boden unter seinen Schuhen scheint zu vibrieren. Langsam lässt er die Hand sinken, starrt nach vorne, sieht nur die blendende Helle. Und da verlässt ein Flüstern seine Lippen, kaum wahrnehmbar gegen das Aufheulen des Motors: »Wem nie durch Liebe Leid geschah …«
»Bremsen, Alice! Du musst bremsen!«
Alice wirft Georg auf dem Beifahrersitz einen nervösen Blick zu, ehe sie die Augen wieder auf die Straße heftet. Er erinnert sie an ihren Fahrlehrer, und vermutlich hätte er gerade auch gerne ein zweites Set Pedalen, um das Auto zum Stehen zu bringen. »Das ist eine Vollsperrung! Du musst –«
»Bremsen, ich weiß!«, versichert Alice, tritt auf die Bremse und reißt das Lenkrad herum. Na bitte, die Ausfahrt hat sie noch erwischt. Haarscharf zwar und mit einem Schlenker auf die Gegenfahrbahn, aber was soll’s. Trotzdem wirft sie einen kurzen, schuldbewussten Blick zu ihrem Beifahrer.
»Du hättest Rennfahrerin statt Malerin werden sollen!«, stöhnt Georg neben ihr. Er tastet mit der Hand die Fahrzeugdecke ab, aber der klapprige Van hat keine Haltegriffe. Überhaupt ist die Schwere des Gefährts der einzige Grund, aus dem Alice die Kurve so knapp geschnitten hat. Bis unters Dach vollgepackt mit Leitern, Farbeimern und allerhand anderem Kram lenkt es sich einfach ganz anders als ihr schnittiger Beetle.
Georg fährt sich mit dem Taschentuch, mit dem er sich eben noch Farbe unter den Fingernägeln herausgepult hat, über die Stirn. Seit vier Jahrzehnten kutschiert er den Maler-Van zu den Baustellen und macht keinen Hehl daraus, dass er seiner neuen Auszubildenden Alice diese Aufgabe nur sehr widerwillig überlassen hat. Er bezeichnet ihren Fahrstil – je nach Tageslaune – als jugendlich oder schlichtweg gemeingefährlich.
»Was soll das überhaupt?«, fragt Alice, während sie den Kleinbus auf eine ihr unbekannte Nebenstraße lenkt. Sie führt weg vom Deich, weg von der Küste und damit grob in Richtung Nordenham. »Heute Morgen war hier noch keine Baustelle. Die können doch nicht einfach die ganze Landstraße sperren.«
»Vielleicht ein Unfall.« Georg dreht sich so weit nach hinten um, wie der Gurt und seine kräftige Statur es zulassen. »Wenn hier mehr Leute so rasant unterwegs sind wie du, wundert mich das nicht. Die Fahrten zu den Baustellen sind echt voller Nervenkitzel, seitdem du bei uns arbeitest.«
Alice beißt sich auf die Unterlippe und konzentriert sich lieber auf die Straße. Sie kennt ihren Ausbildungsleiter mittlerweile schon ziemlich gut und weiß, dass er nur dem Schrecken über die plötzliche Bremsung Luft machen muss. Am Ende des Tages wird er ihr auf die Schulter klopfen und sagen, dass er heilfroh ist, ihr das Malen und nicht das Fahren beibringen zu müssen. Darin macht sie sich nämlich richtig gut, wie er immer wieder betont.
»Da sind Blaulichter«, stellt er nun fest. »Mannomann, da ist ganz schön Polizei am Start. Vielleicht eine Massenkarambolage.«
»Auf der Straße ist doch kaum Verkehr.« Alice wirft einen schnellen Blick in den Seitenspiegel. »Warte mal, ist das nicht direkt an der Einmündung zum Campingplatz?« Sie hat keine Chance mehr, sich zu vergewissern, weil sie zu weit weg sind. Doch der pure Gedanke genügt, damit sich in ihrem Brustkorb ein dumpfer Druck bildet.
Georg mustert sie. »Ich bin nicht so der Camper. Zu unbequem, zu viele Stechmücken.«
»Der liegt direkt am Wattenmeer. Beim Schwimmenden Moor.«
Ein Seitenblick verrät ihr, dass Georgs Miene sich aufhellt. »Ach da. Ja, das müsste ungefähr die Höhe sein, gleich hinter dem Deich.«
»Ach, kein Camper also, aber trotzdem Fan der trivialen Touristenspots?«, zieht Alice ihren Ausbildungsleiter auf, um ihre eigenen Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Der Anblick des Blaulichts vor dem grauen Abendhimmel hat sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt.
»Touristenspots«, brummt Georg. »Das Schwimmende Moor ist ein Naturphänomen. Das muss man ja wohl kennen. Ist das einzige Außendeichmoor der Welt!«
»Weiß ich doch, Opa Bär«, entgegnet Alice leise. Aber nicht leise genug. Georg wirft das zerknüllte Papiertaschentuch nach ihr. Er hasst es, wenn Alice und sein auch ansonsten eher junges Team ihn wie den Großvater behandeln, der er als Fast-Rentner nun mal ist.
Seufzend setzt Alice den Blinker, um einen Schleichweg zu nehmen, der sich hoffentlich als Abkürzung herausstellt. »Mach mal die Musik aus«, bittet sie Georg und nickt in Richtung ihres Handys, das zwischen ihnen liegt.
»Was? Sag bloß, dieses sagenhaft melodische Lied stört deine Konzentration!«, spottet der Angesprochene, kommt ihrer Bitte aber nach – nicht ohne einen Seufzer der Erleichterung. »In Korea hört man das, sagst du, ja?«
»Nein, wenn man u-100 ist, hört man das auch hier.« Alice unterdrückt ein Schmunzeln. »Und jetzt hilf mir lieber, den Weg nach Nordenham zu finden.«
Hier draußen kennt sie sich nicht besonders gut aus. Wenn sie ans Meer will, zieht es sie eher an die Sandstrände, nicht an den schroffen Küstenstreifen hier. Nur einmal … Einmal hat sie einen ganzen Abend hier verbracht. Am Bootshaus von Claires Familie, an eben diesem Campingplatz zwischen Nordsee und Schwimmendem Moor, dessen Zufahrtsstraße direkt hinter der Vollsperrung liegen muss.
Über ein halbes Jahr ist das jetzt her. Ihre Abifeier. Natürlich nicht die offizielle. Die fand in der Stadthalle und unter striktem Alkoholverbot statt. Anwesend waren sie natürlich trotzdem alle. Aber die richtige Party stieg eine Woche später am Bootshaus.
Ein kleiner Teil von ihr würde gerne umdrehen und herausfinden, was es mit dem Einsatz auf sich hat. Nicht aus Sensationsgier, sondern um sicherzugehen, dass nichts Schlimmes passiert ist.
Vielleicht sollte sie später Claire schreiben. Aber vielleicht haben die Sperrung und das Polizeiaufgebot auch gar nichts mit dem Campingplatz zu tun. Vielleicht hat Georg recht, und es handelt sich um einen Autounfall. Ihr Bruder Adrien kommt ihr in den Sinn, der hier draußen mal eine Panne mit dem Motorrad hatte. So oder so … Ein ungutes Gefühl in ihrer Magengrube bleibt.
Claire stapelt ein Buch auf das andere. Es ist wenig los heute in der Bibliothek, und sie hat direkt ihren Lieblingstisch ergattert. Den ganz hinten im dunklen Eck mit Blick auf die langen Regalreihen. Sie ist immer noch ein wenig nervös, wenn sie sich zwischen den anderen Studierenden niederlässt. Als würden die ihr an der Nasenspitze oder womöglich eher an den bunten Klebezetteln und Textmarkern ansehen, dass sie noch ein Ersti ist und gerade erst die Einführungsveranstaltungen belegt.
Beim Gedanken an all das Wissen, das sie sich in den nächsten Semestern aneignen wird, entfährt Claire ein zufriedener Seufzer. Sie legt das letzte Buch oben auf den Stapel. Für einen Moment lässt sie die Hand darauf ruhen, spürt die kühle Glätte des Schutzumschlags unter ihren Fingern und zieht sie dann schnell zurück. Nicht, dass sie noch jemand dabei beobachtet.
Ihr Bücherwall rahmt ihren Laptop ein und schützt sie vor neugierigen Blicken. Wobei Mara gerne behauptet, dass nur ein Masochist neugierige Blicke auf Claires Sartorius-Gesetzessammlung und ihre Karteikarten werfen würde. Da mag sie recht haben, aber die Barriere gibt Claire zumindest das Gefühl, konzentrierter arbeiten zu können.
In ihre eigenen Bücher hat sie gleich am ersten Vorlesungstag in kühnen Schwüngen ihren Namen geschrieben: Claire Hagenbrock. Vor dem Vornamen hat sie am linken Seitenrand ein klein wenig Platz gelassen, gerade genug, um in ferner Zukunft ein Dr. jur. ergänzen zu können, falls sich dieser Traum irgendwann erfüllt. Das erste Semester hat sie schon beinahe geschafft, mittlerweile kennt sie den kürzesten Weg zur Mensa und verläuft sich auch kaum noch zwischen den Hörsälen. Nur sollte sie zukünftig vielleicht nicht mehr ganz so engagiert jedes einzelne Wort der Professorinnen und Professoren mitschreiben, sonst braucht sie schon bald ein neues Bücherregal für ihre Ordner.
Als der rothaarige Bibliotheksangestellte mit einem Stapel Strafrecht-Bücher in den Armen an ihr vorbeiläuft, schenkt er ihr wie üblich ein Lächeln. Kein Wunder, die Bibliothek im Göttinger Juridicum ist seit Semesterbeginn im letzten Oktober so was wie ihr zweites Zuhause. Für die Angestellten ist der Anblick von Claires über ihren Arbeitsplatz gebeugtem Kopf wahrscheinlich so vertraut wie die kränkelnde Topfpflanze daheim oder die Plakatwerbung an den Bushaltestellen.
Claire liebt die Routine: Wie sie abends durch die Eingangstür der Bibliothek tritt, staubige Bücherluft einatmet, ihren Mantel aufhängt, ihren Spind aufschließt, die Tasche darin verstaut und die Unterlagen herausnimmt. Sie liebt es, hier zu sein, hier zu lernen. Und folgerichtig bringt sie auch den Bibliotheksangestellten eine gewisse Sympathie entgegen.
Aber das ist noch lange kein Grund, dass dieser Rothaarige sie so penetrant anstarrt. Ha! Jetzt zwinkert er auch noch! Sein Lächeln wirkt heute irgendwie falsch, unnatürlich und gleichzeitig aufdringlich wie bei einer Schaufensterpuppe. Claire zieht eine Augenbraue nach oben und wirft ihm einen derart kühlen Blick zu, dass die Nordsee davon zufrieren könnte. Wenigstens eine nützliche Sache, die sie von ihrem Vater gelernt hat. Verachtung zeigen, das können die Hagenbrocks.
Der Rothaarige ergreift mit einem verstörten Gesichtsausdruck die Flucht, und Claire wendet sich wieder ihrem Laptop zu. Ihre Finger huschen über die Tasten. Jeden Montag kontrolliert sie zuerst eine halbe Stunde lang ihre Internetpräsenz.
Erst Google. Sie tippt Claire Hagenbrock in die Suchmaske und scrollt durch die Ergebnisse. Wie immer tauchen zuerst Erwähnungen ihrer Eltern und deren alteingesessener Anwaltskanzlei auf, dann ein Eintrag ihrer früheren Schule über besonders gute Abiturleistungen. Das darf gerne stehen bleiben. Ganz unten auf der Seite findet sich ein Verweis auf den Online-Artikel einer Regionalzeitung: Schülergruppe begeistert mit Tristan-Aufführung. Claires Name ist im Text erwähnt.
Sie presst die Zähne aufeinander. Es ist nicht das erste Mal, dass sie an diesem Artikel hängen bleibt. Unschlüssig lehnt sie sich im Stuhl zurück. Die Muskeln in ihrem Nacken melden eine zunehmende Verspannung. Geistesabwesend beginnt Claire, mit einer Hand die Stelle zu massieren. Aus den Augenwinkeln nimmt sie wahr, wie der Rothaarige mit seinem Bücherwagen einen großen Bogen um ihren Tisch macht. Er schleicht beinahe. Trotzdem bemerkt Claire seine Anwesenheit und hat das Gefühl, sich noch mehr abschirmen zu müssen. Oder ist es nur die Erwähnung der Theatergruppe, die das Unbehagen auslöst? Sie kann nichts gegen diesen Eintrag tun, das weiß sie auch, aber trotzdem …
Dann schließt sie die Seite. Stattdessen beauftragt sie die Bildersuche. Die meisten Treffer haben nichts mit ihr zu tun. Nur ein Foto ihres Vaters beim Händeschütteln mit irgendwelchen Politikerinnen und Politikern taucht auf. Für einen Moment studiert Claire das verschwommene Gesicht ihres Vaters, die buschigen Augenbrauen, das energisch vorgestreckte Kinn, das sie angeblich von ihm geerbt hat. Ein alternder Patriarch mit einer spießigen Krawatte. Hat Claires Mutter ihm die nicht zu Weihnachten geschenkt?
Claire streicht sich das lange Haar über die Schulter zurück. Als Nächstes checkt sie die Homepage ihres Schwimmvereins. Ein Bild von ihr im Badeanzug kann sie schon gar nicht brauchen. Nur Fotos aus der Schulzeit in Zusammenhang mit ihren herausragenden Noten dürfen im Netz bleiben. Abiturpreisverleihung, soziales Engagement. Das sehen die großen, wichtigen Kanzleien gern. Denn dort will Claire nach dem Studium hin. Und neben hervorragenden Leistungen in den beiden Staatsexamina braucht sie dafür eine blütenreine Weste.
Zum Abschluss ihrer Suche loggt sie sich noch auf Instagram ein. Gepostet hat sie noch nie etwas, aber dafür folgt sie sämtlichen Verwandten und Bekannten und ist garantiert die Einzige, die wirklich jedes ihrer Bilder genau anschaut. Sie scrollt sich durch den Feed. Nataschas Pferd, das Natascha so ähnlich sieht. Gwen und Claudius auf Lanzarote. Tanzende Kommilitoninnen im EinsB und im Hintergrund – Moment mal. Claire beugt sich näher an den Laptop heran. Das ist sie selbst, mit einem Cocktailglas in der Hand.
»Wie kann die nur so ignorant sein«, schimpft Claire leise vor sich hin. Sie ballt die Hände zu Fäusten. Genau das, was sie nicht brauchen kann!
Könntest du das bitte löschen? Claire schreibt Maike sofort eine Nachricht und fügt die Bitte hinzu, in Zukunft darauf zu achten, dass sie nicht auf Fotos zu sehen ist. Keine weiteren Treffer, Claire atmet auf. Sie will den Browser gerade schließen, da registriert sie ein einzelnes Wort in ihrem Nachrichtenfeed: »Nordenham-Leiche«.
Reglos starrt Claire auf den Bildschirm. Ihre Finger auf der Tastatur fühlen sich plötzlich eiskalt an. Wie in Zeitlupe bewegt sie ihre Hand zum Touchpad, scrollt nach unten. In ihrer Heimatstadt ist eine Moorleiche gefunden worden. Übelkeit steigt in ihr auf, während einzelne Wörter ihr ins Auge springen: »überraschend gut erhalten«, »offenbar sehr alt«. Claires Brustkorb fühlt sich plötzlich zu eng an, um Atem zu holen. Überraschend gut erhalten. Claire hebt die Hände vors Gesicht. Zum ersten Mal braucht sie den Wall aus Büchern wirklich.
»Danke für den geilen Abend! Ihr seid der Hammer! Bestes Publikum diese Woche!« Damians Stimme überschlägt sich am Ende des Satzes leicht und wird zu einem heiseren Krächzen, das im Applaus untergeht. Morgen wird er die Klappe halten müssen und Salbeitee trinken – wie immer nach einem Auftritt.
Irgendjemand sorgt dafür, dass Musik aus den Boxen dringt. Zahme Hintergrundmusik, bei der man sich noch einigermaßen unterhalten kann, während Area 52 ihre Instrumente nehmen und von der Bühne gehen.
Damian atmet tief die stickige Luft der vollgestopften Kneipe ein und wirft einen letzten Blick auf die Leute, ehe er seiner Band in den Nebenraum folgt, der ihnen als Backstagebereich dient.
»Bestes Publikum diese Woche …« Marten klopft ihm auf die Schulter und brät ihm dabei fast mit den Drumsticks eins über. »Dir ist wohl das Mineralwasser zu Kopfe gestiegen, was? Mein restliches Publikum diese Woche bestand aus einer Handvoll Schlagzeugschülern. Und deins? Hast deinen Dozenten was vorgezwitschert?«
Statt zu antworten, lacht Damian laut und nimmt das Glas entgegen, das Seraphina ihm reicht. Aperol, dem Geruch nach. Aber egal, es ist flüssig und Damians Kehle ausgetrocknet. Er leert es in einem Zug und kippt eine Flasche Wasser hinterher, um den bitteren Nachgeschmack hinunterzuspülen.
Elton wischt sich die verschwitzten Locken aus der Stirn und nimmt ebenfalls ein Glas Aperol Spritz von Seraphina entgegen. »Gab’s kein Bier mehr?«
»Getränke für die Band gehen auf’s Haus.« Seraphina kräuselt ihre Nase. »Da bestelle ich doch kein Bier. War ganz gut heute, oder?« Sie stellt ihr eigenes halb leeres Glas zur Seite, um ihren Bass im zugehörigen Koffer zu verstauen.
»Ja, Hammer Auftritt, Folks, gut gemacht.« Damian hebt seine Wasserflasche. Wird Zeit, dass er sich einen Wein besorgt. Was Bier angeht, stimmt er Seraphina zu: Was für ein widerliches Gebräu. Er wirft die leere Plastikflasche auf einen Tisch und wischt sich die Handflächen an seiner Jeans ab. Die Fingerspitzen der linken Hand spannen noch von den Saiten der Gitarre, und sein Shirt ist genauso schweißnass wie seine Haare unter dem grauen Herrenhut. Trotzdem hebt er ihn kurz an, um etwas Luft darunter zu lassen. Ohne ihn wäre sein Outfit nicht komplett.
»Mischen wir uns unters Volk«, fordert Elton und hält ihnen die Tür auf, damit sie sich ins Gewühl stürzen können. Das Konzert war gut besucht, die Bar ist immer noch rappelvoll. Damian voran machen sich Area 52 auf den Weg zum Tresen, um sich neue Getränke zu besorgen. Unterwegs klopfen ihnen einige Leute auf die Schultern: Mitstudierende, Musikerkolleginnen und -kollegen, ein paar Fans, die zu allen Auftritten der Band kommen. Bei den Türen, die zum Parkplatz hinausführen, drücken sich ein paar Mädels herum und tuscheln. Allem Anschein nach darüber, ob sie Damian und die anderen ansprechen sollen oder nicht. Das kennt er schon, aber es bringt ihn immer noch zum Grinsen. Er wird sich an der Bar eine Flasche Wein und ein paar Gläser holen und diese Mädels so richtig glücklich machen, indem er rübergeht und ihnen die Entscheidung abnimmt.
»Du warst so gut!« Arme schlingen sich im Gedränge von der Seite um ihn. »Ihr alle!«
»Danke, Romy.« Pflichtschuldig drückt Damian ihr einen Kuss auf die Wange, doch Romy lacht nur und zieht ihn näher an sich heran.
»Was war das denn?« Sie tippt ihm an die Hutkrempe, und kurz hat Damian Angst, dass sie ihm sein Markenzeichen einfach abnehmen wird. Stattdessen legt sie den Kopf in den Nacken, vergräbt beide Hände in seinem langen Haar und zieht ihn zu sich, um ihn zu küssen. Und zwar richtig. Was sie verflixt gut kann.
Erst als seine Freunde laut johlen, gelingt es Damian, sich loszureißen.
»Neidisch?«, fragt er flapsig, sieht aber zu, dass er ein wenig Abstand zwischen sich und Romy bringt. Ein Blick über die Schulter verrät ihm, dass die Mädels neben der Tür jetzt mit ein paar Typen im Gespräch sind. Nur eine der drei schaut noch zu ihm rüber und sieht dabei ziemlich enttäuscht aus. Klasse, jetzt denkt sie vermutlich, er hätte eine Freundin. Dabei hat diese Sache zwischen ihm und Romy das Label »Beziehung« nun wirklich nicht verdient.
»Ich hol mir was zu trinken!«, brüllt Damian über den Lärm ihrer Umgebung hinweg in Romys Ohr. Seine Stimme klingt wie Schleifpapier. Nicht mehr rockig rau, sondern eher ein bisschen kaputt. Aber ihm ist sowieso nicht nach Reden, sondern nach Feiern.
Wie selbstverständlich hakt Romy sich bei ihm unter. Gut sieht sie schon aus. Besser als die Mädels an der Tür, die wahrscheinlich sowieso zu jung für ihn sind. Das Haar trägt sie heute – anders als an der Fachhochschule – offen, und ihr schwarzes Top ist seitlich geschnürt, sodass Damian die weiche Haut an ihrer Taille berühren könnte, würde er jetzt den Arm um sie legen.
Er überlegt gerade, ob er es einfach machen soll, da spürt er die Vibration seines Handys in der Hosentasche. »Warte mal«, formt er mit den Lippen und zieht das Smartphone heraus. Er muss zweimal auf das Display sehen, um sicherzugehen, dass er sich nicht täuscht. Was in aller Welt …?
»Gleich wieder da!«, krächzt er über den Lärm und schiebt sich unter Zuhilfenahme seiner Ellbogen in Richtung Tür. Das Mädel von eben sieht ihm nach, als er nach draußen schlüpft. Vielleicht wird sie ihm folgen. Aber im Augenblick ist das egal.
Die Anruferin hat offenbar aufgegeben, und Damian muss zurückrufen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit hebt jemand ab.
»Oma?«, fragt er irritiert. »Du hast gerade bei mir angerufen?« Und das um diese Uhrzeit. Damians Eingeweide krampfen sich schmerzhaft zusammen. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass irgendetwas passiert sein muss. Opa im Krankenhaus. Ein Unfall. Das Haus brennt. Sonst würde sie schon längst schlafen.
»Damian?« Tatsächlich klingt sie aufgeregt. Das hört er schon an diesem einen Wort.
»Ja, Oma, ich bin dran. Ist alles okay?«
»Nein! Hast du es noch gar nicht gehört? Sie haben heute eine Leiche gefunden!«
»Bei euch in Nordenham?«
»Im Schwimmenden Moor! Beate von nebenan sagt, der Kleidung nach ein Ritter oder so was.« Ihre Stimme überschlägt sich fast, aber jetzt weiß Damian, dass es eher Aufregung über die Ereignisse in ihrer sonst so ruhigen Kleinstadt ist. »Der Körper ist erstaunlich gut erhalten, wegen der Säure im Moor oder so. Beate wusste das auch nicht so genau. Aber ihr Sohn hat ein Foto geschickt. Er ist doch jetzt bei der Polizei, weißt du?« Sie wartet keine Antwort ab. »Sie hat es mir gezeigt. Unheimlich, Damian, unheimlich, das sag ich dir. Bist du noch dran?«
»Äh … ja, Oma. Aber ich arbeite gerade eigentlich.« Sein Blick wandert zurück zur Eingangstür der Musikkneipe. »Wir hatten heute einen Auftritt. Aber ich ruf dich morgen an, ja? Vielleicht kann ich vorher im Internet noch ein bisschen mehr über den Ritter aus dem Moor rausfinden.«
»Mach das, mein Junge! Opa und ich sehen jetzt mal, ob sie in den Spätnachrichten schon was darüber bringen.«
Damian legt auf. Kopfschüttelnd verstaut er das Handy wieder in seiner Hosentasche. Eine historische Moorleiche in der Nähe seiner Heimatstadt. »Unheimlich« trifft es da schon ganz gut, wenn er ehrlich ist.
Wohin er auch blickt, Bene sieht nur Bling-Bling. Auf den Tischen mit dem Silberbesteck und den funkelnden Weingläsern, an der Discokugel über seinem Kopf und vor allem am Hals von Frau Heuerlein, die er in seinen Armen hält. Die Gute ist mit Schmuck behängt wie der Christbaum am Rockefeller Center. Ihr Kleid ist eine Nummer zu klein, die falschen Wimpern etwas schief aufgeklebt, aber dafür ist sie wirklich nett. Und sie scheint sich unter dieser glitzernden Discokugel wieder richtig jung zu fühlen. Bene gibt ihr ausreichend Schwung für die nächste Drehung mit und muss lächeln, als sie sich begeistert kichernd um die eigene Achse dreht.
»Bester Tänzer – auf dem ganzen Schiff!«, schnauft sie.
»Stets zu Diensten, Frau Heuerlein.« Bene deutet einen militärischen Gruß mit seiner nicht vorhandenen Mütze an.
Sie quietscht entzückt. Bene zwinkert ihr zu und bremst sie etwas, damit sie wieder in den Takt kommen. Er muss aufpassen, dass sie sich vor lauter atemlosem Hüpfen nicht in ihrem Abendkleid verheddert.
Heute haben sich alle in Schale geworfen. Das Captain’s Dinner ist der kulinarische Höhepunkt der Kreuzfahrt und gleichzeitig der letzte Abend an Bord. Genau wie die anderen Crew-Mitglieder trägt Bene einen weißen Smoking mit einer schwarzen Fliege. Sein Haar ist sorgfältig gegelt, seine Schuhe blank poliert, sein Lächeln noch strahlender als sonst. Das Weiß des Smokings hebt sich von seiner dunklen Haut ab, das sieht ziemlich cool aus und fällt hier auf dem Schiff viel weniger auf als daheim in der niedersächsischen Kleinstadt. Das liegt sicherlich daran, dass die Besatzung sowie die Gäste aus ganz unterschiedlichen Ländern kommen. Bene ist längst nicht die einzige Person of Color, vielleicht hat er sich deshalb hier so schnell eingelebt.
Die Band spielt, er wirbelt auf der Tanzfläche herum, es ist laut und viel los. Das hier ist seine Welt – und auch wieder nicht. Denn wenn die Party vorbei ist, wenn aufgeräumt und geputzt ist und die Passagiere sich nach und nach in ihre Kabinen und Suiten zurückziehen, dann lässt auch das Adrenalin nach. Dann wird er mit den anderen Animateurinnen und Animateuren in ihre Kajüten zurückkehren. Dann klettert jeder in sein Stockbett, zieht den Vorhang vor. Der eine wird noch meckern, dass die Schuhe des anderen müffeln, der nächste sein Ladekabel suchen und sich noch einen Film reinziehen. Und Bene wird in seiner Koje liegen, auf die Fotos an der Wand starren und sich fragen, was seine Eltern gerade machen. Und seine Freunde.
»So ein schönes Captain’s Dinner! Das gab’s noch nie. Und ich muss es wissen … Bin schließlich schon achtmal mitgefahren!« Frau Heuerlein stößt die Luft zwischen den Zähnen hervor, während sie Bene anstrahlt. »Den Luxusurlaub musste ich mir auf die harte Tour verdienen. Meine ganzen Kriminalromane haben sich wirklich nicht von allein geschrieben!«
Oh, also hat er mit einer berühmten Autorin getanzt. Bene würde gerne nachfragen, doch da sieht er über ihre Schulter Noah, der an der Bar steht. Er deutet auf Bene und winkt ihn zu sich. Was ist jetzt schon wieder los?
Er erwidert das Lächeln seiner Tanzpartnerin und lässt die letzten Takte des Liedes mit ein paar Grundschritten ausklingen. »Danke, dass ich Sie zu diesem Tanz entführen durfte. Und viel Erfolg weiterhin mit Ihren Büchern!« Er tut so, als nähme er ihre leicht enttäuschte Miene nicht wahr, geleitet sie noch zu ihrem Platz zurück und winkt dem Kellner, um ihr ein Wasser zu bestellen. Dann schlendert er zur Bar hinüber.
Andrej wirbelt gerade Orangenscheiben durch die Luft und gießt großzügig Tequila in Gläser. Das Regal hinter ihm für all die geheimnisvollen Flaschen mit bunten Flüssigkeiten darin ist mit LEDs beleuchtet. Bene hilft ihm manchmal beim Mixen, wenn Andrej viel zu tun hat. Aber die Übersicht über die Zusammensetzung der teils ziemlich komplizierten Cocktails hat er noch lange nicht. Über dem Barschrank hängt ein riesiger Fernseher. Es läuft eine Nachrichtensendung. Bene sieht ein Absperrband unheilverkündend im Wind flattern, Wolken türmen sich an einem stahlgrauen Himmel übereinander. Dann schwenkt die Kamera auf einen Moderator, der ein scheußliches Hawaiihemd mit Glanzeffekt trägt und sich gegen den Wind stemmt. Irgendetwas scheint ihn vollauf zu begeistern.
Noah empfängt Bene mit Handschlag. »Na, wie viel hat die Alte dir bezahlt für den Kuscheltanz?«
»Alter! Hast du keine Ehre?« Bene macht sich los. »Sie ist nett. Im Gegensatz zu dir!«
»Du bist einfach eine leckere kleine Süßigkeit. Perfekt zum Dessert!« Noah kneift ihn in die Wange. »Die will dich vernaschen, da lässt sie bestimmt noch mal ordentlich Trinkgeld springen.«
»Zu Recht, weil ich hundertmal besser aussehe als du Milchbubi.« Bene boxt ihm gegen die Schulter. Noah ist ein Arsch. Er wird ihn morgen früh beim Bankdrücken-Battle leiden lassen. Oder zu einem Sprint über das Sonnendeck herausfordern. Ach nein, morgen sind sie ja gar nicht mehr auf dem Schiff.
»Hey, ich hab dich eigentlich wegen dem Beitrag hier gerufen. Nordenham, das ist doch das Kuhkaff, aus dem du kommst, oder?« Noah zeigt auf den Fernseher.
Bene blickt wieder hoch, gerade rechtzeitig, um in blinkenden roten Buchstaben das Wort »Moorleiche« über den Bildschirm ziehen zu sehen, während der Moderator in sein Mikro brüllt und mit einer Hand sein wild im Wind flatterndes Haar zu bändigen versucht. Ist das ein Stück Deich im Hintergrund?
»Na, wen hast du da versenkt, Bene?«, witzelt Noah.
Bene ignoriert ihn. Unruhe ergreift von ihm Besitz. Er beginnt, in seinem schicken Anzug zu schwitzen. »Andrej, kannst du das bitte lauter machen?«
Andrej schaltet den Ton an, doch die Kapelle setzt gerade lautstark mit Diamonds Are a Girl’s Best Friend ein, sodass Bene nur Satzfetzen von dem Fernsehbericht versteht. Immer wieder fällt der Name Nordenham.
»Jahrhundertfund!«, ruft der Moderator. »Historische Gewandung!« Er kommentiert weiter, während eine verwackelte Filmaufnahme eingeblendet wird, offenbar aus weiter Entfernung mit Zoom aufgenommen. Bene sieht ein Zelt, gerade werden Scheinwerfer aufgebaut, Leute in weißen Ganzkörperanzügen laufen durchs Bild. Und dort unten, am Boden … Ein klauenartiger Umriss. Es scheint ein Arm zu sein, eine gekrümmte Hand, die Finger starr und wie von einer ledrigen Textur überzogen. Eine Frau kniet daneben, mit Mundschutz und einer Art Pinsel in der Hand.
Unwillkürlich beugt Bene sich weiter vor. Was ist das für ein Stück Stoff, da am Handgelenk der uralten Moorleiche? Irgendetwas irritiert ihn daran. Die Aufnahme ist nicht scharf genug, um es genau erkennen zu können, aber … Da tritt plötzlich eine der Gestalten zur Seite und für einen Moment ist der ganze Oberkörper sichtbar. Etwas glänzt dort unvermutet auf.
Bene zuckt zusammen. Der übermotivierte Moderator wird wieder eingeblendet, doch Bene hört kein Wort mehr von dem, was er erzählt. Das Blut pocht in seinen Ohren. Er sieht noch immer den Brustharnisch vor sich und weiß – auch wenn die Kamera das gar nicht gezeigt hat –, dass dazu ein altertümlich anmutender Schwertgürtel gehört.
Claire lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen und lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Gemütlich warm ist es hier, doch sie macht keine Anstalten, ihren Mantel auszuziehen. Aus der Küche riecht es nach Tomatensoße und Gewürzen, das Geräusch von fröhlich klappernden Küchenutensilien dringt zu ihr herüber, doch Claire ruft nicht ihr übliches »Moin!«.
Sie steht einfach nur da. Für einen Moment lang schließt sie die Augen und gestattet den wirbelnden Gedanken in ihrem Kopf, die Führung zu übernehmen. Eine Leiche im Moor, im Schwimmenden Moor nahe Nordenham. Sämtliche Boulevardblätter sind schon vor Ort, schreiben von dem historischen Fund, der ungewöhnlichen Bekleidung. Claire hat nach dem ersten Schock in der Bibliothek nur wenige Minuten gebraucht, um sich einen Überblick über die Berichterstattung zu verschaffen. Viel Material gibt es noch nicht. Aber im Hintergrund auf einem der Bilder hat sie direkt den Campingplatz entdeckt, in dessen Nähe das Bootshaus ihrer Familie ist.
»Ich habe mir doch gedacht, dass ich etwas gehört habe.« Mara bringt den Duft des Tomatensugos mit sich, als sie Claire umarmt. »Was ist los, askim? Haben sie dich aus der Bib geschmissen, weil du wieder sämtliche Bibliothekare mit deinen Sonderwünschen herumgescheucht hast?« Sie sagt es mit einem Grinsen und gibt Claire dabei einen liebevollen Stups mit der Nase gegen die Wange.
Claire würde sich so gerne an ihr festhalten. Es wäre so tröstlich, die Umarmung zu erwidern, Mara an sich zu drücken, ihre beruhigende Wärme zu spüren, der sanften Rundung ihrer Schultern mit den Lippen zu folgen … Aber das darf Claire nicht. Denn dann würde sie unweigerlich damit herausplatzen, was passiert ist.
Stattdessen macht sie sich vorsichtig los. »Ich muss nach Hause.«
»Was? Aber …«
»So schnell wie möglich«, murmelt Claire und hastet zu ihrem Zimmer. Die zwei Taschen mit sämtlichen Büchern, die sie aus der Bibliothek mitgebracht hat, schleift sie hinter sich her. Als sie die Tür öffnet, fällt ihr Blick als Erstes auf ein Stück Papier, das über ihrem wie immer perfekt aufgeräumten Schreibtisch hängt. Zum ersten Mal in dieser Woche bekommt sie bei seinem Anblick kein Herzklopfen. Stattdessen spürt sie Übelkeit in sich aufsteigen. Dabei hat dieser Brief sie so glücklich gemacht. Seit sie den Umschlag aus dem Briefkasten gefischt hat, ungläubig die wenigen Zeilen überflogen und das Schreiben Mara dann laut vorgelesen hat, weiß sie, dass sich all die einsamen Stunden in der Bibliothek gelohnt haben. Sie kann die Zeilen mittlerweile auswendig, kennt jedes Detail des teuren Büttenpapiers, des Kanzleilogos mit den sich energisch nach vorne neigenden Initialen im Briefkopf.
Sehr geehrte Frau Hagenbrock,
hiermit teilen wir Ihnen mit, dass wir Ihrer Anfrage um ein Praktikum in den Sommersemesterferien gerne nachkommen. Das Vorstellungsgespräch ist zu unserer vollen Zufriedenheit verlaufen.
Wir freuen uns darauf, Sie bald in unserem Team begrüßen zu dürfen.
Die Kanzlei Leukert & Miller in Frankfurt ist eine der bekanntesten in Deutschland. Über 200 Millionen Euro Umsatz haben sie im vergangenen Jahr erwirtschaftet. Und sie haben Claire als Praktikantin ausgewählt. Sie kann es immer noch nicht so richtig glauben.
Sie wird diese Stelle im August antreten. Außer …
Claire schüttelt den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Nein, das kann sie nicht zulassen. Sie zieht ihren dunkelgrauen Koffer unter dem Bett hervor, öffnet ihren Kleiderschrank und zerrt Blusen, ordentlich gebügelte Hosen und T-Shirts mitsamt Kleiderbügeln heraus. Nach kurzem Zögern hängt sie eine der weißen Blusen wieder zurück und greift stattdessen nach einer schwarzen.
»Was ist denn passiert?« Maras Stimme erklingt hinter ihr, der besorgte Unterton ist kaum zu überhören.
Claire dreht sich nicht um, sondern schichtet weiter ihre Kleidung in den Koffer. Ein schneller Blick in den Spiegel verrät, dass Mara dicht hinter ihr an der Wand lehnt. Die kurzen wuscheligen Haare stehen durch den Wasserdampf in der Küche in sämtliche Richtungen ab. Sie trägt ihre löchrigen Baggy Pants voller Flecken, die von ihren Acrylfarben oder auch von der Tomatensoße stammen könnten. Dazu einen rosa Pulli, der eine Schulter frei lässt. Sie ist einfach wunderschön. Claire starrt in den Spiegel, und plötzlich scheint Maras Gesicht zu verschwimmen, wird knochiger, der rosa Hauch von Leben auf ihren Wangen verblasst. Es wirkt, als würde sich etwas Dunkles vor ihre Augen schieben, bis Claire keine Iris mehr sieht, keine Wimpern, nur noch Schwärze. Wieder spürt sie die Übelkeit in sich aufsteigen. Hektisch blinzelt sie, bis Maras vertrautes Gesicht wieder zurückkehrt.
Sie muss ein paarmal schlucken, bevor sie antworten kann. »Es ist was vorgefallen. Ich kann jetzt nicht mehr dazu sagen.«
»Deine Eltern?«
»Nein.« Claire hastet zum Schreibtisch und sammelt die Standardwerke ein. Das BGB, die Grundrechte und das Strafrecht, der allgemeine Teil. Allein die drei Bücher haben zusammen eintausendfünfhundert Seiten. Aber ohne sie unterwegs zu sein, fühlt sich einfach falsch an. Sie stopft sie kurzerhand zwischen Hosen und Unterwäsche.
Mara zieht den Band von Brox/Walker wieder heraus und streicht ungläubig eine umgeknickte Seite glatt. »Deine heiligen Bücher?« Vorsichtig bettet sie den Band zurück in den Koffer. »Claire, was ist bloß los?«
Claire antwortet nicht. Das akkurate, weiß eingerichtete Zimmer ihres neuen Lebens wird plötzlich bedroht von den Fotos einer schlammigen Moorleiche, die sie sich immer wieder im Internet ansieht. Gegen die Bilder in ihrem Kopf helfen weder die hellen Holzmöbel noch die blau-weiß gestreifte Bettwäsche oder die Deko aus selbst gesammeltem Treibholz und Muscheln, die sie als Andenken von daheim mitgebracht hat. Claire fühlt sich plötzlich wie eine Fremde in diesem Zimmer. Dass Mara da ist, macht es eigentlich nur schlimmer. Sie darf sich jetzt keinen Moment der Schwäche erlauben.
Nach kurzem Zögern nimmt sie den Brief von der Wand und verstaut ihn vorsichtig im Außenfach des Koffers. Er wird sie daran erinnern, was auf dem Spiel steht. Auf dem Handy checkt sie schon mal die Abfahrtszeiten von Bus und Zug, während sie ins Bad läuft, und öffnet auch gleich noch drei unterschiedliche Nachrichtenseiten. Ein Experte für historische Kleidung wird zitiert. Noch mehr Aufnahmen von blinkenden Lichtern an Einsatzfahrzeugen. Den Hintergrund kennt Claire nur zu gut, dort liegt die Zufahrtsstraße zu ihrem Bootshaus. Fahrig wischt sie über den Screen, steckt das Handy dann doch weg.
In Claires Zimmer steht Mara immer noch mit verschränkten Armen, Wut im Blick. Claire tut, als sähe sie es nicht.
Hat sie alles? Auch die Handtasche und das Allergie-Notfallset mit dem Adrenalin-Pen, der Kortisontablette und dem Antiallergikum? Check. Claire belädt sich mit dem Gepäck, rollt den Koffer den Gang entlang und drückt mit dem Ellbogen die Klinke der Wohnungstür hinunter.
»Du lässt mich jetzt ernsthaft hier so stehen?« Mara klingt fassungslos, als sie ihr hinterherkommt.
Claire hält inne. Die blonden Haare fallen vor ihr Gesicht. Sie zögert, dann hebt sie den Kopf und lässt für einen kurzen Moment den Blickkontakt zwischen ihnen zu. Unausgesprochene Worte fliegen zwischen ihnen hin und her. Claire legt alles, was sie fühlt, denkt und fürchtet, in diesen Blick. Sie sieht, wie der Ärger in Maras Augen langsam weicht und sich in Besorgnis wandelt.
Claire beugt sich zu ihr und drückt einen Kuss auf Maras Lippen, die nach Tomatensoße schmecken. Dann dreht sie sich um und schiebt sich aus der Tür. »Ich muss gehen.«
Wollte nur hören, ob bei dir alles okay ist, schreibt Alice ihrem Bruder. Damit er nicht gleich ausflippt, wenn er auf sein Handy schaut. Was eventuell passieren könnte, wenn er die sieben verpassten Anrufe von Alice sieht und die Nachricht hört, die sie bei einem ihrer Versuche leicht hysterisch auf seine Mailbox gequatscht hat.
»Anstrengenden Tag gehabt?« Ihr Vater sitzt am Küchentisch und schaufelt die Reste des Nudelauflaufs in sich hinein, während Alice ihm gegenüber an der Anrichte lehnt, damit er nicht allein essen muss. Er ist eben erst von der Baustelle nach Hause gekommen und offenbar am Verhungern.
»Hm?« Sie ist völlig in Gedanken.
»Du bist so still. Normalerweise redest du am Abend, als hättest du den ganzen Tag mit keinem Menschen ein Wort gewechselt und deshalb Nachholbedarf. Wem schreibst du denn so konzentriert?« Er steckt sich noch eine Gabel voller Auflauf in den Mund.
»Adrien. Er antwortet aber nicht.«
Ihr Vater schluckt seinen Bissen hinunter und führt bereits die nächste Ladung zum Mund. »Montagabend jobbt er doch in dieser Kneipe.«
Alice starrt ihn an. »Stimmt!« Das hat sie ganz vergessen. Und es bedeutet dann wohl auch, dass er immer noch in Hamburg ist und nicht unterwegs nach Nordenham gewesen sein kann, als vorhin dieser Unfall passiert ist. »Dann ist ja alles okay.« Kurz überlegt sie, ob sie ihrem Vater von der Straßensperrung und ihrer Sorge um Adrien erzählen soll.
Doch sie behält beides für sich. Ihr Vater würde es sowieso nicht verstehen. Er findet schon immer, Alice hätte mehr Fantasie, als ihr guttut.
Nun steht er auch schon auf und nimmt seinen leeren Teller.
Alice tritt zur Seite, damit er die Spülmaschine erreichen kann, und bereitet bei dieser Gelegenheit ihren Abgang vor. »Ich lese noch ein bisschen und haue mich dann auf’s Ohr. Ich spüre jeden Knochen.«
Ihr Vater muss schmunzeln. »Du gewöhnst dich dran. Wahrscheinlich hast du jetzt schon mehr Muskeln als Adrien. Der sitzt den ganzen Tag in irgendwelchen Vorlesungen und rührt keinen Finger.«
»Deswegen jammert er auch immer so, dass sie ihn in der Kneipe zu sehr hetzen.« Alice grinst. »Gute Nacht, Papa!«
Damit macht sie sich auf den Weg die Treppe hinauf. Im Obergeschoss ist es grauenhaft still, seit Adrien weg ist. Abgesehen von seinem Zimmer und einem kleinen Bad ist sie ganz allein hier oben.
Sorry für die ganzen Anrufe, schreibt sie ihrem Bruder noch im Flur. Bin auf dem Heimweg von Sehestedt an einer Unfallstelle vorbeigekommen und dezent durchgedreht.
Seufzend schließt sie ihre Zimmertür und lässt sich in ihren heiß geliebten Ohrensessel sinken. Eine Ikea-Fundgruben-Errungenschaft, deren fehlendes Bein sie mit einem wenig dekorativen Holzklotz ersetzt hat. Er ist das neueste Stück in ihrem Zimmer und der Versuch eines Low-Budget-Makeovers. So sieht der Raum nicht mehr so sehr nach Kinderzimmer aus, obwohl die meisten Möbel tatsächlich noch aus dieser Zeit stammen. Nach dem Abi hat sie wenigstens eine kleine Veränderung gebraucht, wenn sie schon als Einzige zu Hause wohnen blieb. Ihr Bruder und all ihre Schulfreundinnen und -freunde bezogen unterdessen die erste eigene Wohnung oder zumindest ein Studentenzimmer.
Alice wollte das so: die Ausbildung, die Heimatnähe, alles davon. Aber manchmal fragt sie sich, ob sie weniger einsam wäre, wenn sie sich für einen Neuanfang entschieden hätte, so wie alle anderen.
Deshalb ist der neue Sessel so tröstlich, ihr höchstpersönlicher Cozy-Place. Hier hat sie alle Bücher aus dem Regal greifbar, es duftet nach dem Lavendelsäckchen im Kleiderschrank, und die Abendsonne scheint zum Fenster herein und genau auf den Sessel. Zumindest im Sommer. Jetzt herrscht draußen schon Dunkelheit.
Alice greift nach dem Knopf der Lichterkette, die sie über ihr Regal drapiert hat, und knipst sie an. Warmweiß, supergemütlich. Aber irgendwie will ihr Körper sich nicht so richtig entspannen. Von ihrem Kopf ganz zu schweigen. Jetzt hilft nur noch ein Buch. Sie wird lesen, bis sie müde wird, und dann zeitig ins Bett gehen. So wie meistens.
Sie blättert durch die Seiten des Wälzers, den sie gerade liest. Natürlich hat sie beim letzten Mal wieder kein Lesezeichen zur Hand gehabt und versucht, sich die Seitenzahl zu merken. Irgendwo im letzten Drittel muss die Stelle gewesen sein. Sie hat wie immer schneller gelesen als die anderen in ihrer Buddyread-Gruppe und muss all ihre Nachrichten nachdrücklich mit Achtung: Spoiler! beginnen.
Bevor sie in der Geschichte versinkt, schnappt sie sich noch einmal ihr Handy, öffnet den Buddyread-Chat und schreibt: Ich lese jetzt weiter. Haltet euch ran, wenn ich euch nicht alles verraten soll!
Lorena antwortet beinahe sofort: Bin heute mit Freunden im Kino. Komme erst wieder am Wochenende zum Lesen, sorry.
Alice beißt sich auf die Unterlippe. Stimmt ja, andere Leute verkriechen sich nach Feierabend nicht mit einem Buch im Ohrensessel. Aber in Alices Leben sind Romanfiguren aktuell einfach die einzig verfügbare Gesellschaft. Ihre Arbeitskollegen gehen gerne mal was trinken, und Alice genießt die Abende mit ihnen. Aber jeden Tag würde sie Georgs Schenkelklopfer nicht verkraften. Außerdem ist sie nach acht Stunden auf der Baustelle immer noch ziemlich erledigt, und da hilft es auch nicht, dass ihr jeder versichert, an eine Vierzigstundenwoche müsse man sich nach dreizehn Jahren entspanntem Schülerdasein eben erst gewöhnen.
Viel Spaß, tippt sie gerade, da geht eine neue Nachricht von Adrien ein.
Sofort wechselt Alice in das entsprechende Chatfenster. Aber Adrien hat nur einen Link geschickt und ihn nicht weiter kommentiert. Und schon das darf er auf der Arbeit eigentlich gar nicht. Muss also wichtig sein.
Sie klickt darauf. Für irgendwelche Spam-Videos hat sie jetzt wirklich keinen Nerv. Sie wird sich den Anfang anschauen und Adrien dann ein passendes und unverfängliches Emoji als Antwort schicken. Das geschmacklose Hawaiihemd des Nachrichtensprechers bestärkt sie auf den ersten Blick in diesem Plan. Doch die Schlagzeile, die soeben eingeblendet wird, lässt Alices Finger über dem Pause-Button einfrieren: Jahrhundertfund bei Nordenham: mittelalterliche Moorleiche.
Ein Schauer rieselt durch Alices Körper, vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen ihrer auf die Sitzfläche gezogenen Füße. Die Vollsperrung. Die Polizei. Kein Unfall also, sondern ein Leichenfund.
In der Kabine müffelt es nach feuchten Handtüchern und zu viel Deo, aber heute achtet Bene gar nicht darauf. Er streift nur seine Schuhe ab und klettert noch im Smoking hoch in sein Bett. Soll der Stoff doch knittern, egal!
Er schiebt die Vorhänge zur Seite, rollt sich auf die Matratze und greift nach einem Foto, das zwischen Aufnahmen seiner Eltern an der Wand hängt.
In seine Koje dringt nur schummriges Licht, doch er hat das Bild so viele Male betrachtet, dass er trotzdem jede Einzelheit erkennt. Da sind sie, alle fünf, auf der selbst organisierten Abschlussparty am Bootshaus. Zur Feier des bestandenen Abis und der letzten Aufführung ihres Stücks haben sie noch mal ihre Kostüme getragen: Damian, Claire, Bene, Alice und Tristan. Die beste Theatergruppe aller Zeiten! Bene sieht die lachenden Gesichter, Damian, der den Arm wie ein angetrunkener Rockstar um Claire gelegt hat und dessen Sonnenbrille so gar nicht zu seinem Kostüm passt. Claire, ungewohnt locker, das blonde Haar glänzt im Licht der Abendsonne. Er selbst, mit einem Beerpong-Becher in der Hand, die Krone mit all den Funkelsteinchen auf dem Kopf. Alice, klein und zart in ihrem Königinnengewand, von der ganzen Körperhaltung her Tristan zugeneigt.
Aber vor allem sieht er Tristan und den Brustharnisch, den er trägt. Das ist er, kein Zweifel, den hat er gerade eben in den Nachrichten gesehen, an einer Hunderte Jahre alten Moorleiche.
Es ist ganz still in der Kabine, still und düster. Bene blickt von dem Foto auf. Nur die kleine Lampe über der Tür brennt, ihr Lichtschein wird vom Spiegel über dem Waschbecken reflektiert. Bene starrt auf die glänzende Oberfläche.
Er beobachtet das Glitzern der Sonnenstrahlen auf den sanften Wellen. In seiner Hand hält er eine Flasche. Noch schön kühl, gerade aus dem Meer geholt. Bene nimmt einen Schluck und denkt, dass ihm noch nie ein Bier so gut geschmeckt hat. Heute ist einfach alles perfekt. Die Sonne brennt auf seine Schultern hinab, und seine Sonnenbrille verleiht allem einen leichten Sepiastich, der die Party noch epischer wirken lässt. Sie sitzen am Kiesstrand unweit des Grillplatzes, wo sie ihre Tische und Bierbänke aufgebaut haben. Der Platz gehört ebenso wie das Volleyballfeld zum Campingplatz, weshalb immer wieder Feriengäste mit einem Eis oder Handtüchern in der Hand vorbeischlendern und ihnen neugierig zusehen.
Jetzt kommt Claire vom Bootshaus ihrer Familie, das ein Stück entfernt auf Privatgelände steht, herangeschlendert. Die großen roten Becher in ihrer Hand sorgen für Begeisterungsrufe bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. »Zeit für ’ne Runde Beerpong!«
Sie hat die Zipfel ihres bodenlangen Kleides in den Gürtel gesteckt, sodass sie jetzt ein improvisiertes Minikleid trägt. Der gelbe Adrenalin-Pen für ihre Bienengiftallergie lugt ebenfalls aus dem Gürtel. Sie beugt sich über den Tisch, um die Becher in Dreiecksformation aufzubauen. Bene sieht, wie Damian seinen Strohhut in den Nacken schiebt und sein Blick an Claires Beinen hängen bleibt. Ein leichtes Lächeln kräuselt seine Lippen. »Klärchen, ich darf doch in deinem Team spielen, oder?«
»Ganz bestimmt nicht, Schätzchen. Wenn es um Bier geht, bist du einfach ein Versager.«
Überraschenderweise muss Bene darüber so lachen, dass das Bier durch seine Nase schäumt. Urgh. Damian reicht ihm eine Serviette und flüstert ihm mit schwerer Zunge zu: »Claire hat aber auch schon ordentlich getankt. Versager hat sie mich noch nie genannt. Klingt vielversprechend, oder?«
»Geh dich mal abkühlen, Junge. Als Ausdruck der Wertschätzung hat sie das garantiert nicht gemeint«, antwortet Bene und muss wieder lachen.
»Was tuschelt ihr da?« Alice kommt heran und setzt sich neben Bene und Damian auf den Kiesstrand. Sie trägt noch immer ihre kunstvolle Isolde-Flechtfrisur. In den dunklen Haaren glitzert das Diadem. Bene zupft eine Möwenfeder von ihrer Schulter. Sie lächelt ihn an und lässt dann den Blick schweifen. »Wo ist denn …«
»… Tristan?«, vollendet Bene ihre Frage. »Hilft beim Grillen. Oder redet den Kohlen gut zu, dass sie langsam mal Feuer fangen.«
»Er will die lodernden Flammen der Leidenschaft entfachen? Dafür braucht es einen Fachmann!« Damian wuchtet sich hoch und stiefelt mit seiner Whiskeyflasche im Arm davon.
»Schade, die Flasche hätte er uns schon lassen können.« Alice klingt etwas sehnsüchtig.
»Da weiß ich was Besseres, komm!« Bene springt ebenfalls auf, richtet seine Krone und zieht Alice hoch. »Wir spielen mit Beerpong und zocken Claire ab. Ich hab Talent für dieses Spiel, du wirst sehen!«
Die Teams formieren sich. Tristan hat die Kohlen im Stich gelassen und wird von Bene mit Handschlag in seinem Team begrüßt. Damian ist ihm gefolgt und hat sich in Claires Gruppe geschmuggelt, lehnt jetzt aber halb an Eske, die es sich kichernd gefallen lässt. Er setzt ihr seinen Strohhut auf und tippt mit dem Finger auf ihre nackte Schulter. »Du bist hiermit markiert, Baby. Jetzt gehörst du mir.«
Claire rollt auf Eskes erneutes Gekicher hin die Augen und grinst Bene an. Er grinst zurück. Damian sieht sich immer gern in der Rolle des großen Verführers. Zum Glück fällt Claire auf so was nicht rein. Und Alice auch nicht.
»Hey, Rockstar!«, ruft er ihm zu. »Jetzt zeig mal, was du draufhast!«
Damian schielt in den Becher. »Hab ich euch nicht tausendmal erklärt, dass ihr die lieber mit Jacky-Cola vollmachen sollt? Dieses Billigbier schlägt mir auf die Stimmbänder!«
Claire nimmt ihm kurzerhand den Tischtennisball weg und zielt auf die gegnerischen Becher.
»Wenn er auf dem Tisch aufkommt, dürfen wir ihn abwehren, das weißt du, oder?«, ruft Bene zu ihr hinüber.
»Klappe, du willst mich bloß ablenken.« Claire wirft und trifft tatsächlich sofort in einen der hinteren Becher. Ihr Team jubelt und klatscht sie ab. Bene blickt Tristan und Alice an. »Wer trinkt?« Da keiner von beiden ein Wort sagt, fischt Bene den Ball heraus. Dann leert er den von Claire getroffenen Becher. Und im weiteren Spielverlauf auch den nächsten. Und den von Alice dann auch noch zur Hälfte, als sie zwischendurch Schluckauf bekommt.
Währenddessen reden seine beiden Teammates über ihre letzte Theateraufführung heute Nachmittag. Tristan nennt Alice scherzhaft Mylady wie im Stück und erzählt ihr von einer Verfilmung des Stoffs, die er gesehen hat. »Dieser König Marke kam aber bei Weitem nicht an Bene heran.«
»Kann er auch gar nicht.« Alices Stimme klingt warm. »Bene war der Beste! Aber du hast den Tristan auch so …«
Tristan unterbricht sie. »Das stimmt. Bene hat es immer perfekt geschafft, Marke nicht als den Bösewicht darzustellen, sondern richtig menschlich. Eine Person wie du und ich, die zweifelt und von diesen Zweifeln verfolgt wird, bis sie aus rasender Eifersucht schlimme Dinge tut und den eigenen Freund verrät.«
»… einen Freund, der ihn zuerst verraten hat, vergesst das bitte nicht, ja?«, ruft Bene nach hinten und leert den nächsten Becher.
»Einen Freund, der ihn zuerst verraten hat …« Benes eigene Stimme von damals scheint in der engen Kabine widerzuhallen, während er auf das Foto starrt. Er schüttelt den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden, und löst seine schmerzhaft verkrampften Finger von der Metallstange des Bettgestells. Dann zieht er sein Handy aus der Tasche und öffnet WhatsApp. Er muss sehr weit nach unten scrollen, bis er auf ihre Gruppe von damals stößt: Theater-Squad.
»Alter, was wird das?« Noah steht plötzlich vor dem Stockbett und zupft an Benes herunterhängender Bettdecke.
»Du kannst dich jetzt nicht in deiner Höhle verkriechen. Wie wär’s mit einem Absacker oben auf dem Sonnendeck? Letzte Nacht an Bord und so … Das muss doch gefeiert werden!«
»Ich komm später nach, geh doch schon mal vor.«