9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Ein Weihnachtswunder kann dir überall begegnen Nur noch dieses eine Weihnachtsfest, dann muss der kleine Gasthof in den Bergen für immer schließen. Resigniert blickt die Wirtin auf den leeren Vorplatz. Aber was ist da draußen los? Motorengeräusche, Türenknallen, stampfende Schritte – und plötzlich ist die Gaststube voller Menschen: da sind der Anwalt und seine Tochter, die Nanny mit den Zwillingen und der Sternekoch aus München. Viele von ihnen wollten eigentlich ganz woanders hin, doch ein Schneesturm verhindert die Weiterfahrt. Und als der Schnee draußen dichter wird, und die Menschen drinnen enger zusammenrücken, wird ihnen bewusst, dass ein Weihnachtswunder überall geschehen kann, selbst in einem kleinen Berggasthof.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 279
Cornelia Härtl
Roman
Nur noch dieses eine Weihnachtsfest, dann muss der kleine Gasthof in den Bergen für immer schließen. Resigniert blickt die Wirtin auf den leeren Vorplatz. Aber was ist da draußen los? Motorengeräusche, Türenknallen, stampfende Schritte, und plötzlich ist die Gaststube voller Menschen: da sind der Anwalt und seine Tochter, die Nanny mit den Zwillingen und der Sternekoch aus München. Viele von ihnen wollten eigentlich ganz woanders hin, doch ein Schneesturm verhindert die Weiterfahrt. Und als der Schnee draußen dichter wird, und die Menschen drinnen enger zusammenrücken, wird allen Beteiligten klar, dass ein Weihnachtswunder überall geschehen kann, selbst in einem kleinen Berggasthof.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Cornelia Härtl arbeitete nach ihrem Studium der Betriebswirtschaftslehre u.a. als Marketing-Managerin und in der Erwachsenenbildung, und war viele Jahre im Ehrenamt tätig. Neben Fachartikeln und Kurzgeschichten schreibt sie Krimis und Unterhaltungsromane. »Über allem leuchtet ein Stern« ist ihr erster Weihnachtsroman. Cornelia Härtl ist verheiratet und lebt in der Nähe von Frankfurt am Main.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Widmung
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
DANKSAGUNG
Für Wolf-Ingo
»Herzlichen Dank, es war das schönste Weihnachtsfest unseres Lebens«, stand in eleganter Schreibschrift auf dem Foto, das Elisabeth Mosler seit Minuten betrachtete. Das Motiv auf der Vorderseite zeigte einen Mann und eine Frau, beide in mittlerem Alter, am Tag ihrer standesamtlichen Trauung. Mit einem kleinen Lächeln hob die Wirtin der Herberge Zum Goldenen Stern den Blick. Sie erinnerte sich gut an das Paar, sein Kennenlernen vor einigen Jahren. Hier, bei ihr. Vor ihrem inneren Auge flammte das Feuer im Kamin auf, sie hörte wieder das Knistern der Holzscheite, untermalt von Gläserklingen, Lachen und Gesprächsfetzen. Jeder Tisch war besetzt, jeder Platz lange im Voraus reserviert gewesen. Viele Stammgäste ließen es sich nicht nehmen, immer wieder im Gasthof einzukehren. Nicht nur im Winter, wenn der Schnee so hoch lag wie dieses Jahr. Auch zu allen anderen Jahreszeiten war ihr kleiner Gasthof gut besucht gewesen, jedes der fünfzehn liebevoll eingerichteten Zimmer ausgebucht. In der Küche wurde gebrutzelt und geschmurgelt, die Kellnerin kam mit dem Servieren von Speisen und Getränken kaum nach. Ihre Gäste waren immer guter Dinge gewesen. So wie das Paar, das sich einst im Winterurlaub gefunden hatte.
Sie seufzte. Die Zeiten schienen vorbei. Die Bilder aus ihrer Erinnerung verblassten und machten der Realität Platz. Heute war der Kamin kalt, auf keinem der Tische lag ein Gedeck, grau, kühl und wenig einladend sah die Gaststube aus. Noch nicht einmal Weihnachtsschmuck hatte sie dieses Jahr aufgestellt. Wozu auch? Die beiden Reservierungen für den heutigen Abend waren zwei Tage zuvor abgesagt worden. Heute stand sie alleine hier. Den Koch und die Kellnerin hatte sie mit einem Geschenk und etwas Weihnachtsgeld nach Hause geschickt. Die Kündigungen würden folgen, das wussten sie alle.
Die Wirtin zog ihre Strickjacke enger um sich, durchquerte die Gaststube und trat ins Freie. Sie blickte nach oben. Der Himmel hing dunkel und schwer von Schnee über ihr. Es war früher Nachmittag, doch es dämmerte bereits. Über den Parkplatz vor dem Haus hinweg sah sie ins Tal hinab. Die Berglandschaft war von einer dichten Schneedecke bedeckt, die hohen Tannen links vom Grundstück bogen sich unter der weißen Last, der sanfte Hügel zur Rechten lud zum Schlittenfahren oder Snowboarden ein. Der Asphalt der gewundenen Zufahrtsstraße glänzte schwarz. Sie schlängelte sich mehrere hundert Meter steil bergab, die Abzweigung von der Hauptstraße befand sich außerhalb ihres Blickfeldes. Dass diese Zufahrt geräumt und eisfrei war, verdankte sie dem Schorsch, der beim Bauhof des Landkreises arbeitete. Ihre Familien waren befreundet. Daher fuhr er mit seinem Streufahrzeug den Schlenker im Winter gerne, obwohl er nicht vorgesehen war. Dessen ungeachtet legte er hier herauf sogar noch eine Schippe drauf. Wohl wissend, dass es gerade dieses letzte Stück Wegs war, das für manche Reisende das beschwerlichste darstellte.
Heute würde niemand diese Straße nutzen. Die Betten und Tische blieben seit Wochen leer. Elisabeth wandte sich dem Berg zu. Der Grund für ihre Situation war von hier aus weder zu sehen noch zu hören. Lediglich zu spüren. Er hieß Grand Hotel Bergschloss. Seit das Luxushotel drei Monate zuvor eröffnet hatte, gab es im Gasthof Zum Goldenen Stern nichts mehr zu tun.
Unten, an der Hauptstraße, stand ein riesengroßes, für ihr Empfinden aufdringliches Hinweisschild auf dieses Luxushotel, das selbst diejenigen, die sich nur auf der Durchreise befanden, gezielt dorthin lockte. Da konnte ein kleiner Gasthof wie ihrer nicht mithalten.
Über ihr löste sich einer der Sterne vom Firmament und fiel herab, einen breiten Schweif hinter sich herziehend. Hätte sie daran geglaubt, dass Sternschnuppen Wünsche erfüllen können, hätte sie die Gelegenheit genutzt. So aber ging sie traurig ins Haus zurück. Im selben Moment, in dem sie drinnen die letzten Lichter löschte, hörte sie einen Wagen auf den Parkplatz fahren.
Karlheinz Clausing stellte den Motor ab. Er blickte durch die Windschutzscheibe auf das dunkle Haus. »Merkwürdig«, murmelte er und kramte einen zerlesenen Reiseführer aus dem Handschuhfach.
»Was für eine Bruchbude«, maulte seine siebzehnjährige Tochter Annika. Ihrer Stimme war anzumerken, wie angefressen sie war. Kein Handyempfang! Und das bereits seit einer Dreiviertelstunde. Gab es etwas Schlimmeres für einen Teenager? Karlheinz Clausing schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf und las halblaut, was in seinem Buch stand. »Idyllischer Gasthof … hervorragende regionale Küche … Schneegarantie … sowohl sanfte als auch anspruchsvolle Pisten …«
Annika verdrehte genervt die Augen. »Das Ding ist mindestens zehn Jahre alt. Wer kauft denn heute noch Reiseführer? Geht doch alles viel schneller und besser per Internet.«
»So wie jetzt, ja?!« Er konnte es sich nicht verkneifen, auf den fehlenden Empfang hinzuweisen. Sie waren spontan aufgebrochen, und er hatte in der Eile nicht daran gedacht zu reservieren.
Seine Tochter stieg aus und er musste sich zurückhalten, ihr nicht Dinge zuzurufen wie »Denk an deinen Schal« und »Knöpf deine Jacke zu.« Clausing seufzte. Es war nicht einfach, alleinerziehender Vater zu sein. Seit seine Frau sie beide vor rund einem Jahr verlassen hatte, gab Annika die Hoffnung nicht auf, sie könne zurückkommen. Vergeblich, wie er seit einiger Zeit wusste. Nur, wie sollte er das seiner Tochter beibringen? Dieses Endgültige? Sie war schwierig geworden.
Er stieg aus und griff nach seiner schwarzen, lammfellgefütterten Lederjacke. Es war schweinekalt, in der Luft lag der Geruch nach noch mehr Schnee. Im Gasthof, einem zweistöckigen Bau mit geschnitzten Balkonen, umlaufender Veranda und hohen Schneehäubchen auf dem Dach, brannte kein Licht.
Er sah zu Annika hinüber, die, mit offener Jacke, ohne Schal und Handschuhe, aber wenigstens mit der obligatorischen Strickmütze auf dem Kopf, mit ihrem in die Luft gehaltenen Smartphone herumlief. Er schüttelte erneut den Kopf und stapfte zum Eingang. Die Tür war nicht abgeschlossen, er trat ein. Die rechteckige Gaststube, die hinter einem zurückgeschlagenen, halbrunden Windfang zur Rechten lag, war unbeleuchtet, kühl und alles andere als gemütlich. Aus einem Flur zu seiner Linken tauchte eine Frau auf. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, darüber eine hellgraue Strickjacke und stellte sich als die Wirtin vor.
»Haben Sie geöffnet?«, fragte er. Die Frau, sie mochte Ende sechzig sein, nickte zögerlich.
»Einen Kaffee kann ich Ihnen anbieten.«
»Passt.« Er rieb die kalten Hände aneinander und ging zu einem der Holztische, auf dem weder Tischdecke noch eine Weihnachtsdekoration lagen. Er war enttäuscht. Würde er ein anderes Hotel für die Weihnachtsfeiertage suchen müssen? Darüber hinaus stand ihm ein schwieriges Gespräch mit seiner Tochter bevor, an das er momentan nicht denken wollte.
Die Wirtin ging hinter den Tresen, um Wasser in einem Schnellkocher aufzusetzen, eine Glaskanne aus einem Hängeschrank zu nehmen und darauf einen Porzellanfilter zu setzen. Er nahm Platz, immer noch etwas irritiert. Nichts von dem, was er sah, entsprach seinen Erwartungen. Selbst als die Frau eine karierte Tischdecke aufgelegt, eine rote Stumpenkerze in einer Tischlaterne entzündet und das Licht in der Gaststube eingeschaltet hatte, empfand er die Atmosphäre weiterhin als wenig einladend. Hatte Annika recht mit ihrer Kritik? Sein Reiseführer war wohl doch völlig veraltet.
»Ich habe Ihre Adresse aus einem Reiseführer«, erklärte er der Wirtin, als die ihm den Kaffee servierte. »Ich dachte, dass ich mit meiner Tochter hier ein paar ruhige Tage verbringen könnte. Entspannen, spazieren gehen, Ski laufen, gut essen.«
»Ihre Tochter?«
»Sie ist draußen. Sucht nach Empfang für ihr Handy.«
»Da wird sie kein Glück haben. Das hier ist ein toter Winkel.« Sie lächelte kurz, irgendwie schelmisch.
»Gott sei Dank, ich kann diesem Fimmel nichts abgewinnen«, gestand er, ebenfalls begleitet von einem Lächeln.
»Das ist selten. Meistens beklagen sich die Leute deswegen.«
Die Tür flog auf. Annika kam hereingestampft. Sie riss sich die Mütze vom Kopf und stopfte sie in die Tasche ihres Anoraks. Ihr haselnussbraunes Haar ragte an einigen Stellen wie elektrisch aufgeladen in die Luft. Wangen und Nasenspitze leuchteten rot in ihrem blassen Gesicht, die dunklen Augen blitzten zornig. Wieder einmal fiel ihm auf, wie dünn seine Tochter geworden war. Wann hatte das begonnen? Kurz nachdem ihre Mutter sie beide verlassen hatte.
»Lass uns abhauen«, verlangte sie von ihrem Vater. So laut, dass er entschuldigend zu der Wirtin blickte, die sich wieder hinter ihren Tresen begeben hatte. »Das hier ist kein Ort für einen Urlaub. Wir finden etwas Besseres.«
Elisabeth musste bei dieser Ungezogenheit eine Unmutsbekundung unterdrücken. Der Vater sah aus, als ob er seiner Tochter gerne die Leviten lesen würde, sich aber nicht traute. Er beließ es dabei, sie mit einem strengen Blick zu mustern.
»Möchtest du vielleicht einen Tee? Oder einen heißen Kakao?«, fragte Elisabeth den Teenager.
»Kakao? Ich bin doch kein Kind mehr. Haben Sie keine Diät-Cola?«
»Wie viel von dem Zeug willst du noch trinken?«, fiel ihr Vater ein. »Nimm einen Orangensaft, da sind wenigstens ein paar Vitamine drin.«
Die Antwort der Tochter bestand aus einem Schnauben.
Elisabeth holte die Cola. Das Zeug ging bei ihr normalerweise nicht gut, aber sie hatte trotzdem immer ein paar Flaschen auf Lager. Sie spürte, dass sich in ihr als Antwort auf das schlechte Benehmen der jungen Frau Widerstand regte. Was die gerade ihrem Vater antwortete, konnte Elisabeth nicht verstehen. Es klang nicht freundlich. »Kinder«, dachte sie. »Man will immer nur das Beste für sie und sie begreifen einen dafür als Feind.«
Das Mädchen war eindeutig zu blass und zu dünn. Und es sah nicht glücklich aus.
»Wäre ich doch bei Mama geblieben«, maulte es.
Der Vater zuckte sichtlich zusammen bei diesen Worten. »Du glaubst, du würdest dich auf Sri Lanka wohler fühlen? Eine Ayurveda-Kur ist kein Wellnessurlaub, meine Liebe. Da gibt es keine Cola, kein Smartphone. Nur Ruhe, gesundes Essen, Entgiftung, Massagen. Du wärst nach einem Tag schreiend davongerannt.«
Annika gähnte demonstrativ und musterte gelangweilt ihre Umgebung. Sie hatte es aufgegeben, ein Netz zu suchen. Stattdessen stöpselte sie ihre Kopfhörer ein und tackerte auf ihrem Handy herum. Als Elisabeth ihr die Cola servierte, konnte sie einen kurzen Blick darauf werfen. Die junge Frau hörte Musik und bearbeitete mit einem Programm ihre eigenen Fotos.
Der Vater bestellte mit einer Geste noch einen Kaffee. »Schmeckt hervorragend«, meinte er.
»Handaufguss«, antwortete Elisabeth. »Ein Stück Christstollen kann ich Ihnen dazu anbieten. Selbst gebacken.« Er warf einen kurzen Blick auf seine Tochter, die sich mit ihrem elektronischen Spielzeug abgekapselt hatte, und nickte. »Für mich gerne.«
Bei der zweiten Tasse Kaffee zeichnete sich ab, dass ihre Gäste noch eine Weile bleiben würden – tatsächlich wirkte der Vater ratlos, wohin sie weiterfahren sollten und Elisabeth hatte nicht vor, jetzt schon den Namen des Grand Hotel Bergschloss in den Mund zu nehmen –, also stellte sie einen Heizlüfter auf, damit es in der Gaststube gemütlicher wurde.
Das bisschen Wärme, das er abgegeben hatte, wurde kurz darauf mit eiskalter Luft verwirbelt, als die Tür erneut aufflog. Der schlanke junge Mann, der hereingestürmt kam, trug eine bis obenhin gefüllte Plastikbox in Händen.
»Moritz«, rief Elisabeth erstaunt. »Was machst du denn hier? Ich dachte, dein Urlaub beginnt erst nach den Weihnachtstagen?!«
Ihr Enkel grinste übers ganze Gesicht. »Das glaubst du nicht, Oma. Ausgerechnet heute hatten wir einen Wasserrohrbruch im Restaurant. Dabei waren wir bis auf den letzten Platz ausgebucht. Der Chef hat uns frei gegeben. Und das hier«, er hob die Plastikbox etwas hoch, »das sind alles leckere Sachen, die wir mitnehmen durften. Damit nichts umkommt. Ist schwer, muss ich gleich absetzen.« Mit einem Fuß warf er die Tür schwungvoll zu.
Annika blickte auf, ihr Blick kreuzte den des Neuankömmlings, bevor sie erneut in ihre digitale Welt abtauchte.
»Kühl hier drin«, stellte Moritz fest.
Elisabeth winkte ihn zu sich und schob ihn in die Küche. »Keine Gäste. Die beiden da draußen haben sich hierher verirrt«, flüsterte sie ihm zu.
»Was? Das gibt es doch gar nicht. Es ist Weihnachten. Da war die Hütte hier doch immer voll.« Sie antwortete nicht. Er würde noch früh genug erfahren, wie schlecht es um sie und den Gasthof stand.
Moritz stellte die Box mit den Nahrungsmitteln ab, zog seine Großmutter in die Arme und busselte sie links und rechts auf die Wangen. »Ist allerdings unwahrscheinlich, dass die beiden heute noch weit kommen. Schau mal nach draußen«, er zeigte auf das breite Fenster im hinteren Teil der Küche. Durch die Dunkelheit taumelten fette Schneeflocken. »Es hat angefangen zu schneien, man sieht kaum noch die Hand vor Augen.«
»Ach herrje. Wenn sie zu Abend essen wollen, hab ich kaum was im Haus«, murmelte seine Großmutter.
»Hier drin ist alles, was man für einen Weihnachtsbraten braucht«, entgegnete Moritz gut gelaunt. »Zwei Gänse, Kraut, Äpfel, Maronen und etliches mehr. Ist eh viel zu viel für uns beide.« Er rieb sich die Hände, als könne er es kaum erwarten, die Gänse in den Backofen zu schieben.
Elisabeth Mosler war mächtig stolz auf ihren Enkel. Moritz hatte nach einer Kochlehre einen tollen Job in einem Nobelrestaurant in München ergattert. Trotz seiner stressigen Arbeitszeiten dort kam er, sooft es ging, zu ihr herauf und legte Hand an.
»Du setzt dich jetzt erst einmal hin und ruhst dich ein bisschen aus. So ein unverhoffter freier Tag, das ist ja in unserem Gewerbe selten.«
»Ach Oma«, lachte er und strich sich das dunkle Haar aus der Stirn. »Wovon soll ich mich denn ausruhen?« Dennoch nahm er brav in der Gaststube Platz und ließ zu, dass seine Großmutter ihm einen Kaffee brachte.
»Mit Liebe gebrüht«, flüsterte sie ihm zu. Moritz grinste. Er sah zu den beiden Gästen hinüber. Der Mann wirkte unschlüssig, wie er da hockte, einen zerfledderten Reiseführer in der Hand. Seine Tochter zog ein mürrisches Gesicht und blickte nicht von ihrem Smartphone auf. Trotzdem schaute Moritz etwas länger hin als nötig. Er dachte sich, dass das schlechte Wetter doch etwas Gutes hatte. Vielleicht blieben die beiden ja über Nacht, dann konnten sie gemeinsam essen und er hätte die Möglichkeit, das Mädchen etwas näher kennenzulernen. Eine Vorstellung, die ihm nicht unangenehm war.
Es war erst halb vier und dämmerte bereits, als Berthold Schneider das letzte Paket aus seinem Fahrzeug nahm, um es abzuliefern. Endlich Feierabend, dachte der Zusteller, als er danach im gut geheizten Führerhaus des Wagens Platz nahm. Er blickte zum Himmel auf. Zehn Minuten zuvor hatte es angefangen zu schneien. Erst nur ein wenig, inzwischen fielen die Flocken wie ein dichter weißer Vorhang vom Himmel. Umso besser, dass er sein Tagwerk beendet hatte und sich auf Heiligabend freuen konnte. Kein Mensch war unterwegs, als er den Berg hinunterfuhr, in Gedanken bereits zu Hause bei seiner Freundin. Er griff nach seinem Handy, um sein Kommen anzukündigen. Sie würde sich freuen, dass er es früher schaffte, als ursprünglich gedacht. Bei der ersten Berührung erwachte das Display zum Leben. Eilig scrollte er über die Leiste mit den Kurzwahlen. Mit einem schnellen Blick tippte er die erste davon an und hob das Gerät ans Ohr. Nichts geschah. Ungeduldig wandte er den Kopf. Um zu erkennen, dass er keinen Empfang hatte. Noch bevor er weiter darüber nachdenken und den Blick auf die Straße wenden konnte, spürte er, wie er ins Rutschen geriet. Ein Moment der Unaufmerksamkeit hatte ausgereicht, um das Lenkrad ein Stück zu verreißen. Der Wagen war ausgebrochen, er schlitterte über die spiegelglatte Straße. Erschrocken lenkte Schneider dagegen. Zu spät. Ein Ruck lief durch das Fahrzeug. Ein dumpfes Geräusch signalisierte, dass er gegen etwas geprallt war. Mit einem leisen Fluchen zog er den Wagen zurück auf die richtige Spur, bremste vorsichtig ab und blieb am Straßenrand stehen. Hatte er etwas überfahren? Ein Lebewesen womöglich? Ausgerechnet an Heiligabend? Ein flaues Gefühl machte sich in ihm breit. Er atmete tief durch, steckte dann den Kopf aus dem Fenster. Weit und breit nichts zu sehen. Bis auf ein hölzernes Hinweisschild mit der Aufschrift Grand Hotel Bergschloss. Schneider stellte die Warnblinkanlage an, fummelte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und kletterte aus dem Wagen. Obwohl er seine Jacke geschlossen hielt, kroch ihm die Kälte sofort bis unter die Haut. Ein Unfall hatte ihm gerade noch gefehlt. So schnell es die schneebedeckte, rutschige Straße zuließ, schritt er an seinem Lieferwagen entlang nach hinten. Er ließ den Lichtstrahl über das Blech wandern und atmete schließlich erleichtert auf. Das weiche Holz des Mastes, gegen den er geprallt war, hatte keine Spuren hinterlassen. Bevor er zurück ins Fahrerhaus stieg, warf er noch einen Blick auf das Hinweisschild. Es stand etwas schräg, aber immer noch senkrecht.
Eilig schlug er die Tür zu und startete den Motor. Auf das Telefonat mit seiner Freundin würde er vorläufig verzichten müssen. Er beschloss, es frühestens bei einem Stopp erneut zu versuchen.
Dass der Mast mit dem Schild sich durch den Aufprall gedreht hatte und nun in eine andere Richtung zeigte, war ihm allerdings entgangen …
»Da kommt jemand.« Moritz hatte seinen Kaffee ausgetrunken, die Tasse in die Spülmaschine hinter der Theke geräumt und blickte von dort zur Tür. Vor dem Haus wurden Wagentüren zugeschlagen. Sekunden später betrat eine große, blonde Frau den Gasthof. Sie mochte in den Vierzigern sein, wirkte aufgrund ihrer konservativen Kleidung aber älter. Begleitet wurde sie von einer kleinen, wesentlich älteren Frau, deren Gesichtsausdruck nichts Gutes verhieß. »Habe ich dir gleich gesagt, dass du falsch fährst, du kannst aber auch gar nichts richtig machen«, fuhr sie die Jüngere an.
»Mutter, das Schild hat hier herauf gezeigt«, wehrte die sich, wobei sie ihre Handtasche krampfhaft an sich presste, als wäre es ein Schutzschild gegen die Vorwürfe.
»Papperlapapp. Du siehst ja, dass wir hier nicht in einem Luxushotel gelandet sind«, gab die ältere der beiden zur Antwort. Sie schnaubte und ließ sich an dem der Tür am nächsten stehenden Tisch nieder, wobei sie die Gäste am Tisch gegenüber misstrauisch musterte, bevor sie fortfuhr. »Aber jetzt brauche ich was zum Aufwärmen. Da draußen schneit es wie verrückt. Und meine Tochter …« Sie hob die Hand und ließ sie in einer resignierenden Geste wieder sinken, als sei sowieso Hopfen und Malz verloren.
Karlheinz Clausing hatte beim Eintreten der beiden den Kopf gehoben. Sein stummer Gruß wurde von der Blonden schüchtern erwidert.
»Einen Tee mit Rum. Und für meine Tochter eine Brille!«
»Mutter, jetzt ist es genug. Wir lassen uns den Weg erklären und fahren weiter.«
»Bei dem Schneetreiben?« Moritz stand an der Tür. »Da würde ich lieber noch warten.« Er knipste beim Hinausgehen die Außenbeleuchtung an, die nicht nur den Schnee zum Funkeln brachte, sondern auch durch die Fenster nach innen einen warmen Lichtschimmer warf.
»Hier drin ist es so kalt wie in einem Iglu«, beschwerte sich die Mutter.
Peinlich berührt schloss die Tochter kurz die Augen, bevor sie ebenfalls Platz nahm.
»Mein Enkel holt gleich Holz für den Kamin«, erklärte Elisabeth Mosler, während sie den Tisch der beiden Frauen eindeckte und darauf eine Kerze entzündete.
Moritz ging hinaus und kam wenige Minuten später mit einem Korb Feuerholz zurück in die Gaststube. Danach machte er sich an dem großen, offenen Kamin an der der Theke gegenüberliegenden Wand zu schaffen. Während er Papier, Späne und Holzscheite aufschichtete, schielte er immer wieder verstohlen zu Annika hinüber. Die wiederum nichts und niemanden wahrnahm. Ganz im Gegensatz zu ihrem Vater.
»Probieren Sie den Stollen. Er ist sehr gut«, meinte er, an die Neuankömmlinge gewandt. »Sieht ja aus, als ob wir noch ein Weilchen hier ausharren müssten.«
»Wollen Sie ebenfalls ins Grand Hotel?«, trompetete die Mutter lautstark dazwischen.
»Grand Hotel? Nein. Davon steht nichts in meinem Reiseführer«, antwortete Clausing. »Eigentlich sind wir hier richtig. Also abgesehen davon, dass meiner Tochter dieser Gasthof wohl ein wenig zu langweilig vorkommt.«
»Sie wollten hierher?« Die ältere Dame verdrehte die Augen. Annika blickte kurz auf, zog die Mundwinkel nach unten und nahm einen der Knöpfe aus ihrem Ohr. »Grand Hotel? Hört sich doch gut an. Lass uns weiterfahren«, forderte sie ihren Vater auf. Moritz zuckte bei diesen Worten kurz zusammen, was aber nur seiner Großmutter auffiel.
»Mir gefällt es hier«, fiel die Blondine ein. »Aber ich habe bei einem Preisausschreiben einen Aufenthalt im Bergschloss gewonnen.« Sie lächelte zart.
»Herzlichen Glückwunsch«, meinte Clausing, bevor er sich vorstellte.
»Fritz. Juliane Fritz. Und das ist meine Mutter Luise«, tat es ihm sein Gegenüber gleich.
»Genau. Die Mutter. Ich musste mit. Der Gewinn war für ein Freundinnenpaar. Aber meine Tochter hat keine Freundinnen.« Sie gluckste, es klang schadenfroh. Juliane neigte den hochroten Kopf über das Glas Tee und den Stollen vor ihr.
Moritz hatte es inzwischen geschafft, das Feuer zu entzünden. Er betrachtete die Flammen, die sich knisternd in das Holz fraßen. Noch ein bisschen Weihnachtsdeko, weitere Kerzen auf den Tischen, und es wäre fast wie in den Jahren zuvor.
Die Gäste schwiegen, alle mit dem Gedanken beschäftigt, wann und wohin sie weiterfahren könnten.
Zwanzig Minuten später war klar, dass es so bald nichts würde mit der Weiterfahrt. Das Schneetreiben hatte sich zu einem Schneesturm ausgeweitet. Da war es viel besser, in der sich langsam erwärmenden Gaststube zu sitzen, wo das Feuer im Kamin flackerte, Kerzen auf den Tischen alles in ein freundliches Licht tauchten und der Duft nach Kaffee in der Luft lag. Nach und nach entledigten sich die Gäste ihrer dicken Jacken und Mäntel und Elisabeth Mosler schnitt bereits den zweiten ihrer selbst gebackenen Stollen an.
Das Paar, das sich in einem teuren Geländewagen den Weg den Berg hinauf bahnte, stritt seit Stunden. Die Tatsache, dass um sie herum ein fast undurchdringlicher Schneesturm tobte und das GPS ausgefallen war, machte es nicht besser.
»Nie, nie kommen wir pünktlich weg«, schimpfte Bernhard von Otter. »Wir wollten seit einer Stunde im Hotel sein. Und jetzt das!« Seine verkrampfte Kinnpartie spiegelte die Anspannung wider, mit der er den Wagen durch die immer dichter fallenden Schneeflocken lenkte. Die Straße war weiß überpudert und wies keine nennenswerten Reifenspuren auf. Es war, als seien sie ganz alleine in einer Einöde unterwegs. Die Stille um sie herum unterstrich diesen Eindruck.
»Unsinn!«, gab seine Frau Sophie heftig zurück. »Du weißt genau, wie schwierig momentan alles in der Redaktion ist. Da kann ich nicht einfach auflegen, wenn ein Anruf kommt.«
»Ich kann das Wort Redaktion nicht mehr hören!« Bernhard schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass deine Kolleginnen an Heiligabend noch darüber brüten, welches sensationelle Cover sie für die Februarausgabe auswählen sollten.« Er hielt einen Moment inne, bevor er, wesentlich leiser, fortfuhr: »Sieht für mich sowieso immer alles gleich aus.«
Seine Frau schnaubte hörbar, erwiderte aber nichts. Seit über einer halben Stunde hatte ihr Handy keinen Empfang mehr, was sie unruhig werden ließ. Natürlich hatte Bernhard recht, wenn er sich darüber beschwerte, dass sie glaubte, sogar an Heiligabend noch telefonisch erreichbar sein zu müssen. Aber er hatte einfach keine Ahnung, wie schwierig alles zurzeit war. Sophie war Ende dreißig, sie wollte beruflich noch etwas erreichen, war leistungsbereit. Seit sie den Job beim Lifestyle-Magazin My Sweetest Home angenommen hatte, hatte sie keine Woche weniger als 60 Stunden gearbeitet. Bisher hatte Bernhard das nicht gestört. Er war ebenfalls ein Workaholic und mit seiner Unternehmensberatung finanziell erfolgreich. Sie wussten beide, worauf sie sich einließen, als sie sich kennenlernten. Der Lohn für die Schufterei waren eine schnuckelige Stadtvilla, Sternerestaurants und exklusive Urlaube. So wie jetzt. Die Weihnachtsfeiertage in einem Luxushotel mit allem Drum und Dran zu verbringen, tagsüber auf der Skipiste oder im Spa, abends in einer edlen Bar, darauf hatten sie sich beide gefreut. Nur, dass alles keinen guten Anfang nahm. Ihr Mann war seit dem Vormittag derartig gereizt, dass sie sich inzwischen fragte, ob der Kurzurlaub überhaupt eine gute Idee war. Muffelig blickte Sophie auf die Straße. Dann schrie sie laut auf. »Stopp. Rechts abbiegen. Hier hinauf!«
Bernhard ging fluchend in die Eisen. Er erkannte jetzt ebenfalls ein auf einem windschiefen Mast angebrachtes Hinweisschild. Im Schneegestöber so schwer auszumachen, dass er fast vorbeigefahren wäre.
Minuten später hatten sie das Ende der steilen Seitenstraße erreicht. Betreten blickten sie auf das Haus vor ihnen. Eine Lichterkette zog sich am Dach entlang und aus den Fenstern schien warmes Licht. Das war ein Gasthof, aber ganz sicher kein Grand Hotel.
»Hier sind wir wohl kaum richtig«, brummte Bernhard beim Anblick des goldenen Sterns, der über dem Eingang prangte. Er wendete den Wagen auf dem fast leeren Parkplatz. Lediglich drei Autos standen dort.
»Halt trotzdem an«, bat Sophie. »Ich muss mal pinkeln.«
»Du willst da reingehen?«, fragte ihr Mann zweifelnd.
»Natürlich«, fauchte sie zurück. »So viel Zeit muss sein. Ich halte nicht mehr lange durch und habe keine Lust, mir bei dieser Kälte irgendwo am Straßenrand den Po abzufrieren.«
Die sechs Menschen im Goldenen Stern blickten auf, als ein modisch gekleidetes Paar die Gaststube betrat.
»Da haben Sie aber Glück gehabt, dass Sie es noch hier heraufgeschafft haben«, meinte Moritz.
»Kleine Pause«, entgegnete Bernhard. Er zog seine ledernen Handschuhe aus und klatschte sie zusammen. Sophie verschwand ohne ein Wort in Richtung der Toiletten.
»Einen Espresso, bitte«, Bernhard nickte allen Anwesenden zu und setzte sich dann an den Tisch neben einem, an dem zwei Frauen saßen. Mutter und Tochter, wie er vermutete. Die Jüngere hielt sich an einem Glas Tee fest, die Mutter schob ihr Gedeck von sich und bestellte »noch einen Rum.«
»Keine schlechte Idee«, murmelte Bernhard und orderte seinerseits einen Schnaps zu seinem Espresso. Die Wirtin brachte beides sofort.
»Draußen ist bald kein Durchkommen mehr«, meinte sie.
»Wir haben es nicht mehr weit. Zumindest hoffe ich das. Das GPS ist ausgefallen und damit auch mein Navi. Wir wollen zum Grand Hotel Bergschloss.« Er rührte energisch in seinem Espresso. »Wir sind wohl falsch abgebogen«, setzte er das Gespräch danach fort. »Aber Sie können uns sicher sagen, wie wir dorthin kommen.«
»Zurück zur Hauptstraße, der folgen Sie noch rund 15 Kilometer bergauf, bis zu einer Weggabelung. Von dort steigt der Weg weiter steil an, für das letzte Stück können Sie sich dann am Lichterzirkus und den Pauken und Trompeten orientieren«, erwiderte Elisabeth Mosler schmallippig. Mit dem leeren Tablett ging sie hinter ihren Tresen zurück.
»Komische Alte«, brummte Bernhard. Er trank seinen Espresso und setzte gleich darauf auch das Schnapsglas an, das er mit einem Schluck leerte.
»Ah, das tut gut«, murmelte er.
Sophie von Otter unterdessen ahnte nicht, womit ihr Mann sich aufwärmte. Sie stand wie vom Donner gerührt im Waschraum der Damentoilette.
»Porzellan«, murmelte sie. Ihre Finger fuhren ehrfürchtig das verblichene Dekor aus Edelweiß und Enzian nach. Entzückt betätigte sie die altmodischen Armaturen. Schön beschriftet mit »warm« und »kalt«. Sie mischte ihre bevorzugte Wassertemperatur zusammen, hielt die Hände unter den elegant geschwungenen Messinghahn, schäumte sich die Hände ein. Die Seife duftete nach … sie musste überlegen, was es war. Heu. Genau. Die Seife duftete wie frisch geschnittenes Heu. Sophie hob die Hände mit dem weichen Schaum unter die Nase, sog den Duft ein. Nach dem ganzen Stress dieses Tages, der Anspannung, die sie nach dem Telefonat mit ihrer Redaktion ergriffen hatte, weil eine der Autorinnen ihren Text zu spät abgegeben hatte, der darüber hinaus zu kurz war, nach dem Streit mit ihrem Mann, diesem Mistwetter und der Tatsache, dass sie immer noch nicht am Ziel waren, kurzum, nach diesem langen, ziemlich beschissenen Tag, an dem sie noch keine ruhige Minute gehabt, geschweige denn etwas annähernd Weihnachtliches empfunden hatte, war es dieser Seifenduft, der ihre Sinne liebkoste und sämtliche Nervosität von ihr abfallen ließ. Es war, als habe jemand eine Tür geschlossen, hinter der sämtliche Aufregungen zurückblieben, und gleichzeitig eine andere Tür geöffnet. Die führte geradewegs auf eine Almwiese, wo es nichts Wichtigeres gab, als die Luft, die Sonne, die Blumen und Kräuter zu genießen. So, wie sie es als Kind getan hatte, wenn sie ihre Großeltern auf dem Land besuchte. Wie unendlich lang waren ihr damals die Sommerferien erschienen. Wie unbeschwert war sie durchs Leben getänzelt. Ihr kamen die Tränen und sie musste sich setzen. Die Hände voller Seifenschaum hockte sie auf einem der dreibeinigen Holzschemel, die an der Wand standen.
Wann habe ich denn das letzte Mal richtig Urlaub gemacht? So, dass alles von mir abfiel? Ohne Handy, ohne ständig das Gefühl im Nacken zu haben, immer und überall erreichbar sein zu müssen? Wann habe ich zuletzt das Gefühl gehabt, abzuschalten, einzutauchen in etwas Neues, Anderes? Mal wieder durchs Leben zu tanzen? Wann habe ich zuletzt überhaupt so etwas wie Unbeschwertheit gefühlt?
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so dasaß. Bilder aus ihrer Kindheit stiegen aus der Erinnerung auf. Verbunden mit dem fast körperlich schmerzlichen Wunsch, sich einfach mal fallenzulassen, weil es kein Leben war, ständig unter Hochspannung zu stehen. Ihr Zeitgefühl kam ihr abhanden und sie erschrak heftig, als die Tür zur Damentoilette geöffnet wurde.
»Oh«, sagte die Blonde mit der etwas altmodischen Frisur. Sophie hatte sie vorhin nur im Vorbeigehen gesehen.
»Geht es Ihnen nicht gut?« Die blauen Augen blickten fragend. Sophie wurde bewusst, wie merkwürdig sie aussehen musste. Zusammengesunken auf einem Hocker, in den schaumigen Händen immer noch die Seife.
»Wussten Sie, dass diese Seife nach Heu riecht?«, fragte sie und erhob sich schwerfälliger als gewohnt. »Ganz ungewöhnlich. Mich hat das an meine Kindheit erinnert.« Sie trat zum Waschbecken, legte endlich das Seifenstück weg und spülte den Schaum von den Händen.
»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete die andere. Sie war sehr schlank und einen halben Kopf größer als Sophie. Vielleicht stand sie deshalb ein wenig gebeugt. »Wir sind erst kurz vor Ihnen hier angekommen.«
»Mir war eben so, als würde diese Seife zu mir sprechen. Ist das nicht eigenartig?«, fuhr Sophie fort.
Die blonde Frau blickte verwirrt. »Zu mir spricht nur meine Mutter. Und das, was sie sagt, finde ich meistens schlimm genug«, erwiderte sie schließlich trocken.
Sophie musste lachen.
»Sorry, ich bin ein bisschen durcheinander, aber keine Angst, das ist kein Dauerzustand.« Sie nahm eines der akkurat gefalteten Gästehandtücher aus dem schmalen Regal neben dem Waschtisch und trocknete ihre Hände.
»Sophie von Otter. Irgendwie vom Weg abgekommen. In zweierlei Hinsicht.« Wieder lachte sie. Ihr war, als wäre sie beschwipst. Ob in der Seife mehr als Heu gewesen war? Berauschende Substanzen womöglich?
»Juliane Fritz«, antwortete die Blonde und hielt sich an ihrer Handtasche fest, als fürchte sie, Sophie entpuppe sich gleich als Räuberbraut. »Meine Mutter und ich sind ebenfalls falsch gefahren. Das Schild …« Sie verstummte, ihr Blick wanderte hilflos durch den Raum. Währenddessen hatte Sophie ihr Handy gezückt, um ein paar Fotos vom Waschtisch, dem Porzellanbecken und den Armaturen zu knipsen. Auch den Schemel mit dem Herzchen in der Mitte der Sitzfläche fotografierte sie.
Danach holte sie einen Lippenstift in einer goldenen Hülle aus der Tasche und zog sich unter dem fragenden Blick der anderen die vollen Lippen nach.
»Sicher können wir bald weiter. Dann sehen wir uns heute Abend beim weihnachtlichen Galadinner im Grand Hotel. Bis dahin«, verabschiedete sie sich kurzerhand von Juliane Fritz, die immer noch wie angewurzelt mitten im Raum stand.
Durch die offene Küchentür drang das Klappern von Töpfen und Tellern in die Gaststube hinaus. Annika erschrak, als der junge Koch plötzlich neben ihr auftauchte, einen Teller mit einem kleinen Schokoladenkuchen in der Hand.
»Probier mal«, forderte er sie auf.
»Was ist das?«, fragte sie misstrauisch, ohne den Blick von ihrem Smartphone zu nehmen.
»Schokoladenküchlein mit einer Kirschfüllung. Habe ich gestern kreiert. Könnte ich heute als Nachtisch zubereiten, wir haben alles im Haus. Aber ich brauche eine Meinung. Meinst du, das passt zur Gans? Zu Weihnachten?«
»Nee, lass mal«, sie winkte ab. »Ich habe keinen Hunger und auf Weihnachten habe ich sowieso keinen Bock.«
Endlich hob sie den Kopf und sah ihn an. Moritz’ Miene zeigte deutlich, wie schade er das fand.
»Schmeckt aber wirklich lecker.« Er zwinkerte ihr zu. Wohl in der Hoffnung, sie möge doch noch probieren.
»Du und dein Vater, ihr bleibt doch zum Essen, oder?«
Annika starrte ihn einen Moment lang fast erschrocken an.
»Sorry, ich habe echt keine Zeit. Muss meine Fotos ordnen.«