Über alte Wege - Mathijs Deen - E-Book

Über alte Wege E-Book

Mathijs Deen

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Beschreibung

Menschen reisen seit einer Million Jahre durch Europa. Unter jedem Fußabdruck befindet sich ein früherer, unter jeder asphaltierten Straße ein Esels- oder Karrenweg. Der niederländische Schriftsteller Mathijs Deen möchte unseren Blick für die großen Straßen Europas schärfen, spielen sie doch die heimliche Hauptrolle in der Geschichte unseres Kontinents. Denn von dem Augenblick an, als der erste Mensch von Afrika kommend europäischen Boden betrat, sind wir unterwegs. So nähert sich Mathijs Deen dem wahren Geist Europas, in dem er den Lebenswegen von Vertriebenen, Wegelagerern, Pilgern, Glücksjägern und Rennfahrern folgt, deren faszinierende Leben sie entlang der Küsten und über die Flüsse und Straßen Europas geführt haben – von Byzanz nach Rom, von Wassenaar nach Smolensk, von Paris nach Wien. Er porträtiert die ersten Europäer ebenso wie historisch verbürgte Personen. Dem Leser begegnen jüdische Flüchtlinge, Soldaten, isländische Eroberinnen und zwangsverheiratete römische Ehefrauen: ›Über alte Wege‹ nimmt den Leser mit auf eine abenteuerliche Fahrt durch Europa und eine faszinierende Reise durch die Zeit. Und es nimmt in den Blick, was uns verbindet und Europa zu dem gemacht hat, was es heute ist.

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Seitenzahl: 554

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EUROPAS HISTORIE ALS GESCHICHTE DER MIGRATION UND WANDERSCHAFT

Der niederländische Schriftsteller Mathijs Deen schärft unseren Blick für die großen Straßen Europas, spielen sie doch die heimliche Hauptrolle in der Geschichte unseres Kontinents. Denn von dem Augenblick an, als der erste Mensch europäischen Boden betrat, sind wir unterwegs. So nähert sich Mathijs Deen dem wahren Geist Europas, indem er den Lebenswegen von Vertriebenen, Wegelagerern, Pilgern, Glücksjägern und Rennfahrern folgt, die sie entlang der Küsten und über die Flüsse und Straßen Europas geführt haben – von Island nach Rom, von Boekelo nach Smolensk.

Dabei spannt er den erzählerischen Bogen von der Altsteinzeit bis in die heutige Zeit, in der Europa erneut von Migration geprägt wird. Dem Leser begegnen antike Händler, isländische Eroberinnen und römische Ehefrauen, mittelalterliche Pilger, jüdische Flüchtlinge und napoleonische Soldaten.

›Über alte Wege‹ nimmt den Leser mit auf eine abenteuerliche Fahrt durch Europa und eine faszinierende Reise durch die Zeit.

Autorenfoto: © Merlijn Doomemik

MATHIJS DEEN, geboren 1962, ist ein preisgekrönter niederländischer Schriftsteller und Radiojournalist. Er hat Romane, Kolumnensammlungen und einen Band mit Kurzgeschichten veröffentlicht. Sein Romandebüt ›Unter den Menschen‹ erschien 2019 im Mare Verlag.

ANDREAS ECKE übersetzt seit 2001 aus dem Niederländischen. 2010 erhielt er den Else-Otten-Preis sowie 2016 den Europäischen Übersetzerpreis.

Mathijs Deen

ÜBER ALTE WEGE

EINE REISE DURCH DIE GESCHICHTE EUROPAS

Aus dem Niederländischenvon Andreas Ecke

Diese Publikation wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung der Dutch Foundation for Literature.

Die niederländische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel ›Over oude Wegen‹bei Thomas Rap, Amsterdam.

© Mathijs Deen

eBook 2019

© 2019 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Andreas Ecke

Lektorat: Susanne Rudloff

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © amazon/wallario

Satz: Angelika Kudella, Köln

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-8321-8453-7

www.dumont-buchverlag.de

Für Willem Deen III.

Meinen Vater.

Den Mann am Steuer.

(1927–

»Das ist die E8. Die führt von London nach Moskau.«

(Willem DeenIII., auf dem Weg von Boekelo nach Leersum)

»Schöne, breite Straßen.«

(Willem DeenII

DIE FANTASIE

Boekelo – Leersum (1968)

»Das ist die E8«, sagte mein Vater. »Die führt von London nach Moskau.«

Wir näherten uns einer Abzweigung. Auf den Asphalt waren ein Pfeil und »E8« aufgemalt, das sah ich von der Rückbank aus. Wir waren auf dem Weg von Twente zum Utrechter Hügelrücken, von unserem Haus zu meinen Großeltern. Eine Entfernung von etwas mehr als einhundert Kilometern. Doch die Bemerkung meines Vaters machte unsere Unternehmung zu einem Teil von etwas viel Größerem. Eigentlich befuhren wir einen Abschnitt einer langen, grenzüberschreitenden Route, zwischen Orten, deren Namen ich aus dem Atlas, aus den Acht-Uhr-Nachrichten im Fernsehen und von den Überschriften in der Zeitung kannte, hinter der sich mein Vater oft unserer Gesellschaft entzog.

Es war eine launische Strecke mit zahllosen Abzweigungen, und sie sah täuschend normal aus: eine Kreuzung, eine Brücke, durchgängig asphaltierte Abschnitte, Klinkerpflaster. Aber die Pfeile und Markierungen auf der Fahrbahn sprachen eine deutliche Sprache. Es war tatsächlich die E8, die Straße von London nach Moskau.

Meine Großeltern wohnten in einem der Wälder des Utrechter Hügelrückens. Ihr Gärtnerhäuschen war an ein Kutschenhaus angebaut und gehörte zum Schloss Broekhuizen, einem Herrensitz aus dem späten 18.Jahrhundert, umgeben von Wald und einer Reihe von Weihern.

Doch die Schlossherrin war gestorben und das Schloss stand leer. Mein Opa, der für die Pflege der Gärten und des Waldes verantwortlich gewesen war, und meine Oma bewohnten noch das Gärtnerhaus. Opa arbeitete nicht mehr. Die Gärten waren verwildert, die Gewächshäuser eingefallen, der Kies bemoost, die Fenster des Schlosses mit Brettern vernagelt; das Gras der riesigen Rasenfläche vor dem Schloss stand hoch.

Meine Oma heizte das Esszimmer mit einem Holzofen, gab mir Zwieback mit Zucker, selbstgemachten Vla mit selbstgemachtem Brombeersaft und eine kleine Harke, mit der ich endlos den Kies harken konnte. In der Dämmerung jagten Ringelnattern im Schlossweiher, nachts hörte man Waldkäuze rufen. Ich war dort glücklich und sehnte mich immer dorthin zurück.

Ich werde nicht viel älter als acht gewesen sein, als ich zu Hause, früh ins Bett geschickt und noch sehr wach, mir im Dunkel meines Zimmers vorzustellen versuchte, dass ich selbst ein Auto lenken konnte und zu meinen Großeltern fuhr. Kannte ich den Weg nicht ganz genau? Wenn ich von der Rückbank aus, eingeklemmt zwischen den Beinen und Armen meiner beiden älteren Brüder, durch die Windschutzscheibe schaute, wusste ich immer: Hier biegen wir rechts ab, dort geht es nach links. Alle Straßen, Kreuzungen und Abzweigungen, die vor uns auftauchten, waren mir vertraut.

Diese Bilder waren es, die ich abzurufen versuchte, von der gesamten Strecke, mit allen Abzweigungen, Kreuzungen und kurvenreichen Wald-Abschnitten, in denen weiße Streifen zur Markierung der Fahrbahngrenze auf die Baumstämme gemalt waren. Ich stellte mir vor, dass ich den Wagen fuhr, allein, selbstständig, zu Opa und Oma.

Durch unsere Straße, nach rechts, nach links, durchs Dorf, auf der Klinkerstraße aus dem Dorf hinaus; die Bäume links und rechts, der Bach, jenseits des Bachs der Bereich der Katholiken, das andere Dorf mit demselben Namen, die Hauptstraße dieses Dorfes, der pockennarbige Fußballplatz des SV Boekelo, die Umkleidekabine, der Wald dahinter – und dann war ich wirklich unterwegs. Ich gab mir alle Mühe, die Erinnerung an die Fahrtroute wachzurufen und festzuhalten, ihr zu folgen, die Kurven zu fahren, die Kreuzungen zu überqueren; Beckum, Delden, der Kanal … schon war ich mir nicht mehr ganz sicher. War ich noch auf der richtigen Straße? Und wohin führte sie? Dann drängten sich Bilder von anderen Straßen auf, von anderen Kreuzungen, von zusammenhanglosen Begebenheiten. Von einem steilen Anstieg in den Bergen, von der Autobahn, auf der mein Vater sage und schreibe hundertzwanzig gefahren war, so schnell wie der Zug auf der Strecke daneben, oder von der Stelle, an der Grimbold, unser eigensinniger Boxer, als das Auto an einem warmen Sommertag auf der Fahrt zu Oma und Opa vor einer großen Kreuzung anhielt, vom Kofferraum auf die Rückbank kletterte, durchs geöffnete Seitenfenster sprang und in den Wald rannte. Und von meinem Vater, der ausstieg und den Hund rief, ihn an die Leine nahm und in den Wagen zog.

Ich verstrickte mich in Erinnerungen an Erlebnisse und Situationen, in denen die unzusammenhängenden Bilder von der Fahrt zu Oma wie Puzzleteile durcheinandergewirbelt wurden, ohne dass sie sich zu einem Weg, zu einer Route zusammenfügen ließen, der ich hätte folgen können. Ich verirrte mich in meiner Unfähigkeit, und das machte mich traurig. Dann kam unweigerlich die Fantasie von der »Geraden Straße«, die von unserem Haus ohne Kreuzungen oder Kurven zu dem Wald von Opa und Oma führte, links und rechts von ihr der Rest der Welt, aber genau geradeaus dieser eine Ort des Glücks.

Und ich stellte mir klare Tage vor, an denen ich nach der Schule mit meinem BMX-Rad eine kurze Strecke auf dieser Straße fahren und dann, auf den Pedalen stehend, in weiter Ferne den Wald von Opa und Oma sehen konnte.

So versuchte ich, mir die Welt außerhalb des Dorfes zu erschließen, indem ich mir Straßen vorstellte, denen ich in meiner Fantasie zu dem paradiesischen Ziel folgte, dem Haus meiner Großeltern im Wald. Es war eine erste Übung im Sich-Zurechtfinden in der großen Welt, die erste Fantasie von Unabhängigkeit. Und obwohl die Übung misslang, kann ich die Sehnsucht von damals noch heute nachempfinden. Und ich hege Sympathie für den kleinen Jungen, der den Versuch unternommen hat.

Doch lange bevor ich alt genug für den Führerschein war, wurden meine Großeltern aus dem Haus im Wald vertrieben und in eine Seniorenwohnung im nahe gelegenen Dorf Leersum gesteckt.

Es war die Endstation.

Auch mein Vater lebt nicht mehr. Niemand unternimmt noch die Autofahrt, die einmal so wichtig, verheißungsvoll und aufregend war. Und wenn ich mir heute, fünfundvierzig Jahre nachdem ich schlaflos im Bett lag, mit geschlossenen Augen vorzustellen versuche, wie man vom Dorf meiner Jugend zu dem verlassenen Haus im Wald fährt, merke ich, dass die Zeit auch die Erinnerung an die launische E8 ausgelöscht hat.

Ein paar Kilometer nördlich der alten E8 wurde in den Siebzigerjahren eine Autobahn gebaut, die zwar nicht in gerader Linie von Twente zum Haus meiner Großeltern führt, auf der man sich aber trotzdem kaum verirren kann. Eine Straße, die außerdem die Fahrzeit von Twente sowohl zum Utrechter Hügelrücken als auch nach London und Moskau erheblich verkürzt hat. Die Markierung E8 verschwand vom Asphalt der alten Straße, die durch den Bau der neuen zu einer Nebenstrecke geworden war, während die Autobahn von der Hauptverwaltung der Europastraßen in Genf einen neuen Namen bekam: E30.

Diese Bezeichnung hat sich aber nie durchgesetzt; in der niederländischen Klassifikation ist die neue Straße die A1. Mit der alten E8 verschwand die Europastraße aus dem nationalen Bewusstsein.

Die E30 führt allerdings nicht mehr von London nach Moskau. So wie der Weg zu Opa und Oma nur ein Abschnitt der großen E8 war, so ist das Stück Autobahn parallel zur alten E8 nur ein Teil der großen E30, die von Cork nach Omsk führt. Ich weiß genau, dass ich mir darunter als Kind nichts hätte vorstellen können. Und auch, dass mein Vater es niemals erwähnt hätte. Denn was soll das sein, eine Straße von Cork nach Omsk?

In Omsk schließt sich an die E30 übrigens unmittelbar die M51 an, eine Straße, die ostwärts führt, später zur M53, dann zur M55 wird und schließlich in Wladiwostok endet. Die E30 macht also die Hälfte einer transkontinentalen Straße vom Atlantik zum Pazifik aus. Es ist eine Straße von einem Ende der Welt zum anderen.

Niemandes Straße.

DAS IDEAL

Genf, Hauptverwaltung (2015)

E8: London – Colchester – Harwich (ferry to Hook of Holland and to Antwerp, boat to Esbjerg). Hook of Holland – The Hague – Gouda – Utrecht – Amersfoort – Oldenzaal – Osnabrück – Oeynhausen – Hanover – Magdeburg – Berlin – Poznan – Krosniewice – Lowicz – Warsaw – (USSR).

Aus: Declaration on the Construction of Main International Traffic Arteries, Vereinte Nationen, Genf 1950

Dass es ein zentral verwaltetes Netz europäischer Straßen gibt, Straßen, die über Tausende von Kilometern den gesamten europäischen Kontinent bis weit nach Asien hinein überspannen und die Territorien benachbarter Klans, Handelspartner, vorläufiger Freunde, erbitterter Feinde und Sprachfamilien miteinander verbinden, ist nicht Teil eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins. Nur Menschen mit einem sehr speziellen Interesse daran wissen, wer für die Existenz dieses Netzes verantwortlich ist. Wen eine Midlife-Sehnsucht dazu treibt, allein eine große Entfernung zurückzulegen, der richtet den Blick viel lieber auf die Neue Welt, auf die Route 66 oder die Panamericana. Das Vorhaben, zum Zweck der Läuterung oder persönlichen Weiterentwicklung die E30 zu bezwingen, dürfte auf wenig Verständnis treffen. Die europäischen Straßen spielen keine Rolle in sinnstiftenden nationalen Erzählungen, wie es in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Hier keine Früchte des Zorns, hier kein nation building entlang der Routen, die den Kontinent erschlossen haben, keine Inbesitznahme der Landschaft entlang der Nervenbahnen aus Fernstraßen. Das ist leicht zu erklären. Die europäischen Verkehrswege gibt es schon seit Tausenden von Jahren, sie verdanken ihre Existenz der Migration, dem Handel und Eroberungen. Sie gehören niemandem im Besonderen. Sie führen über einen zersplitterten Kontinent, der seit jeher von vielen verschiedenen, häufig verfeindeten Klans bewohnt wurde. Grenzüberschreitende Verkehrswege verlaufen über das Terrain der Nachbarn, und ob man auf deren Wohlwollen rechnen darf, ist die große Frage. Die »Visionäre«, die sich mit mehr oder weniger Recht als Schöpfer solcher Verbindungen sahen (die Römer, Napoleon, Hitler), ließen Straßen bauen, um Gebiete ihrer Kontrolle zu unterwerfen, um Truppen zu bewegen und zu versorgen. Wo Straßen kamen, folgten Armeen. Überregionale Straßen brachten nur selten Gutes.

Kaum hatten sich Menschen in Europa angesiedelt, fingen sie an, sich gegenseitig umzubringen. Archäologische Funde konfrontieren friedliebende Wissenschaftler regelmäßig mit Beweisen dafür, dass der Mensch und seine nächsten Verwandten seit jeher Fremde nur selten in Ruhe gelassen haben – es sind Beweise in Gestalt eingeschlagener Schädel oder gründlich abgenagter menschlicher Knochen. »Krieg, so alt wie die Menschheit«, titeln dann die Zeitungen, oder: »Auch Jäger und Sammler bekämpften sich«. Diese Relikte widerlegen die Vorstellung, der Krieg sei erst von Menschen erfunden worden, die sich dauerhaft an einem Ort niederließen, also eine Heimstätte zu verlieren hatten. »Interessant ist das Ausmaß der Gewalt«, zitieren die Zeitungen immer wieder einmal Archäologen, die darauf hinweisen, dass die gefundenen Knochen offensichtlich mit Absicht gebrochen oder zertrümmert worden waren.

Seit seiner Besiedelung durch Menschen war Europa ein Kontinent voller Konflikte, auf dem es sogar für Gruppen umherstreifender Jäger nicht einfach war, einander dauerhaft aus dem Weg zu gehen. Der Kontinent ist eine Halbinsel, durchkreuzt von Wegen, die an Meeresküsten, Flüssen und Gebirgen endeten. Isolierte, vielleicht infolge von Klimaveränderungen voneinander getrennte Klans zogen wie träge Zyklone durch ihre Jagdgebiete. Von den Tiefebenen des Nordens aus gesehen, schien die Welt nach Osten hin endlos, doch nordwärts fließende Ströme behinderten hier das Weiterkommen.

Wenn die Europäer Artgenossen begegneten, gerieten sie schnell aneinander. Massengräber voller Steinzeitmenschen, die auf grässliche Weise zu Tode gebracht worden sind, von Cäsar ausgerottete germanische Stämme, von Napoleon aus dem Dorfleben gerissene und über schneebedeckte Straßen getriebene Bauernsöhne – all dies verwundert niemanden. Der Gedanke, dass es möglich sein müsste, Konflikte innerhalb Europas zu entschärfen oder sogar zu vermeiden, indem man die verschiedenen Territorien mithilfe guter Verkehrswege füreinander öffnet, erscheint daher beinahe rührend naiv.

~

Und doch war es genau diese Vorstellung, die 1947, also kurz nach dem bis dahin gewaltigsten Gemetzel auf europäischem Boden, Abgesandte der verschiedenen europäischen Klans zusammenführte. Gemeinsam wollte man über ein Netz von Straßen nachdenken, das die Territorien ehemaliger Feinde verbinden sollte. Die Pläne wurden im Palais des Nations in Genf ausgearbeitet, dem späteren europäischen Hauptsitz der erst kurz zuvor gegründeten Vereinten Nationen. Einen Speerwurf entfernt vom Ort Genava, in dem Cäsar im Jahr 58 v.Chr. eine Brücke über die Rhône vorfand, von den damaligen Einwohnern, den Allobrogern, erbittert gegen alle benachbarten Stämme verteidigt, die sie benutzen wollten.

In den Jahren 1947 bis 1950 wurden auf den Sitzungstischen der Wirtschaftskommission für Europa Landkarten ausgerollt. Die Abgesandten – Diplomaten, Ingenieure, Regierungsbeamte –, die an diesen Tischen auf die vertrauten Küstenlinien, Flussläufe, Gebirge und Staatsgrenzen blickten, gingen davon aus, dass eines unabdingbar sei, um Europa aus der Katastrophe in eine bessere Zukunft führen zu können: gegenseitige Erreichbarkeit. Sie versuchten, im Wirrwarr der Straßen ein großes Muster zu erkennen, ein Gewebe aus überregionalen Verbindungen zwischen West und Ost, Nord und Süd, wie ein Netz, mit dem sich durch einen einzigen Wurf der gesamte Kontinent einfangen ließe.

Irgendwo musste man anfangen, doch von Beliebigkeit konnte bei dieser Aufgabe keine Rede sein. Die erste der vorgeschlagenen Routen verlief daher gleich ein Stück über See (Southampton – Le Havre), denn es war nun einmal bei allem Bemühen um Neutralität geradezu undenkbar, dass die erste europäische Straße der Zukunft, die E1, nicht London und Paris verbinden würde, die Hauptstädte der Alliierten Großbritannien und Frankreich. Eingedenk der europäischen Geschichte ließ es die Kommission nicht dabei bewenden, sondern zog die Route weiter zum historischen Anfangs- und Endpunkt aller europäischen Straßen: Rom. Und weil das Ideal, dem sich diese Verkehrsplaner verpflichtet fühlten, ein so umfassendes war, führten sie die Straße sogar über Rom hinaus, weiter und weiter bis hin zur natürlichen Grenze des Kontinents, dem Mittelmeer. Als Endpunkt wurde Palermo auf Sizilien gewählt, vielleicht weil die Bewohner der Insel die Alliierten bei ihrer Landung unterstützt hatten. Brindisi, seit zwei Jahrtausenden Zielort der Via Appia und deshalb eigentlich die näherliegende Wahl, war als letzte Station für die E2 vorgesehen, die ebenfalls in London begann, aber über Reims und Mailand führte.

Die ersten Routen sahen auf dem Papier ebenso selbstverständlich wie visionär aus. Fast alle folgten den alten römischen Straßen. Unter jedem Fußabdruck auf europäischem Boden liegt ein noch älterer. Unter jeder Straße liegt ein Weg, ein Pfad, den Vorfahren ausgetreten haben, ob als Händler oder Eroberer.

~

Natürlich fiel die Initiative zum Wiederaufbau nicht vom Himmel. Wie Frank Schipper es in seinem Buch Driving Europe anschaulich dargestellt hat, begannen vorausblickende Regierungsbeamte schon auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, vorsichtig Bilanz zu ziehen. So vieles war zerstört, das man nach dem Ausbruch des Friedens nicht einfach sich selbst überlassen konnte. Deshalb befassten sich die Regierungen der Alliierten eingehend mit Planungen zum Wiederaufbau dessen, was ihre Armeen gerade zerbombten und zerschossen.

Nach der Kapitulation Deutschlands wurde diese Aufgabe von der European Central Inland Transport Organization (ECITO) übernommen, und nachdem die Vereinten Nationen erst sich selbst und bald darauf die Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) gegründet hatten, fand das Ideal seine würdige Heimstatt in Genf.

Dass die ehemaligen Kriegsgegner an einem Strang ziehen sollten, nicht nur beim Wiederaufbau, sondern auch, indem sie großzügig grenzüberschreitende Verkehrswege anlegten, war natürlich ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Dennoch wurden gleich die ersten vorgeschlagenen Fernstraßen im Nachkriegseuropa so entworfen, dass sie Erzfeinde miteinander verbanden. Die E1 und E2 sollten von London aus über Frankreich nach Italien führen, die E3 (Lissabon–Paris–Stockholm) durch das Herz des zerstörten Deutschlands. Hätte man 1947 die E3 befahren können, so wären vor allem die Abschnitte durchs Ruhrgebiet, durch Hannover und Hamburg wenig ermutigend gewesen; nur auf kürzeren Teilstrecken bei Oberhausen und Hamburg wäre man verhältnismäßig glatt durchgekommen, weil Hitler dort bereits gute Verbindungen hatte anlegen lassen.

Im Jahr 1950 war der Plan fertig. Er wurde in der Declaration on the Construction of Main International Traffic Arteries festgeschrieben. Vorgeschlagen wurden erst vierundzwanzig, dann sechsundzwanzig grenzüberschreitende Autobahnen und einige weitere Fernverbindungen auf dem europäischen Kontinent.

Vom äußersten Norden Skandinaviens bis zum Mittelmeer, von Brest bis Lwiw. Der Vertragstext erklärte sachlich: It is essential, in order to establish closer relations between European countries, to lay down a co-ordinated plan for the construction or reconstruction of roads suitable for international traffic.

Nicht alle unterzeichneten gleich, nicht alle beteiligten sich. Doch das war nur eine Frage der Zeit. Es war der 16.September 1950. Europa fing wieder einmal von vorne an.

~

Bis 1975 hatten sechsundzwanzig Staaten die Declaration on the Construction of Main International Traffic Arteries unterzeichnet; das Netz der Europastraßen hatte sich seit 1950, zumindest auf dem Papier, bis nach Irland und im Osten über die gesamte Türkei zur syrischen Grenze hin ausgedehnt. Die Unterzeichnerstaaten hatten sich verpflichtet, auf ihrem Staatsgebiet die Trassen der Europastraßen anzulegen, was in der Regel darauf hinauslief, dass bereits existierende Straßen repariert und ausgebaut wurden, damit sie den im Vertrag festgeschriebenen Anforderungen genügten.

Das Trans-European-Motorways-Projekt, ein Investitionsplan für den Bau von Fernstraßen, wurde verabschiedet; das Wiener Übereinkommen über Straßenverkehrszeichen legte fest, wie Fahrbahnmarkierungen, Lichtsignalanlagen und Verkehrsschilder auszusehen hatten. Das World Forum for Harmonization of Vehicle Regulations erarbeitete internationale Standards unter anderem für die Beschaffenheit und Funktion von Scheinwerfern, Messanzeigern, Knautschzonen, Sicherheitsgurten, Rückspiegeln, Warndreiecken, Stoßstangen, Pedalen; es legte außerdem fest, wie laut Motoren dröhnen und Reifen rollen und was Auspuffe in welcher Menge ausstoßen durften.

Die neuen Aufgabenfelder verursachten in Genf viel Arbeit. Die Ideen und Vorschriften mussten in Sitzungen von Vertretern aller Vertragsstaaten diskutiert und gebilligt werden. Und als wären die Probleme des laufenden Betriebs noch nicht genug, ergab sich eine neue Schwierigkeit: Der Plan von 1950 war mit so viel Begeisterung umgesetzt worden, dass er an seinem eigenen Erfolg zu scheitern drohte. Die ursprüngliche Nummerierung erwies sich wegen der Erweiterung des Systems als unbrauchbar. Ein unübersichtliches Durcheinander entstand.

Die Nummerierung der sechsundzwanzig Hauptrouten, mit denen die Kommission angefangen hatte, war noch allgemein als einleuchtend empfunden worden, weil diese Routen, wie zum Beispiel Lissabon–Bern–Kopenhagen–Stockholm–Helsinki (E4) oder London–Wien–Budapest–Belgrad–Alexandroupolis (E5), den von alters her viel begangenen oder befahrenen Verbindungen zwischen bedeutenden Orten folgten.

Doch die rasche Verdichtung des Netzes erforderte etwas anderes als eine Ordnung, die auf einem gemeinsamen Gefühl für das »Europäische«, Gewachsene und deshalb Naheliegende beruhte, nämlich ein System von weniger historischer als abstrakter Folgerichtigkeit. Eine Ordnung, ähnlich der in den Vereinigten Staaten mit ihrem Muster aus schnurgeraden Nord-Süd- und Ost-West-Verbindungen.

Und so wurde im Jahr 1975 das System der Europastraßen völlig umgestaltet oder besser gesagt: durch ein rein rationales, jederzeit erweiterungsfähiges ersetzt. Parallele Hauptverbindungen wurden aufsteigend von Westen nach Osten und von Norden nach Süden nummeriert.

Die in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Hauptverbindungen erhielten dabei Nummern mit einer Fünf, die Hauptverbindungen in West-Ost-Richtung Nummern mit einer Null am Ende. Die Nord-Süd-Verbindungen reichten von der neuen E5 im Westen (von der kleinen schottischen Hafenstadt Greenock nach Algeciras nahe Gibraltar) bis zur E125 im Osten (vom westsibirischen Ischim, ursprünglich eine Kosakensiedlung, zum Torugart-Pass zwischen Kirgisien und China).

Die nördlichste Hauptverbindung in West-Ost-Richtung, die E10, führte vom Kabeljauhafen Å auf der Lofoteninsel Moskenesøy zum schwedischen Luleå am Bottnischen Meerbusen. Die südlichste, die E90, begann in Lissabon und verlief dann zum größten Teil über den Boden des Mittelmeers bis zu einem Schlagbaum an der türkisch-irakischen Grenze.

Dieses Raster wurde um zahlreiche Parallel- und Querverbindungen erweitert, deren Nummerierung mehr oder weniger eng mit jener der nächstgelegenen Hauptrouten zusammenhing.

So verabschiedete sich das System von der Wirklichkeit. Während der Verlauf der E1 von 1950 (von London durch Paris nach Rom) noch in der europäischen Geschichte wurzelte, war die neue E1 des Jahres 1975 eine von jeglicher historischen und geografischen Realität abstrahierte, nur theoretische »Hauptverbindung«: vom nordirischen Larne zum spanischen Sevilla. Dass die Route dabei überwiegend durch dunkle Tiefen des Atlantischen Ozeans verläuft, stellt zwar nicht die Logik des Systems infrage, aber es schränkt die Möglichkeit einer Identifikation mit dieser Verbindung ein wie auch ihren praktischen Nutzen. Eine solche weitgehend unsichtbare Route ins Herz zu schließen fällt Durchschnittseuropäern nicht leicht. Auch die östlichste der Europastraßen, die E127, vom russischen Omsk nach Maikaptschigai an der Grenze zwischen Kasachstan und dem Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang in der Volksrepublik China, liegt weit östlich des Vorstellungsvermögens normaler Europäer.

Der Vereinbarung der sechsundzwanzig Vertragsstaaten gemäß sollte das neue System ab 1983 gültig sein. Die europäischen Staaten, die Sowjetunion und die beteiligten zentralasiatischen Länder glaubten acht Jahre zu brauchen, um die neue Beschilderung einzuführen und sich an das System zu gewöhnen. Aber auch im Jahr 2018 ist das noch immer nicht geschehen.

~

Um zum administrativen Herzen des Europastraßennetzes vorzudringen, bin ich 2015 nach Genf gereist. Ein befreundeter UN-Mitarbeiter hatte für mich eine Audienz bei der Direktorin der UNECE Transport Division, des Sekretariats des Inland Transport Committee der UNECE, arrangiert, der obersten Aufseherin über die Europastraßen.

»Der Termin ist morgen«, sagte mein Freund, »aber vielleicht hast du Lust, dich schon ein bisschen im Palais des Nations umzusehen.« Er gab mir eine Art Eintrittskarte, auf der stand, dass ich einige Tage an Beratungen bei der UNECE teilnehmen würde. Die Karte hing an einer Kette und baumelte gut sichtbar vor meiner Brust.

So verbrachte ich einen Tag in der marmornen Unendlichkeit stiller Palastflure. Und weil diese Flure einander sehr ähnlich sind, verirrte ich mich. Böden und Decken laufen schnurgerade und symmetrisch auf Fluchtpunkte zu, an denen Oben und Unten sich zwar annähern, aber nie berühren. Auf beiden Seiten finden sich in regelmäßigen Abständen einander gegenüberliegende Türen, geschlossen wie Sarkophage, die durch einen Fluch versiegelt wurden. Schritte klingen hohl, doch sie hallen nicht. Es gibt kein Echo, nichts kehrt zurück, alles verschwindet.

Dieses Bild, auf jeder Etage gleich, ohne deutliche Orientierungspunkte und Unterscheidungsmerkmale, erfüllt den umherirrenden Besucher mit einem Gefühl grenzenloser Einsamkeit und Vergeblichkeit. Die Flure sind verlassen, abgesehen von ein, zwei Postsortierern, die einmal am Tag leere Wägelchen vor sich herschieben. Und von den Reinigungskräften, die jahraus, jahrein täglich Wände und Böden schrubben, als versuchten sie, den Palast von innen wegzuputzen, ihn auszuhöhlen wie steter Tropfen den Stein.

An einem dieser Flure hat die Hauptverwaltung der Europastraßen ihre Büros.

Früh am nächsten Morgen, nach einer weiteren schier endlosen Wanderung, diesmal aber unter Führung meines Freundes, liegt sie hinter einem unerwarteten Knick des Flures vor mir; der Bann ist gebrochen. Plötzlich Anzeichen von Leben: Landkarten, voll beladene Postwagen, umgefallene Papierstapel.

Die Tür der Hauptverwaltung ist geschlossen. Ich zögere das Anklopfen hinaus, warte in tadelloser Haltung ab, Augen geradeaus auf die Klinke gerichtet. Dann materialisiert sich von rechts her, angekündigt durch das Klackern ihrer Absätze, zielstrebig und energisch die Direktorin der Transport Division der Wirtschaftskommission für Europa. Entschuldigungen ausstoßend, kommt sie mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Eva Molnar«, sagt sie, »I am late, forgive me, I am so tired. Do come in.«

Auf Eva Molnars Schreibtisch türmen sich Dossiers und Berichte. Der Aktenschrank an der Wand zwischen den hohen Fenstern platzt aus allen Nähten. Auf dem Schrank liegen zwei signalfarbene Fahrradhelme, sie tragen die Aufschrift »Global Helmet Vaccine« an den Seiten.

Die vorherrschende Farbe im Büro ist hart gekochtes Eigelb. Nirgends hängt eine Übersichtskarte des Europastraßennetzes, nirgends sind die Umrisse der eurasischen Landmasse zu erkennen. Dafür veranschaulicht schräg hinter dem Schreibtisch der Direktorin ein großes Organigramm mit bunten, beschrifteten Feldern und Pfeilen die Verantwortlichkeiten und Hierarchien innerhalb ihrer Institution. Auf einem roten Tischchen stehen vier jungfräuliche Duftkerzen, eine Matroschka und eine Glasvase mit Narzissen. Zwischen all den sich bedrohlich neigenden Stapeln von Akten und Berichten über kollidierende Verkehrsinteressen sehen diese Dinge sehr verletzlich aus.

Es ist früh, im Palais des Nations hat der Arbeitstag eigentlich noch nicht begonnen, doch Eva Molnar und ihre Sekretärin sind schon aktiv. Eine internationale Konferenz zu Verkehrsschildern und Wegweisern will vorbereitet sein. Einige der Staaten, die das Wiener Übereinkommen über Straßenverkehrszeichen unterzeichnet haben, entwerfen inzwischen munter eigene Verkehrszeichen im hauseigenen Stil für den Eigengebrauch auf eigenem Territorium. Zeit für eine Konferenz, denn es ist Sache der Vereinten Nationen, in diesem Fall also des Teams von Eva Molnar, solche Auswüchse zu erfassen und die Abweichler mit sanfter Hand zurück zum Standard zu führen. Verkehrszeichen dürfen sich nicht allzu stark von der gemeinsam erarbeiteten und von allen abgesegneten Grundform unterscheiden; das könnte die Verkehrsteilnehmer aus anderen Teilen der Welt verwirren.

Um die Befolgung der Regeln zu gewährleisten, ist permanenter Austausch notwendig. »Nicht um den Ländern vorzuschreiben, was sie zu tun haben, oder um sie öffentlich bloßzustellen«, versichert Eva Molnar. »Wir machen Vorschläge. Wir unterstützen. Wir denken mit.« Gerade werde eine Website entwickelt, auf der Länder ihre Verkehrszeichen hochladen können, wonach ein unparteiisches Webtool sie analysiert und feststellt, ob sie den Regeln und Empfehlungen des Übereinkommens entsprechen.

Die Mitglieder haben sich mit den Bestimmungen der Vereinten Nationen, also auch den Vereinbarungen über Straßen, Fahrzeuge und Verkehrszeichen, selbst so etwas wie ein Zaumzeug verpasst, das aber, wie sich in der Praxis erweist, nach Belieben an- oder abgelegt werden kann. Molnar selbst versteht die Vereinbarungen als ideellen Rahmen, der die Staaten dazu bewegen soll, bei Planungen den Blick über ihre Grenzen hinaus zu richten und den großen Zusammenhang zu sehen. »Wir laden die Staaten ein, bei der Planung einer Fernstraße nicht nur den Verkehr innerhalb des Landes zu berücksichtigen, sondern auch zu erwägen, ob eine Verbindung zu einer vergleichbaren Straße jenseits der Grenze hergestellt werden sollte.«

Straßen, die ungeachtet der Grenzverläufe nahtlos aneinander anschließen: Das ist das Ideal, das Eva Molnar bei ihrer Arbeit vorschwebt. »Vielleicht ist es nicht ganz korrekt, was ich jetzt sage, aber die schönste Vorstellung für mich wäre ein über den gesamten eurasischen Kontinent gespanntes Netz von Europastraßen, auf dem ein Reisender, der im Auto vom Atlantik zum Pazifik unterwegs ist, keine Überraschungen erlebt.« Sie schaut mich lächelnd an und wartet einen Moment, bis die Vision bei mir angekommen ist.

»Denn es wäre gut«, fährt sie fort, »auch um der Sicherheit willen, wenn die transkontinentalen Autofahrer vom Anfang bis zum Ende auf der gleichen Art Straße fahren könnten. Sie müssten sich dann nicht hinter jeder Grenze an andere Straßen, andere Abmessungen, andere Ausschilderungen gewöhnen.«

~

Direktorin Eva Molnar ist nicht unfreundlich, nur sehr beflissen und gehetzt. In der Stunde, die unser Gespräch in Anspruch nehmen wird, möchte sie unbedingt etwas erreichen, etwas Nützliches tun. Nach kaum einer halben Stunde beginnt sie allerlei ehrgeizige Ziele, Vorhaben und Maßnahmen aufzulisten, Ideen, von denen ich inzwischen weiß, dass mit ihrer Umsetzung nicht zu rechnen ist, die uns aber während des Gesprächs in der Illusion großer Entschlussfreudigkeit vereinen.

Schneller als erwartet ist die Stunde vorbei. Sie erklärt in ihrer entschiedenen Art, nun zum Ende kommen zu müssen, und bittet um Entschuldigung dafür, dass sie bestimmt manches vergessen habe.

»I am so tired«, sagt sie noch einmal.

Eva Molnars fast zehnjährige Tätigkeit bei der Transport Division nähert sich dem Ende, sie wird das große Projekt der Europastraßen unvollendet einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin überlassen müssen. Der Versuch, die Vision von breiten, einheitlichen, grenzüberschreitenden Straßen für den Transport von Waren, Ideen und guten Absichten zu verwirklichen, hat sie erschöpft.

Als ich zu bedenken gebe, dass große Fernverbindungen in Europa gewöhnlich von »Visionären« geschaffen worden seien, die wenig Gutes im Schilde geführt hätten, zögert sie. »Könnte es sein«, frage ich, »dass grenzüberschreitende Straßen in den Zukunftsvisionen von europäischer Größe und gemeinsamer Identität keine Rolle spielen, weil sie immer gebaut worden sind, um Armeen, also potenzielle Besatzungstruppen schnell verlegen und versorgen zu können? Und ist der Gedanke so abwegig, dass Bilder von flüchtenden Menschen auf diesen grenzüberschreitenden Straßen ein verdrängtes historisches Trauma wachrufen?«

Eva Molnar nickt, ist aber nicht bereit, ihr Ideal zu relativieren. Erst als ich sage, sie als Ungarin brauche doch nur ein gutes halbes Jahrhundert in der Geschichte ihres Landes zurückzugehen, um zu sehen, dass auf Fernstraßen nicht nur Lastwagen mit Paprika, sondern auch Panzer von Besatzungsarmeen rollen können, sagt sie mit gedämpfter Stimme, sie erinnere sich an einen Vorfall aus ihrer Zeit im ungarischen Transportministerium. Der Ostblock sei damals noch intakt gewesen. Eines Tages hätten westeuropäische Länder vorsichtig angeboten, Ungarn beim Bau einer Ost-West-Verbindung durch das gesamte Land zu unterstützen. Das sei abgelehnt worden, zweifellos auf Druck von Moskau, wo man befürchtet habe, dass eine schnelle Verbindung durch einen Satellitenstaat, so treu er auch sein möge, den Warschauer Pakt verletzlicher machen könnte. »It is not a proven evidence«, sagt sie der Vollständigkeit halber, »but I can tell you that we in the transport sector were very upset to refuse something like that, when we could have benefited from it. It was stupid, but it was a military consideration.«

Sie schiebt ihren Stuhl ein Stück zurück, als wollte sie aufstehen, überlegt es sich aber offensichtlich anders. »Of course there are always military purposes. For instance, when you go to Kiev, and you see the road from the airport to the city; it is so straight and wide, that everybody says that that road is actually not meant to serve as a road, but to serve as an airstrip for landing and taking off, in case it is needed.«

Dann ist das Gespräch wirklich vorbei. Wir geben uns die Hand, und ich sage, nun habe sie so viel Energie und Idealismus in ein Straßennetz investiert, das die Europäer entweder gar nicht kennen oder das ihnen völlig gleichgültig sei, das müsse doch frustrierend sein, kurz vor ihrer Pensionierung. Doch sie empfindet das ganz anders, geradezu fröhlich erwidert sie: »You know, if things work, they are taken for granted. And it works, by and large.«

Wieder zu Hause, suche ich auf Google Maps nach der Straße zwischen Kiew und dem Flughafen, von der Eva Molnar gesprochen hat. Google zeigt acht Spuren kaum befahrenen Asphalt. Die Straße hat übrigens auch einen Namen: Sie ist ein Abschnitt der E40, der Straße von Calais zum 8413Kilometer entfernten Ridder in Kasachstan, nahe der Grenzen zu Russland und der Mongolei, an den Ausläufern des Altai-Gebirges.

DER WEGBEREITER

Der erste EuropäerDmanissi – Atapuerca – Happisburgh (800000 v.Chr.)

As far as eye could reach a spread of wind-weary grass, roofed by a wind-blown sky, an eagle poised far off, a dot in the upper air.

Nothing more.

Hesketh Hesketh Prichard, Through the Heart of Patagonia (1902)

Alles, was man sich vorstellen kann, ist schon einmal geschehen.

Lange bevor zum ersten Mal umherziehende Menschen Europa betraten, waren an seinen Küsten Ertrunkene angespült worden; Jäger, die an der Nordküste Afrikas lebten, als es in Europa noch kein menschliches Wesen gab. Ganz bestimmt war hin und wieder ein Homo erectus von einem Felsen ins Meer gefallen oder nach einem kargen Winter ins Wasser der Straße von Gibraltar gewatet, den Blick auf die Küste gegenüber gerichtet, einen Baumstamm vor sich herschiebend. Die Strömung nahm den ausgerutschten Fischer oder rittlings auf einem Stamm sitzenden Jäger mit, sanft, aber unerbittlich; fort vom Land, durch die Meerenge. Die Kälte des Wassers umfing ihn, zog das Leben aus Armen und Beinen, dann aus der Lunge, dem Gehirn, dem Herzen. Und an die Stelle von Schreck und Todesangst trat mehr und mehr die Ergebung eines zusammengesackten Beutetieres, das sich nicht mehr gegen das Ende wehrt. Die Kälte überwältigte ihn wie ein Traumgesicht, eine klare Erinnerung an Wärme, an Licht, die allmählich verschwamm, bis der schmerzlose Tod eintrat.

Die Strömung trug ihre Körper an der regenverhangenen Westküste Europas vorbei nach Norden, und legte sie Tage später auf dem Kiesstrand einer Bucht oder dem Sand einer Flussmündung ab. Möwen und Krähen gingen auf sie nieder und flogen wieder auf. Tagelanger Sprühregen wusch die verwesende Haut von den Knochen.

Kein Mensch fand sie. Europa gehörte den Tieren.

Selbst wenn sich solche Unfälle nur wenige Male in tausend Jahren ereignet hätten, könnten die Überreste all der an den Küsten des menschenleeren Europas angespülten Unglücklichen zusammen ein ganzes Beinhaus füllen; mit Tausenden von Schädeln, die – in der richtigen Reihenfolge angeordnet – den unseren immer ähnlicher würden, ohne ihnen je völlig zu gleichen.

Die ersten Zuwanderer, die lebend an den Küsten Europas erschienen, kamen nicht übers Meer, sondern über Land. Diese Reisenden näherten sich von Osten und am Meeresufer entlang. Sie hatten keine Eile. Sie hatten kein Ziel.

Wo einst nur Tote angespült worden waren, zogen sie warm und atmend vorüber. Zum Beispiel an klaren Frühlingstagen, an denen sie die Sonne im Rücken hatten und die Welt nach Norden hin offen vor ihnen lag. Sie richteten den Blick abwechselnd auf die Wälder landeinwärts, auf die Felstümpel zu ihren Füßen und den Horizont vor ihnen; auf die leere Küstenlinie, die weiter und weiter lief. Bei Wind vom Meer bekamen sie Gänsehaut, auch die Haare auf ihren Rücken richteten sich auf. War der Wind ablandig, wurden Wolken von Blütenstaub aus den Nadelwäldern herangeweht. Sie schmeckten ihn auf den Lippen, und die Gerüche von Harz, Dung und trocknenden Fellen drangen ihnen in die Nasen. Bei ihrem Näherkommen flog eine Schar Strandläufer auf und landete gleich hinter ihnen wieder, die Brandung löschte ihre Fußabdrücke vom leeren Strand.

Sie waren die Ersten, doch weil sie das nicht wussten, blieben sie auf der Hut. So zogen sie nach Norden.

~

Am Rand des Dorfes Happisburgh an der Küste von Norfolk ist eine Straße gesperrt. Ein Warnschild (»Road closed«) und eine rot-weiße Absperrschranke sind aufgestellt. Und um unmissverständlich klarzumachen, dass es den Absperrern ernst ist, verhindert gleich dahinter ein hüfthoher Betonblock die Weiterfahrt.

Nach knapp hundert Metern sieht man, warum. Wie von einem Schokoriegel ist ein Stück der Straße abgebrochen und in die Tiefe gestürzt. Zehn Meter weiter unten rauscht die Brandung der Nordsee, die an stürmischen Tagen den Boden unter der Straße fortgespült hat.

Auf dem schmalen Strand liegen ein abgestürzter Telefonmast, ein Mauerrest, ein Stück Kanalisationsrohr. An dieser Stelle haben auch Häuser gestanden. Jetzt gehört alles dem Meer.

Parallel zur Strandlinie liegt eine Reihe von Betonblöcken. Aus einem hölzernen Gestell, das als provisorischer Schutz dienen sollte, hat das Meer an einigen Stellen Kleinholz gemacht. Bei Sturm überwindet es mühelos alle Hindernisse und brandet gegen die sandigen Kliffs, von denen ein Stück abbricht, wenn die Wellen ihren Fuß nur lange genug aushöhlen. Das Meer trägt die abgerutschten Sedimente davon, das Wasser ist schmutzig gelb bis zum Horizont.

Die Kliffs entlang ist eine Terrasse aus widerstandsfähigeren Lehmschichten zurückgeblieben. Sie bilden den tieferen Untergrund des Bodens unter Happisburgh. Die zahlreichen Sandschichten darauf haben den Lehm zusammengepresst und dadurch hart werden lassen. Seit die Kliffs weggespült sind, sieht die Lehmterrasse wie Watt bei Niedrigwasser aus. Und genau das ist sie einmal gewesen, allerdings in der Altsteinzeit, als hier noch das Delta der Themse war. Wo die heutige Themsemündung liegt, etwa einhundert Kilometer weiter südlich, erstreckte sich damals eine Landbrücke aus Kalkstein bis nach Frankreich.

Man kann diese Geschichte im Mai 2013 beginnen lassen, als wieder einmal eine hungrige Flut tonnenweise Sand von der Küste geleckt und mitgenommen hatte. Am Tag darauf hatte sich der Wind gelegt, und die Sonne war herausgekommen. Zwei Archäologen, Martin Bates und Nick Ashton, suchten auf dem frisch an die Oberfläche gelangten altpaläolithischen Boden nach einer geeigneten Stelle für die Entnahme von Proben. Für sie ist das Meer ein unberechenbarer Fachkollege; manchmal bringt es ihre Forschungen voran, indem es alte Sedimente freilegt, doch an stürmischen Tagen überschwemmt es Fundstätten und wirft die Wissenschaftler dadurch wieder zurück.

An der Küste Norfolks und des angrenzenden Suffolk gibt es schon seit Jahren so viele neue Funde, dass unser Wissen über die früheste menschliche Besiedlung Englands mit atemberaubender Schnelligkeit zunimmt. An jenem Vormittag lief Nick Ashton nicht völlig entspannt über den Lehmboden. Eigentlich wollte er möglichst rasch an seinen Schreibtisch im Londoner Natural History Museum zurück, um die nächste Fachtagung vorzubereiten, bei der wie schon so oft neueste Ergebnisse präsentiert werden sollten.

»Sind das nicht Fußabdrücke?«, fragte Bates und hielt Ashton zurück, der weitergehen wollte.

Vor ihnen breitete sich ein unregelmäßiges Muster von kleinen Mulden aus. Und tatsächlich, wenn man die Augen ein wenig zusammenkniff, sah das Ganze aus wie die Spuren von Menschen, die dort ein Weilchen kreuz und quer durch den Lehm und einander vor die Füße gestapft waren: kleine Füße, große Füße, samt und sonders nackte Füße, von einer Familie vielleicht, die ohne Eile, beinahe spielerisch, etwas im Schlamm gesucht hatte.

Unerwartete Entdeckungen kommen selten gelegen. »Die sind frisch«, behauptete Ashton noch, »nichts Besonderes.« Dabei wusste er es besser.

Dass die Fußspuren frisch sein könnten, war eine absurde Annahme. Selbst wenn sämtliche Familien mit Kindern aus Happisburgh bei Ebbe eine Stunde lang auf diesem Boden herumgehüpft wären, hätte das allenfalls schwache Eindrücke hinterlassen. Der Lehm war zwar nicht versteinert, aber der Sand, der während einer Dreiviertelmillion Jahren von Wasser und Wind darauf abgelagert worden war, hatte ihn so stark verdichtet, dass man ihn nur mit einem Messer oder scharfkantigen Stein oberflächlich hätte anritzen können. Und dies waren tiefe Spuren, die offensichtlich entstanden waren, als der Lehm noch weich und schlammig gewesen war; sie konnten unmöglich neu sein. Es waren Fußabdrücke in einem Flussufer der Altsteinzeit. Wahrscheinlich hatte eine Springflut sie kurz nach ihrer Entstehung mit grobkörnigem Sand gefüllt.

Dieser Sand war danach immer wieder von neuen Schichten Sand bedeckt worden, bis er achthunderttausend Jahre später fortgeschwemmt wurde.

Achthunderttausend Jahre. Während Ashton und Bates den Anblick in sich aufnahmen, wurde ihnen die Ungeheuerlichkeit dieser Zeitspanne bewusst. Was so vertraut alltäglich aussah, Spuren eines Hüpfspiels, das sie in einer Anwandlung von Übermut hätten nachhüpfen können, war im Grunde ein vom Meer aufgestoßenes Fenster zu einem Zeitabschnitt, in dem nach gängiger archäologischer Ansicht noch kein Mensch England erreicht hatte.

Was nun? Auch wenn die Fußabdrücke so lange unberührt unter dem Sand gelegen hatten – jetzt, da sie wieder an die Oberfläche gelangt waren, war plötzlich Eile geboten. Jede Flut würde sie weiter auswaschen oder wieder zudecken. Die Vorbereitungen für die Tagung mussten warten. Beide Archäologen griffen zum Smartphone.

Vom noch nicht weggebrochenen Teil der Straße auf dem Kliff konnte man sie unten auf dem Strand klein und gestenreich telefonierend hin und her gehen sehen.

~

Wer durch Europa reist, reist immer jemandem nach. Unter jedem Fußabdruck liegt ein noch älterer.

Irgendwann aber hat eine Gruppe von Menschen als Erste den Kontinent betreten, haben aufblickende Grasfresser zum ersten Mal Menschen am Rand ihres Weidelands gesehen. Die aufmerksamsten Mitglieder dieser Herden beobachteten die Neuankömmlinge eine Weile, nahmen Witterung auf, sahen und rochen nichts Bekanntes, verloren das Interesse, grasten weiter. Sie rannten nicht weg. Das kam später.

Wann das war, wer diese Menschen waren, woher sie kamen, das sind Fragen, die seit den Neunzigerjahren des 20.Jahrhunderts immer wieder neu und anders beantwortet wurden.

Im Jahr 1994 versuchten die Leidener Prähistoriker Thijs van Kolfschoten und Wil Roebroeks in einem disziplinierend gemeinten Artikel, den wildesten Hypothesen den Boden zu entziehen. Besonders kühne Fachkollegen vertraten nämlich die These, die Verwandten des modernen Menschen gingen schon seit fast zwei Millionen Jahren in Europa ein und aus. Andere wagten etwas bescheidenere Schätzungen von einer Million Jahren, wieder andere wollten nicht weiter als eine halbe Million Jahre zurück. Die Anhänger der unterschiedlichen Hypothesen führten erbitterte Diskussionen.

Der Leidener Artikel sollte dieses Theater beenden. Seine Autoren vertraten die Ansicht, es gebe keinen einzigen eindeutigen Beweis dafür, dass Menschen früher als vor einer halben Million Jahren Europa betreten hätten. Der Kontinent sei in der Altsteinzeit zu abgelegen und unwirtlich gewesen, eine Sackgasse der Vorgeschichte, in der die Zeit nichts als Treibholz abgelagert habe, wie es der Entdecker von Lascaux, Abbé Henri Breuil, schon im Jahr 1912 formulierte.

Bei einem Blick auf die Karte wird klar, dass dieser Gedanke nicht abwegig war. Europa war von alters her eine abgelegene und schwer erreichbare Halbinsel, die in drei Himmelsrichtungen an Meeresküsten endete. Der Homo erectus, ein zäher Opportunist, der vor knapp zwei Millionen Jahren von Afrika aus den Weg in den Nahen Osten gefunden hatte, war von dort nach Osten abgeschwenkt, weiter nach Asien hinein. Oder er hatte sich an den Ufern eines Sees am Fuß des Kaukasus niedergelassen, wie zum Beispiel in Dmanissi, Georgien. Wer weiß, wie oft er noch zwischen Afrika und dem westlichen Asien hin und her gewandert ist. Ob er damals schon die Küsten und Flussufer Anatoliens erkundet hatte, war 1994 eine offene Frage. Jedenfalls waren noch keine Beweise dafür entdeckt worden.

Europa war noch weiter entfernt. Der Weg dorthin wurde von der tiefen, kalten Meerenge des Bosporus abgeschnitten. Wer den Umweg nördlich des Schwarzen Meeres nehmen wollte, musste nicht nur die Barriere des Kaukasus überwinden, sondern auch die abschreckend harten Winter dieser Gebirgsregion überstehen.

Und Gibraltar? Wie archäologische Funde in Algerien beweisen, hatte der Homo erectus schon früh die Nordküste des afrikanischen Kontinents kolonisiert. Und zweifellos hat er vom Strand südlich der Straße von Gibraltar aus die spanische Küste gesehen. Doch wer sich auf die Meerenge hinauswagte, ertrank.

Das war Europa: das Land auf der anderen Seite, nah genug, um Einzelheiten der Landschaft erkennen zu können, und trotzdem unmöglich zu erreichen. In Jahren des Mangels, wenn das Wild scheu oder rar war und die nordafrikanischen Jäger sich mit Kiefernzapfen, Kaktusfrüchten und wildem Hafer am Leben erhalten mussten, werden sie bestimmt neugierig nach der Küste gegenüber gespäht haben, nach den unerreichbaren Bergen.

Und es ist verführerisch, sich vorzustellen, wie ihnen zumute war, wenn sie im Herbst und Frühling die Zugvögel sahen, die von dort angeflogen kamen und dorthin zurückflogen, auf den Berg zu, dessen Gipfel so oft in Wolken gehüllt war. Auch Geier flogen nach Norden, kreisten und kehrten wohlgenährt zurück. Wie heute konnte man dort halb offenes Grasland sehen, verrieten Schatten und Pflanzenwuchs, wo es kleine Flüsse gab, wo man vermutlich eine Höhle finden würde; vielleicht sahen die Aufmerksamsten im Hochsommer den Staub, der von einer galoppierenden Herde aufgewirbelt wurde, denn sie sahen zwangsläufig mit den Augen von Jägern, und ihnen wird klar gewesen sein, dass dort drüben ein Land wie ihres lag, in dem man jagen und leben konnte. Und sie werden sich gefragt haben, wie es dort sein mochte, unter diesem Himmel, an dem die Sonne niemals erschien. Ob dort wohl jemand wohnte.

Götter. Menschen. Ahnen.

Ashton und Bates haben als Wissenschaftler die Aufgabe, allen bloßen Mutmaßungen mit der schlichten Frage nach Beweisen zu begegnen, nach zuverlässig datierten Funden, etwa von bearbeiteten Steinen oder im allerbesten Fall von fossilen Knochen, Schädeln, Kiefern, gern mit ein paar Zähnen.

Fußabdrücke kommen auf ihren Wunschlisten nicht vor, denn Fußabdrücke sind zu schön, um wahr zu sein. Bis zum Mai 2013 waren in Europa nur zwei Fußspuren gefunden worden: ein lange unbemerkt gebliebener Abdruck eines linken Fußes (Schuhgröße 37) von einem Neandertaler in einer Höhle in Rumänien (62000Jahre alt) und die im Zickzack hangabwärts führende Spur eines Homo heidelbergensis (350000Jahre alt) an der Flanke des erloschenen Vulkans Roccamonfina in Kampanien. Das war alles.

Der Neandertaler hatte einen ganz normalen linken Fuß (vielleicht ein wenig breit und mit 1,6cm Abstand zwischen dem großen und dem zweiten Zeh, was aber auch beim Homo sapiens nicht allzu ungewöhnlich ist), und der Homo heidelbergensis war, wie die Zickzackspur deutlich beweist, nicht einfach geradeaus den Berg hinunter gestürmt, sondern hatte seinen Abstieg hin und wieder gebremst, indem er zwischendurch die Richtung änderte, wodurch es dann weniger steil abwärts ging.

Was wir auf jeden Fall mit diesen frühen Verwandten gemeinsam haben, ist, dass wir fährtenlesende Wesen sind. Auch wer nie zuvor einen Fußabdruck gesehen hat, erkennt auf den ersten Blick: Das war ein Mensch, und er ist in diese Richtung gegangen. Wie viel Zeit seit der Entstehung der Fährten vergangen ist, sieht man ihnen nicht unbedingt an. Der Fußabdruck des Neandertalers wurde nicht gleich als uralte Spur erkannt, weil er so normal aussah, so, als stammte er aus unserer Zeit. Das brachte und bringt uns diese frühen Menschen sehr nah. Sie konnten das auch: Fährten lesen. Sie waren Menschen.

Es fällt schwer, uns selbst nicht als Maßstab mitzudenken, wenn wir versuchen, uns ein Bild von den frühen Menschen zu machen. Die Erklärungen des Verhaltens dieser zeitlich weit entfernten, aber mit uns verwandten Menschenarten verraten deshalb widersprüchliche Vorstellungen davon, in welchem Verhältnis die Urmenschen zu uns stehen. Wie ähnlich oder unähnlich waren sie uns eigentlich?

Konnten sie nicht nach Europa einwandern, weil sie uns noch nicht sehr ähnlich waren (weshalb sie die Berge und die Meere nicht überwinden konnten), oder hielten sie es dort nur nicht aus, gerade weil sie uns physisch glichen (weshalb die Winter zu kalt und der Regen zu hartnäckig für diese nackten und darum empfindlichen Körper waren)? Und wenn sie für diese Probleme keine Lösung fanden – lag es daran, dass sie uns eben doch nicht besonders ähnlich waren (das heißt, zu wenig erfinderisch waren, zu wenig soziale Fähigkeiten besaßen, zu wenig vorausplanen konnten, um dem Leben in dieser unwirtlichen Weltgegend gewachsen zu sein)?

Wer nördlich der Alpen leben wollte, so jedenfalls die gängige Vorstellung, musste sich schön warm einpacken können, am besten auch Feuer machen, mit einer Gruppe von Artgenossen zusammenarbeiten und mindestens eine Jahreszeit vorausdenken können. Und der Homo erectus, der vor knapp zwei Millionen Jahren im Nahen Osten und in der Kaukasus-Region auftauchte, konnte das nicht. Dafür war er mit seinem Gehirnvolumen von 650cm3 zu dumm. Zu dumm für Europa.

Das kann man in Tabellen nachlesen.

~

Wie eine Küste kann auch eine Theorie langsam abbröckeln – unter dem Ansturm neuer Erkenntnisse. Die archäologische Vorstellung des Jahres 1994, der Homo erectus habe sich in Asien und im Nahen Osten erst zu einem Menschen mit ausreichend Hirnvolumen, Erfindungsgabe und sozialen Fähigkeiten entwickeln müssen, um den Weg zu den europäischen Tiefebenen, Flüssen und Küsten finden zu können, hielt auf die Dauer nicht stand.

Neue Funde in England und anderswo verschoben die Grenze von einer halben Million Jahren allmählich weiter in die Vergangenheit. Der Homo heidelbergensis (so benannt wegen eines 1907 in der Nähe von Heidelberg ausgegrabenen Unterkiefers) war offenbar schon vor etwa 600000Jahren in Europa unterwegs. Und nicht nur in warmen Urlaubsregionen, beispielsweise im italienischen Cerano, in Tautavel im Süden der französischen Mittelmeerküste oder in Spanien in der Nähe von Burgos. Sondern auch in Boxgrove und Swanscombe, an der südlichen und südöstlichen Küste Englands. Sie waren überall.

Sind Argumente, die 1994 plausibel waren, denn 2013 nicht mehr plausibel? War Europa, genauer betrachtet, also doch kein schwer erreichbarer und durchwanderbarer Kontinent? Dass die Schädel der Heidelbergmenschen einem Gehirn von immerhin 1200cm3 Platz boten (nur 200cm3 weniger als unseres), passte zum Bild des »schwierigen« Europa. Diese Menschen mochten hier früher aufgetaucht sein, als wir angenommen hatten, aber sie waren ja auch Schlauköpfe, obwohl man noch nirgends einen Beweis dafür gefunden hatte, dass sie vor einer halben Million Jahren schon Feuer machen konnten.

Als dann aber anderthalb Tagesmärsche südlich von Happisburgh, in Pakefield jenseits der Grenze von Suffolk, Überreste von Steinwerkzeugen gefunden wurden, die nicht weniger als 700000Jahre alt waren, weckte das doch ernsthafte Zweifel an der Theorie vom menschenleeren Europa.

Allerdings war es vor 700000Jahren an der englischen Ostküste wesentlich angenehmer als heute; zu manchen Zeiten herrschten in diesen Breiten mediterrane Temperaturen. Rudel von Löwen lauerten im Schatten von Laubbäumen den Herden flinker Grasfresser auf, Hyänen und Geier drängten sich um Kadaver und halb abgenagte Gerippe. Roebroeks, einer der Autoren des Artikels von 1994, nannte in der Zeitschrift Nature die englische Ostküste jener Epoche »Costa del Cromer«.

Das Leben dort war zwar für Menschen voller Gefahren, aber wenigstens brauchten sie keine dicken Mäntel. Die Entdeckung, dass eine frühere Menschenart bis zur Küste der Nordsee gelangt war, brachte gegenüber den Neunzigerjahren einen erfreulichen Zuwachs an Wissen, bedeutete jedoch nicht, dass alles damals für selbstverständlich Gehaltene nun nicht mehr galt. Zugegeben, Menschen waren schon früh nach Europa eingewandert, und ja, sie waren früher als angenommen relativ weit nach Norden vorgedrungen. Aber damals war es dort ja auch immer wieder längere Zeit schön warm gewesen. Änderte sich das Klima, kam für die Menschen bald das Ende.

Diese Überzeugung zerplatzte wie eine Seifenblase, als Ashton und Bates am Strand von Happisburgh die Fußabdrücke von Menschen fanden, die sich weitere 100000Jahre früher an dieser Küste aufgehalten hatten. Denn damals war es kalt in England, die Temperaturen waren mit denen im südlichen Skandinavien in heutiger Zeit vergleichbar. An den Ufern der Themse lag Grasland, auf dem zwar im Sommer Herden von robusten Pferden, Hirschen und Rindern weideten, doch den strengen Wintern fielen auch zahlreiche Tiere zum Opfer. Weiter oben ging das Grasland in Heide mit vereinzelten Erlen und Birken über. Und dahinter wiederum standen düstere, totenstille Kiefernwälder, in denen nur hin und wieder Elche an Baumtrieben knabberten. Im Sommer war der Boden von Beerensträuchern überwuchert. Die Vegetationsperiode war kurz.

Und in dieser feindseligen Umwelt waren Menschen unbekümmert den Strand entlanggegangen, darunter anscheinend auch kleine Kinder, denn einige der Abdrücke sahen so aus, als wären sie durch Trippelschrittchen sehr kleiner Füße entstanden. Diese Spuren stammten also nicht von durchziehenden Jägern, die im Frühling kamen und in der Zeit der ersten Herbstregen wieder fortzogen, um gut tausend Kilometer weiter südlich zu überwintern. Diese Menschen hatten hier gewohnt, hatten hier Kinder bekommen, hatten hier im Familienverband Nahrung beschafft.

An den Tagen nach der Entdeckung war es windig und regnerisch. Ashton, Bates und ihre zusammengetrommelten Kollegen krochen in Ponchos und Regenhosen und mit beschlagenen Brillen fröstelnd über den Strand, Messbänder, Kameras und Pinsel in den Händen, um die Spuren zu sichern, bevor sie wieder verschwanden. Jede Flut trug ein bisschen mehr von ihnen ab. Nach wenigen Wochen war von den ältesten menschlichen Fußspuren außerhalb Afrikas nicht mehr übrig als doppelt und dreifach abgespeicherte Daten und die Erinnerung an Regen, Ungemach und kalte Hände.

Das angenommene Alter bestätigte sich bei Datierungen der Bodenproben, und aus der Tiefe der Abdrücke und ihren Abständen zueinander konnten die Forscher schließen, dass zwei Kinder und drei Erwachsene auf dem Strand unterwegs gewesen sein mussten. Die Erwachsenen waren mit einer Körperlänge bis 1,73m und Schuhgrößen von 37 bis 43 kaum kleiner als wir.

Schon wieder musste man Überzeugungen über Bord werfen, musste sich die Archäologie von bestimmten Vorstellungen von unserer Vergangenheit verabschieden. Wegen zufällig entdeckter Fußspuren einer Gruppe von Menschen, die im Delta der Themse nach Schalentieren und Krabben suchten, um eben doch, entgegen allen Theorien, ohne den Schutz von Kleidung und ohne Feuer in Dauerregen und Kälte zu überleben.

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Die Antwort auf die Frage, wer die prähistorischen Menschen in Europa waren, liegt zeitlich weit vor diesen Menschen selbst. Und sie liegt vor allem auch außerhalb Europas. Im Grunde ist sie eine Reisebeschreibung.

Geht man in der Zeit nur weit genug zurück, sind alle Europäer aus anderen Gegenden der Welt gekommen. Nicht nur die Menschen, die ihre Fußabdrücke am Strand von Happisburgh hinterlassen haben, sondern auch die Heidelbergmenschen, die Neandertaler und die modernen Menschen. Sie sind nach Europa gelangt, weil ihre Vorfahren auf Reisen gegangen waren.

In der Theorie lässt sich die ganze Geschichte auf zwei Abwanderungen aus Afrika reduzieren. Die zweite Abwanderung, die des anatomisch modernen Menschen, begann vor ungefähr 150000Jahren. Die erste Abwanderung, an der die Vorfahren der Menschen von Happisburgh teilnahmen, liegt aber mehr als zehnmal so lange zurück, nämlich fast zwei Millionen Jahre.

Der älteste entdeckte Beweis für einen Aufenthalt von Menschen außerhalb Afrikas wurde in Seesedimenten nahe des Ortes Dmanissi in Georgien gefunden, nicht weit von der armenischen Grenze entfernt. Es handelt sich um die Überreste von Menschen, die sich vor fast 1,85Millionen Jahren dort angesiedelt hatten. Menschen mit kleinem Schädel; die 650 bis 775cm3 entsprechen nur etwa der Hälfte des Gehirnvolumens der späteren Heidelbergmenschen und weniger als der Hälfte des Gehirnvolumens der noch späteren Neandertaler. Trotzdem hatten sie von Afrika dorthin gefunden.

Manche sagen, sie seien rennend so weit gekommen, weil es ihre Jagdtechnik gewesen sei, verletzte Tiere in den heißesten Stunden des Tages zu Tode zu hetzen. Sie waren Nachkommen zäher, nur noch relativ dünn behaarter Menschenaffen, die in der Savanne irgendwann das schnelle Laufen gelernt hatten. Zunächst rannten sie, um vor den Hyänen die Kadaver toter Tiere zu erreichen, doch als sie darin immer besser wurden, fingen sie an, auch hinter noch lebenden Beutetieren herzurennen. Es war ihre Nahrung, die sie das Reisen lehrte, flüchtende Beutetiere wiesen ihnen den Weg.

Wer schneller rannte als seine Konkurrenten, hatte mehr zu essen. Wer schneller rannte, schwitzte auch. Denn wer sich bei der größten Hitze noch abkühlen und deshalb sogar in der brennenden Sonne weiterlaufen konnte, verringerte den Abstand zu den hechelnden Vierfüßern, die zwar im Sprint schneller waren, aber von Schatten zu Schatten fliehen mussten, um nicht zu überhitzen. Aufrechtes Laufen verringerte die Sonneneinstrahlung, dichte Kopfbehaarung verhütete einen Sonnenstich.

So rannten sie hinter Vierfüßern her, die in der Tageshitze eine blitzschnelle Flucht nach der anderen unternehmen mussten, bis sie, wieder und wieder weitergehetzt, wie kochende Motoren zum Stillstand kamen, ins Straucheln gerieten und irgendwo zusammenbrachen – und dann in einem Regen von Steinen starben.

Diese frühen Menschen lernten, sich eine Vorstellung von ihrer Beute zu machen, ohne sie zu sehen; sie lernten, dass eine Fährte eine mögliche Beute verhieß. Sie lernten, Zeichen zu lesen, sie lernten, dass eine Fährte etwas bedeuten, ihnen etwas über den Zustand des jeweiligen Tieres verraten konnte. Sie lernten einzuschätzen, was geschehen könnte, wenn sie durchhielten und der Fährte weiter folgten. Sie lernten, mittels abstrakter Hinweise den richtigen Weg zu finden. Neben die Unmittelbarkeit dessen, was sie sehen oder riechen konnten, traten nun die Fähigkeit zum Aufschub und die hungrige Begierde nach etwas, das sich außer Sichtweite verbarg.

Wer glaubt, dass es so gewesen sei, sieht diese Menschen als Wesen, die rennend überlebten, die rennend über andere Lebewesen triumphierten und gleichzeitig reisten. Ihre Wege waren Fährten, ihre Welt ein langsam zurückweichender Horizont, hinter dem sich ihre Beute versteckte. Rennend waren sie mit der Erde verbunden, aber auch von ihr losgelöst. Wie Halbgötter.

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In Ermangelung älterer Überreste gibt es für die Rolle der Vorfahren der Menschen von Happisburgh keine besseren Kandidaten als die fünf Georgier von Dmanissi. Ungeachtet aller Umwege in den Fernen Osten, die Menschen der dazwischenliegenden Generationen wahrscheinlich gemacht haben, kann man deshalb sagen, dass die lange Reise nach Happisburgh einmal in Dmanissi begonnen hat.

Und um von dort zur Nordseeküste zu kommen, brauchten die Menschen der Zwischengenerationen nicht zu eilen oder gar zu rennen. Nicht einmal, wenn sie zuerst zum Gelben Meer gewandert sind oder hundertmal durch Indien von Norden nach Süden und zurück. Rechnet man für den Homo erectus pro Jahrhundert fünf Generationen, wären zwischen den Seeuferbewohnern von Dmanissi und den Menschen, die bei Happisburgh das Flussufer absuchten, 50000 Generationen gekommen und gegangen. Selbst wenn sie langsamer als Schnecken gekrochen wären, hätten sie in dieser Zeit bis in sämtliche Winkel des eurasischen Kontinents reisen können. 50000 mal ein Kilometer ist immer noch zweimal die Strecke Happisburgh–Hongkong, hin und zurück, einschließlich einer Runde durch Indien.

Früher oder später, links- oder rechtsherum, irgendwann überwanden sie schließlich alle Barrieren und drangen bis zur Westküste Europas mit ihrem regenreichen Klima vor. Kein Mensch war jemals dort gewesen, niemand konnte ihnen sagen, wie weit die Küstenlinie weiterlief, wie weit man den Flüssen stromaufwärts ins Binnenland folgen konnte, ob es dort Höhlen gab, wie viel Land noch weiter nördlich lag, wie tief die Wälder waren, wer oder was dort lebte.

Natürlich wussten sie nicht, dass sie die Ersten waren. Die Ersten von was denn auch? Für jemanden, der nur von Tag zu Tag lebt, in einer Welt, nicht größer als der Gesichtskreis, spielt die Frage, ob er der Erste ist, keine Rolle. Wer seinen Hunger stillt, wo er etwas Essbares findet, und wohnt, wo er sich hinsetzt, der ist einfach dort, wo er ist, in einem allumfassenden Heute, das keine andere Bedeutung als die der Erfahrung und der Erinnerung hat. Er blickt sich um und sucht das Vertraute. Was neu ist, meidet er. Wo Geier kreisen oder Krähen sich sammeln, geht er auf Kundschaft aus. Wo in der Dämmerung Bären auftauchen könnten, ist er auf der Hut.

Sie waren Pioniere, ohne es zu wissen. Sie suchten, was sie kannten: die ausgewaschenen Flussufer, die Höhlen, in denen vielleicht Ungeheuer schliefen, die Fische, die in der Strömung schwammen. Sie hielten sich fern von den hohen Bergen, um die sich Wolken sammelten und die nach warmen Tagen Blitze schleuderten und grollten. Sie folgten Strandlinien und Wildwechseln. Sie kannten keinen Unterschied zwischen sich selbst und der Welt.

Natur existierte nicht. Denn es gab nichts anderes.

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Die Spur von Dmanissi nach Europa ist kalt. Die Steine, die diese ersten Reisenden auf dem Weg nach Europa fallen ließen wie der kleine Däumling, wurden weggeschwemmt, pulverisiert, zugeweht, mitgenommen. Um Spuren dieser Menschen zu finden, braucht man nicht nur Fachwissen, sondern auch pures Glück.

Und pures Glück war es, was sich im Jahr 2007 ereignete, als ein Team Physischer Geografen an alten Ufern des Flusses Gediz in der Türkei Feldforschung betrieb, hundert Kilometer östlich von Izmir. Der Gediz hat sein Bett nach Süden verlegt, doch die alten Flusssedimente sind wie eine Art natürliches Pompeji erhalten geblieben, weil ein inzwischen eingeschlafener Vulkan sie einst mit Lava überdeckt hat. Die übereinander liegenden Sedimentschichten bilden heute eine mehr als mannshohe, zwei Kilometer lange Felswand mit einem Hut aus Basalt. An dieser Wand versuchten die Geografen, durch Bohrungen und Messungen mehr über die früheren Flussläufe zu erfahren.

Eigentlich fühlte sich Danielle Schreve als Paläontologin und Archäologin zwischen all den Geografen ein wenig fremd. Sie ist Professorin am Royal Holloway College der Universität London und rekonstruiert die Flora und Fauna der steinernen Welt, die ihre Kollegen durchsuchen. Die Tiere, die an den früheren Flussufern lebten, sind für sie interessant, weil man von ihnen darauf schließen kann, wie warm es war, als der Flusslauf an dieser Stelle lag, und wie feucht oder trocken. Sie sucht nicht nach Steinen, sondern nach Fossilien. Von Tieren, nicht von Menschen.

Als im Jahr 2007 der Leiter des Forschungsteams einen neuen Kollegen auf einem Rundgang mit der Grabungssituation vertraut machte und Danielle Schreve aus Höflichkeit mitging, schweiften ihre Gedanken deshalb bald von dem geologischen Vortrag ab, und sie stahl sich leise davon, um in den Flusssedimenten nach Knochen oder Muschelschalen zu suchen. Sie fand keine, dafür aber einen kleinen, flachen, rosafarbenen Stein, der aus dem Lehm herausragte. Er war nicht viel größer als eine Streichholzschachtel und hatte die ideale Form für einen Stein, den man übers Wasser hüpfen lässt. Sie zog ihn aus der Erdschicht, drehte ihn im Licht ein paarmal hin und her und gelangte zu dem Schluss, dass es nicht irgendein Stein war, sondern ein Abschlag von einem Steinwerkzeug. Von Menschen gemacht.

Als die Sedimentschicht, aus der Danielle Schreve ihn herausgeholt hatte, auf etwa 1,2Millionen Jahre datiert werden konnte, war aus dem Stein urplötzlich der erste Beweis dafür geworden, dass 600000Jahre nach dem Tod der Menschen von Dmanissi, die man der Art Homo erectus zurechnet, endlich Menschen nach Westen gezogen waren. Jemand hatte an einem Flussufer, nicht weit vom Bosporus entfernt, einen Stein bearbeitet. Er oder sie wird nicht allein gewesen sein. Menschen sind nie allein.