Über den Gipfeln wohnt das Glück - Gabriele Thaler - E-Book

Über den Gipfeln wohnt das Glück E-Book

Gabriele Thaler

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Beschreibung

Wenn der erste Schnee des Jahres auf den Gipfeln glänzt, ist es Zeit, der Liebe eine Chance zu geben

Nachdem Theresa kurz vor der Silberhochzeit von ihrem Mann sitzen gelassen wurde, beschließt sie kurzerhand Frankfurt und ihrer Firma den Rücken zu kehren und fährt mit Schäferhündin Stella in ihre Tiroler Heimat. Wo könnte sie besser einen klaren Kopf bekommen als in dem kleinen Bergdorf Gamsenau – umgeben von den geliebten Bergen und dem Duft von Latschenkiefern in der Nase? Doch das Alpenidyll ist bedroht, und plötzlich steht Theresa vor völlig neuen Herausforderungen. Wer steckt hinter den Investoren, die mit einem riskanten Skiliftprojekt den Massentourismus um jeden Preis ins Dorf holen wollen? Und was hat es mit dem Fremden vom Einsiedlerhof auf sich, der Theresa ebenso verwirrt wie fasziniert?

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Seitenzahl: 328

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Das Buch

Nachdem Theresa kurz vor der Silberhochzeit von ihrem Mann verlassen wurde, beschließt sie, Frankfurt und ihrer Firma den Rücken zu kehren, und fährt mit Schäferhündin Stella in ihre Tiroler Heimat. Wo könnte sie besser einen klaren Kopf bekommen als in dem kleinen Bergdorf Gamsenau – umgeben von den geliebten Bergen und dem Duft von Latschenkiefern in der Nase? Doch das Alpenidyll ist bedroht, und plötzlich steht Theresa vor völlig neuen Herausforderungen: Wer steckt hinter den Investoren, die mit einem riskanten Skiliftprojekt den Massentourismus um jeden Preis ins Dorf holen wollen? Und was bedeuten ihre Gefühle für den Fremden vom Einsiedlerhof, der Theresa ebenso verwirrt wie fasziniert?

Die Autorin

Gabriele Thaler ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, die bereits einige Romane veröffentlicht hat. Als Kind der Alpen kennt sie die Berge und Wälder Tirols wie ihre Westentasche. Sie kann die Uhrzeit am Stand der Sonne ablesen, weiß, wie man sich unbemerkt an Murmeltiere heranpirscht, wo man die besten Pilze findet und wie sich die Luft anfühlt, bevor der Föhn kommt. Beruflich hat es sie viele Jahre in verschiedene Länder der Welt verschlagen. Nur um schließlich wieder zurückkehren zu können in ihre geliebten Berge. Der Grund dafür – wie könnte es anders sein: die Liebe.

Gabriele Thaler

Roman

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

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Originalausgabe 10/2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung

von shutterstock/canadastock, Bildnr.: 1060440797

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-25994-5V001

www.heyne.de

30 Jahre früher

»Erste! Gewonnen!«, rief Brigitte mit vor Übermut blitzenden Augen aus.

»Dafür werde ich dir gleich beim Abstieg davonlaufen«, erwiderte Theresa lachend, während sie die letzten Schritte bis zum Gipfelkreuz schwer atmend hinter sich brachte.

»Aber vorher gibt’s eine Jause.« Ihre Schwester warf den Rucksack ab und setzte sich an den Fuß des Gipfelkreuzes.

»Erst einmal genießen wir den Ausblick und lassen uns den Wind um die Nase wehen«, sagte Theresa und breitete die Arme aus.

Theresa liebte diesen Platz hier oben. Über ihr der enzianblaue, unendlich weite Himmel, der den Gedanken und Träumen keine Grenzen setzte; um sie herum majestätische, weiße Gipfel, die alle Zeiten überdauerten, und unter ihr das Gamsenauer Tal mit seinen Wiesen, Wäldern und schmucken Bauernhäusern, deren Schindeldächer die Mittagssonne wie altes Silber glänzen ließ. Wenn es klar war, reichte der Blick von hier oben bis zu den Südtiroler Alpen.

Sie lehnte den Kopf an das verwitterte Holz. Ganz tief atmete sie die glasklare Luft ein, die ihr erhitztes Gesicht angenehm kühlte. In ihr lag eine flirrende Leichtigkeit, die Ankündigung von Aufbruch und Neubeginn – der Duft des Frühlings. Nur noch auf den hohen Bergen über ihnen und in deren schattigen Karen lag Schnee. Auf den Almwiesen unterhalb der Felsen hatte das große Blühen längst begonnen.

»Versprich mir, dass du nie von hier weggehst«, hörte Theresa plötzlich ihre kleine Schwester in ungewohntem Ernst sagen. Überrascht sah sie Brigitte an, die mit ihren fünfzehn Jahren viel jünger aussah. »Warum sollte ich?«, fragte sie verdutzt.

Brigitte kuschelte sich an sie. »Na ja, wenn du mal einen Mann kennenlernst, der weit weg von hier wohnt oder so.«

»Aber ich habe doch einen Freund«, erwiderte sie erstaunt.

»Den Martin liebst du doch gar nicht richtig.«

Theresa lachte. »Und das weißt du?«

Brigitte nickte ernst. »Also – versprich’s mir. Dann hätte ich doch nur noch die Oma. Und die ist schon alt.«

Da nahm Theresa sie fest in die Arme und sagte voller Inbrunst: »Wir beide gehören hierhin.«

Ein Jahr später zog sie zu ihrer ersten großen Liebe nach Frankfurt.

September

1

Während die Skyline hinter Theresa immer kleiner wurde, verloren sich der Schmerz und die Verzweiflung langsam. Sie fühlte sich nur noch wie betäubt und wünschte sich, dieser Zustand möge so lange anhalten, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Gamsenaulag etwa fünfeinhalb Fahrstunden von Frankfurt am Main entfernt.

Theresa blickte in den Rückspiegel. Auf der Rückbank lag Stella und kaute höchst zufrieden an einem Knochen. Ihre weiße Schäferhündin schien kein Problem mit dem fluchtartigen Aufbruch zu haben. Leise seufzend richtete Theresa den Blick wieder auf die Straße, die Hände so fest ums Lenkrad geschlossen, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war Freitagmittag, ein Bilderbuchtag. Frühherbstlich warm, ein wolkenloser Himmel. Jenseits der Autobahn lagen kleine Fachwerkdörfer, Wälder und Felder – so friedlich wie in all den Jahren, in denen sie diese Strecke gefahren war. Ein Bild beruhigender Beständigkeit. Doch der Schein trog. An diesem Tag war alles anders. Dirk hatte sie verlassen – kurz vor ihrer Silberhochzeit.

Wie alles im Leben zusammenhängt, dachte Theresa, während sie in stetem Tempo in Richtung Süden fuhr. Hätte Maja ihre Verabredung zum Wandern nicht kurzfristig abgesagt oder hätte Dirk ihr zum Geburtstag statt Stella einen anderen Hund geschenkt, wäre dieser Tag vermutlich ganz anders verlaufen. Und damit möglicherweise auch ihre Zukunft. So aber war sie nach dem Friseurtermin an diesem Vormittag statt zu Maja wieder nach Hause gefahren. Dirk war noch da gewesen. Es kam öfter vor, dass er Verkaufsgespräche von zu Hause aus führte. Erst Stellas Verhalten hatte ihr Misstrauen geweckt. Beim Betreten des Hauses schien ihre Hündin etwas zu wittern, einen ihr fremden Geruch. Die lange Schnauze auf den Boden gerichtet, war sie zuerst schnüffelnd durchs Untergeschoss gelaufen, dann die breite Freitreppe hinauf und geradewegs ins Schlafzimmer. Wie von einer fremden Macht gesteuert, war Theresa der Hündin gefolgt. Als sie das Zimmer betrat, zog Stella ihre Schnauze gerade unter dem seidenen Bettüberwurf hervor. Ganz so, wie sie es in der Suchhundausbildung gelernt hatte, legte sie Theresa ihren Fund vor die Füße: einen nach einem schweren Parfüm duftenden Seidenschal. Ein Accessoire, das definitiv nicht aus ihrem Kleiderschrank stammte.

In Erinnerung an diese Entdeckung schüttelte Theresa den Kopf. Geschmackloser ging es nun wirklich nicht. Niemals zuvor hatte sie Dirk so bleich, so sprachlos erlebt wie in dem Moment, als sie ihm Stellas Fundstück unter die Nase gehalten hatte. In diesem Augenblick musste ihm klar geworden sein, dass seine Geliebte ihr ganz bewusst ein Indiz für Dirks Untreue unter der glatt gezogenen Decke des Ehebetts zurückgelassen hatte.

Theresa spürte, wie sich ihr Herzschlag aufs Neue beschleunigte. In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß. Bloß nicht während des Fahrens weinen, befahl sie sich. Obwohl sie gerade ihren Ehemann verloren hatte, wollte sie nicht auch noch ihr Leben verlieren. Das war Dirk nicht wert.

Die Tränen konnte sie zurückdrängen, die Erinnerung jedoch nicht. Nach ein paar Kilometern schon sah sie Dirk wieder vor sich – in dem perfekt sitzenden silbergrauen Anzug, auf der stets gebräunten Stirn diese eine Locke, die sie ihm in all den gemeinsamen Jahren sicher Tausende Male zärtlich zurückgestrichen hatte. Mit der honigfarbenen Hornbrille, die ihm etwas Intellektuelles gab, was ihm eigentlich nicht zu eigen war, seine gepflegten, schönen Hände … Ja, Dirk war attraktiv. Auch noch mit fünfzig. Sein Haar war immer noch voll und mittelblond, mit ein paar Silberfäden an den Schläfen, seine Figur sportlich-schlank. All das hatte sie nach langer Zeit heute Mittag zum ersten Mal wieder ganz bewusst wahrgenommen, während sie das farbenfrohe Seidentuch mit zitternder Hand hochgehalten hatte. Dirk hatte sich dann überraschend schnell gefasst. Dass du es auf diese Art erfahren musst, finde ich auch sehr geschmacklos, hatte er ihr mit bebender Stimme versichert, während er sie fürsorglich zu einem der tiefen Ledersessel in der Bibliothek geführt hatte. Ihre eiskalte Hand fest in seiner ebenso kalten haltend hatte er ihr dann mit seiner wohlklingenden Stimme anvertraut, eine andere Frau zu lieben. Ich hätte es dir schon längst sagen sollen … Dirk hatte geredet und geredet. Sie dürfe nicht glauben, sie sei ihm plötzlich gleichgültig; es gebe halt mehrere Arten zu lieben; er wolle noch einmal von vorn anfangen, aus dem Trott der Ehe raus; er wolle keinen Rosenkrieg; sie könne in der Villa wohnen bleiben; sie würden die Immobilienfirma verkaufen und das gemeinsame Vermögen fair teilen. Während Theresa diese Szene nochmals in ihrer Erinnerung aufleben ließ, brach sich ihre ganze Verzweiflung darüber, mit ihrem Ehemann auch das Gefühl von Beständigkeit und Sicherheit verloren zu haben, erneut Bahn. Sie schnappte nach Luft. Ihr Herz raste. Nein, so konnte sie nicht weiterfahren.

Entschlossen fuhr sie auf einen Parkplatz, ließ Stella laufen und trank ein paar Schlucke. Erstaunt stellte sie fest, dass sie bereits zwei Stunden unterwegs war. Nachdem sie ein paar tiefe Atemzüge getan hatte, wurde sie ruhiger. Obwohl sie sich verbot, während der Weiterfahrt an Dirk zu denken, ließen sich ihre Gedanken einfach nicht bändigen. Wie wilde Affen sprangen sie ihr durch den Kopf. Meine nordische Göttin, meine wunderschöne Verstandesfrau … Im Geiste hörte sie wieder Dirks Stimme, spürte seine Hände auf ihrem Körper, roch sein Aftershave, das ihr zwar immer einen Hauch zu süßlich gewesen war, aber so herrlich vertraut und behaglich. All seine Zärtlichkeiten hatten schon längst auch einer anderen gehört. Und sie hatte nichts bemerkt!

Nach weiteren zwei Stunden erreichte Theresa München. Ein blauweißer Himmel hing über den Gipfeln der Alpenkette am Horizont. Rechts und links der Fahrbahn lagen wie hingestreut kleine Gehöfte mit den für Bayern so typischen weißen Kapellen, deren goldene Zwiebeltürme in der Nachmittagssonne glänzten. Kurz vor dem österreichischen Grenzübergang klingelte ihr Handy. Dirk, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Blick auf das Display im Armaturenbrett jedoch ließ sie erleichtert durchatmen.

»Ich wollte dir nur schnell sagen, dass meine Mutter doch keinen Herzanfall hatte«, teilte Maja ihr mit ihrer tiefen Raucherstimme mit. »Es geht ihr wieder ganz gut, aber sie muss noch drei Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.«

»Das freut mich«, erwiderte Theresa. Sie hörte selbst, wie steif das klang.

»Du klingst merkwürdig. Wo bist du?«, fragte Maja überrascht.

»Bei Kiefersfelden.«

»Wie bitte?«

Theresa konnte sich genau vorstellen, wie ihrer Freundin gerade die großen, mit schwarzem Kajal geschminkten Augen aus dem Kopf fielen.

»Ich bin auf dem Weg nach Gamsenau.«

»Ich glaub’s nicht! Wie das denn so plötzlich?«

»Dirk will sich scheiden lassen.«

Stille. Dann hörte Theresa, wie Majas Feuerzeug aufschnappte. Ihre Freundin stieß den Rauch zischend aus. »Das musst du mir erklären.«

»Ich ruf dich gleich zurück.« Theresa fuhr auf die nächste Raststätte und erzählte, was passiert war.

»Unglaublich! Und dann ist er einfach gegangen?«, fragte Maja fassungslos.

»Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn erst mal nicht mehr sehen will. Als er weg und ich in dem riesigen Haus allein war, wurde mir schlagartig klar, dass ich es keine Minute länger dort aushalten würde, wo sich die beiden in unserem Ehebett vergnügt haben. Ich habe ein paar Sachen in die Tasche geworfen und bin gefahren.«

Wieder herrschte ein paar Atemzüge lang Schweigen. Theresa hörte, wie Maja an ihrer Zigarette zog.

»Die wollte, dass du es weißt«, meldete sich ihre Freundin wieder zu Wort.

»Ja.«

»Die hatte die Heimlichkeiten satt. Die will ihn für sich allein.«

»Vermutlich.«

»Ich sage dir, wer es ist.«

Theresa zog die Stirn zusammen. »Wer?«

»Jessica.«

Sie zuckte innerlich zusammen. Jessica? Wie kam Maja denn zuallererst auf die? Ihr Blick verlor sich auf den mit tiefgrünen Bergkiefern bewachsenen Hügeln des Zahmen Kaisers zu ihrer Linken. Jessica war dreißig, bildhübsch, lebensfroh, unkompliziert und Dirks Sekretärin. Und das seit drei Jahren.

»Hallo? Bist du noch dran?«, weckte Majas Stimme sie aus ihren Gedanken auf.

»Ich weiß nicht …«, sagte Theresa gedehnt.

»Wer könnte es denn sonst sein?«, fragte Maja im Brustton der Überzeugung.

»Eine Kundin zum Beispiel. Ich glaube eigentlich nicht, dass Jessica mich derart hintergehen würde. Außerdem hat sie ein Kind.«

»Stimmt. Es wäre absurd, wenn er sich jetzt plötzlich der Verantwortung gewachsen fühlen würde«, sagte Maja sarkastisch.

»Maja, bitte …«, erwiderte Theresa mit Nachdruck.

Doch Maja ließ sich nicht bremsen. »Oder vielleicht ist es gerade das. Vielleicht will er etwas nachholen. Ich erinnere mich noch an die beiden letzten Weihnachtsfeiern in eurer Firma. Weißt du noch, wie Dirk Jessicas Kleine mit Geschenken überhäuft hat? Ich hatte ehrlich gesagt immer den Eindruck, dass zwischen ihm und Jessica was läuft.«

Den Eindruck hatte Theresa zwar auch kurze Zeit gehabt, aber Dirk hatte sie schnell erfolgreich vom Gegenteil überzeugt. Und was die Geschenke für Jessicas Tochter anging: Die hatte sie gekauft. Sie hatte sich auf diese Weise für Jessicas unermüdlichen Einsatz für die Immobilienagentur erkenntlich zeigen wollen.

Ihre Firmenphilosophie lautete: Wir sind alle eine Familie.

»Du sagst nichts mehr«, stellte Maja trocken fest.

»Ich denke nach.«

»Darüber, dass Dirk was mit Jessica hat?«

Theresa seufzte. »Undenkbar ist es natürlich nicht.«

»Du weißt, dass ich die beiden vor einem Jahr zusammen in der City gesehen habe.«

»Das hat Dirk mir damals einleuchtend erklärt.«

Maja lachte auf. »Dirk ist Verkäufer. Der verkauft einem Blinden eine Gleitsichtbrille.« Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Und jetzt fährst du also nach Gamsenau.«

»Das Haus ist für mich wie …« Theresa suchte nach Worten. »Es ist irgendwie entweiht«, brachte sie es schließlich auf den Punkt. »Stell dir vor! Dirk mit einer anderen Frau in unserem Ehebett! Das hätte ich ihm niemals zugetraut.«

»Wahrscheinlich hat Jessica ihn dazu verführt, um die Sache endlich auffliegen zu lassen – was ihr ja auch gelungen ist.«

»Vorausgesetzt, Jessica ist es.«

»Womöglich ist Dirk ihr hörig«, fuhr ihre Freundin unbeirrt fort. »Immerhin gibt er ihretwegen sein Leben mit dir auf.«

Theresa schluckte schwer. Dieser Gedanke war nicht ganz abwegig. Dirk war leicht zu beeinflussen. Ich will noch einmal von vorn anfangen, aus dem Trott der Ehe raus …, hatte er gesagt. Mit wem konnte er das besser als mit einer zwanzig Jahre Jüngeren?

»Ich brauche Abstand, Zeit zum Nachdenken«, sagte sie mit fester Stimme. »Die Vorstellung, Montagmorgen wieder in die Firma zu gehen und so zu tun, als wäre nichts, ist für mich undenkbar.«

»Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee, dich erst mal zurückzuziehen«, stimmte Maja ihr zu. »Distanz schafft Nähe. Soll Dirk doch sehen, wie er ohne dich klarkommt, und sei es nur, ohne deine herausragenden Fähigkeiten als seine Gesellschafterin und ohne deine Kochkünste. Mit Sicherheit kommt er zurück.«

»Er klang sehr entschlossen. Daraus wird wohl nichts. Außerdem weiß ich im Moment gar nicht, ob ich ihn überhaupt zurückwill.«

»Du stehst noch unter Schock. Du bist tief verletzt. Warte mal ab. Irgendwann kommt die Einsamkeit, die Sehnsucht. Dann sieht die Sache schon ganz anders aus.«

Ja, Maja kannte sich aus mit Trennungen und Liebesleid. Sie hatte aus ihren Erfahrungen gelernt und gab ihre Erkenntnisse gern an ihre Freundinnen weiter.

»Hoffentlich packst du das«, fuhr Maja nun hörbar besorgt fort. »Nach fünfundzwanzig Ehejahren … Anders als ich bist du jemand, der einen Partner an der Seite braucht.«

Theresa zog die Brauen zusammen. War das wirklich so?

»Es hat sich einfach so ergeben«, erwiderte sie. »Ich habe mich damals in Dirk verliebt. Und wir sind ja auch immer gut miteinander klargekommen. Wir waren ein gutes Team.«

»Weil du viele Kompromisse gemacht hast.«

»Das stimmt so nicht. Dirk hat auch Zugeständnisse an mich gemacht. Wie oft ist er mir zuliebe nach Gamsenau mitgefahren, obwohl er unsere Heimat hasst. Und zu meinem letzten Geburtstag hat er mir Stella geschenkt, obwohl er nie Haustiere haben wollte. Und einen Schäferhund schon mal gar nicht.«

»Das war sein schlechtes Gewissen. Außerdem hatte er immer Angst vor Einbrechern, trotz eurer Alarmanlage«, erwiderte Maja ungerührt.

»Maja, ich muss Schluss machen«, beendete Theresa nun das Gespräch. All diese Spekulationen wurden ihr plötzlich zu viel.

»Alles klar. Dann fahr vorsichtig. Wirst du wieder bei Anna wohnen?«, erkundigte sich ihre Freundin noch.

»Keine Ahnung. Anna weiß gar nicht, dass ich komme. Aber auf irgendeinem Bauernhof werde ich bestimmt ein Zimmer bekommen. Oder ich gehe in Ellmau ins Hotel.« Sie atmete tief durch und schob die Erinnerung an den letzten Aufenthalt mit Dirk dort tapfer beiseite. »Ich melde mich bei dir. Versprochen.«

Nur wenige Kilometer hinter der Grenze verließ Theresa die Autobahn. Ihr Herz schlug schneller, als sie in die Bergwelt des Wilden Kaisers eintauchte, der seine zerklüfteten Gipfel in den Himmel streckte. Die Sonne hatte es selbst während des Sommers nicht geschafft, die Spuren des letzten Winters in den tiefen Schroffen wegzuschmelzen. Wie glitzernde, weiße Adern zog sich der Firn durch das steinerne Grau.

Während Theresa durch das enge Tal fuhr, fragte sie sich zum ersten Mal, ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Hals über Kopf hatte sie Frankfurt verlassen. Würde sie tatsächlich in der Bergeinsamkeit ihre verletzte Seele heilen und wieder Kraft schöpfen können? Und wie lange wollte sie überhaupt bleiben? Wie lange würde sie die Firma allein lassen können?

Mit einem Mal breitete sich Panik in ihr aus, Panik darüber, mit dieser Flucht einen riesengroßen Fehler gemacht zu haben. »Eigentlich sollte ich auf der Stelle umkehren und mich meinem Leben in Frankfurt stellen«, murmelte sie vor sich hin. Sie hielt am Straßenrand an, schlang die Arme um sich, versuchte, den so plötzlich auf sie einstürzenden Zweifeln Herr zu werden. Da spürte sie Stellas Schnauze an ihrem Arm, als wollte die Hündin ihr durch ein sachtes Anstupsen Mut machen weiterzufahren. Theresa musste lächeln.

»Du hast recht«, sagte sie zu ihrer Begleiterin. »Wir beide schauen uns mal an, was uns in Gamsenau erwartet. Zurückfahren können wir morgen immer noch.«

2

Robert war schon zwei Stunden lang unterwegs. Immer wieder wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Hier auf dem Almfeld brannte die Nachmittagssonne erbarmungslos auf ihn herab. Immer wieder blieb er stehen, suchte mit den Augen den unendlichen Himmel ab, rief in die Stille hinein. Doch als Antwort erhielt er nur das Echo seiner eigenen Stimme, das die schroffen Bergwände zurückwarfen. Erschöpft ließ er sich auf einem Findling am Rande des Almrosenfeldes nieder. Er horchte, wartete auf den vertrauten Flügelschlag. Doch er hörte nur den Wind, der mit tausend leisen Stimmen in den längst vertrockneten Blüten flüsterte. Die warme Luft brachte den süßen Heuduft der Wiesen mit sich, der sich hier oben mit dem harzigen der Latschenkiefern mischte. Robert sog ihn tief in sich ein. Er liebte diesen Geruch, der ihn in den vergangenen drei Jahren den von Desinfektionsmitteln, Blut und Tod hatte vergessen lassen. Zumindest die meiste Zeit.

Robert seufzte. Seine Suche war vergebens. Vielleicht lebte Falk ja gar nicht mehr. In der Natur regierte das Gesetz des Stärkeren. Und Falk war schwach. Noch einmal tastete er mit dem Blick das endlose Blau über sich ab. Doch er entdeckte nur ein paar Bergdohlen, die dort oben ihr Spiel trieben. Mit einem Mal spürte er eine tiefe Traurigkeit in sich, die ihn verwunderte. War er inzwischen nicht geübt darin, Verluste emotionslos hinzunehmen? Er hatte Menschen verloren, die er mehr geliebt hatte als sein eigenes Leben.

Er sah auf die Uhr. Es war Zeit, sich um die Tiere zu kümmern. Vielleicht saß Falk bei seiner Rückkehr ja auch längst auf dem Geländer der Holzveranda und wartete auf ein paar frische Stücke Hühnerfleisch.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du hier leibhaftig vor mir sitzt«, sagte Anna nun zum zigsten Mal und strahlte mit der inzwischen tief stehenden Sonne um die Wette. »Was für eine schöne Überraschung! Sechs Monate haben wir uns nicht gesehen.«

»Und auch nicht gesprochen«, antwortete Theresa mit schuldbewusstem Lächeln. »Bei uns war so viel los. Ich wollte mich immer melden, aber dann kam wieder irgendetwas dazwischen.«

Die beiden Freundinnen aus Kindertagen saßen auf dem Brandlerhof unter dem großen gestreiften Sonnenschirm. Stella lag souverän neben Theresas Füßen, völlig unbeeindruckt von den Hühnern, die um die Sitzgruppe herum munter nach Futter pickten.

»Da hast du ein tolles Tier«, lobte Anna die Hündin, woraufhin Theresa ihrer vierbeinigen Freundin liebevoll über den Kopf streichelte.

»Ihr Vorbesitzer war ein pensionierter Polizist. Er hat sie ausgebildet. Das war der Grund, warum Dirk sie ausgesucht hat. Wenn schon ein Hund, dann ein Wachhund, der gut erzogen ist, hat er gesagt.«

Anna lächelte. »Ich weiß noch, wie sehr du dir all die Jahre einen Hund gewünscht hast.« Bevor sie ein weiteres Stück Bergkäse in den Mund schob, fragte sie mit ernstem Blick: »Glaubst du, dass es endgültig ist?«

Theresa hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich erst einmal Abstand brauche. Das kam alles so plötzlich. Natürlich hat es in unserem Bekanntenkreis in all den Jahren Scheidungen gegeben, aber ich dachte immer, das trifft nur die anderen.«

»Dass du die ganze Zeit über nichts gemerkt hast«, wunderte sich Anna.

»Das kann ich selbst nicht verstehen. Ich habe mich einfach zu sicher gefühlt. Dabei …« Theresa lächelte bitter. »Ein Mann wie Dirk, der das Bad in der Menge liebt, der Aufmerksamkeit braucht, Bestätigung, und das natürlich auch von Frauen … Aber in meinem Beisein hat er nie mit anderen Frauen geflirtet. Im Gegenteil. Er hat mich immer angehimmelt, immer zu mir gestanden.« Theresa seufzte. »In letzter Zeit hatte er zwar öfter Besichtigungstermine am Abend, und er ist häufiger als sonst gereist, aber das ist in unserer Branche nichts Ungewöhnliches. Und dass man nach einem Vierteljahrhundert Ehe nicht mehr jeden Tag miteinander ins Bett geht, ist ja wohl auch nicht unnormal.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keinerlei Veränderung in seinem Verhalten festgestellt. Ich hatte keinen Grund, ihm zu misstrauen.« Sie räusperte sich energisch und erkundigte sich betont munter: »Und? Wie läuft es bei euch?«

»Bei Bastian und mir ist alles in bester Ordnung.« Anna bestrich eine Semmel dick mit Butter. »Jetzt, da auch Linda seit einem Vierteljahr aus dem Haus ist, haben wir wieder mehr Zeit füreinander. Und mit Basti lässt sich ja sowieso gut leben.« Sie sah hoch. »Möchtest du noch Schorle?«

Theresa nickte. Sie betrachtete ihre Freundin, während diese aus der großen Karaffe einschenkte. Anna hatte mit den Jahren nichts von ihrem überschäumenden Temperament verloren. Wenn sie lachte, tanzten die Sommersprossen immer noch auf ihrem herzförmigen Gesicht. Ihre rotblonde Lockenpracht, durchwoben von ein paar grauen Strähnen, ließ sich nach wie vor nur schwer bändigen, und ihre blauen Augen blitzten munter in die Welt.

»Es ist immer wieder schön bei euch«, sagte Theresa versonnen. Um nicht melancholisch zu werden, wechselte sie rasch das Thema. »Montag fahre ich zu Susanne. Stella braucht ein Zeckenmittel. In der Aufregung habe ich die Tabletten zu Hause vergessen.«

Anna lachte. »Womit wir wieder beim Thema Trennungen wären: Susanne hat ihren Mann vor drei Monaten verlassen. Sie wohnt jetzt in Scheffau, aber die Praxis in Kufstein hat sie natürlich noch.« Beherzt griff sie zu einem Stück Speck. »Wie lange wirst du bleiben?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Theresa. »Viel entscheidender ist für mich, wo ich bleiben kann.« Sie suchte den Blick ihrer Freundin. »Hast du eine Idee?«

»Unsere Ferienapartments sind zurzeit vermietet. Natürlich könntest du bei uns wohnen, in einem der Zimmer der Mädchen, aber ich glaube, ich habe eine viel bessere Idee.«

Theresa rückte auf die Stuhlkante vor. »Und welche?«, fragte sie gespannt.

»Basti und ich haben endlich die alte Sennhütte seines Onkels fertiggestellt. Wir wollen sie als Ferienhaus vermieten. Sie verfügt jetzt über Strom und einen Wasserspeicher, der durch den Bach gespeist wird. Alles ist repariert, und ich habe sogar einen schicken Gasherd gekauft. Es fehlen noch zwei, drei Einrichtungsgegenstände, deshalb ist es nicht vermietet, aber dort kannst du wohnen, so lange du willst. Und da du jetzt einen Bodyguard hast, brauchst du dort oben auch keine Angst zu haben.«

»Das ist ja fantastisch!«, rief Theresa glücklich aus. »Dort fand ich es immer so schön! Weißt du noch, wie oft wir als Kinder auf dem kleinen Weiher Schlittschuh gelaufen sind?«

»Freilich weiß ich das noch!«

»Und ab wann könnte ich rein?«

»Ab sofort, wenn du willst.«

»Wirklich?«

»Ja! Wir packen Bettzeug und etwas zu essen zusammen und fahren hinauf.« Noch während Anna redete, sprang sie auch schon auf. Sie war einfach eine Naturgewalt mit einem großen Herzen.

»So eilig habe ich es nun auch nicht«, bremste Theresa ihre Freundin lachend in ihrem Tatendrang. »Wir haben über so vieles noch gar nicht gesprochen.«

»Da hast du allerdings recht. Und ein Obstler wäre jetzt auch nicht verkehrt.« Anna zwinkerte ihr zu. »Sekunde – ich bin gleich wieder da.«

Theresa sah ihr nach, wie sie in ihrer grünen, viel zu weiten Latzhose im Haus verschwand. »Schön hier, Stella, gell?«, sagte sie leise zu ihrer Hündin. Während sie Stella kraulte, ließ sie ihren Blick über den Hof wandern.

Der Brandlerhof war ein schmuckes Anwesen inmitten grüner Wiesen, vor der Kulisse des Wilden Kaisers. Das große Bauernhaus war bis unters Dach gesäumt von prächtig geschnitzten Balkonen, von denen rote und weiße Geranien wie Wasserfälle herunterflossen. Alles hier strahlte Gemütlichkeit und Wärme aus. Genauso wie die Sennhütte, erinnerte Theresa sich und hatte sofort den Duft von Heu in der Nase. Die Hütte lag oberhalb von Gamsenau und war über eine Forststraße zu erreichen.

»So, jetzt gibt es den besten Obstler, den du je getrunken hast«, sagte Anna in ihre Gedanken hinein. »Selbst gebrannt aus unserem eigenen Obst, das vergangenes Jahr wegen des guten Sommers besonders aromatisch war.« Sie füllte zwei Stamperln, und die beiden Frauen prosteten sich zu.

Vielleicht war es der Obstler, der Theresa den Mut gab, endlich die Frage zu stellen, die ihr die ganze Zeit schon auf dem Herzen lag. »Hast du mal was von Brigitte gehört? Oder über sie?«

Anna warf ihr einen forschenden Blick zu. »Nein, Theresa, seit der Beerdigung eurer Großmutter war sie nicht mehr hier. Ich glaube, niemand aus dem Dorf hat was von ihr gehört. Sonst hätte sich das herumgesprochen.«

»Dann lebt sie wahrscheinlich immer noch auf Teneriffa.«

»Vermutlich. Ihr Mann ist ja einige Jahre älter. Vielleicht hilft er ihr, endlich zur Ruhe zu kommen.«

Theresa seufzte leise. Tief im Innern glaubte sie nicht daran, dass ihre Schwester jemals zur Ruhe kommen würde – woran sie, die Ältere, nicht unschuldig war. »Erzähl mir von deinen Mädchen«, wechselte sie rasch das Thema. »Was gibt es Neues?«

»Tja, Linda ist vor einem Vierteljahr nach St. Moritz gegangen, um dort eine Hotellehre zu machen, und Maike ist jetzt im fünften Semester.«

»Und Lena?«

Anna strahlte. »Die ist mit ihrem Tobias immer noch glücklich und im vierten Monat schwanger – worauf ich schon lange gewartet habe.«

»Dann wirst du ja bald Großmutter«, sagte Theresa überrascht. Einen Sekundenbruchteil später spürte sie einen feinen Stich im Herzen. Nicht einmal ein Kind hatte sie zuwege gebracht. Dank Dirk, dachte sie bitter. Und der hatte jetzt wahrscheinlich mit Jessica und deren kleiner Tochter zusammen die Familie, die sie sich immer gewünscht hatte. Nur nicht darüber nachdenken. Sie räusperte sich energisch. »Fühlt ihr euch jetzt nicht ein bisschen einsam in dem großen Haus?«, erkundigte sie sich.

»Wir haben ja Raphael.«

»Raphael?«, fragte Theresa irritiert.

»Er ist seit ein paar Wochen unser Pflegesohn.« Anna lachte. »Er ist sieben und Sozialwaise – so nennt sich das heute. Seine Mutter hat ihn mit siebzehn bekommen. Sein Vater ist unbekannt. Ein paar Jahre nach seiner Geburt hat sie psychische Probleme bekommen. Drogen und so weiter … Raphael ist bei seinen Großeltern aufgewachsen und hat bis vor Kurzem noch ein behütetes Leben gehabt. Dann sind die Großeltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und seine Mutter hat danach völlig den Halt verloren. Da es keine Alternative gab, hat das Jugendamt ihn einem Kinderheim bei Innsbruck zugewiesen. Unsere Maike hat ihn bei einem Praktikum dort kennengelernt. Er tat sich in dem Heim sehr schwer, und die Heimleitung suchte dringend einen Pflegeplatz für ihn. Tja, und da haben Bastian und ich beschlossen, ihn fürs Erste aufzunehmen.«

Theresa hatte ihrer Freundin voller Mitleid für den Jungen zugehört. Nur zu gut wusste sie, wie es sich anfühlte, ohne Eltern aufzuwachsen. »Und wo ist Raphael jetzt?«, fragte sie.

»Am Bodensee. Die Eltern seines Freundes haben ihn übers Wochenende zu Verwandten mitgenommen. Wir können doch nicht weg wegen der Tiere.« In einer Geste des Bedauerns hob Anna die Schultern. »Wir wissen auch, dass wir Raphael nicht all das geben können, was er in seinem Alter braucht, aber er hat es bei uns immer noch besser als im Heim. Er …« Bevor sie weitersprechen konnte, klingelte ihr Handy. Sie warf einen Blick auf das Display. »Das ist Bastian.« Verschwörerisch zwinkerte sie Theresa zu. »Der wird Augen machen, wenn ich ihm erzähle, dass du hier bist.«

Doch dazu kam Anna gar nicht erst. Der Öko-Bauer schien es eilig zu haben.

»In Ordnung. Kein Problem«, sagte Anna und steckte das Handy zurück in die Brusttasche ihrer Latzhose. »Bastian ist auf der Hochalm. Sein Wagen springt nicht an. Ich muss ihn abholen.« Sie wirkte plötzlich unsicher. »Das tut mir leid. Kannst du auch allein zur Hütte fahren? Nimmst Bettzeug und was fürs Abendessen mit. Ich komm dich dann morgen besuchen und bring dir noch ein paar Sachen.«

»Ich komme zurecht, hol du nur Bastian ab. Ich kenne den Weg doch.«

»Super! Dann lass uns zusammenpacken.«

Die Forststraße schlängelte sich bergauf durch blühende Wiesen, auf denen braun-weiße Kühe grasten. Das Läuten ihrer Glocken klang in Theresas Ohren wie eine vertraute Melodie. Die asphaltierte Straße führte in einen dunklen Fichtenwald, aus dem sich nach einigen Serpentinen eine langgestreckte Hochebene erhob. Auf ihr ruhte die Sennhütte. Ihr Anblick spülte Wärme in Theresas verletztes Herz. Ein kleines Paradies! Langsam fuhr sie auf den Weiher zu, der etwa fünfzig Meter vor der Hütte lag. Sein Kristallwasser glitzerte ihr einladend entgegen.

»Willst du mal trinken?« Theresa hielt an und ließ Stella raus, die erst einmal aufgeregt hin- und herlief. Derweil setzte sich Theresa auf einen der Steine am Ufer. Blasslila Glockenblumen wippten im Abendwind, als würden sie ihr grüßend zunicken. Mit allen Sinnen nahm sie die Umgebung in sich auf – die warme Luft auf ihrer Haut, die nach Gras und dem Harz duftete, das die Sonne während des Tages aus den Stämmen getrieben hatte. Aus der hohlen Hand trank sie ein paar Schlucke Wasser. Es schmeckte so prickelnd wie Champagner. Nachdem auch Stella ihren Durst gestillt hatte, entfernte sie sich vom Ufer in Richtung Sennhütte. Theresa folgte ihr – schon ganz neugierig darauf, wie die renovierte Hütte aussehen mochte. Ihren Wagen würde sie später nachholen.

Im Schatten einer Fichtengruppe blieb Stella stehen. Im nächsten Moment wusste Theresa auch, warum. Sie konnte zuerst gar nicht glauben, was sie sah: Ein Mann, groß wie ein Bär, machte sich an der Hüttentür zu schaffen. Sie sah ihn nur von hinten. Die graumelierten Locken waren im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengefasst. Seine Rückenmuskeln zeichneten sich deutlich unter dem schwarzen Shirt ab. Über die Schulter hatte er eine Decke oder einen Sack geworfen. Jetzt ließ er sich gegen die Holztür fallen, die dem Aufprall jedoch standhielt. Ganz offensichtlich wollte dieser Typ in die Hütte einbrechen.

Theresa presste die Hand auf den Hals, auf die Stelle, unter der ihr Puls pochte. Das fing ja gut an! Von wegen Paradies. Was sollte sie denn jetzt machen?

Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie der Mann zur Seitenfront der Hütte ging und hinauf zu dem Fenster im Dachgiebel blickte. Es stand offen. Vermutlich hatte Anna oder Bastian vergessen, es zu schließen. Erwog der Kerl etwa, auf diesem Weg einzudringen?

Bestimmt ein Landstreicher, der einen Platz für die Nacht sucht, schoss es Theresa durch den Kopf. Jetzt rüttelte der Riese an den Fensterläden im Erdgeschoss. Immer noch saß Stella wie eine Statue neben ihr, den Blick auf den Fremden gerichtet.

»Stella – Fuß«, befahl sie mit unterdrückter Stimme, griff in das Halsband und ging energischen Schrittes auf das Holzhaus zu.

»Hey! Was machen Sie da? Verschwinden Sie! Sonst lasse ich meinen Hund los!«, rief sie dem Mann zu – ganz nach dem Motto Angriff ist die beste Verteidigung.

Bis jetzt hatte Stella noch kein Knurren von sich gegeben. Aber nur ein Wort von ihr, und ihre Hündin würde den Dieb so lange in Schach halten, bis die Polizei eintraf.

Der Mann blieb mit dem Rücken zu ihr stehen. Regungslos. Zwei, drei, vier Sekunden lang. Dann drehte er sich geradezu aufreizend langsam um.

Über die Entfernung nur noch weniger Schritte hinweg blickte Theresa in ein Gesicht, über dessen rechte Wange sich eine lange Narbe zog. Die helle, gezackte Linie hob sich deutlich von der tief gebräunten Haut ab. Die Falten in dem kantigen Gesicht verrieten, dass sich dieser Mann, den sie um die fünfzig schätzte, im Laufe seines Lebens nicht geschont hatte.

Langsam, geradezu lässig, kam er jetzt die Treppe von der Holzveranda herunter und geradewegs auf sie zu. Ohne ein Wort zu sagen, blieb er vor ihr stehen, so nah, dass sie seinen Geruch von sonnenverbrannter Haut, Heu und Leder wahrnehmen konnte. Ihre Blicke trafen sich. Ihr Herzschlag geriet ins Stocken. Nie zuvor hatte sie solche Augen gesehen. Ihr intensives Grün erinnerte sie an einen Gletschersee im Hochgebirge. Diese Augen sahen sie völlig ausdruckslos, völlig emotionslos an. Panik erfasste sie.

»Ein Wort von mir, und mein Hund beißt zu«, drohte sie, wobei ihre Stimme zwei Oktaven höher rutschte.

Kaum hatte sie die Warnung ausgesprochen, stand Stella auch schon auf und ging auf den Fremden zu – schwanzwedelnd. Und als wäre das noch nicht genug an Sympathiebekundung, begann sie auch noch freudig zu fiepen. Dabei beschnupperte sie seine speckige Lederhose. Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges: Über das Männergesicht legte sich ein Lächeln, das alle Härte in ihm schlagartig auflöste.

»Du bist ja ein schöner Hund«, sagte der Fremde mit tiefer, melodischer Stimme, während er sich zu Stella hinunterbeugte und sie streichelte, was diese sich nur allzu gern gefallen ließ.

Theresas Mund war staubtrocken. Sie fand keine Worte für das, was da gerade vor sich ging. Eines stand fest: Dieser Typ hatte es sehr viel mehr mit Tieren als mit Menschen.

Irgendwann richtete er sich wieder zu voller Größe auf und sah sie an. »Da hast du aber ein kluges Tier. Es weiß genau zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Im Gegensatz zu dir.« Er sprach ein gepflegtes Hochdeutsch mit leichtem Wiener Akzent – und er duzte sie, so wie es unter Bergbewohnern auch heute noch üblich war.

»Was machst du hier?«, fragte sie, wobei ihre Stimme seltsam heiser klang.

»Ich suche seit zwei Tagen meinen Falken. Ich habe ihn eben über der Hütte kreisen sehen. Und dann entdeckte ich das offen stehende Fenster im Dachgiebel. Vielleicht ist er ja reingeflogen.« Während er sprach, glitt sein Blick an ihr herunter – über ihre lichtblaue Seidenbluse, ihre Designerjeans, bis zu ihren silbernen Ballerinas –, um dann zu ihrem Gesicht zurückzukehren. Was er von ihrer Aufmachung hielt, konnte sie sich denken.

»Ich habe den Schlüssel«, kam ihr wie von selbst über die Lippen.

»Dann schließ auf.« Das war keine Bitte. Das war eine Aufforderung, ausgesprochen in einem Ton, der verriet, dass dieser Mann gewohnt war, Anweisungen zu geben.

Wie bitte? Bis gestern war auch sie es gewohnt gewesen, Anweisungen zu geben. Sie streckte sich. Obwohl sie nicht gerade klein war, überragte er sie um einen Kopf. Ihre Blicke prallten aufeinander.

»Mein Falke hat eine Wunde, die versorgt werden muss«, sagte er ruhig und bestimmt. »Schließ bitte auf.«

Sie hätte nicht sagen können, ob dieser Mann ihr unsympathisch oder vielleicht sogar sympathisch war – was in dieser Situation jedoch keine Rolle spielte. Sie liebte Tiere. Warum sollte sie jetzt mit ihm die Klingen kreuzen, wenn es galt, ein Tier zu retten?

Ohne ein weiteres Wort zog sie den Hüttenschlüssel aus ihrer Jeans und kam seiner Bitte nach.

»Du musst mit dem Hund draußen bleiben.« Wieder eine Anweisung.

»Warum?«, fragte sie herausfordernd, obwohl sie durch ihren Großvater wusste, dass Greifvögel sehr scheu waren. Dass dieser Typ einen Falken gezähmt hatte, sprach dafür, dass er äußerst sensibel und geduldig war.

Als hätte er ihre Frage nicht gehört, drückte der Mann behutsam die Holztür auf und verschwand im Innern der Hütte.

Ich könnte jetzt abschließen und die Polizei rufen, ging ihr durch den Kopf, während sie höchst verwirrt auf der Veranda darauf wartete, wie diese Geschichte weitergehen mochte. Stella hatte sich inzwischen neben sie auf die Holzdielen gelegt, als hätte alles seine Richtigkeit.

Nach einer gefühlten Ewigkeit trat der Riese aus der Hüttentür. Auf den Armen trug er etwas, eingewickelt in die Decke, und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln. Es machte seine Züge weich, sehr viel jünger, ja sogar attraktiv.

»Er ist tatsächlich in das offen stehende Fenster geflogen«, sagte er mit seiner tiefen Stimme, in der all seine Erleichterung über die gelungene Rettung seines Falken mitschwang.

Theresa atmete ebenso erleichtert aus. Also doch kein Krimineller.

»Was hat er denn?«, erkundigte sie sich, während sie Stella, die neugierig an dem großen Bündel schnuppern wollte, zurückhielt.

»Den Fuß verletzt.«

»Hältst du ihn dir zur Beizjagd?«, erkundigte sie sich. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, mehr über diesen seltsamen Kauz zu erfahren. Über diese Jagdform wusste sie sogar ein wenig Bescheid.

Der Blick, der sie traf, war dieses Mal voller Emotion – jedoch rein negativer.

»Jagd?« Er spukte dieses Wort geradezu aus. »Ich gebe ihm Schutz. Er hat nur noch diesen einen Fuß, und der ist jetzt verletzt.« Dann drehte er sich um und ließ sie einfach stehen.

Fassungslos sah sie ihm nach, wie er mit festen Schritten den Wiesenhang hinaufstieg.

Mit viel Geduld gelang es Robert, die Schnittwunde an Falks Fuß neu zu verbinden. Vor einem Jahr hatte er den Vogel als Jungtier gefunden. Falk hatte einen gebrochenen Flügel gehabt, und ihm fehlte ein Bein. Der Tierarzt hatte den Flügel gerichtet, das eine Bein als »Missbildung« diagnostiziert. Seitdem lebte der Falke bei Robert. Falk kam immer wieder von seinen Beuteflügen zurück, aber er schien ein Pechvogel zu sein. Vor einer Woche war er verletzt zurückgekommen. Und vor zwei Tagen dann gar nicht mehr.

Lächelnd schaute Robert seinem gefiederten Freund zu, wie er mit großem Appetit die saftigen Fleischstücke verschlang. Die Wunde an seinem Fuß heilte zwar nur langsam, aber sie sah schon besser aus als noch vor zwei Tagen. Wie gut, dass plötzlich diese Frau aufgetaucht war. Nur ungern wäre er in die Brandler-Hütte eingebrochen – zumal er ja gar nicht so sicher hatte sein können, Falk tatsächlich dort zu finden. Irgendwie merkwürdig, dachte Robert belustigt, während er einen Schluck Rotwein trank. Er musste ziemlich unheimlich auf sie gewirkt haben. Immerhin, sie hatte Mut bewiesen. Ob sie die neue Mieterin der Brandlers war? Eindeutig eine Großstädterin, obwohl er meinte, einen leichten Tiroler Akzent in ihrer Stimme gehört zu haben. Offensichtlich war sie sehr tierlieb. Robert nahm einen tiefen Schluck. Er ließ den Zweigelt über die Zunge rollen und schüttelte den Kopf. Die Gedanken an diese Frau waren ihm unangenehm. Sie störten ihn in seiner Ruhe. Er stand auf.

»Kommst du mit?«, fragte er den Vogel, der ihn aus seinen gelb umrandeten Augen ansah, als würde er ihn verstehen.

Er zog den langen, gepolsterten Lederhandschuh an. Mit Falk auf dem Arm schlenderte er gemächlich über den Hof, zu den Ziegen hinüber. Eine Weile blieb er am Zaun stehen und betrachtete voller Stolz seine Herde. Kaschmirziegen waren in Österreich eine Seltenheit. Inzwischen besaß er fünfzehn Tiere. Wenn ich mit dir nach Deutschland gehen soll, will ich eine Kaschmirziege mitnehmen,