Über die Bücher gehen - Marcel Dietler - E-Book

Über die Bücher gehen E-Book

Marcel Dietler

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Beschreibung

Ist die Bibel, wie die Gläubigen sagen, das Wort Gottes? Oder ist sie, wie andere meinen, das schreckliche Buch, das Krieg, Tod und Verderben über die Menschheit gebracht hat? Soll man, wie die Gläubigen sagen, den Kindern die Geschichten der Bibel erzählen? Oder soll man, wie andere allen Ernstes vorschlagen, Eltern vor Gericht bringen, die solches tun? Mit solchen Gedanken setzt sich der Verfasser auseinander.

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Seitenzahl: 214

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Für Elie Jolliet, Kirchenmusiker und Hymnologe, und für meine Enkelinnen Taina und Leia sowie ihre Boyfriends Stef und Lionel.

Meine Enkelinnen und Enkel haben sich an der Entstehung dieses Buchs beteiligt: Taina und Leia und ihre Boyfriends haben den Umschlag gestaltet. Der junge Künstler Elie ist kein Verwandter, doch er ist mir im Alter auch so etwas wie ein Enkel geworden. Wir diskutieren gerne miteinander. Ohne ihn wäre dieses Buch nicht entstanden. Elie hatte sich über einen bedauerlichen Vorfall in einer Kirchgemeinde aufgeregt, der durch eine biblizistisch-fundamentalistische Bibelauslegung ausgelöst worden war. Zur gleichen Zeit wandten sich Menschen an mich, die durch ein die Bibel verachtendes Buch in Aufregung versetzt worden waren. Ich stand vor der Frage: Wie können Menschen, welche die Bibel weder von Deckel zu Deckel wörtlich nehmen noch sie einfach verächtlich wegwerfen wollen, bewegt werden, das Buch, das den grössten Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit gehabt hat, zu lesen und sogar die Stimme Gottes zu hören? Und so beschloss ich, dieses Buch zu schreiben. Vielleicht werden selbst einige nach ihm greifen, welche die Bibel bislang immer als etwas höchst Langweiliges empfunden haben. Vielleicht sogar einige Bibel-Verächter.

Inhaltsverzeichnis

Über die Bücher gehen

Die Argumente der Bibel-Verächter

Die Bibel ist ein Buch, das für Veränderungen offen ist

Dank der Bibel wird die Sklaverei abgeschafft

Die Emanzipation der Frauen

Bibel und Homosexualität

Die biblischen Urgeschichten

Die Schöpfungsgeschichte, Adam und Eva, die Sintflut, der Turmbau zu Babel

Die schriftliche Fixierung heiliger Texte

Die Erfindung der Schrift

Die Sammlung und Koordinierung heiliger Texte

Die Geschichte Israels von den Erzvätern bis zu David

Die Zeit von den Erzvätern bis Moses

Die Richterzeit

David

Allegorische Auslegung

Die Geschichte Israels vom Tempelbau bis zum babylonischen Exil

Die zwei Staaten

Hosea – der einzige grosse Prophet des Nordreichs

Was wäre, wenn

Die vergessene und wiederentdeckte Bibel

Der König, der die Bibel verbrannte

Die Geschichte Israels seit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil bis zur endgültigen Vertreibung der Juden im Jahr 70 n. Chr. durch die Römer

Die Entstehung des neuen Testaments

Die Briefe

Wir Leserinnen und Leser schaffen einen Mythos. Das Markusevangelium

Der hochangesehene Theophilus im Lukasevangelium

Das «Höllenevangelium»

Das Johannesevangelium

Der Kanon

Frohe Weihnachten

Die Bibelübersetzungen

Die Gesprächsschlussrunde

Nachwort

Über die Bücher gehen

Über die Bücher gehen ist vor allem in der Schweiz ein geläufiger Ausdruck. Wer über die Bücher geht, ist willig, sich neu zu orientieren. Wer willig ist, mit der Heiligen Schrift über die Bücher zu gehen, wird in ihre Bücher hineingehen und staunen.

Ich bin selber kein Bibel-Gläubiger. Ich bin ein Christusgläubiger und darum ein Bibel-Freund, denn ohne die Bibel würde ich Christus nicht kennen. Bibel-Gläubiger und Bibel-Freund sind nicht dasselbe. Freunde können einander beeinflussen, prägen, inspirieren, doch sie erteilen einander keine Befehle. Hingegen können sie einander kritisieren. Von der Bibel her kritisiere ich vieles, was mir in Wirtschaft und Politik als Christ missfällt, aber von meinem von der heutigen Zeit mitgeprägten Glauben aus mache ich auch kritisch auf Glaubensvorstellungen der Bibel aufmerksam, die nicht vom Heiligen Geist, sondern vom damaligen Zeitgeist geprägt sind. Ich glaube, Martin Luther wäre mit mir einverstanden. In seiner Vorrede zum Neuen Testament nannte er den Jakobusbrief «eine stroherne Epistel». Er weigerte sich, diesem Brief apostolisches Gewicht zuzuschreiben. Er sagte: «Auch ist das der rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man sieht, ob sie Christus treiben oder nicht. (…) Was Christum nicht lehrt, das ist nicht apostolisch, wenn gleich Petrus oder Paulus es lehrte; wiederum was Christum predigt, das wäre apostolisch, wenn’s gleich Judas, Hannas, Pilatus oder Herodes täte.»

Die Bibel ist eine Bibliothek mit sechsundsechzig Büchern. Wenn man die in der hebräischen Bibel nicht enthaltenen sogenannten Apokryphen dazu nimmt, von denen Martin Luther sagt, dass sie der Heiligen Schrift nicht gleichzuhalten, aber nützlich und gut zum Lesen seien, steigt die Anzahl auf zweiundsiebzig. Die Entstehungszeit dieser Bücher erstreckt sich über 3600 Jahre. Für Bibel-Gläubige ist Gott der Autor dieser Bücher; die Bibel ist für sie daher absolut unfehlbar. Für Bibel-Freunde ist nicht alles, was die Bibel sagt, vor Christus zu verantworten. Es gibt Ereignisse in der Bibel, auch Gebote und Verordnungen, die nicht zu Christus passen. Für Bibel-Freunde ist, im Gegensatz zu den Biblizisten, Gott nicht der alleinige Autor der Heiligen Schrift. Menschen mit ihrer zeitbedingten und kulturellen Prägung und ihren charakterlichen Defiziten sind bei der Entstehung der Bibel recht kräftige Co-Autoren.

Für Bibel-Verächter sieht es noch einmal ganz anders aus: Für sie ist das Buch der Bücher ein durchwegs menschliches, oft sogar unmenschliches Buch mit lauter Irrtümern und Absurditäten, das in der Geschichte der Menschheit grosses Unheil angerichtet hat. Für sie sind Menschen, die an den Gott der Bibel glauben, krankhafte Neurotiker. Nach Meinung der Bibel-Verächter sollten Erwachsene, die den Kindern biblische Geschichten erzählen, bestraft werden. Es gibt Bücher zuhauf, in denen man lesen kann, was die Verächter der heiligen Schriften von gläubigen Christen, Juden und Muslimen halten. Als Beispiel sei hier bloss das Buch Der Gotteswahn von Richard Dawkins erwähnt.

Bibel-Freunde werden mein Buch gern lesen. Bibel-Gläubige und Bibel-Verächter werden nur dann nach ihm greifen, wenn die leise Hoffnung besteht, dass sie bereit sind, mit ihrer Haltung über die Bücher zu gehen, um einen neuen, lebendigen Zugang zum Buch der Bücher zu finden. Für Bibel-Neueinsteiger kann mein Buch eine Hilfe sein; sie werden es spannend finden. Auch Biblizisten werden es spannend finden, wenn auch im negativen Sinn. Einer von ihnen hat mir bereits im Vorfeld zu diesem Buch mit dem Gericht Gottes gedroht. Diese Aufregung und Drohung hinwiederum können Bibel-Gelangweilte nicht nachempfinden. Für sie ist mein Buch weder spannend noch ärgerlich, sondern nur nichtssagend. Sie werden es höchstens als Schlafmittel benutzen.

In einer Bibliothek gibt es Bücher verschiedenartiger Gattungen. Das gilt auch für die Heilige Schrift. So gibt es in der Bibel Erzählungen über historische Ereignisse: Es wird etwa berichtet, wie das grosse Reich, das David aufgebaut hatte, seine Selbständigkeit verlor, schrumpfte und ein Vasallenstaat in der Hand von Fremdmächten wurde. In der Bibel finden sich aber auch Gebetsbücher und Liedersammlungen, Mythen und Legenden. – Beim Stichwort Mythen runzeln die Bibel-Gläubigen unter den Leserinnen und Lesern die Stirn. Einige mögen vielleicht gerade noch knapp akzeptieren, dass die Schöpfungsgeschichte und die Erzählung von Adam und Eva Mythen sind, aber wenn sie hören, dass auch Abraham und Sara, Hiob und der von einem Fisch verschluckte Jona ein Mythos sein sollen, würden sie sich am liebsten aus unserem Leserkreis verabschieden. Doch vielleicht, aber nur vielleicht, werden einige dennoch weiterlesen.

Was, Sie selber sind immer noch dabei? Gratuliere! Sie wollen offenbar wirklich über die Bücher gehen. Sie sind offenbar neugierig. Sind Sie ein neugieriger Bibel-Gläubiger oder vielleicht gar ein neugieriger Bibel-Verächter? Damit ich die Bibel-Verächter nicht schon auf den ersten Seiten meines Buches verliere, wende ich mich als erstes an sie.

Die Argumente der Bibel-Verächter

Nach der Lesart der Bibel-Verächter kann der Schöpfer des Universums, der den Lauf der Milchstrassen, der Sonnensysteme und der Sterne aufs genauste berechnet hat, nicht als alleiniger Autor der Heiligen Schrift in Frage kommen, weil dieser Autor ein schlechter Rechner ist. Im Buch Esra wird im ersten Kapitel, in den Versen 8 bis 11, erzählt, wie der Perserkönig Kyros den Juden die kostbaren Tempelgeräte zurückerstattete, welche die Babylonier aus dem Tempel geraubt hatten. In der wissenschaftlich genauen Übersetzung der Jerusalemer Bibel finden sich folgende Zahlenangaben:

30 goldene Schalen

1029 silberne Schalen

30 goldene Becher

410 silberne Becher

1000 andere Geräte

Mathematiker kommen zum Schluss, dass das insgesamt 2499 Gegenstände sind. Nach Rechnung des vielleicht nicht so ganz göttlichen Bibelautors sind es jedoch 5400 Gegenstände. Das ist schlechte Werbung für die Unfehlbarkeit der Bibel.

Der Schöpfer, der alle Tiere und Pflanzen geschaffen hat, ein jegliches nach seiner Art, versteht als Bibelautor auch nichts von Zoologie. Er sagt:

Nur diese Art sollt ihr nicht essen von den Wiederkäuern oder denen, die völlig gespaltene Hufe haben: das Kamel und den Hasen und den Klippdachs. (5. Mose 14,7)

Gott müsste als Schöpfer der Tiere eigentlich wissen, dass der Hase kein Wiederkäuer ist. Die Fledermaus wiederum ist ein Säugetier und nicht, wie der Autor in 3. Mose 11,13-19 behauptet, ein Vogel. Nach Jesus ist das Senfkorn der allerkleinste Samen (Mt. 13,31). Es gibt jedoch Sämlein, die kleiner sind als ein Senfkorn, und zudem müsste Gott eigentlich wissen, dass aus einem Senfkorn kein Baum wachsen kann, in dem Vögel nisten könnten.

Nicht nur im Koran, auch im Alten Testament gibt es grausige Dinge, die ein liebender Gott eigentlich nicht tun dürfte. Man denke zum Beispiel an das Drama mit Jephtahs Tochter. Jephtah wird zunächst als unehelicher Sohn von seinen Halbbrüdern schlecht behandelt und vom Erbe ausgeschlossen. Doch er ist ein tapferer Kriegsheld; man braucht ihn, um gegen die Moabiter und Ammoniter zu kämpfen. Er ist ein sehr gläubiger Mann. Er verspricht Gott, er werde IHM im Falle eines Sieges das erste, das ihm nach dem Sieg aus dem Hause entgegentreten werde, als Brandopfer darbringen (Ri. 11,30). Wahrscheinlich denkt er an seinen treuen Hund, der ihm immer schwanzwedelnd entgegenläuft. Unglücklicherweise ist es jedoch sein einziges Kind, seine Tochter, die ihm mit Handpauken und Reigen fröhlich entgegeneilt. Jephtah tut, was er versprochen hat – die Tochter ist sogar einverstanden; auch sie ist ein gläubiges Mädchen. Sie wird als Brandopfer dargebracht. Die Bibel-Verächter reiben sich vergnügt die Hände. «Seht, was der Glaube immer wieder für Unheil anrichtet», sagen sie. «Da wird in seinem Namen eine Jungfrau geopfert. Ist der Gott der Juden und der Christen so etwas wie der Drache im Märchen, dem man eine Jungfrau opfern muss?»

Unter den Bibel-Verächtern gibt es edle Tierschützer. Da wollen wir ihnen gleich eine weitere Bibelstelle liefern, die sie in ihrer Bibelverachtung stützt. Simson, der Mann Gottes mit der Kraft in den langen Haaren und der Schwäche für schöne Frauen in den Lenden, dieser Mann Gottes vernichtet die Weizenfelder der Philister, indem er 300 Füchse fängt, diese an den Schwänzen zusammenbindet, dazwischen eine brennende Fackel klemmt und sie in die Felder der Philister treibt. «Die armen Füchse!», jubeln die Bibel-Verächter. Und was ist mit den noch viel ärmeren Menschen in Ägypten? Für die Kinder Israel öffnet Gott grosszügig ein ganzes Meer, doch dann lässt der gütige Gott das Meer mit Wucht über tausende von Ägyptern zurückfluten? Was konnten diese Soldaten dafür, dass sie Israel nachjagen mussten? Diese Ägypter hatten Frauen und Kinder! Hätte der allmächtige Gott die Verfolger nicht durch einen heftigen Wind aufhalten können? Was Gott da anrichtet, nennt man Massenmord! Aus der Sicht der Bibel-Verächter ist die Bibel ein schreckliches Buch.

Doch gerade bei diesen ertrunkenen Ägyptern zeigt sich, dass man im Blick auf die Bibel über die Bücher gehen dürfte. Der Talmud ist das jüdische Auslegungsbuch der hebräischen Bibel; er ist fast so wichtig wie die Bibel selber. Im Talmud jubeln die Engel über die Rettung der Kinder Israel. Da tadelt Gott sie und sagt: «Wie könnt ihr jubeln, wenn da unten meine Kinder tot liegen?» Der Talmud bringt also eine Korrektur der anstössigen Bibelstellen. Die Bibel ist nicht ein sturer unveränderlicher Block, wie Bibel-Verächter gerne glauben möchten; die Bibel verändert sich.

Als Kinder haben wir bei den Pfadfindern manchmal eine Entscheidung getroffen, indem wir «Kopf oder Zahl» spielten. Einige wollten zum Beispiel unbedingt ein Herbstlager im Tessin, andere lieber im Februar ein Skilager in Adelboden. Beides war nicht möglich. In solchen Situationen wurde eine Münze geworfen. Eine Münze kann, wenn sie zu Boden fällt, einen Kopf oder eine Zahl anzeigen. Doch auch wenn wir nicht beides sehen, trägt sie sowohl den Kopf als auch die Zahl. Für die Bibel bedeutet Kopf oder Zahl: Offenbarung Gottes oder menschliche Entwicklung rings um die Gottesfrage. Für einige ist die Bibel so ins Leben «gefallen», dass sie nur die Offenbarung Gottes sehen. Sie drehen die Bibel nie um, sie nehmen die menschliche Entwicklung nicht zur Kenntnis. Bei anderen Menschen wiederum ist die Bibel so gefallen, dass sie in ihr nur ein Buch sehen, das die menschliche Entwicklung von Glauben und Gottesbild im Verlauf der Jahrhunderte schildert. Zu dieser Gruppe gehören diejenigen, die auf der menschlichen Seite der Bibel nur das Entsetzliche und Groteske sehen.

Der Höhepunkt der Heiligen Schrift ist für Christen die Geburt und das Leben von Jesus Christus, doch auch er lag als Kind in Windeln. Wer bei einem kleinen Kind nur die vollgemachten Windeln sieht, verpasst etwas Wunderbares. Bibel-Verächter sehen in der Heiligen Schrift nichts anderes als Windeln und die Ausscheidungen des Kindes.

Hier einige Zitate verschiedener Philosophen und Schriftsteller, gefunden im Buch Die Bibel im Kreuzfeuer von Hans Jürgen Ferdinand:

Die Bibel ist der grösste Bestseller aller Zeiten, meistgekauft und häufigst verschenkt. Aber die wenigsten lesen sie. Ihr Studium bringt in voller Objektivität überraschend Erschreckendes zutage: Lügen über Lügen, Entstellungen der Geschichte, Verfälschungen des von anderen Völkern übernommen und gestohlenen Glaubensgutes, tendenziöse Umformungen der Mythen und Legenden und Kulte anderer Religionen und Kulturen.

Hubertus Mynarek, ehemaliger katholischer Priester, Philosoph und Religionswissenschaftler, geboren 1929

Die Bibel wird uns als Quelle unserer Moral vorgehalten. Und die biblische Geschichte über die Zerstörung Jerichos durch Josua sowie ganz allgemein über den Einzug ins Gelobte Land ist moralisch nicht von Hitlers Invasion in Polen oder Saddam Husseins Massakern an den Kurden und Marsch-Arabern zu unterscheiden. Ich kann nur den Kopf darüber schütteln, dass Menschen ihr Leben noch heute auf ein derartiges widerwärtiges Vorbild wie Jahwe stützen – und, was noch schlimmer ist, dass sie rechthaberisch versuchen, dieses böse Ungeheuer (ob echt oder erfunden) auch uns anderen aufzuzwingen. Doch leider halten uns religiöse Eiferer dieses seltsame Buch als unfehlbare Quelle für Ethik und Lebensregeln unter die Nase.

Richard Dawkins, Biologe und kämpferischer Atheist, geboren 1941

Würde der Mensch heute den Lehren des Alten Testamentes folgen, dann wäre er ein Krimineller. Würde er den Lehren des Neuen Testamentes genau folgen, dann wäre er ein Verrückter.

Robert Green Ingersoll, Schriftsteller, 1833-1899

Wir leben in einer Zeit der Ungleichzeitigkeit: Während wir technologisch im 21. Jahrhundert leben, sind unsere Weltbilder mehrheitlich noch von Jahrtausende alten Legenden geprägt. Diese Kombination von höchstem technischem Know-how und naivstem Kinderglauben könnte auf Dauer fatale Konsequenzen für unsere Spezies haben. Wir verhalten uns wie Fünfjährige, denen die Verantwortung über einen Jumbo-Jet übertragen wurde.

Michael Schmidt-Salomon, geboren 1967, häufiger Gast am deutschen Fernsehen

Mein Urteil über solche Äusserungen: Wer das sich im Verlaufe von Jahrtausenden entwickelnde Bibelkind mit solchen Augen betrachtet, sieht nur die vollgemachten Windeln. Er sieht nicht, dass sich da etwas entwickelt hat, das die Welt zu ihrem Besten verändert hat und immer noch verändert. Ungewollt trifft einer dieser negativen Kritiker, Robert Green Ingersoll, dennoch den Kern der Sache: Wer den Lehren des Neuen Testaments genau folgt, ist ein Verrückter.

Christen waren und sind in der Tat immer wieder Ver-rückte, weggerückt vom prägenden Zeitgeist, jetzt schon ein Stück Reich Gottes verwirklichend. Wie Paulus zu Recht sagt: Narren Christi (1. Kor. 4,10).

Vielleicht hilft sowohl den Bibel-Verächtern als auch den biblizistischen Wörtlichkeitsverfechtern ein Hinweis von Rabbi Salomon Ben Isaak, genannt Rashi (1040-1105), dem grössten jüdischen Thorakommentaristen, der den Rat gibt, die Thora gleichsam mit zwei Fingern zu lesen. Der eine Finger steht für die Kenntnisnahme der Wörtlichkeit des Texts, der andere Finger geht durch die ganze Thoraauslegungsgeschichte und denkt darüber nach, was die Rabbis in ihren gegensätzlichen Auslegungen in vielen Jahrhunderten Erleuchtendes (Drash) gesagt haben.

Die Sammlung der Auslegungen ist der Talmud; die ältesten Teile der Sammlung stammen aus der Zeit des babylonischen Exils. Dieser Teil des Talmud heisst Mischna (Wiederholung), die Auslegung aus jüngeren Zeiten ist die Gamara (Vollendung).

Die Bibel ist ein Buch, das für Veränderungen offen ist

Die Bibel ist ein einzigartiges Buch mit Gotteserfahrungen, die sich im Lauf der Jahrhunderte verändern. Eine der wichtigsten Gotteserfahrungen, welche die Bibel bezeugt, ist die Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei Ägyptens. Das ist Israels Mythos mit historischem Hintergrund. Wäre diese Erzählung kein Mythos geworden, sondern blosses Protokoll, hätte sie nicht die Kraft, die in ihr wohnt. Es ist eine Erzählung, die zum Mythos eines grossen Teils der Menschheit geworden ist. Gott persönlich führt sein Volk auf sichtbare Weise, tagsüber als Wolkensäule, nachts als Feuersäule; er speist es mit dem Himmelsbrot Manna; die zehn Gebote ritzt er mit seinem göttlichen Finger in die beiden Gebotstafeln.

Der Mythos ist die Königssprache Gottes, die Herzen bewegt und Leben verändert. Protokolle, die nichts von der Feuersäule und vom Finger Gottes wissen, tun das nicht. Auch die Ratio, die genau weiss, dass Gott keine Hand mit Fingern hat, tut das nicht – im Mythos jedoch fühlt sich der Gläubige in der Hand Gottes geborgen. Ratio ist gut, aber sie vermag nicht die ganze Wirklichkeit zu erfassen.

Das auserwählte Volk zu sein bedeutet für das befreite Israel, dass es von Gott persönlich regiert wird; er ist sein König. Nach dem Auszug aus Ägypten führt Gott sein Volk nicht mehr durch eine Feuersäule, sondern er spricht durch Propheten, auch Richter genannt, zu den Menschen. Darum dürfen sie nicht wie die andern Völker einen menschlichen König haben. Doch ohne König geht es nun einmal nicht. Es entstehen furchtbare Zustände, weil Israel keine funktionierende Regierung hat. Eine erste Persönlichkeit, die versucht, König zu werden, ist der Sohn, den der Richter und Held Gideon mit seiner Nebenfrau aus dem Philisteradel aus Sichem gezeugt hatte. Ihr Vater war der Philisterkönig von Sichem. Die Nebenfrau gab ihrem Sohn einen Namen, der in Israel als Provokation empfunden werden musste: Abimelech – mein Vater ist König. Gemeint ist: Mein Vater ist Philisterkönig. Undenkbar für ein Volk, dessen Erbfeinde die Philister sind und für das Gott der König ist. Es gelingt Abimelech, Männer der noch nicht israelitisch sozialisierten Bevölkerung Sichems auf seine Seite zu ziehen. Die siebzig Söhne von Gideons anderen Frauen bilden bereits so etwas eine vorkönigliche Regierung, eine Oligarchie. Mit militärischer Hilfe der Männer aus Sichem schafft es Abimelech, die Mitglieder der Gideon-Oligarchie, seine Halbbrüder, umzubringen und König von Sichem zu werden. Ein einziger Halbbruder, Jotham, kann entkommen.

Jotham kritisiert Abimelechs Bestrebungen, das Königtum einzuführen, in Form einer wunderbaren Fabel: Die Bäume wollten unbedingt, dass ein König sie regiere. Sie gingen zum edelsten aller Bäume, zum Ölbaum. Doch dieser hatte nicht die Absicht, auf seine Ölproduktion zu verzichten, und lehnte ab. Auch der Feigenbaum weigerte sich, von seinen saftigen Früchten zu lassen und stattdessen über die Bäume zu herrschen. Dieselbe Absage erteilte ihnen der Weinstock. Nun war guter Rat teuer. Sämtliche edlen Bäume hatten abgelehnt. Und so wandten sie sich an den Dornbusch. Dieser versprach, ein König zu werden, unter dessen Dornen man sich bergen sollte. Wer sich ihm nicht unterwerfen würde, den würde er mit Feuer vernichten; seine Macht würde gewaltig sein, selbst die mächtigen Zedern würde er überwuchern (Ri. 9). In der Schweiz wird manchmal in Zeiten von Wahlen in den Kirchen über diesen Text gepredigt. Im Wahljahr 2019 habe ich mit Genuss eine solche Predigt gehört.

Abimelech, dem die Fabel galt, hatte keine Chance – nicht mit diesem Philisternamen, und erst recht nicht als Mörder der Söhne Gideons. Er versuchte es zwar mit Gewalt, doch er verlor dabei sein Leben, und dies nicht rühmlich in einem Kampf Mann gegen Mann, wodurch er als Held in die Geschichte eingegangen wäre. Vielmehr kam er bei der Belagerung der Burg Tebez zu nahe an die Stadtmauer und wurde von einem Mühlstein erschlagen, den eine Frau auf ihn herabfallen liess.

Trotz Jothams Warnung wurde der Ruf nach einem König immer lauter. Ein König musste her. Das geschah zur Zeit des letzten Richter-Propheten Samuel.

Da versammelten sich alle Ältesten Israels, kamen zu Samuel und sprachen: Setze nun einen König über uns, dass er uns regiere, wie es bei allen Völkern Brauch ist. Doch Samuel missfiel dies und er betete zum Herrn. Der Herr aber sprach zu Samuel: Willfahre dem Begehren des Volkes; denn nicht dich, sondern mich haben sie verworfen, dass ich nicht König über sie sein soll. (1. Sam. 8,4ff.)

Die Bibel lässt Entwicklung zu. Der lose Stämmeverband schliesst sich unter einem König schliesslich enger zusammen. Es entsteht ein neuer Mythos: der Königsmythos, und im Gefolge des Königsmythos die Messiaserwartung. Ein erster König, Saul, ist zwar zum Scheitern verurteilt. Saul wird von Gott verworfen, weil er, als der Prophet Samuel ein Opfer darbringen sollte, sich aber verspätete, als menschlicher König tat, was nur der Priester tun durfte: Er vollzog das Opfer (1. Sam. 13,7ff.). Man spürt hier so etwas wie einen Machtkampf zwischen Kirche und Staat. Das Resultat des Machtkampfs wird in der Bibel als Gottes Wille ausgelegt. Denkende Bibelleser erkennen, dass manches, was in der Heiligen Schrift als göttlich daherkommt, letzten Endes sogar unmenschlich sein kann. Aber zum Leben gehört auch Unmenschliches. Die Bibel macht uns nichts vor, sie schildert uns das Leben, wie es eben ist. Doch in menschlichen Irrungen und Wirrungen, oft auch in dem, was wir Zufall nennen, ist eine gute Absicht Gottes verborgen. Auch das geht aus der Saulsgeschichte hervor. Saul – die Bibel nennt ihn den schönsten Mann in Israel (1. Sam. 9,2) –, der Sohn des reichen Bauern Kis, hatte nie die Absicht, König zu werden. Als dem reichen Kis die Quelle seines Reichtums, nämlich die Esel abhandenkamen, war das für ihn eine finanzielle Katastrophe. Vielleicht erschreckt durch ein Gewitter oder ein Erdbeben, hatten sich die Tiere davon gemacht, und Saul sollte sie suchen gehen. Auf seiner Suche gelangte er zu dem Seher Samuel, von dem er sich durch eine Vision zu erfahren erhoffte, wo die Esel sich befanden. Das konnte ihm der Seher zwar nicht sagen, doch salbte er den überraschten Bauernsohn zum – von Gott auserwählten! – König.

Samuel 9,1ff. ist die wunderbare Geschichte von einem, der auszog, Esel zu suchen, und eine Krone fand. Oder anders ausgedrückt: Der finanzielle Zusammenbruch wird zur göttlichen Möglichkeit für etwas Grösseres. Auch heute erfahren viele Menschen Gott auf diese Weise. Die Bibel leitet uns an, solche Erfahrungen zu machen.

Saul litt infolge des Drucks des Königtums unter psychotischen Anfällen und Wahnvorstellungen. Krankheiten körperlicher oder seelischer Art galten im frühen Judentum als Zeichen, dass Gott für Sünde strafend eingegriffen oder einen Menschen sogar verworfen hatte. Das Hiobbuch ist im Alten Testament ein erster Aufschrei gegen eine solche Theologie. Die Freunde Hiobs sind Anhänger der alten Theologie und fordern Hiob auf, seine Sünden zu bereuen. Das führt zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Hiob und seinen Freunden. Am Schluss des Hiobbuchs meldet sich Gott höchstpersönlich. Er gibt Hiob recht und tadelt dessen Freunde für ihre Theologie. Doch selbst zur Zeit Jesu ist die Theologie der Freunde Hiobs noch nicht überwunden. In Johannesevangelium stellen kurz vor der Heilung eines Blinden die Jünger Jesu die Frage:

Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren worden ist? Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. (Joh. 9,1-7)

Zur Zeit Sauls war man noch nicht so weit. Saul mit seinen Wahnvorstellungen galt als ein von Gott Verworfener. Erst David war nach der Deutung der Bibel ein König nach dem Herzen Gottes. Damit die Bibel-Verächter auch jetzt noch weiterlesen, sei zugegeben, dass dieser Herzensmann Gottes zwar ein hervorragender Politiker, kluger Heerführer und einzigartiger Poet war, jedoch bedenkliche Charakterschwächen zeigte. Auch das verschweigt uns die Bibel nicht. David schwängerte die Frau eines seiner besten Generäle und sorgte schlau dafür, dass dieser in einer Schlacht keine Überlebenschance hatte und getötet wurde.

«Tolle Heilige Schrift habt ihr da», sagen die Bibel-Verächter. Aber Tatsache ist, dass die Bibel sich in diesen Irrungen und Wirrungen der Menschen weiterentwickelt. Jetzt hat man einen König, was ursprünglich völlig unbiblisch war.

Die Bibel lässt Veränderungen zu; sie entwickelt sich.

Im apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen die Christen im dritten Artikel den Glauben an ein ewiges Leben.

Ich glaube an den Heiligen Geist ... die Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben.

In den ältesten Teilen der hebräischen Bibel ist von einer Auferstehung der Toten und einem ewigen Leben nicht das Geringste zu finden. Erst im Danielbuch ist davon die Rede.

Selbst zur Zeit Jesu galt der Glaube an die Auferstehung der Toten und an das ewige Leben für die altgläubigen Sadduzäer als von den Pharisäern eingeführte Irrlehre. Theologisch war Jesus somit ein Pharisäer. In einem Streitgespräch mit den Sadduzäern verteidigt er die Auferstehung von den Toten mit den Worten:

Was die Auferstehung von den Toten betrifft, habt ihr nicht gelesen, was euch von Gott gesagt ist, welcher spricht: Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Er ist nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebendigen. (Mt. 22,31-33)

Auferstehung und ewiges Leben sind eine Weiterentwicklung innerhalb der Bibel, die zur Zeit Jesu noch nicht von allen akzeptiert war.

Selbst das oft negativ gewertete «Auge um Auge, Zahn um Zahn» ist eine beachtliche Weiterentwicklung. In 1. Mose 4,23 steht das Lamechlied. Lamech ist ein Nachkomme des Brudermörders Kain. Lamech hatte zwei Frauen, Adda und Zilla. Diesen Frauen sang er ein furchtbares Lied:

Adda und Zilla, hört meine Rede, ihr Weiber Lamechs vernehmt meinen Spruch! Einen Mann erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine Strieme.

Wegen eines kleinen Wündelchens bringt Lamech einen Menschen um. Dazu sagt die hebräische Bibel in späterer Zeit: Strafe soll zwar durchaus sein, aber sie muss in einem Verhältnis zur Tat stehen: «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Jesus geht in derselben Thematik noch einen Schritt weiter. Er bringt die Entfaltung dessen, was Gott schon im Alten Testament keimhaft angelegt hat:

Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Auge um Auge, Zahn um Zahn, ich aber sage euch: liebet eure Feinde. (Mt. 5,38ff.)

Die Neuinterpretation bei Jesus ist nicht ein Widerspruch zum Alten, sondern dessen Erfüllung.

Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern um es zu erfüllen. (Mt. 5,17)