Der Hyänenflüsterer vom Wasserfall - Marcel Dietler - E-Book

Der Hyänenflüsterer vom Wasserfall E-Book

Marcel Dietler

0,0

Beschreibung

Möchten Sie gerne von einer Hyäne geküsst werden? Der Kuss der Hyäne ist eine touristische Attraktion in Harar in Äthiopien. Ein bisschen unheimlich, nicht wahr? Lesen Sie lieber das Buch "Der Hyänenflüsterer vom Wasserfall". Der Wasserfall, das sind die Kaskaden des blauen Nils in Äthiopien. Die dort lebenden dunkelhäutigen Juden, die sich als Abkömmlinge des weisen Salomo und der Königin von Saba verstehen, wussten jahrhundertelang nichts von hellhäutigen Juden - und umgekehrt. Dabei wären selbst im Neuen Testament Hinweise auf die Existenz der Beta Israel, wie die äthiopischen Juden sich bezeichnen, zu finden. König Salomo konnte laut Zeugnis des Alten Testaments mit Pflanzen und Tieren reden. Der dunkelhäutige Jude Simon, in dem sich Salomos Gene regen, wird zum Hyänenflüsterer. Judenverfolgungen zwingen ihn zur Flucht durch die grosse Wüste nach Nordafrika, nach Kyrene. Von dort gelangt er als Pilger ins heilige Land. An seinem ersten Tag In Jerusalem wird er in das Drama der Hinrichtung dreier Männer hineingezogen. Die römischen Soldaten zwingen den vermeintlichen Sklaven, an einem der drei Kreuze mitzutragen. Dieser Gang unter dem Kreuz verändert das Leben des Simon von Kyrene.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 211

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Widmung

Das vorliegende Buch ist ein historischer Roman, der seinen Höhepunkt im zentralen Ereignis des Neuen Testaments – der Kreuzigung Jesu – findet und eingebettet ist in einen Bereich der Geschichte des Judentums, der lange Zeit auch den Juden selbst unbekannt war. Ich widme den Hyänenflüsterer vom Wasserfall deshalb einer Schulkollegin aus meiner Gymnasialzeit, Agnes Hirschi-Grausz. Sie hat durch ihre Mutter selber jüdische Wurzeln.

Ihr Stiefvater Carl Lutz, der während des zweiten Weltkriegs Schweizer Vizekonsul in Budapest war, trickste im deutsch besetzten Ungarn die dortige Regierung durch Schutzpässe und falsche Freibriefe aus und rettete so zehntausenden ungarischen Juden das Leben. Als das bekannt wurde, war die Schweizer Regierung über diese sogenannten diplomatischen Verstösse alles andere als begeistert. Um Carl Lutz wurde in der Folge eine behördliche Mauer des Schweigens errichtet. Zur vollen Anerkennung seiner Rettungsaktion kam es erst nach Carl Lutz’ Tod durch die Bemühungen seiner Stieftochter Agnes.

Ohne seinen Glauben hätte es der eher scheue Carl Lutz nie gewagt, eine der weltweit grössten Rettungsaktionen für Juden in die Wege zu leiten.

Als bewusster Christ interessierte er sich für den angehenden Theologen aus der Gymnasialklasse seiner Stieftochter, was mir Gelegenheit gab, ihn persönlich kennenzulernen. Atemlos hörte ich jeweils seinen Erzählungen zu.

Meiner Schulkollegin möchte ich mit meiner Widmung meine Anerkennung dafür ausdrücken, dass sie ihren Stiefvater aus der Versenkung des Schweigens herausgeholt hat.

Heute ist im Bundeshaus ein Sitzungszimmer nach Carl Lutz benannt als Zeichen, dass es manchmal eine ethische Verpflichtung sein kann, Gesetze zu brechen.

Dank

Mit dem Bücher-Schreiben habe ich erst im hohen Alter angefangen. Der Roman Der Hyänenflüsterer vom Wasserfall ist mein siebtes Buch. Keines dieser Bücher hätte entstehen können ohne die tatkräftige und uneigennützige Hilfe von Kathrin und Urs Meier-Scheidegger, die für Lektorat und Layout zuständig waren. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Über dieses Buch

In Israel leben zurzeit 150 000 äthiopische Juden, die in mehreren Geheimaktionen aus Äthiopien ausgeflogen wurden. Über diese Juden, die sich infolge ihrer 2500jährigen geographischen Abgeschiedenheit von den rabbinischen Juden in mancher Hinsicht unterscheiden, wissen viele Nichtjuden kaum Bescheid. Der im Neuen Testament als Randfigur erwähnte äthiopische Jude Simon ist die Hauptperson im Roman Der Hyänenflüsterer vom Wasserfall.

Inhalt

Das Paradies am mächtigen blauen Strom

Vom Paradies zur Hölle

Es lebe Jonathan

Der Pakt mit den Hyänen

Der Dank der Hyänen

Die heilige Stadt Aksum

Das Drama am Königshof

In der Felsenwüste

Die Sabbatquelle

Im Frühstückstal

Die singende Wüste

Es regnet Milch

Wik’iyanosi

Kyrene

Die Briefe

Jemina

Alexander und Rufus

Apollonia

Ein ereignisreicher Tag

Caffeum

In der Wasserwüste

Die Gottesschau

Das Geheimnis

Nachwort

Das Paradies am mächtigen blauen Strom

Wenn man Simon gefragt hätte, was der allererste Ausspruch seines Vaters Menachem sei, an den er sich erinnere, hätte er ohne zu zögern geantwortet: «Gott hat den Juden ein Land verheissen, in dem Milch und Honig fliessen. Wir anderen Juden haben es indessen vorgezogen, ins Paradies zurückzukehren.» An diesen Ausspruch konnte er sich freilich nur deshalb erinnern, weil sein Vater nicht müde wurde, ihn dauernd zu wiederholen – jedenfalls bis sie aus dem Paradies fliehen mussten.

Menachem, seine Frau Hanna und die Kinder lebten in Kaparnum am See Geneze, durch den der grosse blaue Strom floss. Die Namen von Dorf und See waren eine Erinnerung an die frühere Heimat. In dem Land, in dem Milch und Honig flossen, gab es einen See Genezareth mit einem Fischerdorf Kapernaum. Die Beta Israel, wie die anderen Juden sich nannten, hatten die alte Heimat jedoch schon vor hunderten von Jahren verlassen. Sie hatten sich mit den Paradiesmenschen vermischt und waren dunkelhäutig wie diese, wenn auch mit schmaleren Lippen und anders geformten Nasen. In Kaparnum lebten zwei Gruppen von Menschen friedlich miteinander: die Beta Israel und die Amharen. Kaparnum war eine Streusiedlung aus braunen Rundhütten, gebaut aus einer Mischung aus Kuhdung und Schlamm aus dem See. Aus demselben Material bestand auch das Lehrhaus der Beta Israel, die Mesgid. Um die grosse Mesgid herum scharten sich die kleinen Hütten der Beta Israel wie Küken um die Henne, meist in Dreiergruppen: Neben der Hütte von Vater, Mutter und den kleinen Kindern stand je eine Hütte für die grösseren Buben und Mädchen. Die polygamen Amharen dagegen lebten in grösserer Zerstreuung. Besass ein Mann mehrere Felder, stand auf jedem Feld eine Kuhfladenhütte mit Frau und Kindern. Je nachdem, auf welchem Feld der Bauer gerade arbeitete, wohnte er bei dieser oder bei jener Frau. Die Kinder aus diesen Beziehungen nannten sich gegenseitig Bruder und Schwester derselben Mutter oder der anderen Mutter. Zwischen den Kuhfladen-Häusergruppen tummelten sich nackte Kinder, Rinder, Schafe, Ziegen, Hühner und Hunde aller Bewohner, aber auch die lustigen schwarzborstigen Schweine der Amharen.

Simon war Menachems jüngster Sohn. Seine Schwestern hiessen Dina, Rahel, Ruth und Eva, die Brüder Asarja, Jabes, Gadi und Ramalja. Menachem war ein wohlhabender Salz- und Medikamentenhändler, Besitzer von fünfzig Kamelen, welche die Arzneien und das weisse Gold, wie das Salz genannt wurde, durch die grosse Wüste trugen. Auf seine Karawanenreisen nahm er jeweils auch noch Kamele anderer Besitzer mit. Menachems Vater war ein berühmter Arzt, der aus Weihrauch, Myrrhe und Kuhdung Heilmittel herstellte. Das Myrrheharz wurde von den Balsamsträuchern gewonnen, die eine Höhe von bis zu zwölf Fuss erreichten.

Das Klima in Kaparnum war aber nicht nur für Balsamsträucher, sondern auch für Obstbäume jeglicher Art sowie für Gemüse und Weizen äusserst günstig. Die Bauern konnten jedes Jahr drei Weizenernten einbringen. Menachem hatte mit seinem Ausspruch schon Recht: Sie lebten im Paradies. Kaparnum lag in unmittelbarer Nachbarschaft zu der grossen Wüste und hatte entsprechend viele Sonnentage. Der Regen war zwar spärlich, doch dank der riesigen Wasserfälle konnten die Bäume, Blumen und Pflanzen ihren Bedarf an Wasser aus der immer feuchten Luft decken. Je nach Wind fiel bei hellem Sonnenschein ein eigentlicher Sprühregen auf Land, Tiere und Menschen. In den Wasserfällen schimmerten Regenbogen. Riesengrosse Schmetterlinge mit bunten Flügeln tanzten von einem Ufer zum andern und Königsfischer pfeilten mutig durch die herabstürzenden Fluten in ihre Nester hinter dem Wasservorhang. Die Vegetation war so üppig, dass die Bauern die Zebras und Giraffen ruhig am Dorf vorbeiziehen liessen, wenn diese an den See kamen, um ihren Durst zu stillen. Einzig wenn Elefanten auftauchten, vereinigten sich die Bewohner zu einem gemeinsamen Lärmkonzert mit Pauken, Posaunen und Zimbeln, um die grossen Kühe zu vertreiben, welche mit ihren Rüsseln die kostbaren Balsamsträucher niederrissen. Nicht selten gelang es ihnen, das eine oder andere grosse Tier zu erlegen. Die nichtjüdischen Dorfbewohner freuten sich über das viele Fleisch und für die Beta Israel, für die der Verzehr von Elefantenfleisch nicht infrage kam, waren die Stosszähne der Tiere ein willkommener Nebenverdienst.

Der grosse Strom war erst beim Austritt aus dem Genezesee blau. Dort, wo das Wasser in den See stürzte, war es hingegen gelbbraun-grau. Simon konnte stundenlang im Schatten von Zypressen auf einem Felsen sitzen und in das tosende Wasser blicken. Er wusste, dass sich der grosse blaue Strom auf seiner Reise zum Meer mit einem weissen ebenso grossen Strom vereinigte und dass der vereinigte Strom durch das Land der Pharaonen floss. Der Junge dachte an das Moseskind in seinem Körbchen, das die Pharaotochter gefunden und zu sich genommen hatte. Wenn Simon nicht gerade in seinen Träumen den Strom bis ins Meer begleitete, spielte er gerne mit den Affen, die auf den Felsen herumtollten und sich ihm neugierig näherten. Papa hatte Recht, sie lebten im Paradies. Er hätte sich nicht gewundert, wenn in der Abendkühle Gott persönlich herumspaziert wäre und sich mit ihm unterhalten hätte. Ein Bäumchen, das ein arabischer Händler aus Indien mitgebracht hatte, trug seit einigen Jahren wunderbare Früchte. Mungo, Mango oder so ähnlich hatte der Händler die Früchte genannt – das musste der Baum mit den verbotenen Früchten sein. Simon genoss diese Mungos oder Mangos in vollen Zügen, sie schmeckten himmlisch. Später, nachdem sie aus dem Paradies hatten fliehen müssen, sollte er noch oft an diesen Baum denken.

Auf dem grossen Genezesee gab es mehrere Inseln. Auf der Eliminsel hatten Mönche ein Beta-Israel-Kloster erbaut. Simon ruderte mit seinem amharischen Freund Zafi gerne in einem aus Papyrus zusammengeschnürten schmalen schnellen Boot zu den Mönchen. Auf ihrer Bootsfahrt hielten sie jeweils Ausschau nach winzigen Ohren, die aus dem Wasser schauten. Nach einem amharischen Sprichwort sieht man bei grossen Gefahren oft nur die kleinen Ohren der Flusspferde; diese waren für die Menschen die grössere Gefahr als die Krokodile. Wenn die Kolosse nämlich auftauchten und ihr riesengrosses Maul aufrissen, wirkte der offene Rachen zwar wie gemütliches Gähnen, doch dass die träge im Wasser liegenden Flusspferde eine tödliche Gefahr sein konnten, hatten sowohl Fischer als auch Frauen, die am Ufer Kleider wuschen, schon erfahren. Den aus dem Wasser ragenden Ohren wich man also lieber aus. Die Buben fühlten sich allerdings sicher, weil sie wussten, dass sie mit ihrem Boot schneller waren als die Flusspferde, die schlechte Schwimmer waren. Auf dem Land dagegen waren die Kolosse äusserst schnell. Tagsüber hielten sich die Flusspferde jedoch im Wasser auf.

«Warum nennt man diese unförmigen Kolosse eigentlich Pferde?», fragte Zafi seinen Freund Simon eines Tages auf der Fahrt zu den heiligen Männern.

«Tauchschwimmer sagen, dass die Tiere unter Wasser tatsächlich wie Pferde aussehen», wusste Simon zu berichten, «aber das wollen wir lieber nicht überprüfen. Mein Grossvater, der Arzt, warnt uns davor, in unserem schönen See zu tauchen, jedenfalls in Ufernähe. Da gibt es nämlich diese winzigen Blutegel, die sich am menschlichen Körper festsaugen, in ihn eindringen und ihren Weg in die Lunge, die Nieren und die Leber oder ins Gehirn finden, was zu einem ganz langsamen, qualvollen Tod führt. Diese Blutegel hassen die Wasserströmung.»

«Verstehe», meinte Zafi, «darum wäscht sich niemand im Schilfdickicht, sondern gehen alle nur an Stellen, wo man die Strömung des Stromes spürt wie zum Beispiel hier.»

«Genau», antwortete Simon.

Sie schauten sich gründlich um. Es waren weder kleine Ohren noch die Bewegung von Krokodilen zu sehen.

«Na dann!»

Die Buben entledigten sich ihres baumwollenen Schamma-Umhangs und warfen sich mit einem Kopfsprung ins Wasser. Sie schwaderten und spritzten, achteten dabei aber auf jede Bewegung im Wasser und stiegen dann möglichst schnell wieder ins Boot.

«Ich möchte nicht als Krokodilmahlzeit enden», lachte Simon.

«Wir werden Vater und Mutter nicht sagen, warum wir so frisch und sauber riechen», meinte Zafi.

Die Menschen aus Kaparnum gingen meist im Brodelbecken des Wasserfalls schwimmen, dort gab es weder Blutegel noch Krokodile oder Flusspferde. Allerdings konnte man dort auch kaum miteinander reden; das Gebrüll des Wasserfalls verunmöglichte ein Gespräch.

In der Kühle des Morgens arbeiteten die heiligen Männer auf den Feldern ihrer Insel. Später, in der Tageshitze, hielten sie sich im kühlen Kloster auf, wo sie ihren ergreifenden Gesang in der alten heiligen Sprache Ge’ez mit dem sanften Rauschen des Wasserfalls vereinigten, das über den See bis zur Eliminsel hinüber tönte. Simon war überzeugt, dass Mose Ge’ez gesprochen hatte; jedenfalls war die Thora der Beta Israel in dieser Sprache niedergeschrieben worden. In heiliger Andacht malten die Mönche Buchstaben um Buchstaben auf Papyrusblätter. Ihre Thorarollen waren in den Mesgiden im aksumischen Königreich sehr begehrt. Wenn die Mönche im Kloster nicht sangen oder schrieben, sassen sie einfach stundenlang am Boden, atmeten ruhig, entleerten ihr Inneres von menschlichen Begehrlichkeiten und liessen sich vom Geist Gottes erfüllen. Die kraushaarigen, bärtigen, meist jungen heiligen Männer liessen sich mit keiner Regung anmerken, dass sie die Anwesenheit der beiden Buben wahrgenommen hatten. Der Jude Simon und der Amhare Zafi setzten sich mit untergeschlagenen Beinen zu ihnen und taten es ihnen gleich: einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, den Geist Gottes einatmen, menschliche Begehrlichkeiten ausatmen. Die Buben liebten diese Stille. Beide hatten längst beschlossen, selber eines Tages Mönche zu werden. Allerdings war für Simon klar, dass das für den Noch-nicht-Juden Zafi schwierig sein würde.

«Ich weiss», sagte dieser, «mein Pisseschnabel muss zuerst so aussehen wie deiner, sonst nehmen sie mich hier nicht auf. Und das soll bei grossen Buben und Männern arg weh tun. Aber über euren Glauben weiss ich schon viel.»

Am Sabbat versammelten sich die Beta Israel in festlich weissen Schamma-Überwürfen, den Kopf mit zylinderförmigen Kofias bedeckt, in der Mesgid von Kaparnum zu Gesang, Gebeten und Schriftlesungen in der alten heiligen Ge’ez-Sprache. Zafi begleitete seinen Freund oft zu diesen Gebetsversammlungen. Die Predigt hielt meistens der Kahen, doch war es auch ehrwürdigen Männern wie Simons Grossvater erlaubt, das Wort zu ergreifen. Wenn die Alten etwas besprechen wollten, das die Jungen nicht verstehen sollten, wechselten sie von der amharischen Landessprache auf Ge’ez, was der intelligente Simon allerdings bald einmal verstand. Während der Woche brachte der örtliche Kahen den Buben nämlich das Lesen und Schreiben der heiligen Sprache sowie der neuen Weltsprache Griechisch bei. Bauern brauchten nicht Griechisch zu lernen; wer dagegen im Handel tätig war und mit Arabern und Menschen aus dem grossen römischen Reich Umgang hatte, musste des Griechischen mächtig sein. Zafi machte begeistert mit.

In der Mesgid lernte man sehr viel über die Geschichte der Beta Israel. Angefangen hatte es mit der Königin Makeda von Saba, wie das aksumische Königreich vormals hiess. Die Königin hatte von der Weisheit Salomos gehört. Sie hatte mit einer grossen Karawane die beschwerliche Reise nach Israel unternommen, um den einzigartigen König kennenzulernen. Makeda und Salomo verliebten sich ineinander. Nach ihrer Rückkehr nach Saba gebar Makeda Menelik, den Sohn Salomos. Als Menelik gross war, schickte die Mutter ihn zu seinem Vater nach Jerusalem. Als Beweis für die Vaterschaft diente der kostbare Ring, den Salomo seiner Geliebten geschenkt hatte. Salomo war von seinem Sohn hell begeistert. Er erzog ihn zu einem Juden und wollte ihn zu seinem Nachfolger bestimmen, doch Menelik hatte seiner Mutter versprochen, wieder nach Hause zurückzukehren. Schweren Herzens liess Salomo ihn ziehen, gab ihm aber zwölftausend junge jüdische Männer mit, die sich in Saba mit einheimischen Frauen zusammentaten. Ein ganz besonderes Geschenk hatte Menelik allerdings nicht von seinem Vater erhalten, sondern das hatte der junge Prinz sich selber angeeignet: Er hatte aus dem Tempel in Jerusalem die heilige Bundeslade mit den beiden Steintafeln mit den zehn Geboten gestohlen, die sich bis heute im Heiligtum von Aksum befinden.

Eine weitere grosse jüdische Einwanderungswelle folgte aufgrund des Untergangs des israelitischen Nordreichs und der Verschleppung der Nachkommen von zehn von ursprünglich zwölf Stämmen im Jahr 3039 nach jüdischer Zählung. Neun dieser zehn verschleppten Stämme gingen endgültig verloren – wahrscheinlich lösten sie sich in der Völkerwelt auf. Der Stamm Dan dagegen gelangte nach Irr-, Wirr- und Leidenswegen schliesslich ins aksumische Königreich zu den Beta Israel mit dem Heiligtum in der Hauptstadt Aksum. So wurde das aksumische Königreich ein zweites Israel.

Unter der amharischen Bevölkerung war Zafi mit seiner Vorliebe für den Glauben der Beta Israel keine Ausnahme. Auch die Amharen fühlten sich als Teil der Geschichte Königin Makedas mit König Salomo und dem gemeinsamen Sohn Menelik.

Wenn sie sich bei den heiligen Männern aufhielten, gelang es weder Simon noch Zafi, bei dem stundenlangen bewussten Einatmen und Ausatmen nur an Gott zu denken. Besonders Zafi versank immer wieder in Träumereien über die Geschichte seiner Vorfahren und derjenigen seines Freundes Simon. Er dachte an die Liebesbeziehung zwischen Makeda und Salomo. Zafi war etwas älter als Simon und hatte bereits eine schöne tiefe Stimme. An Mädchen war er sehr interessiert. Wie das mit Liebesbeziehungen sein würde, wenn auch er einmal ein heiliger Mann wäre? Die Beta-Israel-Mönche lebten frauenlos. Frauen durften zwar die Insel Elim betreten, nicht aber das Kloster. Auf anderen Inseln war es genau umgekehrt, da gab es heilige Beta-Israel-Frauen ohne Männer. Ob es nicht auch gemischte Klöster geben könnte? Er nahm sich vor, die Mönche zu fragen.

Den Buben war es jedes Mal ein Rätsel, wie die heiligen Männer alle gemeinsam wussten, wann genau das meditative Sitzen und Atmen zu Ende sei. Wie auf ein Kommando erhoben sie sich auch diesmal feierlich, strahlten die beiden Gäste an und luden sie zu einem Trunk aus verkohlten Bunabohnen ein. Die Bunakohlen wurden aus Beeren hergestellt, deren bitteres Fleisch einen bohnenartigen Kern umgab. Diese Bohnen wurden über dem Feuer zu Kohlen gebrannt, die dann zu Pulver zerstossen als Heilmittel oder mit heissem Wasser aufgegossen als Getränk verwendet wurden. Die Mönche verwöhnten die Jungs nicht nur mit Kohlentrunk, sondern auch noch mit Paradiesfeigen. Die Paradiesfeigen stammten ursprünglich aus einem Land, das noch weiter entfernt war als Indien. Seefahrer hatten die Pflanzen zu den Beta-Israel-Mönchen im aksumischen Reich gebracht. Im Elimklostergarten erreichten die Bäume mit den wunderschönen grossen schirmartigen Blättern eine beachtliche Höhe. Die seltsam krummen Früchte, die zur Reifezeit gelb wurden, hingen in handförmigen Büscheln an den Bäumen, an jeder Hand bis zu zehn nach oben gestreckte krumme Fruchtfinger. Die heiligen Männer assen untertags nichts, sie tranken lediglich das Kohlenwasser.

«Wir Mönche nehmen nur eine einzige Mahlzeit zu uns, am Morgen, bevor wir auf den Feldern arbeiten gehen», erklärte Bruder Henoch den Jungs. Er war ein junger Mönch mit wunderschönen dunklen Augen, die freundlich aus einem Gesicht mit Wuschelhaar und dem bei den Beta Israel typischen Bart leuchteten. Die Amharen hatten hingegen fast keinen Bartwuchs.

Zafi fasste sich ein Herz und sagte: «Bruder Henoch, du bist ein junger schöner Mann, in den sich manche Frau verlieben würde. Ich sehe dich manchmal am Festland, du hast doch sicher eine Freundin – es sei denn, deine männlichen Begehrlichkeiten seien abgestorben.»

Simon erschrak. So etwas sagte man nicht zu einem heiligen Mann. Er sah die Mönche jedoch lachen und sich belustigt über ihre Beta-Israel-Bärte streichen. Bruder Henochs weisse Zähne blitzten, als er sagte: «Junger Freund, ich schliesse aus deinen Bemerkungen, dass du bereits einige Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht hast.»

Zafi nickte verschämt.

«Genau wie ich in deinem Alter», erwiderte der heilige Mann lächelnd. «Wenn diese Begehrlichkeiten erst einmal erwacht sind, schlafen sie nicht einfach ein. Das ist bei uns Mönchen nicht anders. Aber es gibt für uns Asketen ein gutes Mittel, über diesen Begehrlichkeiten zu stehen. Wenn solche Lüste über mich kommen, verzichte ich mehrere Tage lang auf meine einzige Tagesmahlzeit. Bereits am dritten Tag denke ich nicht mehr an Frauen, sondern nur noch ans Essen, und vom fünften Tag an nicht einmal mehr ans Essen, sondern nur noch an Gott. – Ihr seht also, Jungs, es ist ganz einfach.» Dann wandte er sich an Simon: «Sohn des Menachem, vermeide die Erfahrungen deines Freundes und du wirst Ruhe haben. Wecke nicht den schlafenden Löwen. Ihr seid beide ganz tolle Jungs und es ist euch ernst damit, eines Tages endgültig zu uns zu ziehen und nur noch für Gott zu leben. – Jetzt aber ist es für euch Zeit, in euer Boot zu steigen und zurückzurudern. Der Tag geht dem Ende entgegen und ich will, dass ihr zu Hause seid, bevor die Flusspferde aus dem Wasser steigen.»

Vom Paradies zur Hölle

«Mein Sohn», eröffnete Vater Menachem Simon wenige Tage nach Simons und Zafis Bootsreise, «ich werde mich wieder für längere Zeit von zuhause verabschieden. In Kyrene warten sie auf meine Karawanen: auf das weisse Gold, auf Grossvaters Arzneien und auf die Elefantenzähne. Das Salz muss ich mir allerdings zunächst einmal beschaffen. Deine Brüder werden sich freuen, dich endlich wieder einmal zu sehen, ich nehme dich nämlich mit in die Salzwüste zum Salzstechen.»

«Ich weiss nicht, ob es gut ist, unseren Jüngsten zu seinen Brüdern in die Salzwüste mitzunehmen», meinte Mutter Hanna besorgt. «Die Salzwüste ist der Eingang zu Hölle. Es ist furchtbar heiss und der Boden so brüchig, dass man von der Hölle verschlungen werden kann oder im Salz einsinkt. Und unser Sohn ist krank. Beim Sprechen beginnt seine Stimme zu krächzen. Ich werde mit ihm zu Grossvater gehen.»

«Ich weiss», erwiderte Menachem lachend, «Simons Stimme ist seltsam geworden, doch liebste Frau, das war bei unseren anderen jetzt erwachsenen Söhnen auch so. Unser Nachzügler hört auf, ein Kind zu sein. In ein paar Monaten wird er mit einer ganz besonders schönen Stimme in der Mesgid singen und bald einmal würdest du ein weiteres Mal Grossmutter werden, wenn Simon nicht längst beschlossen hätte, ins Kloster einzutreten.»

Hanna seufzte erleichtert. «Dass ich nicht selber darauf gekommen bin! Aber ich hatte halt nie den Stimmbruch. Und als Mutter wünscht man immer, dass die Söhne und Töchter Kinder bleiben.» Sie umarmte den Sohn. «Na, dann geh mit Papa, mein Liebling. Gott mit euch beiden.»

Simon war begeistert. «Darf Zafi auch mitkommen? Er möchte bestimmt auch gerne die unheimliche Farbenpracht der Hölle sehen.» Der Vater hatte nichts dagegen.

Menachem war meistens nur mit der Hälfte seiner Tiere unterwegs, die Muttertiere, die eben erst geworfen hatten, blieben jeweils im Paradies und warteten auf die nächste Reise. Auf der Hinreise waren die Tiere für den Ritt in die Hölle mit leichtem Gepäck beladen, lediglich mit den Lebensmitteln, welche die Brüder für die nächsten Monate benötigten. In der Hitzezeit würden die jungen Männer ohnehin zu ihren Frauen nach Kaparnum zurückkehren, denn die Temperaturen in der Hölle waren selbst in der etwas kühleren Periode kaum zu ertragen, aber auf dem Höhepunkt der Glutwelle war an das Salzstechen überhaupt nicht zu denken. Zudem wollten Asarja, Jabes, Gadi und Ramalja die Kinder sehen, welche ihre Frauen im Paradies unterdessen geboren hatten.

Wenn nichts dazwischenkam, würde die Reise in die Hölle eine Sabbatwoche dauern. Als am Himmel die ersten Sterne aufleuchteten und der Sabbat somit zu Ende war, brachen sie auf. Den nächsten Sabbat würde Simon bereits mit den Brüdern feiern. Auf dem ersten Kamel sass Vater Menachem, auf dem zweiten sassen die beiden Freunde Simon und Zafi und den Schluss machte Onkel Ibrahim auf dem dreissigsten Kamel. Mit dabei waren auch Berhane und Hawi, zwei amharische Knechte. Vater, Onkel und Knechte waren bewaffnet – man konnte nie wissen. Auch die Jungs hatten Speere und Schwerter bei sich. Die beiden unterhielten sich auf ihrer Schaukelreise über die Natur ihrer treuen Transport- und Reittiere. Wie konnten diese in grosser Hitze tagelang ohne zu trinken munter weiterziehen? Zafi war der Ansicht, die Höcker der Kamele seien so etwas wie ein Wasserspeicher. Dem widersprach Onkel Ibrahim. Von seinem Vater, dem Arzt, wusste er, dass die Höcker der Kamele ein Fettspeicher waren, von dem die Tiere zehren konnten, wenn es nichts zu fressen gab. Auch war ihr Kot trocken, denn der Kameldarm entzog dem Kot die Feuchtigkeit. Ähnlich verhielt es sich beim Urin: Solange sie unterwegs waren, gaben die Kamele kaum Urin ab; das Wasser wurde aus der Blase ohne die giftigen Substanzen wieder in den Körper zurückbefördert. Wenn die Kamele dann aber wieder tranken, schieden sie anschliessend grosse Mengen des Konzentrats stinkender Schadstoffe aus.

Am ersten und zweiten Tag schaukelten die Reisenden aus Kaparnum auf ihren Kamelen vorbei an Getreidefeldern und Gemüseplantagen, durch Zypressenwälder und über weite Graslandschaften. Letztere waren Simon und Zafi als Kamel- und Rinderhirten bestens vertraut.

Die Zebras und Giraffen dort schienen sich für die Karawane zu interessieren. Furchtlos näherten sie sich den Menschen und Kamelen. Vater, Onkel und Knechte waren verblüfft. «So nahe sind die Wildtiere noch nie zu uns gekommen.»

Zafi und Simon schauten einander vielsagend an. «Die Zebras und Giraffen kennen die Gesichter der Menschen.» Beide stiegen von ihrem Kamel und traten auf die Giraffe zu, die der Karawane am nächsten stand.

«Das ist Zelia», stellte Simon die Giraffe vor. Zelia neigte ihren Kopf an dem langen Hals zu den Burschen. Simon kraulte den Giraffenkopf, was die Giraffe zu geniessen schien. Zafi drückt einen Kuss auf Zelias Nase. Die Reisebegleiter beobachteten die Szene mit ungläubigem Staunen. Sie waren erst recht fassungslos, als sich Zebras herbeidrängten und ebenfalls gestreichelt und getätschelt werden wollten.

«Wenn wir als Hirten hier draussen sind, freunden wir uns mit den Wildtieren an», erklärte Zafi. «Zelia sind wir bei einer schweren Geburt beigestanden. Wir haben ihr Baby aus dem Mutterleib geholt. Das vergessen die intelligenten Tiere nie.»

«So etwas können nur Männer, welche Klosterbrüder werden wollen», stotterte Menachem. «Wie hat das alles angefangen? Von wem habt ihr das gelernt?»

«Von den Hyänen und den Affen. Die Hyänen waren die ersten, die wir gefüttert haben», erzählte Simon.

«Ihr habt Hyänen gefüttert?!», brauste der Vater auf. «Seid ihr eigentlich lebensmüde?»

«Oh, die tun uns nichts zuleide, die fressen uns aus der Hand. Und mit den Affen verstehen wir uns auch ganz gut.»

Die Begleiter waren sprachlos. Knecht Berhane war der erste, der die Sprache wieder fand. «Wenn ich das nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es nicht glauben.» Immer mehr Zebras und Giraffen versammelten sich um die Karawane.

«Papa, du sagst immer wieder, dass wir im Paradies sind. Glaub doch endlich, was du sagst!»

Man sah es den Männern an: Sie wären am liebsten noch lange im Paradies geblieben, doch die Zeit drängte. Wenn sie vor Anbruch des nächsten Sabbats in der Hölle sein wollten, mussten sie weiterziehen.

Weiter als bis in die Steppe waren Simon und Zafi als Hirten noch nie gekommen. Kaparnum und die Steppe lagen in der gleichen Klimazone. Kaparnum lag im Hochland, das Ziel der Reisenden jedoch, die Salzwüste, befand sich im ostafrikanischen Grabenbruch unterhalb des Meeresspiegels. Die Hitze wurde mit jedem Tag stärker. Aber noch gab es Bäume, dickstämmige Baobabbäume mit ausladenden Ästen, die aussahen wie ein gewaltiges beblättertes Wurzelwerk.

«Tolle Bäume, komische Äste», fanden die Jungs.

Menachem lachte: «Man sagt, dass der Teufel die Baobabbäume gepflanzt hat. Dumm, wie der Teufel nun einmal ist, hat er sie verkehrtherum eingepflanzt, mit den Wurzeln nach oben.»

«Warum haben wir keine derartigen Bäume?», fragte Zafi.

«Bei uns kann es zu gewissen Zeiten nachts kühl werden», erklärte Menachem, «das ertragen die Affenbrotbäume, wie sie auch genannt werden, nicht.»

«Sind die Baobab nützliche Bäume?», wollte Simon wissen.