Über die Wahrheit - Thomas Rolf - E-Book

Über die Wahrheit E-Book

Thomas Rolf

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Beschreibung

Die Frage nach der Wahrheit ist ein zeitloses philosophisches Thema. Das Buch nimmt dieses Thema auf und präsentiert eine realistische Philosophie der Wahrheit. Unter Rückgriff auf die Neue Ontologie des heute nahezu vergessenen Denkers Nicolai Hartmann (1882-1950) geht es darum, die Idee der Wahrheit gegen skeptische und relativistische Auflösungsversuche zu verteidigen.

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INHALTSVERZEICHNIS

Wahrheit: Der weiße Wal der Philosophie

1. Wahrheit und Alltäglichkeit

1. Natürlich gibt es die Wahrheit

-

2. Instinkt und Expertise

3. Die Wahrheit sagen: Ein Beispiel

4. Die Nachdenklichkeit des Epimetheus

5. Alltäglichkeit und Echtheit

6. Über Unsichtbarkeit und Nichtsein

7. White submarine: Die Hintergründigkeit der Wahrheit

8. Wahrheit, Sprache, Medialität: Eine Annäherung

9. Der Weg ist der Weg, das Ziel ist das Ziel

2. Viele Meinungen – eine Wahrheit

1. Es gibt keine ›Wahrheiten‹

2. Das Meine, das Deine und das Wahre

3. Ohne Maß und Zahl

4. Für-wahr-Halten und Wahrsein

5. Evidenz ist kein Wahrheitskriterium

6. Wirklichkeit, Geist, Wahrheit

7. Wie sich die Subjektivität einfügt

8. Wahre Aussagen, wahre Vorstellungen, Wahrheit

9. Ist Wahrheit ›Unverborgenheit‹?

10. Noch einmal zurück in den Alltag

3. Über das Wesen der Wahrheit

1. Wesentliches und Unwesentliches

2. Wahrheit als Beziehung

3. Über einige Zusammenhänge zwischen Geist und Welt

4. Wie die Welt sich selbst begegnet

5. Die Normalität des Treffens und der Geist des Prometheus

6. Zwischenfazit

4. Wahrheit und Erkenntnis

1. Die Fragen des Skeptikers

2. Berechtigte Zweifel?

3. Die Bedeutung der Relativität

4. Erkannte Wirklichkeit, seiende Wahrheit

5. Idole der Wahrheit

1. Die Wahrheit ist keine Erfindung

2. Die nackte Wahrheit und der Kommentar

3. Du bist, was Du bist: Mephistophelische Evidenz

4. Informieren und Kommunizieren

5. Kommunikation: Gemeinschaft, Teilhabe, Teilen

6. Kontakt mit der Sache: Vom Sinn der Recherche

7. Gedanken über die Lüge

8. Jenseits der Wahren: Empfinden, Gebieten, Fordern

9. Ob die Wahrheit nutzt oder schadet

10. Die Wahrheit ist nicht verhandelbar

Finale: Keine Angst vor der Wahrheit

Literatur

Personenregister

WAHRHEIT: DER WEISSE WAL DER PHILOSOPHIE

Dieser Essay behandelt eine Grundfrage der Philosophie: Was ist die Wahrheit? So direkt formuliert erscheint diese Frage überheblich. Doch der Eindruck täuscht. Denn trotz der Aura, welche die Wahrheit umgibt, handelt es sich um ein normales Sachthema, über das sich in verständlicher Weise etwas sagen lässt.

Ich werde in diesem Essay darstellen, warum der übergroße Respekt, den manche Menschen vor der Wahrheit haben, ebenso übertrieben ist wie das Zerreden der Wahrheit in privaten oder öffentlichen Meinungen. Beide Tendenzen hängen in ihrer jeweiligen Einseitigkeit zusammen. Die einen heben die Wahrheit auf einen Sockel, die anderen haben Spaß daran, sie von dort oben herunterzustoßen und am Boden zu zerstampfen. Was aber, wenn die Wahrheit ihrer eigenen Natur nach weder Überhöhung noch Erniedrigung zuließe? Was, wenn sie weder großartig noch nichtig wäre? Tatsächlich gehe ich davon aus, dass es so ist. Und deshalb bewegen sich meine Gedanken über die Wahrheit jenseits euphorischer Überhöhungs- und nihilistischer Zerstörungslust.

Seit den Anfängen der abendländischen Philosophie ist die Wahrheit ein bleibender Gegenstand des Denkens – ein Thema, das buchstäblich nicht totzukriegen ist. Die Wahrheit gleicht in ihrer stillen Kraft und Unverwundbarkeit dem weißen Wal im weltberühmten Roman Moby-Dick oder Der Wal von Herman Melville (1819-1891). Zwar kann man, wie es der fanatische Ahab als Kapitän des Walfangschiffs ›Pequod‹ versucht, Jagd auf die Wahrheit machen – aber man darf getrost davon ausgehend, dass der weiße Wal der Philosophie diese Angriffe schadlos überstehen wird. Während einige Interpreten von Melvilles Roman in Ahabs Besessenheit ein Gleichnis für die verzweifelte Suche des Menschen nach Erkenntnis und Erfüllung sehen, betrachte ich sie als Sinnbild für den Versuch, sich der Wahrheit philosophisch zu entledigen. Die Ahabs der Philosophie segeln unter den Flaggen von Skeptizismus, Relativismus, Idealismus oder Konstruktivismus – wobei die ersten Fangschiffe bereits in der antiken Philosophie unterwegs sind, z.B. bei den griechischen Skeptikern und Sophisten, während andere, etwa die der Postmodernisten, erst vor wenigen Jahrzehnten in See gestochen sind. Man kann also sagen, dass die Ozeane der Philosophie von Seefahrern wimmeln, die wild entschlossen sind, den weißen Wal der Wahrheit zur Strecke zu bringen. Und trotz aller Unterschiede im Detail stimmen die philosophischen Walfänger darin überein, dass sie im Namen ihrer je eigenen theoretischen Ideale Jagd auf die Idee der Wahrheit machen. Nun macht Melvilles Roman allerdings auf dramatische Weise deutlich, dass der Kampf gegen den weißen Wal zum Scheitern verurteilt ist. Ahab verfängt sich nach mehrtägigem zähen Ringen mit Moby Dick im Seil seiner Harpune und wird auf dem Rücken des Tieres in die Tiefen der See hinabgezogen.

Den philosophischen Wahrheitsjägern ergeht es nicht anders. Auch sie bleiben gegen ihren Willen an die Wahrheit gebunden. Der Grund dafür ist einfach: Jede philosophische Theorie zielt darauf, die Wahrheit zu vertreten. Auch Theorien, die sich in Gestalt von Skeptizismus, Relativismus oder Konstruktivismus inhaltlich gegen die Wahrheit richten, müssen dies im Namen der Wahrheit tun.1 Ahabs zorniger Ausruf lautet bekanntlich: »Tod dem Moby Dick!«.2 Und wer in der Philosophie mit dem Slogan »Es gibt keine Wahrheit« den Tod der Wahrheit ausruft, den ereilt das Schicksal Ahabs: Er bindet sich gerade damit selbst an die Wahrheit und wird mit dieser in die Tiefe des Selbstwiderspruchs hinabgerissen. Die Sache ist die: Sollte es die Wahrheit tatsächlich nicht geben, dann wäre die Behauptung des philosophischen Ahab, nun ja: wahr! Man kommt in der Philosophie nicht um den Anspruch auf Wahrheit herum, so sehr man sich auch von ihm freizumachen versucht.

Um die eigentümliche Resistenz der Wahrheit wissen die Menschen nicht erst durch philosophische Theorien, sondern unmittelbar aus alltäglicher Erfahrung. Bereits in banalen Konfliktsituationen, in denen es oberflächlich um Rechthaben und Rechtbehalten geht, ist die Frage nach der Wahrheit im Spiel. Ähnliches gilt dort, wo Menschen belogen werden oder sich täuschen. Lüge und Irrtum verweisen indirekt darauf, dass die Wahrheit inmitten menschlicher Alltagserfahrungen jederzeit präsent ist. Die Wahrheit hat überzeitliche Aktualität – und ein Ziel dieses Essays besteht darin herauszufinden, was es mit der eigenartigen Präsenz der Wahrheit auf sich hat.

Wer sich über die Wahrheit Gedanken macht, muss das Rad nicht neu erfinden. Philosophen unterschiedlicher Epochen und Denkrichtungen haben maßgeblich zur Erkenntnis der Wahrheit beigetragen. Einige dieser Erkenntnisse sind in meinen Essay eingeflossen, und ich habe hier und da auch deutlich gemacht, welche philosophischen Meinungen über die Wahrheit ich teile bzw. für falsch halte. Da ein Essay jedoch kein Fachbuch ist, habe ich auf eine schulmäßige Darstellung der verschiedenen philosophischen Wahrheitstheorien verzichtet.3 Meine Gedanken orientieren sind eher am durchschnittlichen menschlichen Sachverstand. Es geht mir nicht darum, eine neue Wahrheitstheorie anzubieten. Ich möchte lediglich jene Merkmale der Wahrheit etwas klarer herausstellen, die dem Leser aus dem Alltagsbewusstsein heraus bereits in groben Zügen bekannt sind.

Dieses Verfahren hat aus meiner Sicht den Vorteil, dass es am Bekannten ansetzt, dieses aber zugleich stärker als üblich systematisiert. Das Alltagswissen bezüglich der Wahrheit liegt nicht in gedanklich scharfer Form vor; es hat weniger den Charakter von Erkenntnissen als vielmehr den von Gefühlen, Vermutungen und Ahnungen. Ich halte diesen irrationalen Charakter des Alltagsbewusstseins aber nicht für einen Mangel, der durch philosophische Theorien beseitigt werden muss. Im Gegenteil: Ich denke, dass vernünftige Antworten auf die Wahrheitsfrage aus dem Halbdunkel menschlichen Alltags heraus zu entwickeln sind. Hier hat die Wahrheit ihren Ursprung, und auch nur von hier aus gewinnt sie, wie auch immer man sie später theoretisch fasst, ihre existenzielle Bedeutung. Der Essay beginnt daher im ersten Kapitel mit Überlegungen zum Verhältnis von Wahrheit und Alltäglichkeit.

Natürlich ist die Wahrheitsfrage nicht in dem Sinne alltäglich, dass Menschen ständig mit ihr konfrontiert sind. Explizit kommt die Frage, was Wahrheit ist, im Alltag nur selten vor. Doch obwohl die Wahrheit eher nicht zu den gängigen Lebensproblemen zählt, entspringt das gefühlte Wissen von ihr dennoch der Normalität unserer Existenz. Im Alltag leben Menschen ganz praktisch mit der Wirklichkeit der Wahrheit – was sich etwa dort zeigt, wo jemand im Gespräch etwas Wahres sagt. Zwar hat der Mensch im Alltag, anders der professionelle Philosoph, keine Theorie darüber, was er tut, wenn er die Wahrheit sagt oder anderweitig mit ihr in Berührung kommt. Zugleich aber spricht nichts dagegen, dem menschlichen Alltagsbewusstsein in Sachen Wahrheit zu einer möglichst klaren Artikulation seiner selbst zu verhelfen.

Wo sonst, wenn nicht in der Normalität des Alltags, sollte uns die Wahrheit begegnen? Die Vorstellung, dass es im Alltag nur unreife Meinungen, im Bereich philosophischer Theorie dagegen unerschütterliches Wissen über die Wahrheit gibt, ist mit Sicherheit falsch. Einerseits nämlich sind philosophische Wahrheitstheorien in ihren Argumentationen und Resultaten oft dermaßen erfahrungsfern, dass man ihnen beim besten Willen keinen praktischen Erkenntniswert zubilligen kann – ich gehe auf diesen Punkt im fünften Kapitel unter dem Stichwort ›Idole der Wahrheit‹ näher ein. Andererseits sind natürlich auch die Philosophen normale Bewohner des Alltags. Auch sie bekommen es ganz praktisch mit der Realität der Wahrheit zu tun, bevor sie, von diesen Erfahrungen ausgehend, über die Wahrheit nachzudenken beginnen.

Die Wahrheit hat ihren Ort nicht im einsamen Geist der Denkenden, Sprechenden oder Schreibenden. Man kann von theoretischer Warte aus viel über die Wahrheit sagen. Aber letztlich muss man, und zwar vor aller gezielten Reflexion, die Wahrheit irgendwie erfahren haben, damit das, was man philosophisch über sie äußert, nicht abstrakt bleibt. Die Grenzlinie des Wissens über die Wahrheit verläuft nicht zwischen Experten und Laien; und daher besteht auch keine Notwendigkeit, philosophische Theorie und Alltagswissen in einer Darstellung der Wahrheit voneinander zu isolieren. Ich habe mich in diesem Essay jedenfalls bemüht, beide Perspektiven möglichst eng miteinander zu verbinden.

Das normale Leben, in dem die Wahrheit ihren Sitz hat, ist durchaus einer zumindest teilweisen Aufklärung fähig. Das gilt auch für jenes diffuse Wissen über der Wahrheit, das die Menschen auch ohne philosophische Vorkenntnisse besitzen. Es ist ein Irrtum zu glauben, jemand kenne eine Sache nur dann, wenn er über eine Theorie dieser Sache verfügt. Der normale Mensch, so möchte ich behaupten, kennt die Wahrheit, aber er kennt sie nicht als Theoretiker. Jeder Mensch lebt mit der Wahrheit ebenso wie mit Lüge oder Irrtum; nur dass eben nicht jeder zugleich klar sagen kann, womit genau er da eigentlich lebt. Die Stummheit des Alltagswissens und die Rationalität der philosophischen Theorie ergänzen sich also wechselseitig. Und während der Mensch im Alltag die Wahrheit in ihrer unmittelbaren Realität erfährt, kann ihm das gezielte philosophische Nachdenken Mittel an die Hand geben, um zu einer rationalen Einsicht in das von ihm Erfahrene zu gelangen.

Was ist die Wahrheit? Wer die Frage so stellt, fragt unmittelbar nach dem Wesen der Wahrheit. Tatsächlich steht die Wesensfrage, auf die ich im dritten Kapitel eingehe, im Zentrum meiner Überlegungen – und es wird sich zeigen, dass Philosophie und Alltagsbewusstsein bei der Beantwortung dieser Frage große Übereinstimmungen aufweisen. Zugleich aber hängt die Beantwortung der Frage von einem Bündel weiterer Probleme ab, die sich mit Blick auf die Aktualität des Themas ›Wahrheit‹ in den Vordergrund drängen. Die aktuellen Schlagworte sind bekannt: Fake News, postfaktisches Zeitalter usw. Ein jeder spürt wohl, dass die Wahrheit in ernsthafte Schwierigkeiten geriete, wenn in diesen Worten mehr als eine vorübergehende Mode zum Ausdruck käme.

Die skeptischen Fragen hinsichtlich der Wahrheit liegen auf der Hand, und man begegnet ihnen in alltäglichen Diskussionen immer wieder. Gibt es die Wahrheit überhaupt? Und selbst wenn ja: Können wir sie denn überhaupt erkennen und in Worte fassen? Ist es nicht vielmehr so, dass viele ›Wahrheiten‹ existieren, ja dass möglicherweise sogar jeder Mensch ›seine‹ Wahrheit hat? Ist das, was gemeinhin ›Wahrheit‹ genannt wird, vielleicht nur ein Wort, also eine menschliche Erfindung oder Ergebnis sozialer Konventionen? Und dann ist da schließlich noch die Frage des Relativisten: Ist das Wahre, sofern es denn existiert, tatsächlich über Räume und Zeiten hinweg identisch, oder ist es nur gültig in Bezug auf bestimmte Epochen, Kulturen, Weltanschauungen, ja letztlich sogar relativ auf einzelne Personen und deren jeweiligen Wissensstand?

Fragen wie diese dürfen aus mindestens zwei Gründen nicht ausgeblendet werden. Erstens drängen sie sich im Alltag viel unmittelbarer auf als die Wesensfrage (»Was ist die Wahrheit?«), die in ihrer Grundsätzlichkeit fast akademisch wirkt. Zweitens ist offensichtlich, dass die Frage nach dem Wesen der Wahrheit hinfällig wird, wenn sich die Wahrheitsskepsis als zutreffend erweisen sollte. Es ist kaum zu übersehen, dass die alltäglichen Meinungen, die über die Wahrheit im Umlauf sind, das gesamte Spektrum zwischen Skepsis und Gewissheit ausfüllen; das Alltagsbewusstsein weist diesbezüglich eine merkwürdige Ambivalenz auf, von der im zweiten Kapitel des Essays die Rede sein wird. Immerhin haben Meinungen die Eigenschaft, wahr oder falsch sein zu können. Und es wird sich im Verlauf des Buches zeigen, welche der vielen unterschiedlichen Meinungen über die Wahrheit die Probe auf die Wahrheit bestehen, also wahre Meinungen sind.

Dass ich in Bezug auf die angedeuteten skeptischen Fragen parteiisch bin, liegt auf der Hand. Wer würde schon ein Buch über die Wahrheit schreiben, wenn er überzeugt wäre, dass es sie nicht gibt, oder dass sich nichts Verbindliches über sie sagen lässt? Was die Wahrheit angeht, bin ich durch philosophisches Nachdenken sowie aufgrund zunehmender Lebenserfahrung zu einer klaren Position gelangt, die ich im einleitenden Satz dieses Essays so formuliert habe: »Nichts von alldem, was ich bislang gelesen oder gehört habe, kann mich jemals irre machen: Natürlich gibt es die Wahrheit!«. Das ist zunächst natürlich auch nur eine Meinung unter vielen anderen. Im Folgenden werde ich aber versuchen, sie so gut es geht zu begründen. Ich möchte in diesem Buch nicht nur aufzeigen, dass es die Wahrheit gibt, sondern auch ihre wesentlichen Eigenschaften darlegen. Es versteht sich, dass ich zu diesem Zweck die skeptischen und relativistischen Zweifel an der Wahrheit zerstreuen muss; und auch dies habe ich in meinem Essay versucht.

Dabei habe ich Hilfe von bedeutender Seite erfahren. Der Philosoph, ohne dessen geistigen Einfluss ich den Text in der vorliegenden Form nicht hätte schreiben können, ist Nicolai Hartmann (1882-1950). Meine Gedanken zur Wahrheit sind die Frucht einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Ontologie dieses heute fast vergessenen Denkers. Hartmanns Kategorienlehre war und ist für mich bis heute eine Schule klaren und problemorientierten Philosophierens. Seinen Werken zur Erkenntnistheorie, zur Philosophie des Geistes und der Natur sowie zum strukturellen Aufbau der Welt habe ich es zu verdanken, dass ich nach und nach zu einer realistischen Sicht auf die Wirklichkeit gelangt bin.

Trotz seines ehemals großen Ansehens stand Hartmann bereits in seiner Zeit im Schatten von Martin Heidegger (1889-1976); und als Denker einer neuen philosophischen Sachlichkeit4 geriet er nach seinem Tod, als der Existenzialismus, die Kritische Theorie sowie die aufkommende Analytische Philosophie dominierten, immer mehr ins Abseits. Gegenwärtig scheint sich dies zu ändern, und es spricht einiges dafür, dass es zu einer Renaissance von Hartmanns Philosophie kommen könnte.5 Das hängt u.a. damit zusammen, dass in der gegenwärtigen Philosophie realistische Positionen und ontologische Fragestellungen wieder mehr an Bedeutung gewinnen.

Bei meiner Beschäftigung mit Hartmann wurde mir klar, dass die Philosophie letztlich immer Ontologie ist: »Ein theoretisches Denken, das nicht im Grunde ontologisch wäre, gibt es in keiner Form und ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist offenbar das Wesen des Denkens, dass es nur »etwas«, nicht aber »nichts« denken kann. […] Das »Etwas« aber tritt jederzeit mit einem Seinsanspruch auf und beschwört die Seinsfrage herauf«.6 Hartmann hat an diesem Gedanken in allen seinen Werken festgehalten. Und auch ich habe mich bei meiner Beschäftigung mit der Wahrheit an diesem Grundsatz, dessen genauere Bedeutung im Verlauf dieses Buches deutlich werden wird, orientiert. Mein Essay atmet den Geist von Hartmanns Ontologie, und er kann als Beitrag zu ihrer Wiederentdeckung gelesen werden. Zwar ist das Buch ist nicht als Hartmann-Monographie angelegt.7 Ich nehme bei meinen Überlegungen zum Wahrheitsthema aber viele Einsichten Hartmanns in zusammenhängender Weise auf, so dass man beim Lesen einen Eindruck seiner zentralen philosophischen Ideen gewinnen kann. So oft es mir sinnvoll erschien, habe ich meine eigenen Gedanken durch Textstellen aus Hartmanns Schriften ergänzt. Längere Zitate finden sich vor allem in den Fußnoten, so dass es sich lohnt, auch diese zur Kenntnis zu nehmen.

Noch eine letzte Vorbemerkung. Mein Essay über die Wahrheit verfolgt keine weltanschaulichen Ziele. Wer ihn z.B. in der Erwartung liest, bestimmte politische Überzeugungen bestätigt zu finden, wird daher enttäuscht sein. Aus meiner Sicht ist die Philosophie (ähnlich wie die Kunst) als Instrument für ideologische Zwecke nicht geeignet. Ich betone dies, weil ich den Eindruck habe, dass sich gegenwärtig die gesellschaftspolitische Rolle der Philosophie – ebenso wie das entsprechende Selbstverständnis einiger Philosophen – in eine Richtung entwickelt, die der Eigenart philosophischen Denkens zuwiderläuft. Die Philosophie ist weder politisch korrekt noch inkorrekt; sie ist überhaupt nicht politisch in dem Sinne, dass sie an der »Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen« (Niklas Luhmann) beteiligt ist. Daher braucht sich die Philosophie auch nicht an aktuelle gesellschaftliche Trends anzuhängen, sei es um sie passiv mitzumachen oder aktiv mitzubestimmen. Was die Funktion der Philosophie angeht, halte ich es mit Arthur Schopenhauer (1788-1860), der schreibt: »Meiner Meinung nach ist alle Philosophie immer theoretisch, indem es ihr wesentlich ist, sich, was auch immer der nächste Gegenstand der Untersuchung sei, stets rein betrachtend zu verhalten und zu forschen, nicht vorzuschreiben«.8 Bei der Frage nach der Wahrheit kommt etwas anderes als eine theoretische Betrachtung ohnehin nicht in Frage. Kein Mensch kann anderen Menschen die Wahrheit vorschreiben. Und es gibt auch niemanden, der die Wahrheit besitzt, und dem man daher bloß hinterherzulaufen oder nachzusprechen hätte.

1 »Der Angriff auf die Wahrheit«, so der Philosoph Bernard Williams, »ist abhängig von diesen oder jenen Behauptungen, die ihrerseits für wahr gehalten werden müssen« (Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Frankfurt/M. 2013, 12). Williams verdeutlicht dies am Beispiel der Geschichtswissenschaft: »Die Vertreter der Ansicht, alle historischen Darstellungen seien ideologische Konstrukte, […] verlassen sich dabei auf eine Darstellung, die ihrerseits historische Wahrheit beanspruchen muss« (ebd., 11f.).

2 Herman Melville: Moby Dick. Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis, München 62023, 277.

3 Wer an einer solchen Darstellung interessiert ist, dem empfehle ich die Textsammlung von Gunnar Skirbekk (Hg.): Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1997 sowie die sehr gute systematische Einführung von Thomas Grundmann: Philosophische Wahrheitstheorien, Stuttgart 2018.

4 Dieses Attribut erhält Hartmanns Denken von Michael Landmann: Das phänomenologische Moment bei Nicolai Hartmann. In: Erkenntnis und Erlebnispunkt phänomenologische Studien, Berlin 1951, 39-84, 46.

5 Zur neueren Beschäftigung mit Hartmann vgl. Gerald Hartung, Matthias Wunsch, Claudius Strube (Hg.): Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie – Nicolai Hartmann, Berlin 2012; Roberto Poli, Carlo Scognamiglio, Frederic Tremblay u.a. (Hg.): The Philosophy of Nicolai Hartmann, Berlin 2011; Predrag Cicovacki: The Analysis of Wonder. An Introduction into the Philosophy of Nicolai Hartmann, New York/London 2014.

6 Nicolai Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin 41965, 4.

7 Wer eine gut lesbare Einführung in Hartmanns Denken sucht, dem empfehle ich Martin Morgenstern: Nicolai Hartmann zur Einführung, Hamburg 1997.

8 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Köln 2009, 244. Aus meiner Sicht ist die Philosophie die zwar nicht private, wohl aber persönliche Suche nach Erkenntnis auf der Grundlage unwillkürlicher Lebenserfahrung. Die Leitfrage der so verstandenen Philosophie lautet: »Was muss ich gelten lassen?« (Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg 2009, 11f.). Diese Frage richtet sich an mich; und jeder Leser denke hierbei bitte an sich! Man kann diese Frage in letzter Instanz nur in eigenem Namen stellen und gegebenenfalls beantworten, was aber natürlich nicht ausschließt, dass man in einem regen privaten und öffentlichen Gedankenaustausch mit anderen Menschen steht.

1. WAHRHEIT UND ALLTÄGLICHKEIT

1. Natürlich gibt es die Wahrheit

Nichts von alldem, was ich bislang gehört oder gelesen habe, kann mich jemals irre machen: Natürlich gibt es die Wahrheit! Ich verstehe einfach nicht, wie man ernsthaft daran zweifeln kann. Und noch weniger verstehe ich, warum jemand daran zweifeln sollte.

Zweifelt denn wirklich jemand daran? Ernsthaft glauben kann ich das nicht. Doch um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Jedenfalls fällt mir auf, dass manche Menschen sich irgendwie unwissend stellen, wenn das Gespräch auf die Wahrheit kommt. Sie tun dann oft so, als wüssten sie gar nicht, worum es geht. Oder sie winken müde ab, als wollten sie sagen: »Was, bitte schön, soll das sein, die Wahrheit?«.

Ich finde dieses Verhalten ziemlich merkwürdig. Aber ich habe bislang nicht herausfinden können, warum manche Menschen so reagieren. Gibt es vielleicht tatsächlich eine Art Angst vor der Wahrheit, wie man heute gelegentlich hört?9 Doch wovor genau hat man da eigentlich Angst? Ich bin kein Psychologe, aber eins erscheint mir sicher: Wenn es eine solche Angst gibt, so beweist doch gerade jemand, der sie hat, dass er auf irgendeine Weise mit der Wahrheit vertraut ist. Denn wie könnte er Angst vor etwas haben, das ihm gänzlich unbekannt ist?

Und doch ist da diese merkwürdige Haltung des Nichtwissens, die ich immer wieder registriere. Vielleicht hat sie ja mit jener Idee von Freiheit zu tun, auf die sich heutige Menschen berufen, wenn sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung einfordern. Diese Freiheit, die durch Gesetze gewährt und in ihrem Umfang wiederum durch Gesetze eingeschränkt wird, erstreckt sich auf ganz verschiedene Meinungsinhalte. Und natürlich ist auch die Wahrheit von der Freiheit, etwas über sie zu meinen und zu äußern, nicht ausgenommen. Vielleicht existieren gerade deshalb so viele Meinungen darüber, was die Wahrheit ist, weil es schlicht erlaubt ist, darüber etwas zu meinen. Andererseits kann die Meinungsvielfalt für manche Menschen auch ein Grund zur Irritation sein: Meine ich nur etwas, oder liege ich mit meiner Meinung, die ja nur eine unter vielen ist, auch tatsächlich richtig?

Einige Menschen scheinen in dieser Hinsicht dermaßen verunsichert zu sein, dass sie, um sicher zu gehen, die Wahrheit einfach für inexistent erklären. Das ist der Punkt, an dem ich in den Diskussionen über das Thema die Segel streiche. Wenn in solchen Debatten, die von der Wahrheit doch geradezu getragen werden, die Existenz der Wahrheit bestritten wird: Wie kann man da eigentlich noch sinnvoll weiterdiskutieren? Natürlich müssen solche Gespräche die Wahrheit nicht zum Gegenstand haben; es kann inhaltlich auch um ganz andere Themen gehen. Das Gespräch wird aber letztlich sinnlos, wenn unter den Debattierenden die Überzeugung herrscht, dass es in der Angelegenheit, über man streitet, die Wahrheit ohnehin nicht gibt.10

Es sei dahingestellt, ob ein Zusammenhang zwischen persönlicher Meinung und persönlicher Unsicherheit tatsächlich besteht. Klar ist, dass aus der gesetzlich gewährten Freiheit der Meinungsäußerung nicht zwangsläufig eine Vielzahl unterschiedlicher Meinungen zu irgendeinem Thema resultieren muss – man kann sich durchaus auch einig sein.11 Klar ist auch, dass sich ein Meinungsgegenstand nicht dadurch vervielfältigt, dass es eine Vielzahl von Meinungsträgern gibt. Wer das behauptet, für den liegt alles im sprichwörtlichen Auge des Betrachters. Und da es stets mehrere Betrachter gibt, muss sich für jemanden, der so argumentiert, auch die Wahrheit in eine Vielzahl von Meinungen zerstäuben. Die Vorstellung, dass es so sein könnte, ist tatsächlich ein wenig beängstigend. Zumindest nährt sie die Zweifel an der Wahrheit erheblich. Aber keine Angst, so ist es nicht. Es handelt sich, wie wir noch sehen werden, nur um eine Vorstellung – und vorgestellte oder gemeinte Realität ist nicht identisch mit Realität als solcher. Das gilt übrigens grundsätzlich: »Der Begriff der Welt ist nicht die Welt«.12 Der Begriff ›Regen‹ etwa macht niemanden nass, wirklicher Regen dagegen schon.

Dass in Sachen Wahrheit jeder Mensch seine Auffassung hat, ist übrigens trivial: Wessen Meinung soll er auch sonst haben! Das gilt für jede Meinung, die jemand hat. Immer ist er selbst derjenige, der ›seine‹ Meinung vertritt. Aus dieser Tatsache folgt allerdings nichts, was für die Wahrheitsfrage von besonderer Bedeutung wäre. Vor allem sagt es nichts über die Anzahl der Inhalte, die in den diversen persönlichen Meinungen kursieren. Man muss also klar unterscheiden zwischen dem Vertreten einer Meinung einerseits und dem Inhalt der Meinung, die jemand vertritt, andererseits. Nahezu alle Streitigkeiten über das Thema ›Meinungsfreiheit‹ beruhen darauf, dass man diese beiden Aspekte des Meinens, also Äußerung und Inhalt, gedanklich nicht auseinanderhält.

So vergisst man etwa häufig, dass sich die Meinungsfreiheit unmittelbar nur auf das Äußern einer Meinung bezieht, nicht dagegen auf ihren Inhalt. Manche Meinungsinhalte darf man aus rechtlichen Gründen nicht äußern, dies ist durch Gesetze geregelt. Andere Inhalte wiederum darf man rechtlich gesehen zwar äußern, aber man kann sie, sofern man bei klarem Verstand ist, gar nicht ernsthaft meinen. Es gibt Leute, die der Auffassung sind, dass es außerhalb von Märchen und Sagen Gespenster gibt. Sie sind natürlich frei, dies zu meinen und zu äußern. Aber was sie da meinen, steht im Gegensatz zu dem, was der Fall ist, und was somit ernsthaft oder sinnvollerweise gemeint werden kann. Solche Meinungsinhalte sind nicht rechtlich verboten, doch sie verbieten sich gewissermaßen von selbst; da sie schlicht auf nichts zutreffen, gehen sie ins Leere. Dass sie dennoch gemeint werden können, liegt einfach daran, dass das Äußern von Unzutreffendem oder auch von Unsinn weder rechtlich verboten noch praktisch unmöglich ist. Es gibt, von einschlägigen Bestimmungen geltenden Rechts (etwa in Bezug auf Falschaussagen) abgesehen, kein Gesetz, das es den Menschen unmöglich macht, Falsches oder Unsinniges zu meinen und zu äußern. Gerade deswegen ist das heutige Leben so bunt an Meinungsinhalten. Jeder kann im Rahmen der Legalität meinen, was er will, und sei das Gemeinte auch noch so merkwürdig oder geradezu evident widersinnig.

Es ist wie gesagt nur eine Vermutung, dass der Zweifel an der Wahrheit irgendwie mit der Idee des Rechts auf freie Meinungsäußerung zusammenhängt. Vielleicht haben einige Menschen das Gefühl, ihre Freiheit sei gefährdet, wenn es die Wahrheit gibt – was dann allerdings darauf hindeuten würde, dass sie immerhin ein einigermaßen klar umrissenes Bild von der Wahrheit haben. Wie dem auch sei: Ich möchte meine Gedanken über die Wahrheit nicht gleich zu Beginn mit zu vielen Vermutungen belasten. Ich lasse es daher dahingestellt, ob es tatsächlich eine Angst vor der Wahrheit ist, die vor allem bei freiheitsliebenden Menschen zu Zweifeln an der Wahrheit führt.

Dass die Wahrheit auf eine noch näher zu bestimmende Weise für Verbindlichkeit sorgt, ahnt wohl jeder. Doch anstatt darüber zu spekulieren, welche Ängste mit dieser Ahnung verbunden sind, zitiere ich einen Satz von Aristoteles (384-322): »Nicht darum, weil unsere Meinung, du seist weiß, wahr ist, bist du weiß, sondern darum, weil du weiß bist, sagen wir die Wahrheit, indem wir dies behaupten«.13 Meinen, so will Aristoteles sagen, kann man vieles, und letztlich kann jeder Mensch meinen, was er will. Andererseits ist die Meinungsfreiheit in sachlicher Hinsicht dadurch begrenzt, dass die Wirklichkeit so ist wie sie ist – und eine Meinung kann daran nichts ändern. Man kann die Wirklichkeit mittels Meinungen zutreffend oder unzutreffend wiedergeben, aber man kann sie nicht durch Meinungsäußerungen manipulieren. Und erst recht wird eine Sache nicht dadurch, dass man zu ihr eine Meinung hat, zu dem, was sie ist. Meinungen beziehen sich auf Sachverhalte, aber diese beziehen sich nicht ihrerseits auf Meinungen. Übrigens ist keineswegs jeder Sachverhalt eine Tatsache. Dass ein Gespenst in meinem Haus ist, ist ein Sachverhalt, aber keine Tatsache. Es gibt keine Gespenster, »denn was es nur im Märchen gibt, gibt es nicht«.14

Welche Meinung inhaltlich wahr ist, liegt also nicht im Belieben der Meinenden. Vielmehr gilt, dass das Wahrsein eines Meinungsinhalts daran hängt, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, die ihrerseits nicht auf menschliches Meinen angewiesen ist. Es mag sein, dass gerade moderne Menschen vor dieser Einschränkung ihrer Meinungen seitens der Realität Angst haben – dass sie also davor zurückschrecken, sich im Sprechen und Denken auf die Wirklichkeit, wie sie ist, einzulassen. Doch wie gesagt, ich möchte diesbezüglich nichts mutmaßen und auch keine anthropologischen oder sozialpsychologischen Spekulationen anstellen.

2. Instinkt und Expertise

Ebenso wenig wie Vermutungen möchte ich allgemein verbreitete Wertvorstellungen über die Wahrheit zum Ausgangspunkt meiner Gedanken machen. Viele Menschen sehen in der Wahrheit etwas dermaßen Erhabenes, dass alle Versuche, generelle Aussagen über sie zu machen, aus ihrer Sicht zum Scheitern verurteilt sind. Man muss jedoch das Vorurteil der Erhabenheit der Wahrheit so lange nicht teilen, bis man diese Eigenschaft am Phänomen der Wahrheit tatsächlich festgestellt hat. Das ist nur durch eine gezielte Untersuchung der Wahrheit möglich, nicht dagegen durch blindes Vertrauen auf die Richtigkeit von Vorurteilen.

Vorurteile sind Urteile, die man abgibt, ohne über die jeweiligen Urteilsinhalte nachgedacht zu haben. Zwar sind Vorurteile nicht notwendig falsch oder irreführend, und lebenspraktisch kann man auf sie auch kaum verzichten.15 Aber sie sind eben nicht der persönlichen Einsicht entsprungen, sondern werden als fest verschnürte Meinungspakete von anderer Seite her übernommen – und zwar ganz unabhängig davon, ob sie wahr sind oder nicht. Was die Wahrheit angeht, werden wir einige solche Vorurteile im Laufe des Essays näher kennenlernen. Es wird sich zeigen, ob sie jeweils berechtigt sind oder nicht.

Was die Idee der Erhabenheit der Wahrheit angeht, so sind die Philosophen verschiedener Zeiten an der Entstehung dieses Vorurteils nicht ganz unbeteiligt gewesen. Viele von ihnen haben sich über die Wahrheit in einer Weise geäußert, die auf beachtliche Probleme bei ihrem Verständnis hindeutet; was sich dann auch in den entsprechenden Texten dieser Philosophen zeigt, die für den Laien nicht gerade leicht zu verstehen sind. Es ist aber durchaus denkbar, dass professionelle Wahrheitstheoretiker von Schwierigkeiten berichten, die außerhalb ihrer Theorien nicht existieren. Natürlich ist die Philosophie von Hause aus eine Art Expertin in Sachen Wahrheit: Welche andere Wissenschaft sollte es auch sein, die sich unmittelbar mit der Wahrheit und ihren Merkmalen beschäftigt? Aber es könnte sein, dass eine zu tief greifende Expertise den Horizont der Experten verengt. Man kann nämlich durch ein Zuviel an Theorie die Phänomene, auf die sich die Theorie beziehen soll, auch aus den Augen verlieren.

Wo dies geschieht, spricht man von Fachidiotie. In einer Zeit, in der die Probleme sowie die Ansprüche an deren erwünschte Lösung komplex sind, erscheint der sprichwörtliche Tunnelblick der Experten häufig unvermeidbar. Es kann vorkommen, dass die Entwickler komplexer Theorien ihrerseits an den Problemen, die es doch eigentlich zu lösen gilt, aktiv mitstricken. Die Philosophie jedenfalls hat, auch hinsichtlich ihrer diversen Wahrheitstheorien, ein hohes Maß an Kompliziertheit erreicht. Das schlichte Gefühl für die Wahrheit, das die Menschen im täglichen Leben begleitet, ist in diesen Theorien nicht ganz verdrängt. Aber es ist doch weit in den Hintergrund gerückt. Dass manche ›Wahrheitsprobleme‹ hausgemacht, also durch intensives Theoretisieren allererst entstanden sind, sollte man ist nicht grundsätzlich ausschließen. Das lässt sich aber erneut nur herausfinden, wenn man das Phänomen der Wahrheit möglichst direkt untersucht. Man darf philosophischen Theorien jedenfalls nicht per se eine größere Autorität einräumen als der vorphilosophischen Intuition. Und man wird spätestens dann skeptisch sein dürfen, wenn Theorien etwas behaupten, was eigenen Intuitionen massiv zuwiderläuft.

Bereits die Idee, es könne Experten in Sachen Wahrheit geben, ist mit Vorsicht zu genießen. Zumindest ist nicht unmittelbar einzusehen, warum man bei Fragen der Wahrheit auf irgendwelche belehrenden Instanzen hören sollte. Dass es Lehrer oder Experten für bestimmte Wirklichkeitsbereiche gibt, ist zweifelsohne richtig. Aber die Wahrheit ist kein Erfahrungsgegenstand, auf den man sich so spezialisieren kann wie z.B. auf Antike Geschichte, Computersysteme, Landschaftsgärtnerei oder Automotoren. Kann die Wahrheit für philosophische Experten denn etwas anderes sein als für die entsprechenden Laien? Ich denke nicht. Philosophen können sicherlich besser erklären, was die Wahrheit ist. Aber zu meinen, die Wahrheit sei für sie etwas anderes als für den Laien, widerspricht eindeutig dem normalen Wahrheitsgefühl.

Wenn professionelle Denker den fachlich Uneingeweihten darlegen, was es mit der Wahrheit auf sich hat, dann ist das so ähnlich wie wenn ein Mechaniker einer Person ohne technische Kenntnisse einen Automotor erklärt. Die jeweiligen Experten verfügen über Sachwissen, und die Wahrheit ist ebenso eine erklärbare Sache wie ein Automotor (wenngleich sicherlich eine weniger greifbare und offensichtliche Sache). Der Punkt ist der, dass jemand, dem irgendeine Sache erklärt wird, nicht vollständig ahnungslos ist; wäre er es, so würde er nichts von dem verstehen, was ihm erklärt wird. Absolutes Nichtverstehen oder völlige Unkenntnis gibt es gar nicht, denn dies würde voraussetzen, dass der menschliche Geist eine unbeschriebene Tafel ist – und das ist er, vom geburtlichen Beginn der individuellen Existenz an, nie und nimmer. Machen Sie selbst die Probe, und fragen Sie sich: »Welche Sache verstehe ich absolut nicht, welche Sache ist mir vollkommen unbekannt?« Wenn Sie eine beliebige Sache finden, dann wissen Sie immerhin schon, dass es diese Sache irgendwie gibt und dass es sich um eine Sache handelt; und Sie wissen bestimmt auch, in welchem Zusammenhang Ihnen diese Sache trotz ihrer vermeintlichen Unvertrautheit begegnet ist (oder begegnen könnte). Ihr vermeintlich absolutes Nichtwissen hat also immer schon angefangen aufzuhören. Oder genauer, es hat gar nicht wirklich bestanden, es war letztlich nichts weiter als eine reine Idee.

Absolut keine Ahnung von etwas haben: Das gibt es nicht. Man kann zwar sagen, man habe absolut keine Ahnung von etwas, aber wörtlich genommen stimmt es nicht. Man weiß immer schon irgendetwas über die Dinge, und sei es auch nur im Sinne eines instinktiven Spürens, Fühlens oder eben Ahnens. Ohne jedes Vorwissen wäre es unmöglich, dass einem Kenner irgendeine Sache genauer erklären. Es ist aber möglich, und zwar im Falle von Automotoren genauso wie im Falle der Wahrheit. Letztlich haben auch die Kenner mit ihrem Wissen oder ihrem Können nicht bei null angefangen; so etwas wie eine Anlage, ein Talent, ein Interesse war auch bei ihnen vor aller Übung, die schließlich den Meister gemacht hat, da. Natürlich bringt die Erfahrung nach und nach einen inhaltlichen Zuwachs an Kenntnissen und Fertigkeiten. Aber man darf sich keinen punktuellen Anfangszustand des Lernens vorstellen, in dem zunächst ›nichts‹ da ist, während dann in einem zweiten Schritt ›alles‹ hinzukommt. Für das Verstehen gilt das Gleiche wie für das Handeln: Einen Sprung von ›nichts‹ zu ›etwas‹ gibt es nicht. Zumindest kann weder unsere Sinnlichkeit noch unser Verstand einen derart radikalen Übergang erleben oder denken.

Der Begriff ›Instinkt‹ drückt dieses immer schon ansatzweise Bestehen von Wissen und Können treffend aus; denn der Instinkt ist dasjenige, was Lebewesen auch dann relativ sicher leitet, wenn ihnen, wie im normalen Leben, keine präzisen Leitvorstellungen und keine ausformulierten Handlungsregeln zur Verfügung stehen. Tiere haben in diesem Sinne keinen Plan; sie verhalten sich selbst dort noch, wo sie dem äußeren Anschein nach lernen, gemäß instinktiver Leitfäden. Und was das Instinktive beim Menschen angeht, so bin ich keineswegs der Meinung, dass wir im Gegensatz zu den Tieren instinktschwache Lebewesen sind. Ich halte es in diesem Punkt mit dem Philosophen Richard Müller-Freienfels (1882-1849), der schreibt: »Der Mensch hat sogar mehr Instinkte als das Tier; sie ragen hinein in sein Verstandesleben, wenn sie auch vielfach durchkreuzt und unsicher gemacht werden«.16 Natürlich haben die Menschen die Welt nach und nach immer mehr rationalisiert und sich selbst immer sublimer kultiviert. Doch das heißt nicht, dass sie jemals zur Gänze rationalisiert oder kultiviert sein werden. Instinktives Fühlen, Ahnen oder auch Wittern sind Eigenschaften, die bei den Menschen trotz aller Rationalisierung und Kultivierung nicht einfach verschwinden können. Da ist etwa der Instinkt des Realpolitikers für die passende Gelegenheit des Handelns, der Torinstinkt des Stürmers beim Fußball oder auch einfach der richtige Riecher des Alltagsmenschen (z.B. für das rechte Wort zur rechten Zeit). Und selbst über ein scheinbar so entlegenes Phänomen wie die Wahrheit weiß der Mensch vieles auf eher instinktive Weise, also lange bevor das eigentliche Begreifen und geistige Durchdringen des Wahrheitsphänomens einsetzt. Der entsprechende Instinkt ist freilich auch irritierbar. In diesem Fall hält ein Mensch etwas für die Wahrheit, was auf sie gar nicht zutrifft.

Ich möchte es so ausdrücken: Ich habe das sichere Gefühl, dass viele Menschen ein sicheres Gefühl dafür haben, was die Wahrheit ist. Natürlich behaupte ich nicht, dass die Wahrheit für alle Menschen dermaßen transparent ist, dass sie darüber akademische Reden halten könnten. Ich meine aber, dass ein Gespür dafür, was die Wahrheit im Wesentlichen ausmacht, bei vielen Menschen da ist. Natürlich können die Philosophen den Nicht-Philosophen helfen, ihr instinktives Vorwissen gedanklich zu präzisieren. Aber auch Philosophen können ihr professionelles Wissen über die Wahrheit nur dadurch schärfen, dass sie aus dem Bereich des zunächst instinktiv Erlebten schöpfen. Schließlich können sie die Wahrheit nicht erfinden, und sie können auch nicht darauf warten, dass sie ihnen von einem ideellen Himmel, gleichsam wie aus dem Nichts, zufällt. Die normalen Quellen des Wissens über die Wahrheit sind der Instinkt und die Alltagserfahrung. Und philosophische Wahrheitstheorien sind im Grunde das Ergebnis einer besonders intensiven geistigen Auseinandersetzung mit dem, was viele Menschen auch ohne Theorien ahnungsweise wissen.

Die Tatsache, dass ein solches alltägliches Vorwissen besteht, deutet darauf hin, dass die Wahrheit nicht ganz so geheimnisvoll ist, wie oft behauptet wird. Ich erlaube mir daher im Folgenden bewusst den Gedanken, dass die Wahrheit weder ein unlösbares Problem darstellt noch eine Aura des Erhabenen besitzt. Auf diese Weise distanziere ich mich von vielen Geschichten oder auch Dogmen, die sich im Laufe der Ideengeschichte um die Wahrheit herum gebildet haben. Ich wende mich stattdessen jenen Merkmalen der Wahrheit zu, die mir, wie instinktiv und diffus sie auch sein mögen, als allgemein bekannt sowie als gut fasslich erscheinen.

Damit ist auch gesagt, dass meine Gedanken über die Wahrheit nicht im strengen Sinne auf eine Theorie hinauslaufen. Theorien, die etwas Bestimmtes erklären wollen, müssen das, was sie erklären wollen, zunächst stets wie eine Art Rätsel erscheinen lassen. Sie müssen Dinge, die den meisten Menschen vor aller Theorie in groben Zügen vertraut sind, zu etwas Unbekanntem verklären, damit sie sie nachfolgend aufklären können. Es würde an dieser Stelle zu weit führen nachzuweisen, dass dies bei Theorien tatsächlich immer so ist; dass sich also Theoretiker gegenüber demjenigen Ausschnitt der Wirklichkeit, den sie erforschen möchten, sozusagen dümmer stellen als sie tatsächlich sind.17 Philosophische Wahrheitstheoretiker machen hierbei keine Ausnahme. Auch sie stellen ihren Gegenstand oft als etwas ursprünglich Unbekanntes und Fremdes dar, um dann das Licht philosophischer Aufklärung umso heller leuchten zu lassen.

Dieses Vorgehen, das keineswegs zynisch oder gar betrügerisch sein muss, hat dann seine Berechtigung, wenn es das theoretische Denken zur Aufklärung des vortheoretischen Wahrheitsgefühls einsetzt. Ich selbst möchte einen solchen Ansatz in diesem Essay aber vermeiden. Ich möchte in den folgenden Kapiteln weder eine Theorie der Wahrheit präsentieren noch auf wissenschaftliche Distanz zur Wahrheit gehen. Für mich ist die Wahrheit weniger ein Rätsel oder ein Problem, als vielmehr eine Gegebenheit – eben ein Phänomen, und noch dazu eins, das aus dem normalen Alltagsleben in Umrissen vertraut ist. Mit dem Begriff ›Phänomen‹ meine ich hier erneut keinen Fachbegriff (was man vermuten könnte, wenn man an die philosophische Strömung der Phänomenologie denkt). Ich meine damit einfach, dass die Wahrheit im Leben der Menschen da ist und eine ganz praktische Rolle spielt. In dieser grundlegenden Vertrautheit der Wahrheit einer elementaren menschlichen Lebensfunktion liegt aus meiner Sicht die Normalität der Wahrheit.

Was die Wahrheit ist, und warum sie ein normales Phänomen darstellt: Das ist damit natürlich noch nicht gesagt. Aber noch stehen wir ganz am Anfang, und die folgenden Gedanken werden diese Fragen nach und nach zu beantworten suchen.

3. Die Wahrheit sagen: Ein Beispiel

Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel, auf das ich im Laufe des Essays immer wieder zurückkommen werde. Angenommen, ein Mann kommt spät am Abend von einer Feier bei seinem Freund nach Hause, und seine Frau fragt ihn: »Wo warst Du?«. Auf diese Frage kann der Mann antworten: »Ich war auf Dieters Feier!«. Es mag banal klingen, aber es ist so: Indem der Mann dies sagt, sagt er die Wahrheit; und jeder Leser, so denke ich, kann das ohne Probleme zugeben. Wir haben es hier mit einem ebenso schlichten wie klassischen Fall von die-Wahrheit-Sagen zu tun – ein Fall, der zudem nicht ausgedacht, sondern direkt aus dem Leben gegriffen ist. Natürlich sind nicht alle Fälle für das Sagen der Wahrheit so einfach wie in diesem Beispiel. Das Beispiel reicht aber dennoch aus, um einerseits radikale Zweifel an der Wahrheit auszuschließen, und um andererseits das Prinzip des die-Wahrheit-Sagens zu verdeutlichen.

Das Beispiel macht vor allem eins deutlich: Bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen – etwa auf die Frage danach, wo man gewesen ist – können leicht als ein Sagen der Wahrheit identifiziert werden. Dass die Frau von ihrem Mann wahrheitsgemäß über dessen Aufenthaltsort unterrichtet wird, bedeutet, dass der Mann wirklich oder tatsächlich an dem Ort war, von dem er sagt, dass er dort gewesen ist. Im Laufe des Essay wird sich zeigen, dass die Wahrheit stets etwas mit dem Verhältnis zwischen etwas Wirklichem und dem, was jemand über dieses Wirkliche sagt oder denkt, zu tun hat. Das Prinzip ist denkbar einfach, so kompliziert oder komplex die Inhalte, um die es jeweils geht, auch sein mögen.18

Bei unserem Beispiel fällt auf, dass die Antwort des Mannes recht knapp ausfällt. Es fällt dem Mann nicht im Traum ein, jede einzelne Stelle der Wohnung, an der er sich während des Besuchs bei seinem Freund aufgehalten hat, zu erwähnen. Er antwortet auf die Frage nicht mit einer exakten Wiedergabe aller Raumpositionen, die er im Laufe des Abends eingenommen hat, sondern mit einer groben, aber durchaus zutreffenden Andeutung, die das Ganze seines Aufenthaltsortes treffend bezeichnet: »Ich war auf Dieters Feier!«. Man kann das Sagen der Wahrheit also entweder detailreich gestalten, indem man viele Einzelheiten der fraglichen Situation wiedergibt – so wie man es etwa als Zeuge bei einer Gerichtsverhandlung tut. Oder aber man deutet, wie der Mann im Beispielfall es tut, nur ein einziges prägnantes Rahmendatum an, das die gesamte Situation überblickhaft repräsentiert. Im Anschluss an Ernst Cassirer (1875-1945) kann man auch von »symbolischer Prägnanz«19 der Darstellung sprechen: Ein einzelner vielsagender Eindruck genügt, um dem Zuhörer die Ganzheit der Situation umrisshaft vor Augen zu führen.

Dabei gilt es zu beachten, dass die eher grobe oder großzügige Wiedergabe eines Geschehens nicht ›weniger‹ wahr ist als eine entsprechende Detailschilderung. Der Unterschied liegt allein im mehr oder minder großen Inhaltsreichtum der jeweiligen Aussage. Für das Sagen der Wahrheit kommt es, wie wir noch sehen werden, nicht in erster Linie auf die Menge oder die Differenziertheit der Informationen über das Wirkliche an. Wesentlich ist, dass das jeweils Gesagte oder allgemein das Dargestellte auf das Wirkliche zutrifft. Die von einem Kind angefertigte Strichzeichnung eines Menschen ist natürlich weniger differenziert als die Darstellung in einem Lehrbuch der Anatomie. Da es sich in beiden Fällen aber um die Darstellung eines Menschen handelt, wird man in beiden Fällen auf die Frage »Was ist das?« wahrheitsgemäß das Gleiche antworten: »Ein Mensch«, oder eben, in reflektierter Fassung: »Ein Bild von einem Menschen«.

Wohl jeder dürfte ohne großes Nachdenken verstehen, was es heißt, in diesem Sinne die Wahrheit zu sagen. Es passiert im Alltag sehr häufig, dass jemand die Wahrheit sagt, und daran ist nichts rätselhaft oder geheimnisvoll. Das generelle Schema ist immer identisch: Jemand war irgendwo, und dann wird er gefragt, wo er war. Und dann sagt er, wo er war – das ist es auch schon. Jeder hat so etwas schon oft erlebt, sei es als Fragender, sei es als Antwortender. Denn es geschieht sehr häufig, dass man gefragt wird und dann die Wahrheit sagt. Ich will damit natürlich nicht behaupten, dass sich menschliche Kommunikation in einem nüchternen Austausch von Informationen erschöpft. Der Reichtum der gesprochenen Sprache und ihrer Funktionen ist enorm, und vieles, was Menschen sagen, hat mit der Wahrheit unmittelbar gar nichts zu tun. (Ich komme auf diesen Punkt später noch zurück.) Fest steht aber, dass sich das Sagen der Wahrheit auch dann relativ klar identifizieren lässt, wenn das Meiste von dem, was Menschen im Rahmen alltäglicher Kommunikation tun, unmittelbar gar nichts mit einem direkten Aussagen der Wahrheit (oder auch der Unwahrheit) zu tun hat.

Um die besondere Art, wie das Sagen der Wahrheit in den Alltag eingebettet ist, noch deutlicher zu machen, betrachten wir ein weiteres Beispiel. Jemand hat sich ein neues Auto gekauft, einen blauen Citroen C1. Nun ruft er einen Bekannten an und erzählt ihm nach einigem Hin und Her: »Ach übrigens, ich habe mir vorgestern einen neuen Wagen gekauft!«. »Sag' bloß; na dann Glückwunsch! Was denn für einen?«. »Den neuen C1, als Cabrio, in dunkelblau!«. »Klingt gut! Wo hast Du den gekauft?«. Dann erzählt der Anrufer, wo er den Wagen gekauft hat, wie teuer er war, was mit dem alten Wagen passiert ist und vieles andere mehr. Ein ganz alltägliches Gespräch, ein Gespräch wie tausend andere auch. Aber, und darauf kommt es mir an: Es ist ein Gespräch, in dem viele Male die Wahrheit gesagt wird, ohne dass die Sprechenden darauf achten oder sich theoretisch dafür interessieren.

Dass der Ausdruck ›die Wahrheit sagen‹, wenn man ihn näher beleuchtet, nicht ganz unproblematisch ist, wird sich noch zeigen. Hier geht es mir zunächst nur darum festzuhalten, dass das Phänomen selbst – also die Tatsache, dass Gespräche dieser Art im Alltag häufig stattfinden – unbestreitbar ist.20 Und da das Sagen der Wahrheit oft ein Aspekt solcher Gespräche ist, ist auch das Vorkommen der Wahrheit im Alltag nicht weiter problematisch oder diskutabel. Die Wahrheit ist in solchen Gesprächen wie selbstverständlich anwesend, ohne dass das Licht der Aufmerksamkeit auf sie fällt. Sie ist im Alltag ebenso hintergründig da wie die Atmung oder der Boden unter unseren Füßen. Und gerade weil wir normalerweise nicht bemerken, dass wir atmen, fest auf dem Boden stehen oder die Wahrheit sagen, kommt es ihnen auch nicht in den Sinn, diese Phänomene anzuzweifeln. Wie soll man etwas auch bezweifeln, wenn es einem gar nicht direkt vor Augen steht?

Wer gegen diese Überlegung einwendet, sie sei doch ziemlich trivial, dem würde ich entgegnen: Richtig, das Sagen der Wahrheit ist trivial! Aber das bedeutet nur, dass die Wahrheit viel einfacher beschaffen ist als man, von Vorurteilen über ihre Erhabenheit geleitet, denkt. Überhaupt wird der Essay den Leser des Öfteren mit Sachverhalten konfrontieren, die äußerst selbstverständlich erscheinen. Man sollte diese Selbstverständlichkeit aber nicht als ein Problem ansehen, sondern darin einen unmittelbaren Hinweis auf die Phänomenalität der Wahrheit sehen. Ob das, was auf den ersten Blick trivial erscheint, dann auch wirklich trivial ist, muss sich ohnehin noch zeigen.

Zurück zum Beispiel des Ehepaares. Wenn der Mann von seiner Frau gefragt wird, wo er gewesen ist, dann muss er auf diese Frage natürlich nicht antworten. Er kann auch schweigen, mit einer Lüge antworten oder anfangen, von ganz anderen Dingen zu reden. Es besteht für ihn grundsätzlich kein Zwang, die Wahrheit zu sagen. Wenn er aber auf die Frage seiner Frau den Ort angibt, an dem er war, dann sagt er die Wahrheit. Gleiches würde gelten, wenn er seiner Frau unaufgefordert erzählen würde, wo er gewesen ist – wenn er also nicht nach seinem Aufenthaltsort gefragt würde, sondern diesen von sich aus mitteilte. Es ist offensichtlich, dass für das Sagen der Wahrheit keine explizite Frage-Antwort-Situation nötig ist.

Wir haben damit bereits ein erstes Ergebnis. Wir wissen, dass die Wahrheit im zwischenmenschlichen Reden vorkommt, und zwar konkret dort, wo jemand wahrheitsgemäß etwas mitteilt oder Menschen einander wahrheitsgemäß über etwas informieren. Etwas Wahres im Alltag sprachlich zu äußern: Das ist die vertrauteste Art und Weise, wie einem die Wahrheit begegnet. Dass so etwas geschieht, wissen wir aus Erfahrung, und es bereitet uns kaum Verständnisprobleme. Es ist auch gar nicht recht klar, was daran unverständlich oder problematisch sein sollte.

Natürlich kann die Wahrheit in inhaltlicher Hinsicht für die Menschen hart oder auch peinlich sein; etwa dann, wenn über eine Person unschöne Dinge öffentlich zur Sprache kommen. Ob die Äußerung der Wahrheit allerdings notwendig schmerzlich ist, das ist eine speziellere Frage, um die es an dieser Stelle nicht geht. Hier sei lediglich festgehalten, dass Menschen im Alltag ohne Anwendung irgendeiner Theorie wissen, was es bedeutet, die Wahrheit zu sagen. Sie wissen dies, ohne zugleich bewusst darauf zu achten, was sie beim Sagen der Wahrheit eigentlich tun. Dass ein solches Wissen besteht, zeigt sich ganz deutlich in Fällen, in denen jemand durch Äußerungen eines anderen bloßgestellt oder entlarvt wird. Bloßstellen und entlarven können Menschen einander nur, wenn sie wissen, worum es beim Sagen der Wahrheit geht – und das wissen sie auch dann, wenn sie beim Sagen der Wahrheit keine besondere Aufmerksamkeit auf ihr Tun lenken.

Es besteht also kein Grund, die Wahrheit bereits am Anfang unserer Überlegungen künstlich zu problematisieren; etwa dadurch, dass wir unser Nachdenken mit einer Begriffsdefinition oder einer vorformulierten Theorie der Wahrheit beginnen. Vor jeder Theorie liegen die Phänomene, von denen die später entwickelten Theorien handeln. So gibt es die Biologie als Theorie des Lebens nur, weil es das Leben, die Soziologie als Theorie gesellschaftlichen Lebens nur, weil es das Phänomen Gesellschaft gibt. Das Leben und die Gesellschaft selbst sind keine Theorien; es sind Phänomene, die man wissenschaftlich oder philosophisch untersuchen kann. Niemand wird ernsthaft sagen wollen, dass es das Leben oder die Gesellschaft nur gibt, wenn es Theorien über sie gibt. Theorien des Lebens oder der Gesellschaft könnten auch fehlen, ohne dass deshalb die Phänomene verschwänden. Die Phänomene liegen den Theorien sachlich voraus, und diese müssen jene zum Ausgangspunkt nehmen. »Gegen Phänomene kämpfen Theorien vergebens. Nur mit den Phänomen können sie etwas leisten«.21