Über Leben und Tod - Florian Klenk - E-Book

Über Leben und Tod E-Book

Florian Klenk

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Beschreibung

Bestsellerautor Florian Klenk spricht mit dem Gerichtsmediziner Christian Reiter über Leben und Tod. „Man liest das Buch mit angehaltenem Atem und denkt über Leben und Sterben danach anders.“ Daniel Kehlmann

Ist der Totenschädel Beethovens tatsächlich der seine? Wie identifiziert man die Toten des Lauda-Air-Absturzes in Thailand? Wie hat die „Schwarze Witwe“ Elfriede Blauensteiner ihre Männer ins Jenseits befördert? Und was genau hat es mit den K.-o.-Tropfen auf sich?
Der Gerichtsmediziner Christian Reiter kennt die Geheimnisse des Todes. In seinem Studierzimmer sammelt er Schädel, Haare, Larven, Mumien und Totenmasken. Als Falter-Chefredakteur Florian Klenk diese Schätze sieht, entdeckt er die Abgründe des Menschen und die Überzeugungskraft der Wissenschaft.
Die abenteuerlichen Fall- und Familiengeschichten des Arztes Reiter verbinden sich zu dem Porträt eines faszinierten Universalgelehrten, der unsere Gesellschaft am Seziertisch erlebt und sie gemeinsam mit Florian Klenk obduziert.

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Das ist das Cover des Buches »Über Leben und Tod« von Florian Klenk

Über das Buch

Bestsellerautor Florian Klenk spricht mit dem Gerichtsmediziner Christian Reiter über Leben und Tod. »Man liest das Buch mit angehaltenem Atem und denkt über Leben und Sterben danach anders.« Daniel KehlmannIst der Totenschädel Beethovens tatsächlich der seine? Wie identifiziert man die Toten des Lauda-Air-Absturzes in Thailand? Wie hat die »Schwarze Witwe« Elfriede Blauensteiner ihre Männer ins Jenseits befördert? Und was genau hat es mit den K.-o.-Tropfen auf sich?Der Gerichtsmediziner Christian Reiter kennt die Geheimnisse des Todes. In seinem Studierzimmer sammelt er Schädel, Haare, Larven, Mumien und Totenmasken. Als Falter-Chefredakteur Florian Klenk diese Schätze sieht, entdeckt er die Abgründe des Menschen und die Überzeugungskraft der Wissenschaft.Die abenteuerlichen Fall- und Familiengeschichten des Arztes Reiter verbinden sich zu dem Porträt eines faszinierten Universalgelehrten, der unsere Gesellschaft am Seziertisch erlebt und sie gemeinsam mit Florian Klenk obduziert.

Florian Klenk

Über Leben und Tod

In der Gerichtsmedizin

Paul Zsolnay Verlag

Für meine Mutter Christiane und meine Schwester Ines-Maria

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Florian Klenk

Impressum

Inhalt

Prolog

In Reiters Reich

Unter gelber Flagge — Die Pest in Wien

Die Untoten

Sensengasse 2 — Der Hades von Wien

Der Kaiser und sein Guglhupf

Mmadi Make, der afrikanische Fürst

Omofuma

Jugend — Ein Protokoll

Wann ist man tot?

Das kleine Mädchen, der Burli und das Losungswort »Himmel«

Der Herr der Fliegen

Wachs und Wunder

Im grünen Wald — CSI Mayerling

Beethovens verlockende Locken

Schubumkehr — Reiters Albtraum

Verletzt, verprügelt, verunfallt — Der Alltag

Epilog

Prolog

»Wen sezieren wir morgen, Herr Professor?«

»Das weiß ich nicht, Herr Redakteur, denn wer morgen bei mir am Tisch liegt, der lebt heute noch.«

Auf dem Präparat 6, einem abgetrennten Penis »einer Person ungeklärter Identität«, steht eintätowiert »Der sanfte Toni«. Der Professor sah über das in Alkohol eingelegte Gemächt hinweg, als sei es das Normalste auf der Welt. Er dozierte lieber über die Wissenschaft, die Gewalt, das Recht, den Menschen und den Tod.

Doktor Christian Reiter, damals 41 Jahre jung, aber bereits außerordentlicher Universitätsprofessor, stand im weißen Arztkittel vor einer der vielen Vitrinen, darin in Glaszylindern sogenannte Asservate, behördlich beschlagnahmte menschliche Körperteile. Das war vor einem Vierteljahrhundert, in der Sensengasse 2, im Gerichtsmedizinischen Museum der Universität Wien, einer kakanischen Wunderkammer der Aufklärung und des Verbrechens.

Ich lernte damals als sogenannter Rechtspraktikant am Bezirksgericht, wie die Justiz wirklich arbeitet. Ich durfte hinter die Mauern des Rechtsstaats blicken, in Gefängnisse, psychiatrische Anstalten und in die Seziersäle und die für die Öffentlichkeit nicht zugängliche wissenschaftliche Sammlung der Gerichtsmedizin.

Schon damals war Reiter ein berühmter Gerichtssachverständiger, sein Porträt war in den Zeitungen zu sehen. Er wurde bekannt, weil er die monströsen Verbrechen der »Mörderschwestern« im Krankenhaus Lainz aufgeklärt hatte. Auch die »Schwarze Witwe«, eine elegante ältere Dame namens Elfriede Blauensteiner, hatte er überführt. Einsame Männer schwächte die »Elfi«, wie sie Reiter nennt, mit Medikamenten, wickelte sie in gefrorene Handtücher und ließ sie solcherart leise sterben, um sie zu beerben. In einer Welt der eminenzbasierten Gerichtsgutachterei setzte er auf Evidenz. Und ein bisserl auf Show. Auf der Titelseite der Kronen Zeitung war der Professor dabei zu sehen, wie er der Elfi den Puls fühlte.

Das hatte Tradition in Wien, dieser Stadt, die dem Tod angeblich dadurch die Reverenz erweist, dass man ihn einen Wiener nennt. Reiter erzählte mir, dass die gerichtsmedizinischen Vorlesungen in der Zwischenkriegszeit fast wie öffentliche Veranstaltungen inszeniert wurden. Die Leichen seien »wie in der berühmten k. u. k. Hofzuckerbäckerei Demel« im Hörsaal präsentiert worden. »Ich begrüße die Damen und Herren Studenten und die Besucher der umliegenden Kaffeehäuser«, eröffnete in den 1920er Jahren der berühmte Professor Albin Heberda seine Vorlesungen. Und dann öffnete er die Körper der Opfer der aktuellen Mordfälle, und die Wiener sahen gespannt zu.

Reiter führte mich damals mit einigen interessierten Richtern durch dieses Museum, das für sich selbst schon ein Museum war. Der Straßenname Sensengasse war eine Reminiszenz an das Haus zu den »Vier Sensen«. Es lag neben vier alten, vergessenen Friedhöfen am Wiener Alsergrund. Eine morbide Verneigung vor dem »Quiqui«, wie Reiter den Gevatter Tod auf Wienerisch am liebsten nennt. »Quiqui«, das Wort soll aus dem Romanischen kommen und übersetzt sich treffend mit »Wer auch immer du bist!«

Auch der Schriftsteller Gerhard Roth schritt vor Jahren mit Reiter für eine Reportage durch dieses »Theater der Grausamkeit«, wie er das Museum nannte. Reiter beschrieb er so: »Wie ein Vergil erscheint der Gerichtsmediziner (…), ein großer und kräftiger Mann mit grauem, kurz geschnittenem Haar, das sich zu lichten beginnt, Schnurrbart und Brille.« Das graue Sakko gebe ihm etwas »von einem anonymen Passanten«, doch wenn er spricht, »vermittelt er den Eindruck eines Mannes, dem Sarkasmus nicht ganz fremd ist. Zusammen mit der Zurückhaltung und Ernsthaftigkeit seines Auftretens, der Sachlichkeit seiner Rede und Gedanken verleiht ihm das eine natürliche Autorität, derer er sich bewusst ist.«

Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich dort abgetrennte Schädel, abgetriebene Föten, abgehackte Hände, sichergestellte Finger. Sie ruhten neben eingeschlagenen Köpfen, angenagten Skeletten und mumifizierten Menschen, deren Münder wie vor Schreck offen standen oder in denen noch künstliche Gebisse steckten.

Man würde glauben, dass einem vor all den Asservaten unter den Glaszylindern das Grauen überkommt, doch Reiter nahm mir Furcht und Ekel, weckte stattdessen Neugier in mir. Denn die menschlichen Hüllen und Körperteile der Wiener dienten als Anschauungsmaterial in Zeiten, als es weder Farbfotos noch Internet gab. Hier konnten die angehenden Gerichtsmediziner lernen, wie die Spuren von Mord, Totschlag, Suizid und Sexualdelikten aussehen. Erschlagen, erschossen, ertränkt, erstochen, erwürgt oder vergiftet wurden jene, deren Skelette, Fettwachsleichen und Mumien hier ruhen, wie die ausrangierten Objekte einer Geisterbahn. Mit verkrampften Fingern, erschrockenem Blick, manchmal aber auch nur sanft schlafend.

Man durfte die »historische Sammlung des Instituts für Gerichtliche Medizin« schon damals nicht einfach so betreten, eben weil sie keine Kuriositätensammlung aus dem Wurstelprater enthielt, sondern eine wissenschaftliche Einrichtung, die den angehenden Ärzten Einblick geben sollte in das Handwerk der Mörder und Selbstmörder und jener, die ihnen auf der Spur waren, Menschen wie Christian Reiter. Die Toten sind für ihn ein Buch des Lebens.

Der Professor bot Juristen Führungen an, damit auch diese das Spektrum der Rechtsmedizin erkennen, eines Faches, das in Wien auf eine Tradition bis zu den Zeiten Maria Theresias zurückblicken kann, der in vielen Belangen aufgeklärten Monarchin des 18. Jahrhunderts. In den vergangenen Jahren hätte das Institut fast selbst den stillen Tod erlitten, indem es kaputtgespart wurde. Das freut jene Verbrecher, deren Taten unentdeckt bleiben.

Reiter, Sohn eines Textilingenieurs und einer Magistratsbeamtin, aufgewachsen im Arbeiterbezirk Wien-Ottakring, am Yppenplatz, ist nicht irgendein Rechtsmediziner — in Österreich heißt die Disziplin Gerichtsmedizin —, und seine Geschichten sind mehr als true crime stories. Er sieht sich in der Tradition eines Physikus, eines Naturgelehrten. Seit Kindheitstagen betätigt er sich als Naturforscher. Er züchtet Fliegenlarven und Bienen, er sezierte und diagnostizierte schon als Jugendlicher seinen toten Hamster (»Drüsenkrebs«), er sucht in den Gebirgen nach Versteinerungen, und wenn er im Wald mit der Familie spazieren geht, führt ihn sein feiner Geruchssinn zu Leichen. Manchmal auch zu jenen von Menschen. »Es menschelt«, sagt Reiter, wenn er den Duft geöffneter Toter beschreibt. Wie der Mensch innen riecht? »Er müffelt. Wie der Schlafsaal eines Pfadfinderlagers.«

Er wird uns in diesem Buch ins Reich der Historiker und Biologen, der Chemiker und Botaniker, der Köche und Zoologen, der Musikwissenschaftler, Historiker und Physiker führen. Er ist, obwohl nicht sonderlich religiös, auch der Wiener Vertrauensmann des Vatikans. Will die Kirche einen Österreicher seligsprechen, was manchmal tatsächlich vorkommt, dann rekognosziert Reiter in ihren Grüften die Knochen. Oder er mumifiziert Heilige mit Wachs, Farbton sudanschwarz.

Wer in Reiters zu Hause im Studierzimmer sitzt, seiner eigenen kleinen Wunderkammer, der erfährt nicht nur über die Werke und Taten seiner Urahnen und Eltern, die ihn an die Gerichtsmedizin heranführten, sondern auch einiges über die Monarchie und über die Republik, über die Moderne und die Reaktion. Und über die kleinen und die großen Persönlichkeiten dieses Landes, die ein Schicksal eint: dass sie eines Tages allenfalls sogar auf seinem Seziertisch landen. Als Hüllen, die Medizinern wie Reiter über die letzten Augenblicke ihres Lebens erzählen und oft auch Geschichte schreiben.

Ich habe Reiter im Lauf meines journalistischen Lebens immer wieder getroffen. Ich habe mit ihm einmal sogar eine Wirtin seziert. Als ich ihn am Vortag des Termins fragte, welchen Fall er mir tags darauf zeigen wolle, sagte er: »Herr Redakteur, wer morgen bei mir am Tisch liegt, lebt heute noch.« Und das stimmte auch. Die burgenländische Frau, deren Körper Reiter öffnete, fiel nur wenige Stunden nach unserem Telefonat hinter der Schank um, unerwartet, und Reiter klärte auf, dass kein Fremdverschulden festzustellen war, sondern ein krankes Herz.

Ich habe diesen Gelehrten auch als Informanten in meinem Beruf als Journalist schätzen gelernt. Kamen Menschen zu Tode, war er es, der mir seine Einschätzung gab und mich auf die richtige Spur brachte. Ich spürte aber schon bald, dass da noch etwas war: Da saß ein Mann vor mir, der einen Schatz in sich trug. Ein Forscher, der die Natur und damit auch den Tod ganzheitlich betrachtete, als Teil des Universums.

Er ist jemand, der mich jedes Mal aufs Neue staunen lässt, weil er die großen, aber auch die kleinen Zusammenhänge in Erzählungen zu verpacken vermag, mit Charme und Humor, aber nie mit Zynismus gegenüber den Toten oder ihren Hinterbliebenen.

Vor ein paar Jahren kam mir die Idee, das in Fachaufsätzen und Zeitungsberichten verstreute Wissen Reiters einem breiteren Publikum zugänglich zu machen — über einen Podcast, den wir im Falter-Verlag produzierten. Mehr als eine Million Mal wurde diese Sendung bisher gehört. Viele, viele Stunden sprachen wir über seine Fälle und Forschungsarbeiten, über seine Erkenntnisse und seine Kritik an Behörden und Gerichten. Reiter schloss, wenn man so will, an die öffentlichen gerichtsmedizinischen Vorlesungen an. Nicht als Erzähler von Schnurren und Gruselgeschichten, sondern als Aufklärer.

Ich lernte viel über den Menschen und seine Natur, über den Staat und die Macht, über die Religion und die Gesellschaft. Und ich merkte mir vieles, weil Reiter nicht nur Forscher ist, sondern auch ein pointenreicher Erzähler. Seine Geschichten merkt man sich, weil sie mitunter wirklich lustig sind. Sein, wie sollte man ihn hier anders nennen, morbider Schmäh zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht — angesichts dessen, was uns alle erwartet: der Quiqui.

So entstand die Idee für dieses Buch. Es ist das Ergebnis von langen Gesprächen, von Begegnungen und Ausflügen in Reiters Welt. Es erzählt in einzelnen Kapiteln die Geschichte dieses bemerkenswerten Mediziners, aber auch die Fälle, die er selbst aufgedeckt, entdeckt und dokumentiert hat. Es ist auch ein Buch über unsere Natur und unsere Geschichte. Beginnen wir in Wien-Hernals, im Haus des Professors.

In Reiters Reich

Zu ebener Erd in einer unscheinbaren Wiener Gasse liegt in einem schlichten Wohnhaus das Büro des Professors Reiter. Hierher bestellt sich der gerichtsmedizinische Sachverständige im Auftrag der Justiz die Verletzten und Verprügelten ein, die Verunfallten und Verstümmelten. Er erforscht die Ursachen und Folgen ihrer Verletzungen, die Dauer und Intensität ihrer Schmerzen, und er beantwortet die Frage, ob sie vielleicht nur simulieren, um an Geld zu kommen.

Professor Reiter diktiert seine Erkenntnisse in ein altes Diktiergerät, er spricht blumig, keine Bürokratensprache, er beschreibt präzise und bildlich. Er fotografiert die Folgen von Gewalt oder Fahrlässigkeit. Und in seinen Schränken stapeln sich die Akten, es ist ein Archiv des Bösen und der Schicksale. Zirka dreihundert Fälle betrachtet er pro Jahr, fast jeden Tag einen. Dabei ist er als Universitätsprofessor schon in Pension, wie er sagt: in Halbpension.

Wer Reiters Büro betritt, entdeckt an der Wand gerahmte Zeitungsausschnitte. Reiter hat die vergilbten Schlagzeilen stolz zu Collagen zusammengefügt. »Wir haben hier keine Scheu, vom Tod zu reden«, steht über einer Gerichtsreportage, Christian Reiter war darin der Held eines Mordprozesses. Die Zeitungsartikel an den Wänden erzählen über Reiters große Prozesse und seine Kunst des Erklärens: »Der Gutachter führte die Geschworenen durch den Garten der Medizin«, schrieb ein Gerichtsreporter der Salzburger Nachrichten über ihn.

»Kommen Sie weiter«, sagt Reiter und führt von seinem Begutachtungsraum in ein dunkles Kabinett, das man früher vielleicht Studierzimmer genannt hätte, ein kleines Reich, das mich ein bisschen an eine Miniatur von Sigmund Freuds Praxis in der Berggasse erinnert. Zwar steht hier keine Couch, aber es finden sich Knochen, Kupferstiche, Nippes und Bücher. Es liegt hier ein zweites gerichtsmedizinisches Museum versteckt, die Sammlung Reiter.

Hier sind die »Dinge, die mein Herz erfreuen«, sagt der Professor und präsentiert stolz seine kleinen, düster beleuchteten Schätze. In offenen Regalen und hinter verglasten hölzernen Vitrinen ruhen Skelettteile und Schädel, an den Wänden hängen Lithografien und Zeichnungen. Sie zeigen Skizzen Erhängter, Bilder aus antiquarischen Lehrbüchern. Die Bücher in Reiters Schränken tragen diese Titel: »Die Gifte in der Weltgeschichte«, »Die ansteckenden Krankheiten«, »Ersticken«, »Geisteskranke Rechtsbrecher« oder »Die Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule«.

Das sind die Werke, in denen Christian Reiter blättert. »Aber das ist«, beruhigt er, »nur ein Teil meiner Bibliothek.« Oben in seinen Wohnräumen habe er »viel Zoologie, Botanik, Archäologie und Paläontologie«, auch diese Werke braucht er für die Erkundung der letzten Minuten im Leben eines Menschen.

Die Bücher türmen sich hier neben den Früchten von Verbrechen und den Spuren des Todes. Reiter sammelt die Hüllen ausgehauchten Lebens, um das Leben an sich zu verstehen. Schon als Gymnasiast stieg er in die Berge des Salzkammerguts, alte geologische Karten im Gepäck, um Fossilien, Ammoniten und andere Versteinerungen zu finden. Der älteste Fund, ein Dreilappenkrebs aus dem Silur der Karnischen Alpen, 420 Millionen Jahre alt. Daneben Steinplatten mit versteinerten Blättern, da ein Fischchen, dort eine Art versteinerter Tintenfisch.

Im Wald entdeckt einer wie er natürlich die Schädel von Hunden und Katzen, von Dachsen, Füchsen und Mardern, er bückt sich und hebt sie auf und nimmt sie mit. Und das kleine Köpfchen da? Reiter schmunzelt: »Das war einmal die Schildkröte meiner Kindheit, natürlich habe ich sie nach dem Tod seziert. Sie ist an einem Gasbrand nach Verletzung durch ihren stürmischen Partner verstorben.« All diese Bücher, Funde und Asservate, so fährt er fort, »haben buchstäblich meinen Weg gekreuzt«, er habe sie aufgesammelt, weil sie »so schön, so anmutig sind und zum Nachdenken anregen«.

Der Kopf da drüben? Der Schädel gehörte einem Delphin, entdeckt auf einem Fischmarkt in Beruwala, Sri Lanka, »wo Delphine leider als Fake-Thunfische angeboten wurden«. Reiter hat ihn ausgekocht, präpariert, jeden Zahn geputzt und wieder neu eingesetzt, »ist das nicht hübsch?« Wie das Skelett eines Fabelwesens liegt der Kopf des Delphins aus Beruwala nun neben einem Menschenschädel aus der Nähe von Ernstbrunn in Niederösterreich.

Reiter zieht diesen Menschenschädel ganz vorsichtig aus dem Regal und reicht ihn mir. »Heben Sie!«, fordert er mich auf. Wie leicht der Kopf doch ist, wie eine Feder. Reiter nimmt das Stück vorsichtig zurück, hält ihn wie Shakespeares Hamlet in der Hand und erzählt seine Geschichte. Ein Baggerfahrer hatte das Skelett in einer Baugrube bei einem Bauernhof gefunden. Die Bauern gruben das Fundament eines Silos, fanden Knochen, riefen die Polizei, die Mordkommission erschien, wer war der Tote? Niemand wurde vermisst.

In hockender Haltung sei dieser zirka 35-jährige Mann verscharrt worden. Wurde er Opfer eines Verbrechens? Hatten die Bauern damit etwas zu tun? Der Verdacht: Mord. Reiter fand auch Tierknochen neben dem Leichnam und Tonscherben. Die Tat sei aber schon verjährt, beruhigte er die Behörden. Der Mann starb vor dreitausend Jahren, in der Urnenfelderzeit, verdächtigerweise wurde sein Körper trotzdem nicht verbrannt und in einer Urne bestattet, wie es hier um Ernstbrunn tausend Jahre vor Christus üblich war, sondern irgendwer verscharrte ihn am frühgeschichtlichen Müllplatz, genau dort, wo nun der Bauer das Fundament für seinen Silo grub. Reiter schiebt den federleichten Kopf ins Regal zurück und sagt: »Der geht niemandem mehr ab.«

Da ist noch ein Schädel. Gleich hinter Christian Reiters Schreibtisch liegt er, ausgestellt wie in einer Inszenierung von Goethes »Faust«. »Der Kopf eines Soldaten der Napoleonischen Armee, gefallen bei der Schlacht am Wagram im Jahre 1809«, klärt Reiter auf. Er halte das Stück seit Studententagen »in Ehren, heimlich, es ist wohl nicht ganz legal zu mir gelangt«.

Ein Mesner hatte den jungen Medizinstudenten Reiter seinerzeit in einen Karner im Marchfeld geführt. Auf einer Leiter kletterten die beiden hinunter, »das ganze Unterschiff der Kirche war voll mit Knochen«, ein Hades, ein Totenreich, tausende junge Männer liegen hier begraben, ihre Gebeine, eingesammelt auf den Schlachtfeldern, kunstvoll aufeinandergestapelt. »Da habe ich erst realisiert, wie viele Menschen hier bei der Schlacht zu Tode gekommen waren, wie brutal der Krieg hier vor zweihundert Jahren wütete.«

Reiter dreht den Schädel behutsam zu mir: »Sehen Sie die Furche da an seiner Stirn? Der Bursche hatte einen Säbelhieb überlebt.« Er starb nicht bei seiner ersten blutigen Schlacht, sondern hatte schon vorher einmal eine »über die Rübe« bekommen. »Ein überlebter Säbelhieb! Das ist etwas, das man nicht jeden Tag sieht.«

Und gleich hinter Reiters Schreibtisch steht noch ein Kopf, diesmal kein Schädel, sondern die Gipsbüste des Angelo Soliman. Ein Moulageur, ein Bildhauer, der aufgrund von Totenmasken Gesichter rekonstruiert, hatte anhand von Solimans Todesmaske dessen Antlitz nachgebildet. Der Freimaurer und sogenannte »Hofmohr«, vermutlich aus dem heutigen Kongo, ein vom Sklavenkind zum feinfühligen Gelehrten aufgestiegener Freigeist, vieler Sprachen und Musikinstrumente kundig, lebte zu Zeiten Mozarts und Kaiser Josephs II. ein privilegiertes Leben am Hof des Fürsten Liechtenstein in Wien. Nach seinem Tod wurde er entbeint, die Haut gegerbt, mit Stroh ausgestopft und über ein Holzgerüst gespannt, um mit einem Federröckchen bekleidet als »Repräsentant des Menschengeschlechts« neben afrikanischen Tierpräparaten im Museum des Kaisers zur Schau gestellt zu werden. Als sich immer mehr Wiener darüber empörten, wurde sein Körper in einem Kasten auf dem Dachboden der Hofburg verwahrt. Im Rahmen der Bürgerkriegswirren im Herbst 1848 geriet der Dachstuhl der Hofburg in Brand, und somit fand Soliman endlich seine letzte Ruhe. Nur seine Totenmaske aus Gips blieb verschont. Reiter entdeckte darin Haare. Aber dazu später.

Unter gelber Flagge — Die Pest in Wien

Im Regal gegenüber seinem Schreibtisch hat Reiter noch etwas verwahrt, einen krankhaft deformierten Oberarmkopf, einen menschlichen Knochen. Ein akademischer Maler der Jahrhundertwende hatte ihn galvanisieren lassen — mit Silber überzogen — und darin in roten Lettern seine Initialen eingravieren lassen: »J. W.« — Jakob Wenzl. Das derart verzierte Knochenstück hatte Wenzl als Knauf seines Gehstocks verwendet. »Schön, gell?«, sagt Reiter, »Wenzl war mein Urgroßvater.« Reiter hatte ihn nicht gekannt, aber seine Lebensgeschichte prägte und faszinierte ihn.

Jakob wurde 1865 als Sohn des Ignaz Wenzl geboren. Der war ein begabter Schuhoberteilhersteller in der kleinen Bergbaustadt Platz, heute Místo, an den Südhängen des böhmischen Erzgebirges. Die eleganten Lochmuster für die damals modernen Budapester stellte Ignaz Wenzl her.

Auch der kleine Jakob erwies sich als künstlerisch begabt, sodass ihn die Eltern zur Ausbildung an die Kunstakademie nach Wien schickten. Nach dem Studium arbeitete er als akademischer Maler. Eine Fotografie des Urgroßvaters hängt in Reiters Studierstube an der Wand, gleich neben Angelo Soliman und dem Schädel des Soldaten der Napoleonischen Armee.

Das Bild zeigt einen ernsten, stämmigen Herrn in seinen Dreißigern, mit kurzen Haaren, gepflegtem Dreitagebart und einem langen Schnauzer, so wie er bei den Herren im Fin de Siècle Mode war. Zum Jackett trug Wenzl eine elegant gebundene Fliege über dem Vatermörderkragen, er war ein »gutbetuchter Bürger«, wie Reiter aus den Erzählungen seiner geliebten Urgroßmutter referiert.

Dreimal heiratete Jakob. Die erste Frau starb nach der Geburt des zweiten Kindes an Kindbettfieber. Die zweite — ihre Schwester —, die sich der Kinder annahm, an Lungenschwindsucht. Die dritte hieß Emma und war erst 17 Jahre alt, als sie den fast vierzigjährigen Jakob ehelichte. Sie war die Tochter eines Greißlers in der Alser Straße, in dessen Geschäft sich Jakob auf dem täglichen Weg vom Atelier am Ottakringer Yppenplatz ins Allgemeine Krankenhaus seine Wurstsemmeln erstand. Wenzl weilte oft in diesem parkähnlichen, unter Joseph II. angelegten Spital.

Er hatte eine »gute Geschäftslage«, wie Reiter erzählt. Bei Ärzten, Pathologen, Gerichtsmedizinern und Forschern war er als Grafiker für deren wissenschaftliche Publikationen gefragt. Er zeichnete pathologische Präparate für Fachbücher ab, er fertigte kunstvoll kolorierte Lithografien von histologischen Schnitten. Reiter forscht noch heute in antiquarischen Buchläden und Zettelkästen, ob er in medizinischen Fachbüchern Wenzl als Illustrator entdeckt. Bis spät in die Nacht arbeitete Wenzl auf der Pathologie, bei schwachem Gaslicht zeichnete er die Organe der Toten. Und eines Abends, erzählt Reiter, sei er »von oben bis unten voll Blut« heimgekommen, weil er sich »im finsteren Leichenhaus über eine Leich dastessn« hatte.

Ein Obduktionsassistent hatte »vergessen, sie ins Kühlhaus zu schieben«. Mit geöffnetem Körper lag der Tote nach der Obduktion noch am Gang. »Er hat sich zwar nicht weh getan, aber meine Urgroßmutter was not amused, als er so heimkam«, erzählt Reiter, »aber er hatte sich glücklicherweise nicht angesteckt.« Sich anzustecken, das konnte tödlich sein, denn die keimtötenden Antibiotika wurden erst Ende der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt. Und für ein ganz besonderes Buch kam Wenzl sogar mit der Pest in Kontakt, er zeichnete Pestorgane.

Reiter zieht ein in altes Leder geschlagenes Buch mit dem Titel »Die Beulenpest in Bombay 1897« aus dem Regal und blättert zu Tafel VI, einer kunstvollen Illustration, die mit einem eigens eingelegten Seidenpapier geschützt wird. Sie zeigt, wie ein Register verrät, den »Schnitt von der Milz des Meerschweinchens«, das nach »subcutaner Infection mit einem Pestherd nach 192 Stunden erlegen war«.

Wenzl zeichnete die kleinen schwarzen Pesterreger so minutiös, dass man, wie Reiter mit Stolz erzählt, auf seinen Lithografien »mit der Lupe auf den Bildern Details entdecken kann, die man mit dem freien Auge gar nicht sieht«. Das Meerschweinchen, das Wenzl abgezeichnet hatte, lebte 1897 in einem medizinischen Versuchsstall gleich neben dem Wiener Narrenturm, der einst so revolutionären Psychiatrieanstalt. Es löste einen Skandal aus.

Die Forscher hatten den Nager mit einer »kleinen Menge einer Pestcultur auf eine Stelle der Haut einer Extremität eingerieben«, wie in einem Bericht festgehalten wurde. Und aufgrund einer Unachtsamkeit eines vermutlich betrunkenen Tierwärters, Franz Barisch sein Name, 27 Jahre alt, wohnhaft in einer Dienstwohnung im Narrenturm, versetzte das bissige Nagetier ganz Wien in Angst und Schrecken.

Wer in den Zeitungsarchiven und Augenzeugenberichten jener Zeit kramt, stößt auf eine tieftraurige, schaurige und zugleich berührende Skandalgeschichte, die »große Kreise der Bevölkerung« im Wien der frühen Moderne »erzittern ließ«, wie das Znaimer Tagblatt es seinerzeit formulierte. Auch die Politik bezog Stellung: Deutschnationale verspotteten jüdische Ärzte, sogar Bürgermeister Karl Lueger mischte sich ein und wollte das AKH abreißen lassen. Die Geschichte des Meerschweinchens, das Reiters Urgroßvater abzeichnete, erzählt auch von einer wissenschaftlichen Community der Wiener Moderne, die internationale Studienreisen in exotische Länder unternahm, um Impfungen zu entwickeln. Sie zeigt aber auch, auf erschreckend aktuelle Art, wie Fake News verbreitet wurden.

Wie also kam »die kleine Menge einer Pestcultur« auf das Beinchen des Meerschweinchens, und wieso wird das Nagetier am Ende drei jungen Menschen das Leben kosten, einem Tierpfleger, einem Arzt und einer jungen Krankenwärterin?

Die Geschichte, auf die mich Reiter stößt, beginnt 1896 in Bombay, in Bon Bahia, der schönen Bucht, wie Mumbai damals von den portugiesischen Kolonialisten genannt wurde. In der indischen Metropole raffte seinerzeit eine Pestepidemie, vermutlich eingeschleppt über Hongkong, bereits mehr als zehntausend Inder dahin, elf Millionen sollten sterben. Da muslimische Pilger die Erkrankung nach Mekka verschleppten, fürchteten auch die habsburgischen Sanitätshofräte im fernen Wien die Ausbreitung der Seuche. Etwa durch die in die Provinz Bosnien und Herzegowina heimkehrenden Mekka-Reisenden. Oder durch die großen Schiffe, in deren Lagerräumen Ratten nisteten.

Sehr viel wusste man zu jener Zeit nicht über ansteckende Krankheiten. Bei der letzten Pestepidemie in Wien des 18. Jahrhunderts glaubten viele der Ärzte noch, die vier Körpersäfte, »Schleim, Blut, schwarze und gelbe Galle«, und eine »innere Fäulnis« des Organismus rufe die Krankheit hervor. Von Hygiene und der Übertragung von Krankheiten durch Ratten, Flöhe und Tröpfcheninfektion wussten die städtischen Ärzte wenig.