Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Literatur zaubert Bilder vor unser inneres Auge, reißt Grenzen ein, nimmt unsere Fantasie mit auf eine Reise, die uns wundern und staunen lässt – und manchmal ist sie schlicht unsere einzige Rettung in schwierigen, unglücksverliebten, wütenden, suchenden Phasen unseres Lebens. Die Journalistin und Autorin Uschi Korda hat nachgefragt, hat Schauspielerinnen, Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen, Kulturmanagerinnen, Buchhändlerinnen, Schriftstellerinnen nach jenen Büchern gefragt, die ihnen in schwierigen Zeiten zur Seite gestanden und ihnen geholfen haben, eine Krise zu meistern, eine wichtige Entscheidung zu treffen – oder bloß die Welt aus einem neuen Blickwinkel zu sehen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 188
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Uschi Korda
ÜBER LEBENS BÜCHER
17 Frauen über Literatur, die ihr Leben verändert hat
Für Dani und all die Menschen, die Bücher lieben.
Schauspielerin Caroline Peters über
Der Fall Franza. Requiem für Fanny Goldmann von Ingeborg Bachmann
Boxerin Eva Voraberger über
Stehaufmädchen von Rola El-Halabi
Journalistin Heidi List über
Die Entdeckung des Himmels von Harry Mulisch
Schauspielerin Ursula Strauss über
Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez
Moderatorin und Journalistin Barbara Stöckl über
Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen von Daniel Schreiber
Museumsdirektorin Barbara Staudinger über
Die Uhr in Gottes Händen von Peter Ackroyd
Künstlerin Renate Bertlmann über
I Ging – Das Buch der Wandlungen
Reise-Autorin Waltraud Hable über
Dienstags bei Morrie. Die Lehren eines Lebens von Mitch Albom
Gletscherforscherin Andrea Fischer über
Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky
Schauspielerin Proschat Madani über
Zähne zeigen von Zadie Smith
Buch-Moderatorin Maria-Christina Piwowarski über
Jauche und Levkojen von Christine Brückner
Winzerin Dorli Muhr überEine ganz gewöhnliche Ehe: Odysseus und Penelope von Inge Merkel
Malerin Xenia Hausner über
„Wir haben es nicht gut gemacht.“ Der Briefwechsel von Ingeborg Bachmann und Max Frisch
Vulkanforscherin Ulla Lohmann über
Momo von Michael Ende
Buchhändlerin Anna Jeller über
Hiob. Roman eines einfachen Mannes von Joseph Roth
Theologin Mira Ungewitter über
Überwintern. Wenn das Leben innehält von Katherine May
Journalistin Iris Radisch über
Ein zweites Leben von François Jullien
Impressum
Was die Schauspielerin Caroline Peters mit dem Schriftsteller Carl Zuckmayer verbindet und wie es dazu kommt, dass man ein Buch 23 Mal lesen muss.
„Neben der Sprache und dem Plot sind mir die Charaktere wichtig. Manchmal sind sie so toll, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, weil ich meine Zeit nur mit ihnen verbringen will.“
Wer die Gabe hat, seinen Figuren im Theater und im Film mit so viel Sensibilität ein buntes Spektrum echtes Leben auf den Leib zu zeichnen, wie die deutsche Schauspielerin Caroline Peters, der wird auch beim Lesen gerne von facettenreichen Protagonisten umgarnt. Seit 30 Jahren ist sie auf den besten deutschsprachigen Bühnen zu Hause, liegen ihr Klassiker genauso gut wie zeitgenössische Stücke. An der Wiener Burg fühlte man das Grauen ihrer Medea beinahe körperlich, als die Betrogene die Aussichtslosigkeit ihrer Liebe begreift und schließlich dem Wahnsinn verfällt. Auch auf dem Salzburger Domplatz ließ sie einen die Leichtfedrigkeit der Buhlschaft spüren, die im „Jedermann“, wenn es ernst wird, lieber das Weite sucht.
Im Gegensatz dazu ist das Gegenwartstheater für sie ein Experimentierfeld, auf dem ganz besondere Theatermomente entstehen, etwa in Simon Stones „Hotel Strindberg“, für das sie den Nestroy-Preis erhielt, sowie in Jelinek-Stücken oder als Mitglied im Ensemble von René Pollesch. Gerade vom unlängst verstorbenen Direktor der Berliner Volksbühne fühlte sie sich immer in ihrem Bestreben verstanden, die Menschen zu bewegen. „Es ist meine Liebe zu Komödien, die mich berühren und die zugleich wahnsinnig traurig sind“, sagt Caroline. „Eine Liebe zum Schwarzen, zur Verzweiflung, die einen so schreien lässt, dass man schon wieder lachen muss.“
Dann etwa, wenn in ihrem Gesicht bloß einen Wimpernschlag lang das Entsetzliche einer Situation spürbar wird, um ihr mit zartem Humor die Schwere zu rauben. Das ist eine Kunst, wegen der man sie nicht zuletzt gerne in Filmen besetzt. In „Womit haben wir das verdient“ zum Beispiel, wo sie als Mutter mit einer Teenager-Tochter konfrontiert wird, die zum Islam konvertiert und alle in der Familie ratlos macht, weil niemand weiß, wie er damit umgehen soll. Das ernste Thema ergab eine erstaunlich leichtfüßige Komödie, in den Kinos wurde aufrichtig gelacht.
Schauspielerei sei die Rache der Schüchternen, sagte einst Hollywood-Ikone Robert Mitchum, und die Schüchternheit war auch bei Caroline ein Impuls, auf einer Bühne über sich hinauszuwachsen. Bei ihr kam allerdings noch eine große Portion Neugierde dazu. Als Kind eines Psychiaters und einer Literaturwissenschaftlerin wurde sie von klein auf ins Theater mitgenommen. Nicht nur in Kinderstücke, denn ihre Mutter war der Ansicht, dass Kindern Dramen durchaus zumutbar sind. Da ihre Mutter auch ausgebildete Slawistin war, nahm sie Caroline eines Tages mit acht Jahren in eine russischsprachige Aufführung der „Dreigroschenoper“ mit. „Sie hatte es mir am Vorabend auf Deutsch vorgelesen“, sagt Caroline. „Ich saß dann drinnen und platzte vor Stolz, weil ich dachte, ich sei die Einzige, die jetzt weiß, worum es geht.“ Was sie allerdings noch mehr interessierte: Was passiert da hinter der Bühne, was geht da vor? „Auch im Zirkus, wenn der Vorhang aufging, habe ich immer versucht, einen Blick am Direktor vorbei zu erhaschen. Das Dahinter fand ich aufregender als die Show selbst.“
Es war ein bildungsbürgerlicher Haushalt in Köln, in dem sie aufwuchs und in dem außerordentlich viel gelesen wurde. Nur von ihr nicht. Da ihre Schwester bereits als Leseratte firmierte, verweigerte Caroline standhaft. Selbst bei den jährlichen Urlauben in Norwegen, in die die Familie so viele Bücher mitnahm, dass der Fußraum im Auto damit ausgelegt werden musste und die Mädchen darauf thronten, griff sie zu keinem Buch. „Einmal, so mit elf, habe ich auch eines mitgenommen, weil ich nicht dauernd alleine spielen wollte und mir meine Schwester ihre Bücher nie geborgt hat. Es war dünn, nicht besonders toll, eine Kinder-Detektivgeschichte. Aber ich habe sie dann aus lauter Fadesse 23 Mal gelesen.“ Kurz darauf begann auch für Caroline das Abenteuer Lesen so richtig.
Neben Hermann Hesse, in dessen Erzählungen Generationen von Jugendlichen mit Begeisterung versinken, lernte sie über die Schule die moderne Literatur einer Ingeborg Bachmann oder eines Max Frisch kennen. Und es fiel ihr „Das Haus der verrückten Kinder“ von Valérie Valère in die Hände. In diesem autobiografischen Bericht erzählt die Französin über ihre Magersucht und ihren Aufenthalt in einer Klinik. „Das hat mich sehr angegriffen“, sagt Caroline. „Die war ja noch ganz jung, so wie ich damals. Gerade hatte ich noch Astrid Lindgrens ,Die Brüder Löwenherz‘ gelesen und auf einmal fühlte ich mich richtig erwachsen.“
Wenn man sich einmal so fühlt, als wäre man reif für die Probleme der Großen, dann sind auch die Klassiker nicht mehr weit. „Schuld und Sühne“ von Fjodor Michailowitsch Dostojewski war der erste dicke Schmöker, in den sie hineinkippte. Es ist eine tiefgründige Analyse über die menschliche Natur und die Gesellschaft, die der russische Schriftsteller Mitte des 19. Jahrhunderts vorlegte. Er erzählt die Geschichte eines armen ehemaligen Jus-Studenten in St. Petersburg, der eine Pfandleiherin ermordet und in einem Strudel von Schuldgefühlen und inneren Konflikten unterzugehen droht. Permanent auf der Suche nach Vergebung und Erlösung, stellt er sich schließlich, obwohl er weiß, dass eine Strafe durch die Gesellschaft alleine nicht ausreichen kann. „Jede Seite war spannender als die davor“, sagt Caroline, „einmal ist man auf der Seite des Mörders, einmal gegen ihn. Es war eine extreme Achterbahnfahrt, bei der ich permanent über Moral, Schuld und Gegenschuld reflektiert und nachgedacht habe.“
Etwas später fühlte sie sich von „Es führt kein Weg zurück“ von Thomas Wolfe ähnlich konfrontiert, was aber mehr mit der jüngeren deutschen Geschichte zu tun hatte. Das Buch wurde zwei Jahre nach dem Tod des US-amerikanischen Autors im Jahr 1938 posthum von seinem Verleger herausgebracht und enthält bis dahin unveröffentlichte Manuskripte. Im Mittelpunkt steht der junge Schriftsteller George Webber, den die Suche nach seiner Identität unter anderem nach Berlin führt. Wolfe, der in seinem kurzen Leben öfters Deutschland bereist hatte, schickt seinen Protagonisten zunächst in den 1920er und nochmals Mitte der 1930er Jahre in die Hauptstadt. „Er beschreibt da den Beginn der Nazi-Zeit, durch die entsetzten Augen eines Dichters, der diesem Land zuvor zugetan war. Er steht fassungslos am Bahnhof Zoo und sagt: ‚Was ist los mit euch Deutschen? Das ist ja alles grauenhaft, da wird etwas Schreckliches passieren.‘ Da ging bei mir als Teenager plötzlich ein Vorhang auf und ich begann die unmittelbare Vergangenheit, die Geschichte meines Landes, meiner Eltern, meiner Großeltern plastisch zu begreifen.“
Langsam, im Hintergrund unterstützt durch zartes Zutun ihrer literarisch engagierten Mutter, zog es Caroline immer mehr auf die Theaterbühne. Nach dem Abitur bewarb sie sich bei mehreren Schauspielschulen, an der Hochschule für Musik und Theater in Saarbrücken nahm man sie auf. Dort erkannte ihr Schauspiellehrer Detlef Jacobsen, der früher mit George Tabori zusammengearbeitet hatte, ihr Talent zur Komik. „Als ich Strindberg vorgesprochen habe, hat er sich totgelacht“, sagt Caroline. Und er unterstützte sie von Beginn an beim kreativen Mitgestalten, was ihr mit ihrer freigeistigen Erziehung sehr entgegenkam. Regisseurin Andrea Breth holte sie noch vor ihrem Abschluss an die Berliner Schaubühne, aber erst als sie auf René Pollesch traf, hatte sie das Gefühl, auf der Bühne aus dem Vollen schöpfen zu können.
Sie folgte ihm ans Schauspielhaus Hamburg und konnte sich dort erstmals frei zwischen klassischem Repertoiretheater und einem Diskurs-Theater mit viel Mitsprache und Entwicklungsmöglichkeiten bewegen. Ab jetzt wird die Komödie immer mehr zu ihrer Spielwiese. „Es ist ganz leicht, sich tragisch irgendwo hinzustellen und depressiv zu sein“, sagt Caroline. „Aber einer Sache ausgesetzt zu sein, die einen kaputt macht, und einen Witz darüber zu machen, setzt eine gewisse Intelligenz und Bereitschaft zur Distanzierung voraus.“
Auch im richtigen Leben geht es ja sehr oft gerade um diese Dinge. So sind es denn auch Biografien, die Caroline eine Zeit lang verschlungen hat. Vorwiegend von Künstlern, weil man da nicht nur etwas über die äußeren Umstände und deren Auswirkungen erfährt, sondern wie Werke entstehen und sich Ideen entfalten. Einer, dem sie sich ganz besonders verbunden fühlte, war Carl Zuckmayer.
»Wenn sie jetzt nicht aufbrach, würde sie nie mehr fortkommen, und das hieß doch sicher sterben.«
aus „Der Fall Franza. Requiem für Fanny Goldmann“ von Ingeborg Bachmann
In „Als wär’s ein Stück von mir“ schildert der überzeugte Nazi-Gegner die Berliner Künstlerszene nach dem Ersten Weltkrieg, seine Flucht nach Henndorf am Wallersee und die späteren Emigranten-Jahre in Amerika. So wie Caroline verbrachte auch er seine ersten Lebensjahre in Mainz. „Er beschreibt im Buch, wie er mit seinen Eltern über die Rheinbrücke geht und immer Angst hat, zwischen den Brettern in den Fluss zu fallen. Ganz genau so ist es mir auch gegangen. Jeden Sonntag musste ich da hinüber zum Stadtpark und wenn du so klein bist, ist der Rhein sehr, sehr, sehr breit. Schau an, dachte ich, trotzdem ist ein toller Erwachsener aus ihm geworden.“
Mit René Pollesch und seinem Team, in dem unter anderen Christiane von Poelnitz, Joachim Meyerhoff, Sophie Rois und Martin Wuttke waren, kam Caroline ab Anfang des neuen Jahrtausends immer wieder für Gastspiele nach Wien. Ihr Lebensmittelpunkt blieb aber Berlin. Erst als sie 2010 ins Ensemble des Wiener Burgtheaters geholt wurde, begann sie zarte Bande zur Stadt zu knüpfen, seit 2015 lebt sie ganz hier. Dass es einmal so weit kommen würde, hätte sie sich in ihrer ersten Wien-Zeit aber nicht gedacht. „Ich fühlte mich ausgestoßen“, sagt Caroline. „Es wurde mir außerhalb des Theaters sehr eindringlich das Gefühl vermittelt, dass ich als Deutsche keine Schnitte habe, und es auch gleich gar nicht zu versuchen brauche.“ Dazu war alles in der Stadt fremd, es fiel ihr schwer, sich zu orientieren, bis ihr schließlich eine deutsche Schauspielerin, die es in Wien zum Publikumsliebling gebracht hatte, einen Rat gab. Maria Happel erklärte ihr, dass Wien nicht viel anders angelegt sei als Köln. Es gebe einen Fluss, einen Dom, den Ring und dazwischen müsse man sich einfach zurechtfinden.
„Dann fiel mir wieder Ingeborg Bachmann ein, die ich seit der Schulzeit nicht mehr gelesen hatte“, sagt Caroline. „Sie hat mir geholfen, die Stadt zu entschlüsseln. Als Deutscher ist man ja verleitet zu denken, vieles ist genauso wie daheim, weil hier dieselbe Sprache gesprochen wird. Aber es wird eben nicht dieselbe Sprache gesprochen. Das Land hat ganz andere Themen und eine eigene Geschichte, über die ich gar nicht so genau Bescheid wusste. Ich habe mir also diesen Sammelband, ,Todesarten‘ heißt er, hergenommen, da sind neben ‚Malina‘ auch unfertige Geschichten drinnen. Die Bachmann erzählt darin viel über Krieg, Patriarchat und Familien, die teilweise schon seit hundert Jahren wichtige Positionen in der Stadt haben. Und in ihrer schönen Sprache bringt sie einem nebenbei das Wesen der Stadt näher. ,Requiem für Fanny Goldmann‘ ist eine der drei Geschichten. Da geht es um eine Burgschauspielerin nach dem Krieg, die eigentlich nur schön und fad war, sodass sich niemand an sie erinnern kann. Aber man geht mit ihr durch die Stadt und denkt sich: Ah, da der Michaelerplatz, das Burgtor, der siebte Bezirk, den Fanny nicht leiden konnte … Ich habe dann alles gelesen von Ingeborg Bachmann. Da gab es auch noch eine Kurzgeschichte, die viel davon erzählte, wie sich das bürgerliche Leben hier nach dem Krieg ausformte und wie Probleme angegangen wurden. Sie schreibt über ein junges Mädchen, das dauernd zum Friseur geht. Sie ist eigentlich zu jung, um sie herum sitzen nur ältere Damen. Aber sie fühlt sich dort einfach so geborgen. Als ich das las, ist mir sofort ein wahnsinnig bekannter Innenstadtfriseur eingefallen, bei dem ich einmal zufällig in der Ballsaison war. Da saßen nur Frauen, die sich aufwändige Ballfrisuren machen ließen. So etwas kannte ich nicht, aber mit der Bachmann habe ich es verstanden.“
Auf den Spuren von Ingeborg Bachmann hat sich Caroline langsam Wien erobert. Sie ging wie Malina ins Gänsehäufel, sie ging die Ungargasse entlang, entdeckte den Heumarkt hinterm Stadtpark. Und sie suchte das Handschriftenarchiv im Rathaus auf, um die Briefe der jungen Bachmann an Hans Weigel zu lesen, mit dem sie heftig diskutierte, was jetzt Literatur sei oder nicht. Sie folgte der Schriftstellerin ins Café Raimund, in dem sie immer wieder verkehrte, lief die Argentinierstraße zum ORF-Radiokulturhaus hinauf und langsam wuchsen Caroline und Wien zusammen.
Heute lebt sie auf der Wiener Wieden, wo sie mit ihrem Partner, einem deutschen Fotografen, ein Postkarten-Geschäft aufgemacht hat. Es ist ein lebendiges Grätzel mit vielen kleinen Läden, wo die Nachbarschaft gerne vorbeischaut und sich zum Plausch auf der Bank vor den Schaufenstern hinsetzt. „Postkarten sind so wie Vinyl, man braucht es nicht, aber es ist wunderbar. Jeder freut sich, wenn er sie bekommt“, sagt Caroline. Die Karte bleibt im Gedächtnis und ist nicht so wie ein Handy-Foto sofort wieder weg. So wie Bücher, bei denen man beim digitalen Lesen oftmals die Orientierung verlieren kann, wo man denn jetzt aufgehört hat. Schlägt man aber im Buch wieder eine Seite auf, findet man die Stelle sofort wieder und im Nu sind auch die Figuren wieder zum Leben erweckt. „So ist das mit uns Freunden des Analogen“, sagt Caroline und schnappt ihr Skript. Auf geht’s zur Probe an der Berliner Schaubühne, wo sie in einem Solo-Stück alle Rollen selbst spielt. Das Thema ist ernst, so ernst, dass es diesmal nichts zu lachen gibt: Es handelt vom Rechtsruck in Europa.
Das Überlebensbuch von Caroline Peters
Der Fall Franza. Requiem für Fanny Goldmann
von Ingeborg Bachmann erschien u. a. 2004 bei Piper.
Bereits in den 1960er Jahren konzipierte Ingeborg Bachmann einen Romanzyklus, von dem 1971 als erster Teil „Malina“ erschien. Die beiden anderen Teile hatte sie etwa zur selben Zeit begonnen, blieben aber unvollendet. „Der Fall Franza“ wurde von Bachmann 1966 abgebrochen, Fragmente erschienen in einer Hörfunkaufnahme. Der Text handelt von einem jungen Geologen, der versucht, seine Schwester zu retten. Diese hatte in jungen Jahren einen älteren Wiener Psychiater geheiratet, der sie in den Wahn treibt und in eine Klinik steckt, aus der ihr die Flucht gelingt. Von „Requiem für Fanny Goldmann“ fanden sich nur unveröffentlichte Einzelteile, die die Geschichte einer Burgschauspielerin erzählen, die zwar hübsch, aber nicht sonderlich talentiert ist. Nach ihrer Ehe mit einem US-Offizier im Nachkriegs-Wien, der ihr an die Burg verhilft, verfällt sie einem angehenden Schriftsteller, der sie nach Strich und Faden ausnutzt. Auch in „Malina“ geht es um den Anfang und das Ende einer leidenschaftlichen Beziehung, die das Leiden der Ich-Erzählerin offenlegt. Es ist vor allem die Sprache Bachmanns, die diesem Roman trotz des schwierigen Themas eine gewisse Leichtigkeit verleiht. Feministische Aspekte stehen im Zentrum, aber auch die Abrechnung mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und der ausbleibenden Aufarbeitung der Vergangenheit. Schicht für Schicht legt Bachmann die Charaktere ihrer Figuren frei und zeigt die Auswirkungen des NS-Erbes auf die nachfolgenden Generationen.
Die Autorin
Ingeborg Bachmann wurde 1926 in Klagenfurt geboren und kam nach Wien, um Philosophie, Psychologie und Germanistik zu studieren. In Philosophie promovierte sie über Martin Heidegger mit der hehren Absicht: „Diesen Mann werde ich jetzt stürzen!“ In dieser Zeit lernte sie Hans Weigel kennen, mit dem sie eine intensive Beziehung pflegte und in seiner „Café-Raimund-Runde“ dabei war, in der er sich um junge Talente kümmerte. Nach einem Auftritt bei der Gruppe 47 galt sie als Ikone der Lyrik und wurde in der Literaturszene verehrt. Nach ihrer gescheiterten Beziehung zu Max Frisch, deren Ende sie kaum verkraftete, zog sie sich nach Rom zurück, wo sie 1973 nach einem Zimmerbrand verstarb.
Wie bei Eva Voraberger der Kampfgeist erwachte und einen ruhelosen Teenager zur Weltmeisterin machte. Und weshalb eine schreckliche Tat als Ansporn dienen kann.
„Mein Leben war bislang ausschließlich auf meinen Sport ausgerichtet. Auch alle meine Bücher haben etwas damit zu tun.“
Wer so lange als Profi-Boxerin in der Weltspitze mitmischte wie Eva, der muss neben Kampfgeist und einem eisernen Willen vor allem eines mitbringen: die ganz große Liebe zum Sport. Dass diese Liebe ausgerechnet fürs Boxen entflammte, mag zwar ungewöhnlich wirken, in Evas Fall aber ist es eine fast logische Konsequenz. Ja, man darf sogar behaupten: Die beiden haben sich gefunden. Hier ein Sport, der dir alles abverlangt, von der perfekten Körperbeherrschung bis zur vollen Konzentration. Dort ein junges Mädchen aus Graz, permanent auf der Suche nach den Grenzen, die einem das Leben aufstellt und die man bis ins Letzte ausreizen möchte.
„Ich war ein schwieriger Teenager, immer in Bewegung. Meine Mutter hat es nicht leicht gehabt“, sagt Eva, Jahrgang 1990, und dass sie alles Mögliche ausprobiert hatte, um ihre überbordende Energie sinnvoll einzusetzen. Tennis zum Beispiel, oder Hip-Hop tanzen, aber nach kurzer Zeit wurde ihr jeder Sport einfach nur langweilig. Bis ein Bekannter sie eines Tages zum Thaiboxen mitnahm. „Ich war gefesselt“, sagt Eva, „ab diesem Moment hat sich mein Leben um 180 Grad gedreht. Beim Boxen war mir rundum alles egal. Der Kopf schaltet sich aus, der Alltag verschwindet.“
Um sich als Frau für diesen Sport zu begeistern, sollte man besser nicht zimperlich sein. Auch das war Eva nie. Sie gehörte schon als Kind nicht zu denen, die gerne einsteckten, wich niemals einen Schritt zurück und verteidigte ihren Platz. Ohne Aggressivität allerdings und nebenbei auf der Suche nach einem Ausgleich, nach etwas, das sie auspowert. Mit siebzehn fand sie den Sport, der sie so richtig forderte, und gleichzeitig einen Trainer, der zwar an sie glaubte, aber keinerlei Disziplinlosigkeiten durchgehen ließ. Plötzlich musste Eva auf ihre Ernährung achten, statt Disco-Besuchen war Ausdauertraining angesagt. „Ich hatte mein erstes Ziel, ich musste mich dem Trainer gegenüber beweisen, sonst hätte er mich fallen lassen.“ So entstand alsbald ein Trainer-Boxerin-Gespann ähnlich wie im Film „Million Dollar Baby“ mit Hilary Swank, von dem Eva später ihren Kampfnamen „Golden Baby“ ableitete.
Nach 22 Kämpfen im Thaiboxen fühlte sie sich 2008 bereit, ins Profilager der Boxerinnen zu wechseln. Dort sind international nur vier Verbände wirklich wichtig, wer bei einem von ihnen Europa- oder Weltmeister wird, hat es geschafft. Etwa das World Boxing Council, kurz WBC, bei dem Eva nach 17 Kämpfen mit nur zwei Niederlagen Europameisterin wurde.
Beim WBC kämpfen alle großen Namen, auch die von einst, wie etwa Mike Tyson und vor allem Muhammad Ali. „Es war faszinierend, wie er während des Kampfes mit den Gegnern gesprochen und sie mental fertig gemacht hat.“ Das ist mittlerweile verboten und die Geplänkel vor dem Kampf, in denen Ali seinerzeit zur Höchstform auflief, sind bloß noch Teil einer medienwirksamen PR-Show.
Während des Fights hingegen ist Schluss mit Show. Hier zählt, neben Körper und Können, vor allem mentale Stärke. Wer sich von der Gegnerin provozieren lässt – schau nach bei Ali –, hat schon verloren. Wer im Ring wild wird, verliert die Kontrolle – und macht Fehler. „Boxen ist wie Schach spielen, jeder Zug muss gut überlegt sein“, sagt Eva, und dass man nur eine Chance hat, wenn man seine Gegnerin monatelang penibel analysiert, ihre Schwachstellen studiert und darauf eine Taktik aufbaut, die man stur durchzieht.
Es gibt viele Bücher über den großen Muhammad Ali, bürgerlicher Name Cassius Clay. Eines davon ist Eva besonders ans Herz gewachsen. In „Mein Bruder Muhammad Ali, die ultimative Biografie“ beschreibt dessen jüngerer Bruder Rahaman sein Leben an der Seite von „The Greatest“. Er erzählt von der Kindheit in Armut in Louisville, wo die Familie Clay mit ihren Söhnen Cassius Marcellus und Rudolph Arnett bis 1961 lebte, und ihrem späteren gemeinsamen Weg als Profi-Boxer. Denn auch Rudolph, der Jüngere der beiden Brüder, galt als Talent und schlug eine harte Gerade. Als dem viel berühmteren Cassius 1969 der Weltmeistertitel aberkannt und ihm die Boxlizenz wegen Wehrdienstverweigerung im Vietnamkrieg entzogen wurde, legte er gemeinsam mit seinem Bruder eine Pause ein. Schon zuvor hatten sie im Kampf gegen Rassismus und Unterdrückung ihre weltlichen Namen in Muhammad und Rahaman Ali geändert. Während Muhammad danach wieder wie Phönix aus der Asche in den Ring stieg, beendete Rahaman 1972 nach seiner einzigen K.o.-Niederlage die Karriere. Er war fortan immer an der Seite seines Bruders, als Sparring-Partner, Reisebegleiter und emotionaler Rückhalt. Ramahan Alis Buch ist wohl die innigste und intimste Biografie des größten Boxers aller Zeiten, und es war für Eva ein wichtiger Begleiter gegen Ende ihrer Karriere.
Als Eva 2014 als erste Österreicherin mit gerade einmal 24 Jahren Weltmeisterin wurde, begann man sich auch hierzulande für Frauen-Boxen zu interessieren. Etwas zögerlich zwar, aber immerhin. Fünf Jahre später, Eva war bereits sechsfache Weltmeisterin und erhielt Anfragen für einen Kampf im legendären Madison Square Garden in New York, war sie in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen. Für viele Frauen, die im Hobby-Boxen eine mentale und physische Basis für ihren beruflichen Alltag sowie eine adäquate Selbstverteidigung erkannt hatten, war sie ein Vorbild.
„Die Chance für Madison Square war einfach wow“, sagt Eva, schließlich hat noch nie eine Österreicherin oder ein Österreicher jemals dort geboxt. In den heiligen Hallen haben die bekanntesten Kämpfe stattgefunden, unter anderem auch der „Kampf des Jahrhunderts“ 1936, bei dem der Außenseiter Max Schmeling das amerikanische Box-Genie Joe Louis in der zwölften Runde zu Boden schickte. Max Schmelings Buch „…8-9-aus“ steht ebenfalls in Evas Buchregal. In seiner Biografie schreibt Schmeling nicht nur über seine Kämpfe, es ist auch ein Zeitdokument. Der Weltmeister war einst einer der bekanntesten Männer der Welt und traf sich mit US-Präsident Roosevelt genauso wie mit Mafia-Boss Al Capone und den großen Filmstars seiner Zeit.