Überlebe - Pia Richter - E-Book

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Pia Richter

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Beschreibung

Es ist ein Kampf zwischen gut und böse. Kreatur gegen Mensch.

Wie kann man in einer Welt überleben, in der Gewalt und Tod das Bild beherrschen? 

Ein Experiment zieht ungeahnte Folgen mit sich. Wolfsmenschen, nennen sie sich und ihre Macht scheint grenzenlos zu sein.

Doch es gibt sie, jene Menschen, die nicht vorhaben, aufzugeben. Sie versuchen, zu überleben und flüchten. Die gewonnene Freiheit entwickelt sich allerdings zur Grausamkeit.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Pia Richter

Überlebe

wenn du es schaffst

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kapitel 1

Niemand kannte sie, doch wusste man, dass es sie gab, die Kreaturen auf der anderen Seite des reißenden Flusses. Dessen Wasser so trüb und undurchdringlich war, wie der dichte Wald, welcher sich, wie ein schwarzes Band, am Ufer entlang zog.

Es gab nur wenige Menschen, die den Mut aufbrachten, in den kleinen Ansiedlungen zu leben, denn es war die Angst vor dem, was man nicht sah, aber Nacht für Nacht wahrnahm, welches ihnen den Schlaf raubte.

Dennoch gab ihnen das fruchtbare Land, was die ausgehungerten Menschen sesshaft werden ließ, neue Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die doch gleichzeitig mit einem gewissen Risiko verbunden war. Niemand konnte sich sicher sein, dass er am nächsten Morgen da aufwachte, wo er sich am Abend zuvor, zur Ruhe begeben hatte. Auch wenn es der engste Vertraute war, mit dem man noch, vor ein paar Stunden, den selbst gebrannten Schnaps geteilt hatte, der plötzlich nicht mehr auftauchte, hüllte man sich in Stillschweigen und nahm die Sache hin, so als sei nie etwas geschehen.

Jedoch stieg die Zahl jener, deren Hütten man am nächsten Morgen verlassen auffand, in einem beträchtlichen Maße, sodass man nach einer Lösung suchten musste. Die alte Erdhöhle, die schon immer den Menschen als Lagerplatz für ihre Vorräte gedient hatte, sollte den Frauen und ihren Kindern Schutz vor dem bieten, was des nachts sein Unwesen trieb. Doch taten diejenigen, welche sich in der Sicherheit jener neuen Behausung wähnten, selbst kein Auge zu. Der Gedanke daran, dass ihre Väter und Ehemänner sich genau oberhalb des Versteckes aufhielten, um das Leben ihrer Familien zu schützen, war unerträglich.

Dicht aneinander gedrängt lauschten die Wartenden auf jedes noch so kleinste Geräusch, welches zu ihnen hinab drang. Von Qualen durchtränkte Schreie ließen ihr Innerstes erschaudern.

In jener dunklen, mondlosen Nacht waren sie aufgetaucht, die grauen Gestalten, um sich ihre Opfer zu holen. Unaufhaltsam kamen sie durch das tosende Wasser, vom anderen Flussufer herüber. Was sie vorfanden, war nicht das, was sie sich erhofft hatten. Eine handvoll Männer, die zuvor noch voller Zuversicht war, ihre Angreifer in die Flucht zu schlagen, verließ schlagartig der Mut, als sie diejenigen erblickten, welche sich ihnen, ohne zu zögern näherten. Mit allem hatten sie gerechnet, nur nicht mit dem, was einem bösen Alptraum glich.

In Frieden kamen sie nicht, so viel stand fest, denn ihre grimmigen Gesichter ließen schreckliches erahnen. Hochgewachsen und muskulös waren ihre Körper und ihre stechend gelben Augen erschreckten die Männer fast zu Tode. Es war ihre Körperbehaarung, welche die fremden Wesen mit dem Wolf verband. Nicht einer von ihnen trug eine Waffe mit sich, denn ihre immense Kraft war ihr Kapital, mehr brauchten sie nicht.

Ohne jegliche Regung verschmolzen die Resignierten mit dem Boden, auf dem sie sich gerade befanden, um sich ihrem Schicksal zu ergeben.

Die Frauen, die es nicht mehr ertrugen, dass man ihre Männer regelrecht abschlachtete, eilten ihnen zu Hilfe, ohne zu wissen, in was für eine Gefahr sie sich begaben. Denn es waren auch ihre Schreie, die die wenigen Verbliebenen, welche sich unterhalb des grausigen Geschehens befanden, kurze Zeit später, vernehmen mussten.

Unzählige Minuten des Leides durchzogen die kleine Ansiedlung, bis plötzlich eine unerträgliche Ruhe Einzug hielt, welche eine erneute Welle der Angst heraufbeschwor.

Keinen einzigen Laut durften die, im Versteck verborgenen, von sich geben, sonst wären sie verloren gewesen.

Zwei ganze Tage lang, warteten sie auf die Rückkehr ihrer Mütter und Väter, doch es war vergeblich, denn niemand ließ sich blicken.

Jaro und Faisal, die am gleichen Tag, von der selben Mutter geboren wurden und mit ihren siebzehn Jahren die Ältesten unter den Verbliebenen waren, machten den Anfang. Vorsichtig schoben sie das dichte Geäst, was ihnen Schutz geboten hatte, beiseite.

Für einen Augenblick wichen sie zurück, denn die Sonne blendete erbarmungslos und trübte ihre Augen. Und als sie sich schließlich an das helle Licht gewöhnt hatten, begaben sie sich auf die Suche nach Überlebenden. Jedoch schwand ihre Hoffnung schnell, denn niemand war auffindbar, weder tot noch lebendig. Doch dann vernahmen sie ein seltsames Geräusch, was an Stärke zunahm. Ihr Glaube daran, im nächsten Moment selbst den Tod zu finden, versetzte ihnen Höllenqualen.

Starr, vor Angst, ergaben sie sich ihrem Schicksal. Aber dann tauchte plötzlich eine ihnen wohlbekannte Gestalt auf, nämlich die Selafenas, welche ihnen heimlich gefolgt war, um selbst nach ihren Eltern zu suchen.

“Verschwinde!“, rief Faisal, dessen Gesichtsausdruck äußerst wütend war.

Er hasste dieses Mädchen abgrundtief. Vielleicht nur deshalb, weil sie mit seinem Bruder auf eine gewisse Art und Weise seelenverbunden war und nicht mit seinesgleichen, wo sie sich doch bis aufs Haar ähnelten.

„Lass sie doch!“, erwiderte Jaro prompt, der Selafena gern in seiner Nähe hatte. Ihr Gesicht besaß etwas strahlendes, was ihn stets zum Lächeln animierte.

„Wo sind sie nur alle geblieben?“, wollte das Mädchen wissen.

Ratlosigkeit zeichnete sich auf den Gesichtern der Befragten ab. Ihnen blieb wohl nichts anderes übrig, als sich erneut auf die Suche zu begeben. Doch plötzlich richteten sich ihre Augen auf etwas, was sich nicht weit entfernt von ihnen befand. In ihrem Innersten beteten sie dafür, dass es nicht das war, nach was es aussah. Ihre Vermutung bestätigte sich allerdings. Es war ein abgetrennter Arm, der in einer Blutlache zum Vorschein kam.

Faisal erbrach sich vor dem abscheulichen Anblick, der sich ihm darbot. Die Peinlichkeit, über seine gezeigte Schwäche, trieb ihn von den anderen weg. Allein wollte er sein, mit sich und seiner Schmach.

Je weiter er voranschritt, desto heftiger offenbarte sich ihm erneut ein Bild des Grauens.

Vergossenes Blut säumte seinen Weg. Doch das war es nicht, was ihn erschaudern ließ. Ein abgetrennter Kopf kam zum Vorschein, dessen glanzlose Augen, bei näherem betrachten, ihm genau ins Gesicht starrten. Ein Aufschrei drang aus seiner Kehle hervor, der die anderen sofort herbei schnellen ließ.

Das Bedürfnis, weiter zu gehen, zerschlug sich augenblicklich. Eilig kehrten die drei schließlich in das Versteck zurück, wo man sie schon sehnlichst erwartete. Doch was die Zurückgelassenen vernahmen, war alles andere, als beruhigend. Was sollte man jetzt tun? Und wo sollten sie hin?

Was sie da draußen erwartete, wussten sie nicht. Hier, in der kleinen Ansiedlung, konnten sie überleben. Aber wie lange? Die Erdhöhle war ihre einzige Rettung, die den acht Unglückseligen in den Nächten Schutz bieten sollte. Doch was würden sie für ein Leben führen? Angefüllt von stetiger Angst, sich zu den nächsten Opfern zählen zu müssen.

Ihre Hoffnung, bei den Angreifern in Vergessenheit zu geraten, verstärkte sich mit der Zeit, denn niemand tauchte in den darauffolgenden Nächten auf.

An manchen Tagen suchte Selafena sogar, mit den jüngeren Kindern, das Flussufer auf, um ihnen den Dreck der letzten Tage abzuwaschen. Irgendetwas schien sie zu spüren, denn ihre Blicke erforschten neugierig das fremde Land, was sich auf der anderen Seite erstreckte und welches ihr einen eiskalten Schauer in ihre Knochen trieb.

Ob es nun gut oder böse war, darüber war sich Selafena nicht im klaren, denn mit ihren fünfzehn Jahren fehlte ihr noch die Erfahrung, jenes einzuschätzen. Ihr Innerstes sagte ihr, dass sie eine gewisse Verantwortung innehielt, die sie nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen durfte. So rief sie, in aller Eile, ihre Schützlinge zusammen, um sich vom Flussufer zu entfernen.

„Was ist?“, fragte Faisal abschätzig, als er das Mädchen erblickte, welches sich mit ihren verängstigt wirkenden Begleitern zielstrebig in Richtung der Erdhöhle bewegte.

„Ich glaube, sie beobachten uns“, sprach sie schließlich und begann damit, einige von den herumliegenden Zweigen vor den Eingang zu schichten, denn sie glaubte daran, dass sie sie gesehen hatten. In der Nacht würden sie kommen, da war sie sich sicher.

Faisal lachte, als sie ihm ihre Vermutung kundgab.

„Sie kommen nicht wieder, denn sie glauben, dass wir alle tot sind“, war seine Reaktion, auf ihre Weissagung.

Schon lange schlief er nachts nicht mehr in der feuchten Erdhöhle, denn es war die stickige Luft, welche in seiner Kehle ein Brennen verursachte.

Da er keinerlei Anstalten machte, Selafena helfen zu wollen, bat sie Jaro darum, mit ihr das Versteck zu tarnen. Natürlich zögerte der Gefragte nicht lange, was Faisals Ärger heraufbeschwor. Missgestimmt verschwand er in einer von den Hütten.

„Hol ihn doch zurück!“, bat Selafena, deren Innerstes von Unruhe geplagt war.

Obwohl Faisal ihr nie freundschaftlich gesonnen war, hatte sie doch Angst, um sein Leben. Verstehen konnte sie es nicht, warum Jaro ihr den geforderten Gefallen abschlug. Und je mehr sie ihn anflehte, desto abwehrender wurde seine Haltung, ihr gegenüber. Sie gab es schließlich auf, ihn mit ihrer Aufdringlichkeit zu ersticken.

Es war nicht so, dass er nicht, genauso wie Selafena, Angst um seinen Bruder hatte, doch er vertrat die Ansicht, dass jener sowieso, bei Anbruch der Dunkelheit, in die sichere Erdhöhle zurückkehren würde. Den Mutigen versuchte Faisal stets zu spielen, auch wenn die Angst ihm des öfteren deutlich anzusehen war. Das ärgerte Jaro zutiefst. Aber diesmal ließ sich sein Bruder nicht blicken.

„Ich werde mich hinausschleichen, um nach ihm zu sehen“, beschloss Selafena.

Noch bevor Jaro sie zurückhalten konnte, war sie auch schon verschwunden.

Er konnte ihr nicht folgen, denn die kleineren Kinder fingen an, zu jammern und klammerten sich an ihm fest. Nun bestand seine Hoffnung einzig und allein darin, dass sich Faisal von Selafena überzeugen ließ, zu ihnen zurückzukehren. Irgendwann verfiel er jedoch in einen leichten Schlaf, der bis zum Morgen anhielt.

Faisal war es, der ihn schließlich weckte. Jaros Blick suchte die Gegend ab. Wo steckte sie bloß? fragte er sich. Sicher war sie zum Fluss gegangen, um sich abzukühlen, denn die Sonne brannte schon jetzt erbarmungslos auf sie herab.

Noch ein wenig benommen, erhob er sich, um die Verschwundene ausfindig zu machen.

Immer wieder rief er verzweifelt ihren Namen, der jedoch unbeachtet blieb. Ein schlimmer Verdacht holte ihn ein, den er augenblicklich wieder verwarf. Faisal würde wissen, wo sie hingegangen war. Deshalb lief er zurück, um ihn zu fragen.

Zu seiner Enttäuschung jedoch, bekam er nicht die Antwort, die er sich erhofft hatte. Verzweiflung stellte sich ein.

„Irgendwo wird sie schon sein“, meinte Faisal missgestimmt, denn im Grunde genommen war es ihm egal, wo sich Selafena aufhielt. Vielleicht war es sogar ein Wink des Schicksals, dass sie nicht mehr unter ihnen weilte, denn lange genug hatte sein Bruder diesem Mädchen nachgestellt und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

„Sie ist hinausgegangen, um nach dir zu suchen!“, rief Jaro verzweifelt, der die Gleichgültigkeit seines Bruders nicht hinnehmen wollte.

„Warum hat sie das getan? Ich kann für mich selbst sorgen!“, schimpfte der Angesprochene, der sich keiner Schuld bewusst war.

Jaro schnellte empor. Irgendetwas musste er unternehmen, das stand fest. Aber was?

„Ich werde sie zurückholen!“, ließ er verlauten und blickte seinen Bruder erwartungsvoll entgegen, der offensichtlich so tat, als hätte er diese Worte nicht gehört.

„Versteh mich doch!“, flehte Jaro, „Sie ist mir genauso, wie du, ans Herz gewachsen.“

Natürlich war sie das, jenes war Faisal schon seit langem bewusst. Er musste ihn wohl ziehen lassen, ob er wollte oder nicht.

Die Worte eines alten Mannes, der einst in der Ansiedlung gelebt hatte, kamen ihn plötzlich in den Sinn. Im Süden sollte es sie geben, die unbezwingbare Festung, in dessen Mauern Menschen ein sorgloses Dasein führten.

Mit Jaro gehen, das konnte Faisal nicht. Die Kinder wären ohne Schutz.

So trennten sich schließlich ihre Wege. Der eine ging nach Norden und der andere wollte sich in Richtung Süden durchschlagen.

Der Moment des Abschieds fiel wohl beiden schwer, denn man wusste nicht, ob man sich wiedersah.

Jaro lief in Richtung des Flusses, ohne noch einmal einen Blick hinter sich zu werfen, denn der Schmerz, seinen Bruder vielleicht für immer zu verlieren, saß tief und bohrte sich unaufhaltsam durch sein Herz. So bemerkte er auch nicht, wie Faisal auf dem Hügel, oberhalb der Ansiedlung, stehen blieb und ihm nachblickte, bis ihn das Geäst der dichtbewachsenen Büsche verschlungen hatte. Dann ging auch er weiter, mit dem Ziel, jene Festung ausfindig zu machen, um seine Begleiter in Sicherheit zu bringen.

 

Fast hatte Jaro die Hoffnung, über den reißenden Fluss zu gelangen, aufgegeben, da erblickte er plötzlich einen morschen Baumstamm, der im Wasser trieb. Mit seiner Hilfe musste es möglich sein, das andere Ufer zu erreichen. Versuchen wollte er es auf jeden Fall, denn es blieb ihm keine andere Wahl.

Die unbarmherzige Strömung war das, was ihm zu schaffen machte und seine ganze Kraft verschlang. Verbissen kämpfte er gegen sie an und trug schließlich, wenn auch völlig erschöpft, den Sieg davon.

Aus seinen Lungen schoss das Wasser empor, was noch vor wenigen Augenblicken die Herrschaft über seinen Körper errang. Erst, als er sich dessen vollständig entledigt hatte, kam seine Wahrnehmung in langsamen Schritten zurück. Orientierungslos suchten seine Augen die Gegend ab. Außer ihm, schien niemand hier zu sein.

Den dichten Wald wollte er zu seinem Vorteil nutzen, denn nichts wäre schlimmer, als von den blutrünstigen Monstern, die seine Familie ausgelöscht hatten, entdeckt zu werden. Mit seinen eigenen Augen hatte er gesehen, zu was sie fähig waren. Nein, so wollte er selbst auf keinen Fall enden.

Außerdem musste er Selafena suchen. Er glaubte fest daran, dass sie noch am Leben war und wenn nicht, so hatte er es wenigstens versucht, sie zu retten. Somit hatte er sein schlechtes Gewissen reingewaschen.

Tatsache war, dass er sie nicht zurückgehalten hatte, als sie in der Nacht ihres Verschwindens, das sichere Versteck verließ, um Faisal zurück zu holen. Jenes plagte sein Innerstes gewaltig und würde nicht eher Ruhe geben, bis sie leibhaftig vor ihm stand.

Und als er so darüber nachdachte, was er als nächstes tun sollte, bemerkte er plötzlich, wie sich vor ihm, die Äste hin und her wiegten. Da kein Wind aufgekommen war, musste es etwas anderes sein, was sich da in den Büschen bewegte. Ein ungutes Gefühl kroch in ihm empor. Seine Situation schien aussichtslos, denn weglaufen hätte ihm wohl nicht das geringste gebracht. In seiner Verzweiflung suchte er zwischen der ausgetrockneten Wurzel eines umgestürzten Baumes Unterschlupf. Er spürte seinen Herzschlag, der sich vor Anspannung regelrecht überschlug.

Als er jene Schritte vernahm, die sich nun ganz in seiner Nähe bewegten, hielt er den Atem an. Warum war er nur hierhergekommen? fragte er sich, in seiner Verzweiflung. Sie hatten ihn entdeckt, das war ihm klar. Auch er konnte dem Tode wohl nicht entgehen.

Jaro schloss seine Augen und legte zu seinem Schutz, die Hände über seinen Kopf. Hoffentlich würden sie ihr Werk schnell vollenden, wünschte er sich.

Doch nichts von alledem geschah. Stattdessen spürte er einen Finger, der ihn ständig versuchte, zu berühren. Nur zögerlich gab Jaro schließlich seine armselige Deckung auf, um jenem Treiben auf den Grund zu gehen.

Verhalten hob er seinen Kopf in die Höhe und blickte geradewegs in die faszinierenden Augen eines menschenähnlichen, weiblichen Wesens.

„Was hast du hier zu suchen?“, ertönte plötzlich ihre Stimme, die Jaro zutiefst erschreckte, denn er hatte nicht vermutet, dass jenes Geschöpf seiner Sprache mächtig war.

„Kannst du denn nicht reden?“, fragte das Mädchen ungehalten und wendete sich verärgert von seinem Gegenüber ab.

Wenn sie seine Sprache verstand, so wusste sie sicher auch, wo man Selafena hin verschleppt hatte, schoss es durch Jaros Kopf.

„Kannst du mich in eure Siedlung bringen?“, fragte er kurz und knapp.

Natürlich hatte sie nicht vor, ihm diesen Gefallen zu tun, denn es stand nicht in ihrer Absicht, ihn ins Verderben rennen zu lassen.

„Geh zurück, zu deinesgleichen“, fing sie plötzlich an, zu schimpfen, wendete sich von seiner Gestalt ab und lief davon.

„Hast du einen Namen?“, rief Jaro ihr nach.

Er hoffte darauf, dass sie stehen blieb, um ihm wieder ihre Beachtung zu schenken und tatsächlich, sie tat es wirklich.

„Man nennt mich Jedita“, drang es aus ihr heraus.

Aber wieso erzählte sie ihm das, waren seine Tage doch gezählt.

Warum es ihn in den Wald verschlagen hätte, wollte sie wissen. Jaro war sich nicht sicher, ob er ihr wirklich den wahren Grund nennen sollte, weswegen er hier war. Doch sie gab nicht eher Ruhe, bis er ihr sein Geheimnis offenbart hatte. Jedita konnte nicht verstehen, weshalb er, wegen eines Mädchens, sein Leben aufs Spiel setzte.

„Du bist nicht richtig im Kopf“, meinte sie und schüttelte ungläubig ihr Haupt.

Jaros Erstaunen war groß, als Jedita sich blitzartig von ihm abwendete. Wie von Sinnen grub sie ihre Hände tief in die Erde hinein, dann begann sie damit, die Haut Jaros mit dem, in ihrer Faust befindlichen, feuchten Dreck abzureiben.

Welch ein wunderliches Verhalten sie doch an den Tag legte, dachte Jaro. Wahrscheinlich war sie einfach nur eine Verrückte, die im Wald ihr Unwesen trieb.

„Hör sofort damit auf!“, rief er und drückte Jedita von sich weg.

„Sie sind hier und werden dich mitnehmen“, fing sie an, zu flüstern. Akribisch scheuerte sie weiterhin auf seiner Haut herum.

„Zu welchem Zweck dient das?“, wollte Jaro wissen.

Eine Antwort blieb sie ihm schuldig, denn ihre Wahrnehmung hatte sich bestätigt.

„Bleib hier und zeig dich nicht!“, sprach sie und drückte Jaro noch tiefer zwischen die schützenden Wurzeln.

Er sah sie nicht, dennoch klangen ihre Stimmen bedrohlich, sodass er nur den einen Wunsch verspürte, sich augenblicklich in Luft aufzulösen. Er fragte sich, warum sie seine Gestalt nicht ausfindig machten, war er doch nur ein paar Fuß von ihnen entfernt. Es musste wohl der übelriechende Gestank sein, welcher von ihm ausging und der seinen eigenen Körpergeruch übertünchte. Seine Gliedmaßen fühlten sich schwer an, von der schnell trocknenden Erde.

Jedita kam nicht zurück. Sie war ihnen gefolgt. Wahrscheinlich nur, um ihn zu schützen. Das verstand er nicht. Vertrat er doch die Ansicht, dass all jene, die in den dunklen Wäldern ihr Unwesen trieben, brutal und böse seien. In dieser Hinsicht musste er sich wohl getäuscht haben. Auf jeden Fall hatte Jaro nicht vor, so einfach aufzugeben, denn jetzt fühlte er sich erst recht in seinem Vorhaben bestärkt, Selafena zu finden. Noch dazu kam, dass er jetzt wusste, wie man sich vor den Kreaturen des Waldes schützen konnte.

Nur schwerlich kam er voran. Immer wieder bildete er sich ein, dass ihn irgendjemand verfolgte. Die Nacht verbrachte er in einem kleinen Unterschlupf, welcher wohl einst das Zuhause eines Tieres gewesen sein musste. Auch wenn er sich in Sicherheit wähnte, so blieb der Schlaf ihm dennoch vergönnt. Die Angst, entdeckt zu werden, ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen.

Von Einsamkeit ergriffen, irrte er am nächsten Tag, ohne jegliche Orientierung, umher. Wohin sie gegangen waren, das wusste er nicht. Alle Spuren hatte die feuchte Kälte der Nacht mit sich genommen. Es gab, außer den immer wieder kehrenden Bäumen, nichts anderes, was seinen Weg kreuzte. Einmal in diesen tiefschwarzen Schlund geraten, woraus es kein entrinnen gab, sah Jaro seine Chancen schwinden, Selafenas Gestalt jemals wieder in seine Arme zu schließen.

Der mittlerweile poröse Dreck, auf seiner Haut, zerfiel und begann sich unaufhaltsam von seinem Körper zu lösen. Sie würden ihn finden. Ja, das würden sie gewiss und das wahrscheinlich, in absehbarer Zeit. Er musste sie erneuern, jene Hülle, die sein Leben beschützte. Er warf sich auf den Boden und wälzte sich in allem, was dieser hergab.

Kapitel 2

 

Als Selafena ihr Bewusstsein wiedererlangte, erschrak sie zutiefst. Was sie vorfand, war alles andere, als beruhigend. Die Gitterstäbe, welche sie umgaben, waren aus festem Stahl geschmiedet. Ihre ungeschützte Haut schmerzte von der heißen Glut, die sie erbarmungslos umschloss und nicht einen Moment daran dachte, von ihr abzulassen. Selafena war nicht allein. Vier weitere Frauen, von denen nicht eine aus der Ansiedlung stammte, teilten mit ihr jenes Schicksal.

Der große Platz, auf dem sich die Käfige befanden, wies kein weiteres Lebenszeichen auf. Das Mädchen fragte sich, welcher Mensch dazu fähig war, über das Leben eines anderen zu bestimmen.

„Wo sind wir hier?“, wollte sie von dem armseligen Weib, welches sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand, wissen.

Die hielt nur den Finger auf ihre Lippen, als Zeichen dafür, dass es wohl besser sei, zu schweigen. Aber das reichte Selafena nicht als Antwort aus.

„Sag doch, wieso werden wir hier, auf so abscheuliche Weise festgehalten?“, hakte sie noch einmal nach.

Die Frau schwieg weiterhin und Selafena wusste auch warum. Hinter ihrem Rücken vernahm sie plötzlich ein lautes Klirren. Ihr Kopf schoss in dessen Richtung.

Zur Rede stellen, wollte sie ihn, diesen grausamen Menschen, der sich das Recht herausnahm, andere zu demütigen. Der Atem stockte ihr jedoch, als ihre Augen an jener Kreatur haften blieben, die ganz anders war, als sie vermutet hatte. Da, wo sie herkam, redete man öffentlich nicht gern darüber, dass es da noch etwas anderes gab, außer ihresgleichen.

Zwar hatte Selafena es immer vermutet, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, denn sie wusste schon immer, dass jene Wesen, die in den Nächten in der kleinen Ansiedlung auftauchten, keine Menschen sein konnten. Nun befand sie sich direkt vor solch einem Untier, was halb Mensch und halb Wolf war.

Ohne von ihm abzulassen, starrte Selafena der ungewöhnlich wirkenden Gestalt direkt in seine gelb glänzenden Augen. Sie spürte plötzlich ein ruckartiges ziehen, unterhalb ihres Armes. Es war jene Frau, die es vorgezogen hatte, zu schweigen, die jetzt um das Leben des arglosen Mädchens besorgt schien. Selafena ließ sich schließlich darauf ein und wendete sich von dem Wolfsmenschen ab.

Als er verschwunden war, erwachten plötzlich die Lebensgeister in dem alten Weib. „Du darfst nicht sprechen, hörst du? Und blicke ihnen niemals in die Augen.“

Die Frau befürchtete jedoch, dass jene Warnung, die sie gerade ausgesprochen hatte, dem Mädchen nicht mehr von Nutzen war. Wahrscheinlich befand sich der Wolfsmensch bereits auf dem Weg zu seinem Herrn, um ihm von seiner Begegnung zu berichten.

Sitek, der über das mächtige Reich Golatos regierte, lebte, wie es ihm gefiel. Seiner Meinung nach waren diese unbehaarten, nackten Wesen nur für eines gut, um verspeist zu werden oder sich, aus seiner Triebesslust heraus, mit ihnen zu vergnügen. Schon lange hatte er das Interesse an seiner eigenen Art verloren. Was ihre Leiber an Nachkommenschaft hergaben, war nicht das, was Sitek zufriedenstellte. Er besaß schließlich die unumstrittene, alleinige Macht über jeden, der zwischen den Mauern von Golatos sein Dasein fristete.

Ganze dreißig Gefolgsleute hatte er, in seinen guten Zeiten, um sich versammelt, die alles taten, was Sitek von ihnen verlangte.

Wenn ihn die Gelüste packten, so stiegen seine Vertrauten hinab, in die Katakomben, um für ihn eine von den Frauen auszusuchen, die ganz nach seinem Geschmack war. Denn über die Jahre hinweg, kannten sie die Vorlieben ihres Herrn genau. Diejenige, welche ausgewählt wurde, leistete keinen Widerstand, denn es war nur die Hülle, die sie wie einen Menschen aussehen ließ. Ihr Verstand glich dem eines Tieres, denn genauso fristeten sie auch ihr Dasein.

Unterhalb des riesigen Herrschertums wurden die Bedauernswerten zu dutzenden herangezüchtet.

Immer auf der Suche nach etwas essbarem, was man ihnen durch die Lüftungsschächte zuwarf, durchstreiften die seelenlosen Geschöpfe die unzähligen Gänge, die sich weithin verzweigten. Viele waren zu Einzelgängern geworden und versuchten sich in den Nischen des Verlieses zu verstecken. Ständig liefen sie Gefahr, von ihren Feinden, die nachts auf Beutezug gingen, getötet zu werden.

Die nahmen allerdings nicht jeden mit, der ihren Weg aus Unachtsamkeit kreuzte. Die gebärfähigen Frauen wurden verschont, und auch die kräftigsten Männer hatten nichts zu befürchten, denn sie waren es, die sich in den dunklen Gängen der Katakomben fortpflanzten und für die Arterhaltung sorgten.

 

Sitek ließ das Weib in seine Gemächer bringen. Zwei, seiner Gefolgsmänner, banden routiniert ihre Hände zusammen und schlangen das Seil, um eine, von den maroden Säulen, welche als Zeugin ihrer Zeit, einiges über sich ergehen lassen musste. Ihre einstigen Glanzjahre waren schon lange dahin.

Offensichtlich wusste jenes bedauernswerte Geschöpf, was auf sie zukam, denn sie kannte es bereits, dieses immerwährende Spiel. In den unterirdischen Gängen ein gutes Versteck zu finden, war schwer.

Wer nicht das Glück besaß, sich unsichtbar zu machen, wurde von den lüsternen, dunklen Gestalten, die das Bedürfnis hatten, ihre Triebe auszuleben, gnadenlos heimgesucht. So harrte sie der Dinge, die auf sie zukamen. Und Sitek war es nicht gegeben, lange zu fackelten. Als er eintrat, begutachtete er sein Opfer mit einem Hauch der Zufriedenheit.

Auf dem Bauch lag sie, so dass sie ihm nicht in die Augen blicken konnte, denn das hasste er zutiefst. Ihr weißer Körper erregte ihn und animierte ihn dazu, über die Haut ihres glatten, mächtigen Hinterns zu streichen. Voller Wollust ergriff er schließlich den Leib seines Lustobjektes und hob ihn ein wenig in die Höhe. Dann drang er in sie ein und bestimmte selbst den Rhythmus ihres Beckens. Sein Vergnügen währte jedoch nicht lange, denn plötzlich sprang die Tür auf und einer seiner Gefolgsmänner, der auf den Namen Salomont hörte, trat herein.

„Herr, es ist Zeit für Eure Mittagsmesse“, ließ der Eingetroffene, ohne jegliche Regung verlauten. Er kannte das Bild, was sich ihm gerade offenbarte, zur Genüge.

Sitek hasste dieses Ritual, vor sein Volk treten zu müssen. Doch sie verlangten es von ihm.

Nur zu gern verkroch sich der Herrscher in seinen Gefilden, um seinem lasterhaften Leben nachzugehen. Wenigstens einmal am Tag sollte Sitek auf der Empore erscheinen, so wollte es das Volk. Es war ein Zeichen für sie, dass er noch bei bester Gesundheit war. So blieb ihm nichts anderes übrig, als seine verdammte Pflicht zu erfüllen.

Ungern gab er schließlich seine Position auf und löste sich von dem geduldigen Weib.

„Mach sie los und bring sie zurück, zu den anderen!“, wies er den Wartenden an.

Sitek eilte hinaus, denn er spürte die Unruhe, die sich mittlerweile auf dem großen Platz eingeschlichen hatte. Gegenseitig hatten sie sich aufgeputscht und riefen solange den Namen ihres Herrschers, bis der endlich auf der Empore erschien.

Mit Schrecken verfolgte Selafena, wie sich nach und nach der Platz füllte. Von ihr und den anderen schienen die Versammelten keinerlei Notiz zu nehmen. Doch das beruhigte sie nicht im Geringsten, denn Siteks Gestalt, welche sich nun auf der Empore präsentierte, löste in ihr eine Katastrophe aus.

Die Tränen schossen ihr, wie Sturzbäche aus den Augen, als seine Worte ertönten, die nur eines beinhalteten, jenen Feind, den sie Mensch nannten, auszurotten. Der aufgeputschten Menge Kampfesslust war entfacht. Mit erhobenen Armen und lautem Gebrüll erwiesen sie ihrem Herrn den obersten Respekt.

Nie wieder würde sie von hier wegkommen, das wurde Selafena schlagartig bewusst. Um zu überleben, blieb ihr wohl nur eine Möglichkeit, sie musste alles daran setzen, diese Untiere milde zu stimmen. Denn eines war ihr klar, wer auffiel, der hatte verloren.

Salomont, welcher vorhatte, die Frau von ihren Fesseln zu befreien, hielt plötzlich inne. Suchend blickte er sich um. Totenstille umgab ihn, denn die undurchdringlichen Mauern des Palastes verbargen das, was sich gerade hinter ihnen abspielte. Salomont war völlig allein, denn alle wollten Sitek Gehör schenken.

Das Weib verharrte immer noch in der Stellung, in der sie der Herrscher zurückgelassen hatte.

Keiner der Außenstehenden würde es mitbekommen, wenn er jetzt...! Eilig verwarf Salomont jenen absurden Gedanken, der gerade von ihm Besitz ergreifen wollte. Doch die Versuchung war zu groß, dass er sich ihr schließlich ergab.

Vorsichtig tasteten seine Hände ihren menschlichen Körper ab. Wie weich und schwer sich doch ihre Brüste anfühlten. Das steigerte seine Lust aufs Äußerste, sodass er nicht mehr an sich halten konnte und sich an ihr ergötzte. Doch die Angst, ertappt zu werden, brachte ihn dazu, seine Lust schnellstens zu stillen. Hastig vollendete er sein Werk.

Salomonts Gedanken überschlugen sich plötzlich. Sitek würde bald in seinen Palast zurückkehren. Sicher wäre er, über die momentane Situation nicht gerade erfreut. Wahrscheinlich würde er ihn letztendlich sogar aus seinem Gefolge verdammen. Das wäre dann wohl sein Untergang.

Salomont entschloss sich schließlich dazu, die Fesseln jener Frau zu lösen. Rücksichtslos zog er sie in die Höhe und stellte sie auf ihre wackligen Beine. Nicht einen Fuß konnte sie vor den anderen setzen und das machte Salomont wütend, denn die Zeit schritt unaufhaltsam voran. Kurzentschlossen umschlang sein Arm ihre Hüfte und dann zog er sie mit sich. Auch jetzt verließ die geschundene Seele nicht ein einziger Laut des Widerstandes.

 

Ein Schleier der Faszination lag über den Zuhörern, die wie gebannt, die Augen auf ihren Herrscher gerichtet hatten und nicht mitbekamen, was sich, um sie herum, ereignete. Auch Salomont hielt für einen Augenblick inne und lauschte den Worten Siteks, an dessen Seite sich mittlerweile der ihm so verhasste Versio eingefunden hatte. Ihn verabscheute er am allermeisten, da er aus der Art geschlagen war.

Er und seine einfältige Schwester Jedita waren das ungewollte Ergebnis einer Zusammenkunft zwischen Sitek und einer Frau menschlicher Herkunft.

Jene Frau, die den Namen Savinia trug, entstammte dem starken Herrschergeschlecht, derer von Anestes, welche einstmals über Golatos regierten.

Ihre Besonderheit war es, sich gegen Siteks Gene zu behaupten. Es war kein Wolfsmensch, welchem sie, in einer tiefschwarzen Nacht, ungewollt das Leben schenkte.

Ihr Erstgeborener kam nach ihr und wies nur wenige Merkmale auf, die daran erinnerten, wer sein Vater wirklich war. Ihr lag es allerdings fern, jenen Knaben, den sie Versio nannte, seinem Schicksal zu überlassen. Sie sperrte ihn ein, denn sie wollte, trotz ihres Hasses auf ihn, sein Leben schützen.

Ganze drei Jahre später, schenkte sie Jedita das Leben. Doch diese Geburt konnte Savinia nicht vertuschen, denn als sie sich zu jenem abgelegenen Teil des Reiches begeben wollte, um das Kind zu gebären, geschah es. Unter Schmerzen brach sie, kurz vor ihrem Ziel, in sich zusammen und blieb besinnungslos, mitten auf dem Platz liegen. Es war ihr eigener Vater, welcher aus seinem Versteck hervorkam, um die letzte, seiner Töchter, vor dem Tode zu retten. Sein Schicksal schien besiegelt, denn plötzlich tauchten sie auf, die Wesen, welche er einst geschaffen hatte. Sie nahmen den Mann, der ihnen so verhasst war, gefangen. Vor den Augen aller, sollte er gevierteilt werden.

Doch Sitek selbst, gebot dem Einhalt. Leiden, sollte jener, sein gottverdammtes Leben lang. Nicht deshalb, weil er sie erschaffen hatte, die neue Art. Nein, nur aus einem Grunde, da sie unter seiner Herrschaft Höllenqualen erdulden mussten.

Im alten Tempel, wo einst das neue Leben gezeugt wurde, sollte er seine restlichen Jahre verbringen.

Savinia hingegen, ersparte man dies. Sitek persönlich, hatte sie aufgesucht, um sich davon zu überzeugen, dass seine Gefolgsmänner wirklich die Wahrheit gesprochen hatten, denn er konnte es nicht glauben, dass ihn seine Geliebte so hinters Licht geführt hatte. Tatsächlich sah er mit seinen eigenen Augen das, was er niemals für möglich gehalten hätte, war doch all seine übliche Nachkommenschaft von seinem Blut. Savinia fand den Tod, gleich nach der Geburt ihres zweiten Kindes.

Auch wenn das Volk von seinem Herrscher forderte, diese Missgeburten, so wie sie sie bezeichneten, zu töten, ließ Sitek sie dennoch am Leben. Panagiota, eine Hexe menschlicher Herkunft, welche von ihrem eigenem Volke verstoßen wurde, sollte sich der Kinder annehmen.

Auf seinen Streifzügen hatte Sitek die Wunderheilerin gefunden und gefangengenommen. Der Tod blieb ihr erspart, denn sie versorgte mit ihrem Wissen, die Wunden von Siteks Gefolgsleuten. So entwickelte es sich zu Panagiotas Schicksal, die beiden Bastarde in aller Abgeschiedenheit großzuziehen. Liebe empfingen sie nicht, denn der armseligen Herz war selbst, auf alle Zeit gebrochen und für Vertrauensseligkeiten jeglicher Art verschlossen.

Über die Jahre hinweg, kannten Versio und Jedita nichts anderes, außer die Enge ihres unfreiwilligen Gefängnisses. Doch dann kam der Zeitpunkt, an dem es die beiden Sonderlinge hinaustrieb, um das wahre Leben kennenzulernen, welches doch so einiges für sie bereithielt.

Ihre anfängliche Freude, mit denen Bekanntschaft zu schließen, die nicht ihrem Aussehen entsprachen, verflog schon am ersten Tag, denn ihr Umfeld erwies sich als äußerst ablehnend.

Feindseligkeit und Verachtung waren das, was sie zu spüren bekamen, denn ihresgleichen verbrachte ihr Dasein normalerweise in der Abgeschiedenheit der Katakomben. Es war jedoch ihr starker Wille, den sie in all den vergangenen Jahren entwickelt hatten, der ihnen in der fremden Welt das Überleben ermöglichte.

Sitek hatte mittlerweile Gefallen daran gefunden, eine handvoll starker Männer, welche man aus den Katakomben heraus, in die Käfige trieb, gegeneinander kämpfen zu lassen. Jenes erachtete Versio, als seine einzige Möglichkeit, um das Vertrauen seines Erzeugers zu erlangen. Auch wenn Sitek sein Vater war, so war es ihm streng untersagt, dieses Wort zu gebrauchen.

Ganze drei Monate fungierte Versio, als stiller Beobachter und brachte sich selbst, in aller Abgeschiedenheit, jene Kampfkunst bei, die die Männer anwendeten. Nur wenigen war es vergönnt, siegreich aus den blutigen Kämpfen hervorzugehen. Diejenigen, welche den Tod fanden, wurden sogleich von den lauernden Wolfsmenschen herausgezogen. Gierig machten sie sich über die Kadaver her. Nicht immer ging dies, ohne Verletzungen ab, denn jeder wollte etwas von dem noch warmen Fleisch abbekommen.

Bald war es Langeweile, welche Sitek einholte, denn es waren immer die gleichen Männer, die den Sieg davontrugen und das reizte den Herrscher schon lange nicht mehr. Versio fühlte sich nun bereit und nahm seine einzige Chance war.

Schweißgebadet, vor Anspannung, trat er aus dem Schatten seines Daseins heraus und schob sich durch die Reihen der Zuschauer hindurch. Das er nicht unbedingt beliebt war, unter denen, die sich zahlreich eingefunden hatten, das war ihm schon lange klar. Man mied ihn, wie die Pest. Erst jetzt war es ihm gegeben, darüber hinweg zu sehen.

„Mach dich davon, du Missgeburt!“, rief ihm einer der Zuschauer entgegen und versuchte ihn, weg zu drängen, doch Versio ließ all die Demütigungen über sich ergehen, mit dem Glauben daran, einen Sieg davonzutragen.

Unzählige, blutige Kämpfe musste er selbst bestreiten, bis ihn Sitek in seine Reihen aufnahm. Nun befand er sich neben ihm und wurde respektiert, so wie es immer sein Wunsch gewesen war. Sein inneres Wesen war genauso, wie seine äußere Hülle, hart und gefühllos. Schmerzen, jene verspürte er schon lange nicht mehr, denn er hatte sich seiner rauen Umgebung angepasst.

 

Ein eindringlicher Klagelaut erfasste plötzlich Salomonts Ohr. Er fühlte, wie der Körper des Weibes, von einer gewissen Schwere ergriffen wurde. Den ganzen Tag schon, hatte er nicht einen einzigen Bissen zu sich genommen.

Da die Frau, deren Leib nur noch wenig Leben enthielt, für Sitek sowieso nicht mehr von Nutzen war, schleifte er sie, in eine der dunklen Ecken. Sogleich beugte sich Salomont über das geschwächte Weib. Seine Hand umschloss ihre Kehle. Die Luft, nahm er ihr, mit seinem festen Griff. Das letzte Aufbäumen ihrer Körpers war schnell versiegt. Erst jetzt machte er sich über seine Mahlzeit her. Und als er, wenige Augenblicke später, wohl gesättigt, die Abgeschiedenheit des dunklen Winkels verließ, lief er geradewegs Merus in die Arme. Auch wenn Salomont versuchte, ihn zu ignorieren, so kam er dennoch nicht unbemerkt an ihm vorbei.

Merus Freude hielt sich jedoch in Grenzen, als er seinem Freund ins Gesicht blickte. Ein Anflug von Unsicherheit überkam den Ertappten. Hatte sein Gegenüber tatsächlich etwas mitbekommen? fragte er sich. Niemand befand sich doch in seiner unmittelbaren Nähe, oder doch?

„Wisch dir das Blut aus dem Gesicht, bevor es noch ein anderer sieht!“, ließ Merus, mit ernster Stimme verlauten.

Er hasste es, wenn Salomonts Eigensinn zum Vorschein gelangte, welchen jener nur schwerlich unter Kontrolle hatte. Merus glaubte daran, dass jener Tag kommen würde, an dem Sitek nicht mehr gewillt war, die Ausschweifungen seines Getreuen zu dulden.

Des Herrschers übermächtige Position, welche jeden Anspruch, auf eine Daseinsberechtigung seiner Untertanen, in Frage stellen konnte, ließ ihn ohne Zweifel, als einen überaus gefürchteten Wolfsmenschen erscheinen. Keinem, weder Versio, noch Salomont, gebührte das Recht, auf ewiges Leben. Siteks Launen waren unergründlich. Manchmal genügte bereits eine unachtsame Tat, welche unvorhergesehene Folgen mit sich zog.

„Mach dich nicht zum Feind Siteks, indem du seine Befehle missbilligst. Steig hinunter, in die Katakomben, um deinen Hunger zu stillen, sowie es Sitek angeordnet hat!“, sprach Merus und setzte seinen Weg fort.

Sie kannten einander schon viele Jahre, denn sie waren zusammen aufgewachsen. Niemals, so glaubte Salomont, würde Merus dazu in der Lage sein, ihn an den Pranger zu stellen. Ihre brüderliche Zusammengehörigkeit ließ nichts anderes zu, egal was die Zeit auch bereit hielt.

Kapitel 3

 

Selafenas Kopf schmerzte. Die Hitze des Tages hatte sie geschwächt. Als die Abenddämmerung endlich Einzug hielt, verspürte sie eine wohltuende Linderung. Ihre Augenlider waren schwer, vor Müdigkeit.

Ihr Wille, dem Schlaf zu trotzen, hielt nicht lange an. Notgedrungen ergab sie sich ihm. Irgendwann, in der Nacht, durchfuhr sie ein Schreck.

Das Ertönen von Hörnern, die einen mächtig lauten Ton von sich gaben, ließen Selafena in die Höhe schnellen. Die Frau, welche sich immer noch an ihrer Seite befand, zog sie zurück.

„Sieh lieber nicht hin, wenn du nicht von Alpträumen geplagt werden willst“, flüsterte sie.

Selafena blickte sich um. Niemand war zu sehen, bis die Hörner ein zweites Mal erschallten. Da tauchten sie auf, die Fänger, welche zu dutzenden in Richtung der Katakomben strömten. In ihren Händen hielten sie derbe Knüppel, die ihnen dazu dienten, ihre Opfer ohne Skrupel zu erschlagen. Als die Hörner schließlich verklungen, machten sich die Fänger, unter lautstarken Getöse auf, in das Innere jenes unglückseligen Ortes vorzudringen.

Ihre Mordlust bekam einen neuen Auftrieb, als ganz in ihrer Nähe eine Gestalt auftauchte, welche sofort die Flucht ergriff. Nun waren sie nicht mehr zu halten. Angriffslustig zogen sie ihre Knüppel an den langgestreckten Wänden entlang. Jedes einzelne Versteck wurde ausgekundschaftet, bis man schließlich fündig wurde. Erbarmungslos zog man die nackten Kreaturen mit sich und versetzte ihnen, kurz vor dem Ausgang, den erlösenden Schlag. Es lag nicht in Siteks Interesse, jenes Exempel auf dem großen Platz zu veranstalten. Die Wolfsmenschen waren es seit jeher gewohnt, ihre Nahrung in einem leblosen Zustand vorzufinden.

Die Leichen reihten die Fänger, Seite an Seite, zwischen den ungeduldig Wartenden auf. Angespannt lauerte jeder einzelne von ihnen, auf das Handzeichen Siteks. Und als er es schließlich erteilte, stürmten sie los, um sich die besten Kadaver zu sichern. Wem das Glück zu Teil wurde, einen vollständigen Leichnam zu ergattern, schleifte ihn bis zu seinem Quartier, wo er ihn mit seinen engsten Vertrauten akribisch teilte.

Es gab auch diejenigen, welche leer ausgingen, denen blieb nichts anderes übrig, als auf den nächsten Tag zu hoffen. Sie brauchten nicht nur das nahrhafte Fleisch ihrer Opfer, sondern auch die Flüssigkeit, die sich in ihnen befand, denn seit Tagen hatte nicht ein Tropfen Regen die Erde erreicht. Die alten Brunnenschächte waren staubtrocken.

Selafena, welche ihren Blick nicht vor dem verbergen konnte, was sich da, vor ihrem Angesicht abspielte, glaubte zu träumen. Das dieser Ort nichts gutes für sie bereit hielt, damit hatte sie sich bereits abgefunden. Aber das, was jetzt wahrnahm, übertraf alles, was sie bisher gesehen hatte. Allesamt waren es Bestien, deren Hauptnahrung aus nichts anderem bestand, als dem Menschen. Sie fragte sich, ob sie das gleiche Schicksal ereilen würde. Plötzlich flog hinter ihr das schwere Eisengitter auf.

„Vorwärts!“, rief der furchteinflößende Wolfsmensch, mit rauer Stimme. Den Knüppel, den er in seiner Hand hielt, erhob er drohend in die Höhe. Die Angst, geschlagen zu werden, war groß, deshalb zögerten die Gefangenen nicht lange, sondern erhoben sich sogleich, um dem Untier dorthin zu folgen, wo auf sie höchstwahrscheinlich der Tod wartete.

Ihr Weg führte sie in Richtung der Katakomben. Es war wohl ihre Bestimmung, dort, bis zu ihrem Ableben, dahin zu vegetieren. Selafena fiel plötzlich ein Mädchen auf, welches sich der Gruppe näherte. Ihre Gestalt hob sich von den anderen ab. Sie besaß viele Merkmale, die einem Menschen nahe kamen, aber sie dennoch nicht vollständig zu einem machten. Ihr tiefschwarzes, wildes Haar und die so typisch gelb stechenden Augen ließen keinen Zweifel zu, dass sie eine von ihnen war.

„Salomont, warte!“, forderte die Ankommende und trat geradewegs auf den Wächter zu.

„Was suchst du hier? Scher dich gefälligst weg!“, lauteten dessen drohende Worte.

Immer im falschen Augenblick musste dieses missratene Geschöpf auftauchen, um ihre Nase da hinein zu stecken, was sie überhaupt nichts anging.

Jedita, welche nicht im Traum daran dachte, zu verschwinden, besaß sogar die Dreistigkeit, ein Weib aus seiner Gruppe herauszuziehen. „Die hier, nehme ich mit! Sitek hat es mir erlaubt, mir eine von denen auszusuchen.“

Salomont stutzte. Er fragte sich, ob sie wirklich die Wahrheit sprach. Vielleicht lag es einzig und allein in ihrer Absicht, ihn hinters Licht führen zu wollen.

„Du kannst Sitek fragen, wenn du willst!“ beteuerte sie.

Überzeugend zu lügen, das lag Jedita schon immer, denn noch nie hatte sie etwas anderes kennengelernt. Behaupten, musste sie sich, Tag um Tag, um nicht unterzugehen.

„Na komm schon!“, forderte sie schließlich und zog Selafena von den Verbliebenen weg.

„Ich werde ihn fragen!“, rief Salomont ihnen nach.

Immer noch hegte er Zweifel an den Worten Jeditas. Allerdings lag es ihm fern, seinen Herrscher zu verärgern, indem er seinen Willen widersprach. Und wenn sie doch gelogen hatte? schoss es erneut durch seinen Kopf.

Wiederrum war es Merus, dem er vor dem Eingang der Katakomben begegnete.

„Wieso sind es nur vier, die du bringst?“ fragte er.

Suchend blickte er sich um, so als wolle er die Fünfte ausfindig machen.

„Jedita hat sie mitgenommen“, lautete die verhaltene Antwort Salomonts.

Er fühlte sich schlecht, bei dem Gedanken daran, dass das Mädchen ihn so überrumpelt hatte.

„Bist du den wahnsinnig geworden?“, fing Merus an, sich aufzuregen. „Ich hoffe, Sitek lässt Gnade walten und verurteilt dich nicht zum Tode.“

Ein flaues Gefühl in der Magengegend überfiel Salomont.

„Sie beteuerte, dass er es gewesen sei, welcher ihr erlaubt hätte, das Mädchen mitzunehmen“, versuchte er sich zu verteidigen, obwohl es ihm einleuchtete, dass er wohl einen schweren Fehler begangen hatte.

„Am besten wäre es, wenn du diesem Biest zuvorkommen würdest, dann könntest du deine Version schildern“, schlug Merus vor, denn er wusste, was mit den Männern geschah, die auf eigene Faust handelten. Nicht wenigen war eine solche Situationen schon zum Verhängnis geworden. Ob es Freund war oder Feind, jenes spielte keine Rolle. Auf dem großen Platz wurden sie alle, ohne jegliches Erbarmen enthauptet.

 

„Was hast du mit mir vor?“, fragte Selafena ihre Begleiterin, welche wie fest gekettet, an ihrer Hand hing und nicht einen Moment daran dachte, sie loszulassen. Doch nicht ein einziges Wort verließ, ganz zum Ärgernis der Gefangenen, die Lippen ihrer Retterin.

„Wenn ich deine nächste Mahlzeit werden soll, dann töte mich lieber gleich, damit ich es hinter mir habe“, fing Selafena von neuem an.

„Halt endlich deinen Mund!“, drang es wütend aus dem Inneren Jeditas heraus. Ihr unruhiger Blick schweifte einmal nach rechts und einmal nach links der schmalen Gasse entlang. Die Angst verlieh ihrem Gesicht eine gewisse Anspannung.

„Nach wem suchst du?“, wollte Selafena wissen, um dem Treiben endlich ein Ende zu setzen.

„Habe ich nicht gesagt, dass du still sein sollst? Wenn dir dein Leben lieb ist, dann schweige vor dich hin, sonst bringe ich dich zu den anderen zurück.“

Selafena hatte verstanden. Obwohl sie gern jene Konversation weiter geführt hätte, entschloss sie sich dennoch, kein einziges Wort mehr verlauten zu lassen, denn zu den Gefangenen zurückzukehren, lag ihr fern.

Nach nur wenigen, endlos scheinenden Minuten hatten sie endlich ihr Ziel erreicht. Jedita schob ihre Errungenschaft durch die Tür eines ziemlich heruntergekommenen Hauses. Selafenas von Neugier durchtränkter Blick, versuchte das fremde Gefilde zu erforschen. Sehen konnte sie nicht viel, denn das einzige Licht, was dieser Raum hergab, war der Schein einer Kerze.

Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erblickte sie, völlig unerwartet, die Gestalt einer weiblichen Person, welche wie erstarrt, auf ihrem Platz verweilte und auf eine Erklärung, seitens Jeditas zu warten schien.

„Ich musste sie einfach mitnehmen“, versuchte sich die Besagte zu rechtfertigen.

„Weiß Sitek davon?“, wollte Panagiota wissen.

Natürlich wusste er nichts von der ganzen Sache, aber Jedita war gewillt, ihn zu fragen. Sie hoffte auf seine Barmherzigkeit.

Und als sie am nächsten Tag die große Eingangshalle betrat, die zum Thronsaal führte, überkam sie ein äußerst unbehagliches Gefühl. Es war Versio, welcher plötzlich, wie aus dem nichts, vor ihr erschien. Sein Gesichtsausdruck war alles andere, als erfreulich.

„Bist du von Sinnen!“, schrie er ihr entgegen. „Wenn du unbedingt den Tod suchst, dann steche ich dir hier und jetzt ein Messer durch dein Herz. Das ist wahrscheinlich erträglicher, als das, was dich da drinnen erwartet.“

Versio entging nicht, dass sich in Jeditas Augen die ersten Tränen bildeten. Irgendwie tat sie ihm leid, denn beide verband das gleiche Schicksal. Sie waren nicht so, wie der Rest der Welt.

Er beschloss, ihr beizustehen, bei dem, was auch immer auf sie zukommen würde. Immerhin genoss er Siteks Vertrauen, welches er zu seinem Vorteil nutzen wollte.

Der Herrscher, der gelangweilt auf seinem Thron hockte, nahm plötzlich eine äußerst wichtige Haltung ein, als die beiden Bittsteller eintraten. Er wusste genau, warum sie kamen, denn Salomont hatte ihn bereits vor einer reichlichen halben Stunde aufgesucht, um sein eigenes Leben zu schützen. Sie sei an allem Schuld, hatte er von sich gegeben. Ihre Daseinsberechtigung stellte er sogar in Frage. Nichts als Ärger ginge von dem Mädchen aus.

Sitek verschonte sein Leben. Allerdings entließ er ihn aus den Reihen seiner Getreuen. Als Fänger sollte er von nun ab, sein Dasein fristen. Es war wohl seine eigene Dummheit, der er dies zu verdanken hatte. Doch Salomonts nachträgliche Einsicht kam zu spät.

Nun standen Jedita und ihr Begleiter mit reumütiger Miene vor dem Herrscher und flehten, um seine Gnade.

„Versio hat Euch, mein Herr und die Getreuen des Reiches. Ich dagegen, bin auf mich allein gestellt und habe niemanden, der sich an meiner Seite befindet“, drang es sogleich aus Jedita heraus.

Sicher stimmte das nicht ganz. Sie hatte ja Panagiota, aber die, so empfand sie, zählte nicht. Denn die Hexe lebte in ihrer eigenen Welt und wenn sie jene einmal verließ, so war sie doch recht wortkarg.

„Was denkst du, Versio, sollte ich mit jener Übeltäterin anstellen, die meine Autorität als Herrscher in Frage stellt?“

Des Befragten Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, als er versuchte, die passenden Worte zu finden.

Tatsächlich war Jeditas Handlung ein Verrat, den Sitek nicht so einfach hinnehmen konnte. Versio graute es, vor der Entscheidung seines Herrn. Doch es war seine Schwester, die nicht so einfach aufgeben wollte und sich erneut zu Wort meldete. „Ich versichere Euch, mein Herr, dass sie niemand, bis zu ihrem Tode, zu Gesicht bekommen wird. Wenn es so sein sollte, dann könnt Ihr mich, für alle Zeiten, aus Eurem Reich verbannen, auf welche Art und Weise auch immer.“

Dieser Satz schien Sitek zu gefallen, denn er verfiel in ein schallendes Gelächter.

„Ich frage mich, warum du nicht als Mann geboren wurdest“, begann er, „In meinen Reihen hättest du dich gut gemacht, mit deinem Ehrgeiz, den du an den Tag legst.“

Versio, welcher sich doch eigentlich als Fürsprecher für seine Schwester einsetzen wollte, hatte nicht ein einziges Wort, aus Angst, um deren Wohlergehen, von sich gegeben. Was für eine ungeahnte Stärke doch seine Schwester besaß.

Jedita hatte es auch ohne ihn geschafft, Sitek davon zu überzeugen, jenes Mädchen in ihrer Obhut zu belassen.

„Merk dir diese Worte gut. Wenn sie euer Haus verlässt, dann wird sie sterben und du wirst ihr folgen, auf welche Art und Weise auch immer“, betonte Sitek, immer noch ein wenig amüsiert über das, was ihm gerade widerfahren war. Jedoch lag es nicht in seiner Natur, Milde walten zu lassen. Seine Übellaunigkeit holte ihn von neuem ein. Mit einer deutlichen Handbewegung gab er den Bittstellern schließlich zu verstehen, dass sie sich nun schleunigst entfernen sollten.

 

Böse Blicke trafen Jedita, als sie über den großen Platz schritt, um in ihr Haus zurückzukehren. Alle wussten, was sie getan hatte und sie konnten es sich nicht erklären, warum Sitek sie am Leben ließ.

Panagiota war gerade dabei, das Haus zu verlassen, als Jedita eintraf.

Der Hexe Weg führte sie zu den Gemächern Siteks. Ihre menschliche Gestalt verbarg sie unter einem schwarzen, langen Umhang, dessen weit herunterhängende Kapuze ihr Gesicht verdeckte. Obwohl alle wussten, wer jene war, gingen die Wolfsmenschen ihr lieber aus dem Wege, denn sie glaubten an deren übernatürliche Kräfte.

Doch Panagiota war nur eine Hexe der Kräuterkunst und nichts anderes. Sie verfügte weder über unnatürliche Kräfte, noch war es ihr gegeben, den Tod, nur aus der Kraft ihrer Gedanken, herbeizuführen. Aber jener Irrglaube war ihr einziger Trumpf, der sie vor den Wolfsmenschen beschützte.

Im Süden war sie einst zu Hause. Dort, wo die letzten Menschen um ihr Daseinsrecht kämpften.

Siteks Mannen trieb es oft, bis an die Mauern jener unbezwingbaren Festung. Jedoch blieb ihnen der Sieg stets vergönnt. Unverrichteter Dinge zogen sie ab, mit dem Ziel, auf jeden Fall wiederzukommen.

 

Panagiota stellte, so wie sie es immer tat, die kleine Flasche mit dem Elixier, was Siteks Manneskraft bestärken sollte, auf den zerkratzten Tisch, der sich vor den Gemächern des Herrschers befand. Sie war froh, dass sie nicht weiter gehen musste. Es war die Angst, vor dem, was sich hinter jener verschlossenen Tür verbarg, was ihren Körper, bei jedem Schritt, welcher sie ihrem Ziel näher brachte, durchfuhr. Doch diesmal war es nicht, wie die Tage zuvor, denn diesmal war die Tür nicht verschlossen. Licht drang durch den kleinen Spalt zu ihr heran. War es vielleicht nur eine Täuschung? fragte sie sich. Unschlüssig trat sie einen Schritt nach vorn. Ihr Gehör vernahm nichts außergewöhnliches. Wollte sie wirklich wissen, was sich dahinter verbarg? Ihr Verstand versuchte sie zurückzuhalten, denn er wollte sie vor dem beschützen, was sie vielleicht erwarte.

„Das geht dich nichts an! Das geht dich wirklich nichts an!“, rief die Verzweiflung, tief aus ihrem Innersten heraus. Dennoch war es letztendlich die Neugier, die über die Vernunft siegte.

Gerade, als Panagiota im Begriff war, die Klinke der Tür zu berühren, öffnete sich jene Pforte von selbst. Die Gestalt Siteks erschien. Wie ein Geist, der gerade auferstanden war, baute er sich vor Panagiota auf. Die Hexe zuckte zusammen, vor dem furchteinflößendem Anblick, der sich ihr darbot.

„Du spionierst doch nicht etwa hier herum, oder?“, wollte Sitek wissen.

„Ich, ich habe nur die Flasche gebracht, sowie Ihr es befohlen habt“, fing Panagiota an, zu stottern und trat ein wenig zurück.

Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Elixier. Angespannt hielt sie es Sitek entgegen.

Das Fläschchen wechselte seinen Besitzer. Daraufhin verschwand der Herrscher in den Raum zurück, aus dem er gekommen war. Mit einem heftigen Knall ließ er die Tür ins Schloss fallen, was Panagiota als Warnung dienen sollte. Diesmal war sie noch einmal davongekommen. Einen solchen Fehler durfte es nie wieder geben, so schwor sie sich, denn es gab nur ein Ziel für sie und das hieß, überleben.

Verärgert, über sich selbst, kehrte sie in ihre kleine Unterkunft zurück. Was sie dort erblickte, war alles andere, als zufriedenstellend. Jedita hatte offensichtlich an Selafena Gefallen gefunden. Es war Panagiotas Kamm, welcher durch das rot leuchtende Haar des Mädchens streifte.

„Wieso vergreifst du dich an meinen Sachen?“, fing die Hexe an, zu schimpfen und riss Jedita ihr Eigentum aus der Hand.

Es waren nur wenige Dinge, die ihr geblieben waren, die sie daran erinnerten, dass sie immer noch ein Mensch war. Jedita verstand nicht, weshalb Panagiota so viel Wert auf den alten Krempel legte. Schließlich wohnten sie zusammen und ihre neugewonnene Mitbewohnerin war auch eine Spezies ihrer Art. Schmollend musste sie schließlich mitansehen, wie der Kamm in der Truhe verschwand, in der Panagiota all ihre gesammelten Schätze aufbewahrte.

Nur zu gern hätte Selafena gewusst, was sich noch für Geheimnisse in der kleinen Truhe befanden, doch sie traute sich nicht, danach zu fragen. Ihr fiel allerdings auf, dass das Kästchen keinerlei Verschluss aufwies, um dessen Inhalt vor neugierigen Blicken zu schützen.

Schweigend ergriff Panagiota ihr wertvolles Kleinod und ließ es unter ihrem Bett verschwinden. Voller Hingabe begann sie, wenig später, eine Vielzahl an verschiedenen Kräutern zu sortieren.

„Wo stammen die her?“, wollte Selafena von Jedita wissen, welche immer noch beleidigt schien und keine Lust verspürte, auf die Frage eine Antwort zu geben. Also blieb dem Mädchen wohl nichts anderes übrig, als Panagiota selbst, um jene Auskunft zu bitten.

Ein wenig verhalten fand sich Selafena schließlich an deren Seite ein.

„Kann ich dir vielleicht helfen?“, fragte sie vorsichtig, denn auch die Hexe schien nicht gerade bei bester Laune zu sein.

„Setz dich!“, meinte jene barsch und verwies auf den Platz neben sich.

Selafena gehorchte. Ihre Verblüffung war groß, als sie mitansah, wie die geschickten Finger Panagiotas jeden einzelnen der Stängel, fein säuberlich voneinander getrennt, aufschichteten. Alles schien wahrhaftig eine gewisse Ordnung zu besitzen, welche dem Mädchen recht übertrieben schien. Auf ihre Lippen legte sich ein verächtliches Lächeln, was sich nur schwer verbergen ließ. Panagiota bemerkte es. Sie sah darüber hinweg. Schließlich fehlte es dem Mädchen an der nötigen Erfahrung, beurteilen zu können, wie man die Dinge in Golatos handhabte.

„Für was ist das alles?“, wollte Selafena wissen und rieb an einem der Blätter, dessen derber Geruch ihr in die Nase zog.

„Wenn du es in den Mund nimmst und langsam zerkaust, wird es dich umbringen“, sprach die Hexe, ohne ihren Blick von dem abzuwenden, was gerade ihrer vollen Aufmerksamkeit bedurfte, denn alles musste auf seinen richtigen Platz.

„Was?“, rief Selafena und entledigte sich des Krautes, indem sie es verachtend auf den, mit tiefen Kratzern durchfurchten Tisch zurück warf. Die Hexe nahm das kleine Stängelchen auf und legte es genau da ab, wo sich seinesgleichen befand.

„Geh schlafen“, meinte Panagiota mit einem Lächeln auf den Lippen. „Morgen ist auch noch ein Tag, an dem du darüber nachdenken kannst, warum wir eigentlich geboren wurden und weshalb wir dazu verdammt sind, bis zu unserem Tode, Höllenqualen erdulden zu müssen.“