Überleben als Verpflichtung - Inge Deutschkron - E-Book

Überleben als Verpflichtung E-Book

Inge Deutschkron

4,7

Beschreibung

Die deutsch-israelische Autorin Inge Deutschkron beschäftigt sich in ihren zahlreichen Publikationen mit der Verfolgung von Juden in der Nazi-Zeit - und damit auch mit ihrer eigenen Situation als Jüdin in Deutschland. Ihr Schicksal als Überlebende des Holocaust ist für sie eine andauernde Verpflichtung, die dunklen wie auch die lichten Erlebnisse in der Vergangenheit gegen das Vergessen wachzuhalten. In Nachfolge zu ihrem Bestseller "Ich trug den gelben Stern", in dem sie ihr Überleben im Berliner Untergrund zwischen 1943 und 1945 schildert, legt Inge Deutschkron in dieser Textsammlung nun eine Quintessenz aus über fünf Jahrzehnten vor, in denen sie gegen das Vergessen gesprochen und geschrieben hat. Und sie kommt zu einem Fazit, das Hoffnung gibt: "Es gab Menschen, die sahen nicht zu, wie sie uns verfolgten, peinigten, quälten. Sie standen uns bei, halfen uns, versteckten uns, ohne an ihr eigenes Risiko zu denken. Nur wenigen widerfuhr dieses große Glück. Meine Familie sah ich nie wieder. Auch die vielen anderen nicht, die mir Freunde waren. An sie denke ich, wenn ich spreche, wenn ich arbeite, wenn ich mein Leben lebe."

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Inge Deutschkron

Inge Deutschkron

Überleben als Verpflichtung

Den Nazi-Mördern entkommen

Butzon & Bercker

„Orientierung durch Diskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Tobias Licht, Susanne Sandherr, Johannes Bernhard Uphus und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1398-1

E-BOOK ISBN 978-3-7666-4131-1

EPUB ISBN 978-3-7666-4132-8

© 2010 Butzon & Bercker GmbH, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

www.religioeses-sachbuch.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto: © Margrit Schmidt

Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Inhalt

Vorwort

Kurzbiographie – Ein Todesurteil und vier Leben

Verlorene Jugend

Jugend – was war das?

Erinnerungen an zwei Finsterwalder Jungen

Die deutsche Gesellschaft in der Nachkriegszeit

Mit den Jahren wuchsen die Zweifel

Die Kistenparty

Psychogramm eines Volkes

Denn ihrer war die Hölle. Kinder in Ghettos und Lagern

Legalität vor Moral

Drohbrief an Inge Deutschkron von 1973

Ausgeschlagene Erbschaft – eine Deutschstunde

Der Eichmann-Prozeß

Überleben – eine Herausforderung

Die ewige Muttersprache

Das verlorene Glück des Leo H.

Deutschland und Israel

Die politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel – eine Bilanz

Die deutsche Nachkriegsgeneration und Israel

Hoffnung auf eine neue Generation

So entstand „Sara“

Kinder schreiben Briefe an eine Achtzigjährige

„Wie aber wird es morgen sein?“

Aus der Vergangenheit lernen

„Stille Helden“

Endspurt – Überleben in Berlin 1943 – 1945

Lachen in der Not

Quellenverzeichnis

Vorwort

Sie holten sie aus ihren Wohnungen, aus den Fabriken, wo sie zu Zwangsarbeit verurteilt waren, nahmen sie, wo und wie sie sie fanden im Arbeitskittel, ohne Mantel, im Schlafanzug nach einer Nachtschicht. Kleinkinder torkelten an der Hand ihrer Mütter einher, junge Burschen schritten aus, als wollten sie es schnell hinter sich bringen, Männer gingen geduckt unter der Last ihres letzten Besitzes. Vom Fenster aus sah ich sie, sehe ich sie noch heute, in ihrem Erschrecken wie erstarrt, von Polizeibeamten, SS-Leuten, Zivilbeamten in die Wagen gestoßen. Die Aktion dauerte einige Tage. Dann waren sie alle fort – meine Familie, meine Freundinnen, Otto Weidts Blinde. Wir hatten keinen Schrei gehört, sahen kein Aufbegehren. Da liefen nur Gestalten, deren Ziel bestimmt zu sein schien. Des Nachts sah ich sie wieder vor mir und dachte an sie. Wo nur waren sie jetzt? Was tat man ihnen an? Ich begann mich schuldig zu fühlen. Mit welchem Recht drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das meine hätte sein müssen?

Nichtjüdische Freunde boten meiner Mutter und mir an, uns zu verstecken. Sie riskierten ihren Kopf für uns. Zwei Jahre und vier Monate dauerte dieses Leben von einem Versteck zum anderen. Weder unsere Freunde noch wir hatten vorausgesehen, wie schwer es sein würde. Doch sie brachten uns durch.

Mein Vater, der kurz vor Kriegsbeginn nach England fliehen konnte, beantragte unsere Einreise. Ein Jahr lang mußten wir in Berlin auf das Visum warten. Emigranten begleiteten meinen Vater zu unserer Ankunft in London. Ich sah es sofort: Für sie waren wir Abgesandte ihrer ermordeten Angehörigen. Sie kämpften mit Tränen und wieder empfand ich Schuld wie damals, als ich das Schicksal der Deportierten nicht teilte.

Die Schuld wich schließlich der Sprachlosigkeit, als die Menschen in Nachkriegsdeutschland zu mir sagten „Vergessen Sie doch“, wenn sie mich nicht anders zum Schweigen bringen konnten. „Sie müssen doch auch vergeben können“, meinten sie, „es ist doch schon so lange her.“ Die meisten, denen ich begegnete, hatten sie einfach aus ihrem Gedächtnis gelöscht, die Verbrechen, für die der deutsche Staat eine eigene Mordmaschinerie hatte errichten lassen.

Da wußte ich plötzlich, was meine Pflicht war: Ich mußte es niederschreiben: die Wahrheit der schrecklichen Geschehnisse, präzise und emotionslos. Es ging mir nicht darum, daß die Schuldigen einen Weg der Sühne dem jüdischen Volk gegenüber suchten. Ich war wie besessen von der Idee, daß Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe, daß Menschen anderen Menschen das Recht auf Leben streitig machen können, ganz gleich, welcher Hautfarbe, welcher Religion, welcher politischen Richtung, nicht hier und nicht anderswo. Und um dieses Zieles wegen gilt es die Wahrheit zu wissen, die ganze Wahrheit. Denn solange die Frage Rätsel aufgibt, wie konnte es geschehen, was waren die Ursachen politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Art, ist die Gefahr nicht gebannt, daß ähnliche Verbrechen die Menschheit erneut heimsuchen.

Die vorliegende Sammlung enthält Auszüge aus einigen meiner Bücher, etlichen Buchbeiträgen, Reden und Zeitungsartikeln. Sie entstanden aus meinen Erfahrungen als Verfolgte in der Zeit eines verbrecherischen Regimes in Deutschland und als Überlebende in der Nachkriegszeit. In diesem Buch ist das Erlebte und Beobachtete nach thematischen Schwerpunkten geordnet: Den Anfang macht eine Kurzbiographie „Ein Todesurteil und vier Leben“ zu meiner Person, Beiträge zu meiner Kindheit und Jugend im Zeichen des „gelben Sterns“ schließen sich an. Es folgen verschiedene Aufzeichnungen zur Stimmungslage im Nachkriegsdeutschland bis in die siebziger Jahre hinein. Weitere Themenschwerpunkte sind die Komplexität der Aufarbeitung deutscher Geschichte und das schwierige Verhältnis zwischen Deutschland und Israel sowie meine Rückkehr nach Deutschland. Einen zusammenfassenden Rückblick, der zugleich als Ausblick gelesen werden kann, bieten schließlich verschiedene Reden zu unterschiedlichen Anlässen. Das Niederschreiben meiner Erlebnisse ist mir zur Verpflichtung geworden – mir als einer, die dank mutiger Berliner das grausame Schicksal von Millionen anderen nicht teilen mußte.

Inge Deutschkron

Kurzbiographie – Ein Todesurteil und vier Leben

Sie sagte es schnell und sehr bestimmt: „Frau Deutschkron. Sie und Inge dürfen sich nicht deportieren lassen!“ Dabei hielt Emma Gumz die Hände meiner Mutter fest umklammert, so als wollte sie ihrer Forderung mehr Nachdruck verleihen. Meine Mutter sah sie verstört an, fragte schließlich erregt, wie dies denn zu verstehen sei. Da antwortete die kleine Frau, die jahrelang unsere Wäsche gewaschen hatte: „Der Fritz, unser Nachbarsjunge, ist als Soldat in Polen gewesen. Er hat gesehen, was sie dort mit den Juden machen.“ Und rasch fügte sie hinzu, daß ihr Mann und sie uns davor bewahren wollten. Das war im November 1942 gewesen. Ich war gerade 20 Jahre alt, als diese Frau die Vollstreckung des mir zugedachten Todesurteils auf ihre Weise zu verhindern suchte.

Dabei hatte alles so normal angefangen. Ich war 1922 in der kleinen Stadt Finsterwalde geboren worden. Als mein Vater meiner Mutter seine Versetzung an das dortige Gymnasium mitteilte, suchte sie den Ort vergebens auf ihrem Schulatlas. Finsterwalde würde nur eine Station in seiner Beamtenlaufbahn sein, beruhigte sie mein Vater, die mit einer Pension am Ende seiner Karriere so viel Sicherheit versprach. Auch für das Kind Inge schien der Weg vorgezeichnet zu sein – höhere Schulbildung, Universität, möglicherweise Doktortitel. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, wurde mein Vater nach Berlin versetzt, wo er als Studienrat in einem Gymnasium im Wedding lehrte.

Ich mußte mich nun an die Großstadt gewöhnen. Mit der Kleinstadtidylle war es vorbei. Ich durfte nicht mehr auf der Straße mit anderen Kindern spielen. In den Straßen der Großstadt lauerten zu viele Gefahren für ein kleines Mädchen, meinten meine Eltern. Sie erlaubten mir auch nicht, Rad fahren zu lernen. Der Großstadtverkehr sei dafür zu rasant. Doch Berlin hatte für mich manches andere zu bieten. Da gab es den nahen Friedrichshain mit dem Märchenbrunnen und den jedem Kind vertrauten Figuren. Dann war da der Tennisplatz, wo ich meine ersten Lorbeeren als Balljunge verdiente, wenn meine Eltern ihre Matches spielten – im Tennis-Rot natürlich, einer Abteilung des Arbeitersportbundes, wie es ihrer politischen Einstellung entsprach. Und da war die von Maschinen betriebene Eisbahn, auf der ich sogar noch in lauen Sommermonaten meine Pirouetten drehen konnte. Meine Mutter blähte sich vor Stolz, wenn Zuschauer am kleinen Mädchen im roten Mäntelchen Talent entdeckten und ihm eine große Zukunft auf dem Eis voraussagten. Das aber enthüllte sie mir erst viel später, als mir der Besuch von Sportstätten als Jüdin untersagt war. Noch störte nichts diese Idylle.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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