Ueber Geistes-Epidemien der Menschheit - Carl Gustav Carus - E-Book

Ueber Geistes-Epidemien der Menschheit E-Book

Carl Gustav Carus

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Beschreibung

Carus' Schrift "Über Geistes-Epidemien der Menschheit" (1852) beruht auf einem seiner Vorträge. Sie beschreibt ein historisches Panorama des Gruppen- oder Massenwahns -- von der Tanzwut und der Hexenverfolgung bis hin zum Vampirismus und zu den Umtrieben der Märzrevolution 1848. Geistesepidemien wurden zum Teil von verheerenden Seuchen wie der Pest ausgelöst. Als Carus seinen Text verfasste, waren weder Hypnotismus, und Suggestionslehre bekannt, noch war das Zeitalter der Bakteriologie angebrochen -- zwei wissenschaftliche Ansätze, auf die sich die Theorie der "Massenpsychologie" um 1900 und danach stützen sollte. So spiegelt die vorliegende Schrift den Wissensstand an der Schwelle zum naturwissenschaftlichen Umbruch der Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wider.

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Inhalt

Carl Gustav Carus: Ueber Geistes-Epidemien der Menschheit (1852)

Editorische Notiz

Anmerkungen

Bibliografie

Nachwort

Vorwort.

Die Veranlassung zu dieser Abhandlung ist gegeben worden durch ein von Seiten eines grössern geselligen Vereins an mich gestelltes Ersuchen, ebenso wie zuweilen früherhin schon, so auch in einigen Abendstunden des Winters 1851/52 durch einen wissenschaftlichen Vortrag die Gesellschaft zu erfreuen. In den verflossenen Jahren ist meine Abhandlung vom gegenwärtigen Stande der Cranioscopie, dann die kleine Schrift über Grund und Bedeutung der verschiedenen Formen der menschlichen Hand, ebenso wie ein Vortrag über Nervensystem und Nervenleben, ganz auf ähnliche Weise entstanden, und diesen sämmtlich ebenfalls zum Druck gelangten Vorträgen reiht sich denn der gegenwärtige vollkommen an.

Es mochte wohl hauptsächlich ein prüfender Blick auf manche merkwürdigen Ereignisse der jüngstvergangenen Zeit sein, der mich bestimmte, diesmal gerade den grossen merkwürdigen Gegenstand geistiger Epidemien zum Vorwurf eines solchen Vortrags zu wählen, denn wer hätte wohl die letzten ereignissvollen Jahre durchlebt und bei einem irgend tiefer gehenden Erkennen nicht an solche epidemische Einflüsse gedacht; allein dem hohern Grunde derselben nachzuforsehen, ja den Begriff einer solchen Epidemie schärfer zu erfassen, war doch nur sehr selten versucht worden.

In dieser Hinsicht also im Allgemeinen aufklärend einzuwirken, denen, welche dergleichen Ereignisse aus der Geschichte früherer Jahrhunderte nicht kannten, einen Ueberblick derselben zu geben, und zugleich eine tröstende Auffassung späterer ähnlicher Vorgänge Nachdenkenden zu erleichtern, diess war die Aufgabe , die ich mir hierbei stellte; eine Aufgabe, deren Ausführung übrigens noch gar sehr beschränkt wurde durch die gemessene Zeit, welche einer solchen Vorlesung ihrer Bedeutung nach gegönnt sein kann, und welche daher schon insoweit, eine gewisse Kürze und Unvollständigkeit des Ganzen bedingte.

Ich entspreche nun dem Wunsche Vieler, indem ich auch diesen Vortrag der Oeffentlichkeit übergebe. Eben in seiner engen rhapsodischen Form ist er vielleicht am meisten geeignet, den tiefen und grossen Gedanken, den er bespricht, im Allgemeinen mehr ins Bewusstsein zu bringen und der grossen, ernsten Erwägung aller Denkenden zu empfehlen. — Ich habe es daher auch verschmäht, viele Zusätze zu machen, obwohl reichliche Gelegenheit hierzu sich geboten hätte, ich habe es unterlassen, das Thema auszudehnen, z. B. auf das Ausbrechen vieler wirklicher Geisteskrankheiten Einzelner und die zunehmende Ueberfüllung der Irrenhäuser, in Folge jener allgemeinen Geistes-Epidemien, ja ich habe auch die politischen Reflexionen vermieden, die sich so leicht dort hätten anreihen lassen. — Nehme man das Ganze demnach mehr als hingeworfene Gedanken denn als eine ausgeführte gelehrte Arbeit, auf deren Namen es keinen Anspruch macht! — auch so kann ein Lichtpunkt der Wahrheit allmählig eine weitleuchtende Helligkeit erzeugen! — jedenfalls erinnere ich übrigens dabei abermals an jenes Wort Göthe's: >Man muss sein Glaubensbekenntniss von Zeit zu Zeit wiederholen, aussprechen was man billigt, was man verdammt; das Gegentheil lässt's ja auch nicht daran fehlen.<

Carus

»Es gehört überall zu den höchsten Aufgaben des Menschen, von der Menschheit als einem Ganzen, als einem idealen Organismus einen Begriff zu erlangen, aufzuhören, sich als ein einzelnes Stück unter Einzelnen zu fühlen und gewahr zu werden, dass der Mensch nur als Glied eines höhern Ganzen eine bleibende und tiefere Bedeutung erreichen und behaupten kann.«

Mit diesen Worten eröffnete ich vor etwa 12 Jahren den Abschnitt vom Leben der Menschheit in meinem System der Physiologie, und ich darf jetzt wieder um so mehr an diese Wahrheit erinnern, als ich mir gegenwärtig die Aufgabe stelle, einen gedrängten Ueberblick davon zu geben, wie die Menschheit, an welcher wir lange verschiedene Bildungsepochen, verschiedene Leiden und Freuden, Erhebungen und Senkungen anerkennen mussten, auch mannichfaltiger Krankheiten fähig sei, und zwar nicht blos Krankheiten, welche als mehr oder weniger furchtbar leibliche Epidemien immer von Zeit zu Zeit ganze Stämme der Menschheit decimirt, ja zuweilen fast ausgerottet haben, sondern auch Krankheiten, welche der Seelenstörung des Einzelnen verglichen werden können, indem grosse Volksmassen von einer oder der andern Art eines Wahnsinns ergriffen wurden, welcher, ganz wie die Seelenstörung irgend eines besondern Menschen, aus gewissen Ursachen sich entspann, gewisse Höhen erreichte und nach kürzerem oder längerem Zeitraume endlich wieder verschwand.

Erfasst man zuerst diesen Gedanken, dass sonach ganze Abtheilungen der Menschheit so wie leiblichen so auch geistigen Epidemien unterliegen können, dass die Menschheit selbst also, sie, von der wir immer einen ganzen, grossen und würdigen Begriff uns zu bilden bereit sind, auch, gleichwie der Einzelne, Leiden unterworfen sein könne, welche wir mit Recht, da sie das höchste Gut des Menschen, die Würde und Fülle des Geistes gefährden, als ein ganz besonderes Unglück zu betrachten gewohnt sind, — so ergreift uns wohl eine wahre Betrübniss und wir trauern mit Recht darum, dass das bittere Loos des Einzelnen auch dem Ganzen, wenigstens gewissen grossen Abtheilungen des Ganzen, nicht immer erspart werden konnte. Bald jedoch finden wir dann auch Grund wiederkehrender Beruhigung und Grund zum theilweisen Abwerfen jener schweren Gedanken. — Ein solcher Grund mag zuerst sein, dass niemals in Wahrheit die ganze Menschheit zugleich solchem Unglück anheim fällt, sondern immer nur einzelne, und doch verhältnissmässig zum Ganzen nur kleinere Abtheilungen derselben, worüber denn unsere weitere Betrachtungen bald eine deutlichere Einsicht verstatten werden. — Ein anderer Grund sodann, und dieser besonders schön und erhebend, ist der, dass diese Krankheiten nie unheilbar erscheinen, dass sie vielmehr früher oder später allemal wieder ablaufen, sich vermindern und endlich verschwinden.

Giebt es doch uns Allen ein so besonders bekümmerndes und schwer zu tragendes Gefühl, wenn wir den einzelnen Menschen gewahr werden, der von schwerem Wahnsinn erfasst, oder von fixen Ideen umsponnen, sich gar nicht mehr diesen dunkeln Kreisen zu entziehen vermag, wenn nun sein ganzes übriges Dasein in dieser Dunkelheit untergeht, und endlich das Leben selbst erlischt, ohne dass die Sonne früherer Erkenntniss wieder die Seele des Unglücklichen erleuchtet!

Diesen Kummer also haben wir niemals, wenn wir mit ruhig beobachtendem Blicke den Strom des Menschheitlebens verfolgen! — Hier kann irgend eine solche geisteskranke Richtung mitunter zwar lange anhalten, sie kann tief greifen und weit sich verzweigen, — aber endlich kommt irgendwie doch das bessere Selbst wieder zum Bewusstsein, irgendwie werden die Geister wieder gesammelt, der Irrthum zerstreut sich, und, wenn auch im Einzelnen hier und da das Wahnsinnigste Glauben findet und das Absurdeste starr festgehalten wird, so streifen doch ganze Menschheitstämme endlich stets die falschen Vorstellungen ab, so dass dann, obwohl freilich niemals eine unbedingte Weisheit Eigenthum des gesammten Menschheit-Ganzen werden und bleiben kann, sich doch wenigstens die wahren Gemüthskrankheiten und Wahnsinnsformen des Zeitgeistes endlich wieder verlieren, und die geistige Epidemie eben so sicher sich endet, wie selbst die längste Nacht der Polarvölker endlich immer wieder von einem erquickenden Sonnenlicht vertrieben werden muss.

Hier ist es also, wo der Gegensatz des Menschen zur Menschheit, recht als Gegensatz eines Geringem zu einem Hohern erscheint. Wenn der Einzelne der sterbliche Mensch ist, so ist ihm gegenüber die Menschheit der Unsterbliche, der ewig sich Verjüngende, immer neu sich Gehährende, und dieser ist daher der auch immer wieder sich Erhebende, Reinigende, Aufklärende. Von ihm kann man recht eigentlich die so echt menschlichen Worte des Dichters aussagen:

>Irrthum verlässt uns nie, doch ziehet ein höher Bedürfniss

Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.<

d. h. immer werden in der Masse der Menschheit zwar viele befangen und irrend bleiben, aber die Menschheit selbst, und zwar eben ihren einzelnen Massen nach, streift ihre Krankheiten und Irrthümer stets allmälig wieder ab, oft zwar auch nur, um wieder andere an deren Stelle zu setzen, indess doch nie daran wirklich und im Ganzen untergehend, sondern immer wieder sich befreiend und in den wunderbarsten Spiralwindungen doch im Ganzen allmälig vorwärts sich bewegend.

Ist nun dieser Gang.schon bei gewissen grossen, zu Zeiten allgemein gewordenen Irrthümern ganz unverkennbar, so ist er freilich am allerdeutlichsten, und am allerwenigsten wegzuleugnen, bei gewissen grösseren am Menschheitganzen als wirkliche Wahnsinns-Epidemien sich darlebenden Krankheiten. — Wir müssen nämlich (um hier zuerst daran zu erinnern) allemal eine sehr strenge Grenze ziehen zwischen dem Irrthum und dem moralisch Bösen einerseits, und der Geisteskrankheit anderseits.

Die Geisteskrankheit nämlich äussert sich zwar auch mit durch Irrthum, sie kann sich selbst durch das Böse äussern, und doch ist sie an sich nicht blos Irrthum oder Richtung der Seele auf das Böse; sie ist vielmehr allemal eine organisch bedingte zeitweilige besondere Lebensform, in welcher der Mensch für diese Zeit nicht anders sein kann als er ist, und von welcher er deshalb auch nicht blos durch Vorstellung der Wahrheit und Vorhalten des Guten befreit werden kann. Der Geisteskranke, dem z. B. die falsche Vorstellung eigen ist, er sei von Glas — lässt dieselbe — die, wenn sie ein blosser Irrthum wäre, so bald berichtigt werden könnte, nie, selbst nach den trefflichsten Zureden, sich nehmen, und der Mensch, der im Wahnsinn jemand umbringt, weil er sich dazu von innerer Stimme gedrängt fühlt, er wird nicht gerichtet, sondern nur unschädlich gemacht, weil man ihm diese That durchaus nicht als sündhaft anrechnen darf.

Jeder nicht Kranke dagegen, der auffallend irrige Dinge glaubt, gilt zuerst schon an sich für beschränkt; kann aber doch gewöhnlich bald berichtigt werden; und jeden Todtschläger, der nur durch böse Absicht zum Morde getrieben war, trifft ganz mit Recht die Schärfe der Gesetze.