Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten - Carl Gustav Carus - E-Book

Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten E-Book

Carl Gustav Carus

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Beschreibung

Dies ist die Autobiographie des in Leipzig geborenen deutschen Arztes, Gynäkologen, Anatom, Pathologen, Psychologen, Malers und Naturphilosophen. Er gilt als einer der universalsten Gelehrten des 19. Jahrhunderts in Deutschland.

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Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten

Carl Gustav Carus

Inhalt:

Karl Gustav Carus – Lexikalische Biografie

Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten

Vorwort

Erster Teil

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Zweiter Teil

Viertes Buch

Fünftes Buch

Sechstes Buch

Dritter Teil

Siebentes Buch

Achtes Buch

Neuntes Buch

Vierter Teil

Zehntes Buch

Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, K. G. Carus

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849607371

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Karl Gustav Carus – Lexikalische Biografie

Mediziner, geb. 3. Jan. 1789 in Leipzig, gest. 28. Juli 1869 in Dresden, studierte in Leipzig, habilitierte sich 1811 als Privatdozent und ging 1814 als Professor der Entbindungskunst und Direktor der geburtshilflichen Klinik nach Dresden. Seit 1862 war er Präsident der kaiserlichen Leopoldinisch-Karolinischen Akademie. Er schrieb außer Lehrbüchern der Zootomie, Gynäkologie, Physiologie und vergleichenden Anatomie: »Von den äußern Lebensbedingungen der weiß- und kaltblütigen Tiere« (Leipz. 1824); »Über den Blutkreislauf der Insekten« (das. 1827); »Vorlesungen über Psychologie« (das. 1831); »Briefe über die Landschaftsmalerei« (das. 1831,2. Ausg. 1835); »Zwölf Briefe über das Erdleben« (Stuttg. 1841); »Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich begründeten Kranioskopie« (das. 1841); »Atlas der Kranioskopie« (Leipz. 1843–45, Heft 1 u. 2); »Über Grund und Bedeutung der verschiedenen Formen der Hand bei verschiedenen Personen« (Stuttg. 1846); »Psyche, zur Entwickelungsgeschichte der Seele« (Pforzh. 1846; 3. Aufl., Stuttg. 1860), dem alsbald »Physis, zur Geschichte des leiblichen Lebens« (das. 1851) folgte; »Symbolik der menschlichen Gestalt« (Leipz. 1853, 2. Aufl. 1858); »Proportionslehre der menschlichen Gestalt« (das. 1854); »Über Lebensmagnetismus« (das. 1857); »Natur und Idee« (Wien 1861); »Die Lebenskunst nach den Inschriften des Tempels zu Delphi« (Dresd. 1863); »Neuer. Atlas der Kranioskopie« (2. Aufl., Leipz. 1864); »Über die typisch gewordenen Abbildungen menschlicher Kopfformen« (Jena 1863); »Vergleichende Psychologie oder Geschichte der Seele in der Reihenfolge der Tierwelt« (Wien 1866); »Betrachtungen und Gedanken vor auserwählten Bildern der Dresdener Galerie« (Dresd. 1867); »Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten« (Leipz. 1865–66, 4 Bde.). Seinem freundschaftlichen Verkehr mit Goethe entsprangen die Schriften: »Goethe., ju dessen näherem Verständnis« (Leipz. 1843); »Briefe über Goethes Faust« (Heft 1, das. 1835); »Goethe und seine Bedeutung für diese und die künftige Zeit« (Festrede, Dresd. 1849), dem sich ein größeres Buch unter demselben Titel (Wien 1863) an schloss, etc. Auch als Künstler hat C. im Felde der Landschaftsmalerei Ausgezeichnetes geleistet.

Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten

Würde es mich doch am meisten befriedigen, wenn ich nach und nach mir sagen konnte: Das Buch sei in die Familienbibliothek recht vieler meiner deutschen Landsleute aufgenommen worden und wirke nicht bloß wie ein einmal durchgelesener Roman, sondern wie eine durch die verschiedensten Situationen durchgehende, selbst zu wiederholtem Bedenken auffordernde Lebensbetrachtung auf Sinn und Charakter vieler Tüchtigen ein.

 Carus in nachgelassenen Papieren über seine  »Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten«

Vorwort

Diese zumeist zwischen den Jahren 1846 und 1856 niedergeschriebene Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten hatten ursprünglich die Bestimmung, erst nach meinem Ableben der Öffentlichkeit übergeben zu werden. Vielfältig ist mir indes in der letzten Zeit der Wunsch ausgesprochen worden, einem solchen Vorsatze nicht unbedingt treu zu bleiben, vielmehr bald selbst an Herausgabe dieser Hefte zu denken, die in sechs großen Quartbänden nun schon so manche Jahre auf meinem Repositorium gestanden hatten. Wenn ich daher gegenwärtig jenem Wunsche wirklich nachgebe, so muß ich doch sagen, daß dabei auch noch einige besondere Gründe mitwirkten, deren Erwähnung wenigstens ich auch hier nicht ganz unterdrücken darf.

Für alle nachlebende Angehörige und Freunde nämlich wird es in solchem Falle stets eine höchst schwierige Aufgabe bleiben, Erlebnisse und Selbstbekenntnisse eines Verstorbenen in der Tat möglichst genau in derjenigen Weise ans Licht zu stellen, wie man voraussetzen durfte, daß es wohl dem Verfasser selbst hätte homogen und erfreulich genannt werden können. Geschehen doch gerade in unsern Tagen in solcher Beziehung die mannigfachsten und oft bedauerlichsten Mißgriffe! Denn wenn einesteils es zuweilen begegnet, daß Mitteilungen, auf welche der Autor ein größeres Gewicht zu legen das Recht hatte, gänzlich unbeachtet bleiben oder nur unvollkommen und in ungeschickter Weise dem Publikum zukommen, so geschieht es doch noch weit häufiger, daß entweder wirklich unbedeutende und dem Namen des Verfassers wenig entsprechende Fragmente oder aber solche, welche geradezu nie für die Öffentlichkeit bestimmt, vielmehr nur als stille Besprechung der Seele mit sich selbst entstanden waren, rücksichts- und schonungslos dem Druck übergeben werden. Gegen alles dieses nun wird vollständig immer nur dann Schutz verliehen sein, wenn der, dem solche Aufzeichnungen verdankt wurden, auch seine späten Jahre dazu benutzt, die Herausgabe derselben zu ordnen.

Freilich bleibt es immer wieder ein gewiß schmerzliches Empfinden, Gefühle und Gedanken, deren Aufzeichnung einst in der Stille des Gemüts und zunächst nur zu eigener Aufklärung und Befriedigung geschah, zuletzt so ohne allen Rückhalt ebenso Befreundeten und Teilnehmenden als Gleichgültigen und Widerwilligen hingegeben zu sehen! Da man jedoch zuletzt hier nur die Wahl frei behält, entweder alles dergleichen unmittelbar der Vernichtung zu übergeben oder jenes Empfinden von Scheu durch sorgliche Wahl und freien Geistesblick zu besiegen, so fiel es nicht schwer, zuletzt auch hier eine Entscheidung zu treffen; und ich darf sagen, wenn irgend hierbei noch eine fremde Persönlichkeit mitbestimmend einwirken konnte, so war es der Hinblick auf einen Geist, der seit frühen Jahren mir vielfach und eigentümlich vorgeleuchtet hat und dem ich in der Mitte meines Lebens selbst etwas näherzutreten das besondere Glück hatte: ich sage, daß der Hinblick auf die unübertroffenen Mitteilungen Goethes aus seinem Leben es war, der auch mich bei diesen oft unter der Last vielfältiger Arbeiten geschriebenen Mitteilungen endlich zur Herausgabe derselben bestimmte. Indem daher nun auch seinem Namen ein Teil der Verantwortung für diese Entscheidung mit zugewiesen bleibe, hoffe ich doch andererseits, daß einige Günstiggesinnte auch diesen Blättern nicht unbedingt fehlen werden!

 Dresden, im März 1865 

 Carus

Erster Teil

Wie indes der Physiognom nie genug körperliche Bildungen der Menschen vergleichen kann, um zu desto sicherern Resultaten über die Symbolik der menschlichen Gestalt zu gelangen, so wird auch der, welchem das höchste Studium des Menschen, nämlich die Kunst rechter und edler Lebensführung, vor allem am Herzen liegt, nie genug Lebensgeschichten – das heißt solche, die diesen Namen durch eine tiefere Auffassung wahrhaft verdienen – verfolgen und vergleichen können, um dadurch und daran in eben jener Lebenskunst sich selbst immer mehr auszubilden und zu vervollkommnen. Denn freilich würde alles das, was ... von dem geheimnisvollen Unbewußten gesagt ist, als wodurch jeglicher Lebensgang auf besondere Weise angebahnt und geleitet werde, sehr falsch verstanden bleiben, wenn man glauben wollte, daß dadurch überhaupt die freie Selbstbestimmung und tätige Mitwirkung des Menschengeistes zur eigenen Vollendung für ausgeschlossen und überflüssig erklärt werden sollte.

 Carus

Erstes Buch

Kindheit und Entwicklung der Jugend

 Begonnen am ersten Ostertage 1846, im siebenundfünfzigsten Lebensjahre

I.

Meine Eltern waren: August Gottlob Carus, geboren in Dahme am 3. August 1763, und Christiane Elisabeth Carus, geborene Jäger, welche am 13. Juli 1763 zu Mühlhausen in Thüringen das Licht der Welt erblickte. Aus diesen bin ich geboren zu Leipzig, im kalten Winter 1789, am 3. Januar nachmittags 3 Uhr. Die Geschichte meines Stammes kann ich weiter hinauf verfolgen auf mütterlicher Seite als auf väterlicher, und jedenfalls bin ich jener Linie auch mehr adäquat als dieser, denn mehrere vielbeschäftigte Ärzte und Naturforscher gehören zu jener Reihe.

Überhaupt erinnere ich mich gern jener alten ehemaligen Freien Reichsstadt Mühlhausen, der Heimat meiner Mutter und ihrer Eltern. Ich selbst habe ein Jahr meiner Kindheit dort verlebt, auch einige Zeit später sie noch einmal wiedergesehen, und einen eigenen poetischen Schleier webt die Erinnerung um diese recht altdeutsche bedeutende Örtlichkeit. Das Land dort umher ist flachhügelig, die Unstrut durchzieht den lockern Kalkboden, auf welchem, wie auf so manchen andern deutschen nördlichen Landen, früher vielfältiger Wein gebaut worden ist und welcher noch jetzt dem Getreide-, Obst- und Gemüsebau sich günstig erzeigt. Bei jedem Schritt stieß man sonst dort auf Erinnerungen an deutsche Vorzeit. Die alten gotischen Kirchen, das Rathaus und das Ritterhaus, wo die Bürger einst im 14. Jahrhundert die besiegten Grafen von Reinstein und Wernigerode einsperrten, bis sie Urfehde geschworen und Ersatz ihrer Raubzüge geleistet hatten, die Brotlaibe am Obermarkt, wo sonst die Bäcker ihren Verkauf hatten, die grauen Warten und Mauerntürme, an welchen mancher Strauß einst bestanden worden war, alles mußte wohl geeignet sein, schon bei dem Knaben einen eigentümlichen tiefen Eindruck zu hinterlassen.

Dort in diesen alten Mauern also lebte zu Ende des 17. Jahrhunderts ein Arzt aus der Familie derer von Marschall, und dieser war der Ururgroßvater meiner Mutter. Als im Jahr 1683 die Pest Mühlhausen und die Umgegend heimsuchte, soll er insbesondre durch Empfehlung und Anwendung des Zitronensaftes viele glückliche Kuren gemacht haben. Seine Enkeltochter Marie Elisabeth verheiratete sich ebenfalls mit einem Arzte namens Reichel. Dieser, früher ein gewöhnlicher Wundarzt, hatte das Glück, von einem Herrn von Presike mit nach Leipzig genommen zu werden und sich dort weiter ausbilden zu können. Später übte er Chirurgie und Geburtshilfe in Mühlhausen aus, war geschätzt und geachtet und starb hier im sechzigsten Jahre. Er hinterließ zwei Söhne und zwei Töchter. Von den erstern war der eine der durch seine Untersuchungen über den Blutumlauf und sonstige tüchtige Arbeiten berühmte Professor Georg Reichel, welcher lange mit Glück zu Leipzig Vorträge gehalten hat. Der andere studierte Theologie und ist später Superintendent zu Mühlhausen geworden. Von den Töchtern heiratete die eine einen Chirurgen Altenburg, die andere den Färbermeister Andreas Adam Jäger aus Kölln in Sachsen, und letztere wurden meine Großeltern.

Zu der Zeit, wo ich als kleiner Knabe im Hause meiner Großeltern lebte, führte man mich wohl zuweilen in die Wohnung unsers Verwandten und Arztes, des Dr. Altenburg, und ich sah dort mit gebührender Ehrfurcht die Bibliothek und Instrumente und Mikroskope jenes in Leipzig verstorbenen Professors Reichel, so daß mir denn auch von da bis in spätere Zeit dieser Eindruck als ein Bild damaliger Gelehrsamkeit und damaliger Naturstudien lebhaft gegenwärtig geblieben ist. Unterschied sich doch die Wissenschaft jener Zeit noch so merkwürdig von dem, was ein halbes Jahrhundert später an deren Stelle trat. Die Lehre war noch gewissermaßen enger, es überstieg noch nicht die Kraft eines Menschenlebens, das sich zu eigen zu machen, was vom Baue des Menschen und von der Mannigfaltigkeit der organischen Welt überhaupt bekannt war, und wenn man jetzt fast mehr Geschlechter der dem bloßen Auge unsichtbaren Infusorien kennt als damals Geschlechter großer handgreiflicher Geschöpfe, so fand sich auch die Wissenschaft vom Menschen auf einfachere Weise, aber mit einem gewissen Pedantismus auseinandergelegt, welches alles dann einesteils lebhafter zu einem bald zu bewältigenden Studium aufzufordern schien und andernteils doch auch durch einen steifen, durch und durch latinisierenden Formalismus ein lebendiges Gemüt mehr abzuschrecken geeignet war. – Noch gegenwärtig stehen die Folianten des Albin und Vesal, die Quartanten des Haller, die Reihen der Werke eines Boerhaave und Sydenham, wie sie dort aufgestellt waren, und die ganze altmodische Einrichtung der Bibliothek, dann das große, den Kindern als besonderes Wunderwerk nur von fern gezeigte Sonnenmikroskop und allerhand dabei aufgesammelte naturhistorische Kuriosa in einem eigenen Licht vor meinem Geiste und geben mir das eigentümliche Janusgefühl, mit einemmal um zehn Lustra und mehr in den Bildungsgang der Menschheit somit zurückschauen zu können.

Auch das Bild dieses Dr. Altenburg, das Bild eines geehrten, überall hilfreich eingreifenden Arztes, eines magern mild-ernsten Mannes, dessen Hilfe ich selbst viel verdanke, steht mir sehr lebhaft bis heute vor der Seele. Er war auch noch ganz ein Mann einer andern Zeit: die abgemessene, etwas pedantische Weise, der breite Frack mit großen, blanken, stählernen Knöpfen, die weiße Krawatte und das spanische Rohr, sie vollendeten die originelle Individualität eines Arztes aus der Schule Friedrich Hoffmanns.

So fern mir nun auch in früher Knabenzeit hier noch die Vorstellung liegen mochte, daß mein eigenes Leben einen verwandten Gang nehmen könnte, so ist doch alle dergleichen Einwirkung in keinem Leben verloren, und wie denn ein jeder finden kann, der in dieser Hinsicht auf sich ausführlich achtet, daß das, was zuerst uns vielleicht nur ein einfacher Lebensfaden zu sein schien, zuletzt aus gar vielen und oft aus den ungleichartigsten Fasern gesponnen erfunden wird, so gaben zuverlässig alle diese Einwirkungen jede ihren eigentümlichen Einschlag in das Gewebe meines Lebens.

Bei dieser Gelegenheit muß ich daher auch gleich noch eines andern, oben nur beiläufig genannten Zweiges aus dem alten Reichelschen Stamme gedenken, von woher mir späterhin ebenfalls ein besonderer Einfluß auf mein Leben zugedacht sein sollte. Der erwähnte Dr. Altenburg nämlich hatte noch eine einzige Schwester, welche an einen nachmaligen Bürgermeister der Stadt Mühlhausen namens Tilesius sich verheiratet und diesem zwei Söhne geboren hatte, deren ältester nachmals sich als der bei der Krusensternschen Erdumsegelung viel genannte Hofrat Tilesius bekannt machte und teils durch seine Richtung auf Naturwissenschaften, teils durch seine entschiedene Anlage zum Zeichnen und Malen später vielfältige Einwirkung auf meine Entwicklung geübt hat. Erwähne ich dann endlich noch, und zwar vorläufig schon hier, einen Mann, der meine Erziehung leitete, einen geschätzten Chemiker und vielgeliebten Bruder meiner Mutter, Daniel Jäger, so sieht man in der Zeit meiner frühesten Entwicklung fast alle die Elemente vertreten, welche späterhin in die Richtung meines eigenen Lebensganges gezogen werden sollten ...

Nach diesem allen will ich jetzt den Leser näher an das Leben meiner Großeltern, welches mir immer wie ein recht in sich beschlossenes niederländisches Stilleben im Gedächtnis schwebt, heranführen. Es hatte aber in alter Zeit hinter dem Rathause in Mühlhausen die Münze gelegen (denn die Freie Reichsstadt besaß das Privilegium, Geld zu münzen, und hat es vom 15. bis 17. Jahrhundert mehrfältig ausgeübt), und als nun das Münzwesen längst eingegangen war, hatte mein Großvater, Andreas Adam Jäger, diese alten Baulichkeiten durch Kauf an sich gebracht und hier seine kleine Färberei und Druckerei eingerichtet. Das Haus lag an der Wahlgasse, durch welche, wie in der Stadt durch so viele andere, ein klares Bächlein rauschte – für das Färbergeschäft natürlich von ganz besonderm Nutzen –, und hinter dem alten, nur sehr mäßig wohnlichen Vordergebäude, woran zugleich eine Art von Scheuer sich befand, erstreckte sich bis zu einem halbverfallenen Flügel des alten Rathauses der Hof, auf dem mehrere Pflaumenbäume sich befanden, heranwachsenden Knaben zu besonderm Genügen gereichend. Einige alte Schmelztiegel hatten sich bei zufälligen Abgrabungen auf dem Hofe vorgefunden, und es war natürlich, daß sie als merkwürdige Erinnerung an das freireichsstädtische Privilegium des Münzwesens gern den Besuchenden bemerkbar gemacht wurden.

Hier also lebte friedlich das Ehepaar meiner Großeltern, welchem nach und nach sieben Kinder geboren worden waren und in deren Hause zuweilen auch meine Urgroßmutter, Frau Reichel, einige Zeit zu wohnen pflegte.

Ums Jahr 1785 war es nun, daß mein Vater, August Gottlob Carus, nach Mühlhausen kam. In Oschatz bestand er sechs Jahre lang die Lehre der Färbekunst und ging bald darauf nach Mühlhausen, allwo ein reicher Färber namens Schneider den jungen, sehr wohlgebauten, kräftigen und unterrichteten Mann festhielt und ihm ein Jahr hindurch einen großen Teil seiner Geschäfte übertrug. Während dieser ganzen Zeit war er nicht in das Haus meiner Großeltern gekommen, und nur wenige Tage vor seiner Reise nach den Niederlanden, wohin er sich nun zu wenden gedachte, besuchte er auch diese kleine Färberei, mehr um der Kunst die Ehre zu erzeigen, als um besonderer Absichten willen. Hier sah er meine Mutter; er kam nach zwei Tagen wieder; die Familie nahm ihn gütig auf; meine Mutter, die damals Klavierstunden gehabt hatte und ein kleines Klavier leidlich zu spielen verstand, mußte ihm ein paar Lieder vorspielen, und die jungen Leute vergaßen sich von dem Tage an nicht mehr!

Aber die Reise drängte, man mußte sich trennen; trotz des Versprechens zu schreiben, kamen keine Briefe. Dafür nach einem Vierteljahr kehrte er selbst zurück. Sie beide standen im dreiundzwanzigsten Jahre, bald wurde die Verlobung bestimmt, und nun ging mein Vater nach Leipzig, pachtete dort am Mühlgraben in einem Hause, »Zum Blauen Lamm« genannt, eine Färberei und kam ein Jahr später, im Herbst 1787, nach Mühlhausen zurück, um die Braut heimzuführen. Am 1. November 1787 feierte dasselbe Paar die Hochzeit, und drei Tage darauf zogen die jungen Leute nach Leipzig, wo sie dann sofort ihre kleine Wirtschaft mit gutem Mute eröffneten.

Im Jahre 1789, und zwar wie bemerkt am 3. Januar, wurde ich ihnen geboren, und ich bin denn auch ihr einziges Kind geblieben, da ein zwei Jahre später geborener zweiter Knabe sehr bald wieder verstorben ist. Bei einem regsam betriebenen Geschäft und vieler häuslicher Arbeit mochte die Sorge für meine erste Erziehung den Eltern nicht leichtfallen, und so geschah es denn, daß sie den Vorschlag annahmen, mich auf etwa ein Jahr zu den Großeltern nach Mühlhausen zu geben, allwo der oben erwähnte geliebte ältere Bruder meiner Mutter für meinen ersten Unterricht treulich zu sorgen versprach. – Was man an sorgfältiger Pflege des unbewußten und des bewußten Lebens in frühen Jahren einem andern danken kann, habe ich daher diesem Manne zu danken, diesem Manne, dessen milde freundliche Züge mir unvergeßlich eingeprägt sind und welchem, bei aller Stille und Einfachheit seines Wesen, doch ein gar merkwürdiges inneres Arbeiten und Streben eigen war. Er hatte früher drei Jahre in Leipzig Theologie studiert, hatte mit Beifall gepredigt, und der Onkel in Mühlhausen, Superintendent Reichel, wünschte ihn im geistlichen Amte bald dort angestellt zu sehen. In ihm selbst aber war ein anderes Sehnen erwacht; die Naturwissenschaften und insbesondere die Chemie, damals in Frankreich zu neuem Leben erstehend und mit den ersten Stürmen der Revolution zugleich nach andern Ländern und namentlich nach Deutschland hinüberwirkend, regte auch ihn heftig auf. Lavoisier und Vauquelin mit ihren antiphlogistischen Theorien stiegen als Gestirne am Horizont der Naturwissenschaft auf, und auch in England wurde dieser Sinn mehr und mehr rege; dies alles verleidete nun dem jungen Theologen sein früheres Studium, und kaum schloß der geistliche Oheim die Augen, so ging er nach Leipzig zurück, vervollkommnete sich im Französischen, studierte Englisch und widmete sich nun ganz dem Studium der Chemie. Dort hatte er noch mit meinen Eltern zusammen ein stilles, aber in sich regsames und poetisches Leben geführt; in Mußestunden las man zusammen, ihm selbst gelangen mitunter kleine Gedichte, ganz fein und wohlgemeint, und dabei war ihm dann auch der eine Knabe seiner geliebten Schwester so lieb geworden, daß er insbesondere es betrieb, daß, als er Verhältnisse halber nach Mühlhausen zurückkehren mußte, ich ihm dorthin mitgegeben werden sollte.

Indem ich es aber nun versuche, mich selbst in diese frühen Zeiten zurückzuwenden und über das erste Hervorgehen der Welt des Bewußtseins in mir die möglichst vollständige Rechenschaft zu geben, befällt auch mich dieses eigene Gefühl, welches jeder haben wird, wenn er, gleichsam aus der Region seines Bewußtseins heraus, in die Welt seines unbewußten Lebens ganz sich versenken möchte; es ist ein Gefühl gleichsam der Auflösung, des Verfließens im Allgemeinen, welches, in dieser Richtung, der Seele zuletzt gerade ebenso nahe treten muß als in der Richtung des Aufhörens alles Lebens, des Sterbens. Wie die spanischen Dichter es lieben, zwischen Wiege und Sarg vielfache Gleichungen zu finden, so fühlt man ebenso allen Boden unter sich weichen, wenn man in die früheste Kindheit zurückblicken, sie sich geistig ganz klar zurückrufen möchte, als wenn man versuchen will, den Zustand der Grundidee unsers eigenen Daseins nach dem Aufhören dieses zeitlichen Daseins zu denken.

Ein Faktum ist jedenfalls bei diesem tiefen Rückblick merkwürdig, nämlich, daß die allerfrühesten Erinnerungen nie einen Gedanken, sondern immer nur eine oder die andere Sinnesvorstellung, welche gleichsam daguerreotypisch besonders fest sich eingeprägt hatte, zutage fördern werden. Zwar sagt man sich bald, daß es nicht füglich anders sein könne, da eben in erster Kindheit das Denken, dieses wunderbare Rechnen des Geistes mit den sprachlichen Äquivalenten der Idee und der Sinnesvorstellung zugleich, noch so unbehilflich und schwach ausgeübt wird. So also, wenn ich mich frage, zunächst wie weit ich mich in die Region der Kindheit hinein und was ich mir dort zumeist erinnern kann, so finde ich aus frühester Zeit durchaus nur einzelne Bilder vorhanden, von denen das erste ich schon an das Ende des zweiten Lebensjahres zurückzuversetzen genötigt bin1, während dann einige andere aus meinem dritten und vierten Jahre ihrer Natur nach herstammen müssen. Von irgendeinem eigenen Gedanken aber aus so früher Zeit ist mir eine besondere Erinnerung durchaus nicht verblieben, und wenn ich über diese Gegenstände nun recht scharf nachsinne, so muß ich sagen, daß nicht früher als aus dem fünften Lebensjahre ich das erste entschiedenere und stärkere Gefühl und nicht früher als aus dem sechsten Jahre ich den ersten weiterstrebenden Gedanken mir deutlich zurückzurufen imstande bin; wie, werde ich sogleich erwähnen.

Es war nämlich, wie gesagt, bald nach vollendetem vierten Lebensjahre, daß ich durch die Mutter und deren Bruder nach Mühlhausen gebracht und im Hause meiner Großeltern, zugleich mit dem nur wenig jungern Knaben einer Schwester meiner Mutter, der Pflege und Erziehung meines Oheims übergeben wurde.

Unter solchem Schutze führte ich denn also dort in den alten freireichsstädtischen Mauern ein recht echt kindliches und einfaches Leben und hatte das in Fülle, was eigentlich allen Menschen, aber zumal dem Kinde, der nötigste und schönste Lebensatem ist – Liebe!

Bei dem allen fehlte mir dort in den ersten Wochen eine Form der Liebe – die Liebe der Mutter, und die gewisse stille Trauer um dieses Fehlen ist das erste entschiedene, oft, wenn ich allein war, mich zu Tränen erregende Gefühl, dessen ich mich erinnere. Später verlor sich diese Trauer, es wuchs die Lust am Lernen und am Erfahren, und dann schreibt denn auch mein Oheim von mir (unter dem 22. Dezember 1793): »Die Naturgeschichte ist ihm jetzt seine angenehmste Unterhaltung. Besonders äußert er allemal seine Verwunderung, daß er dies und jenes von einem ihm bekannten Geschöpfe noch gar nicht gewußt habe; denn er will immer alles lieber selbst erfinden und aus sich selbst gleichsam schöpfen, als daß er es gelernt zu haben gestehen sollte. Beständig ist er beschäftigt. Das erste, wenn er früh aufgestanden, ist: gib mir doch was zu tun! Das gefällt mir außerordentlich an ihm.«

Von allen diesen bei solchem Unterricht in der jungen Seele angeregten Gedanken erinnere ich mich indes gegenwärtig keines einzigen mehr; dagegen ist seltsamerweise ein Gedankenzug mir immer noch gegenwärtig, und wie gesagt der früheste derer, die mir aus der Kindheit verblieben sind, und dies ist – sonderbarerweise für ein Kind – ein Gedanke über die menschliche Seele. In meinen Mußestunden war mir nämlich, anstatt der Flut von Kinderschriften, welche erst eine spätere Zeit geboren hat, ein einziges Buch ein einziger und treuer Gefährte: der alte »Orbis pictus« von Amos Comenius mit seinen kuriosen Holzschnitten und Verzierungen, mit seinem deutschen und lateinischen Text und mit seinen Abbildungen der verschiedensten menschlichen Beschäftigungen und Zustände. Wenn ich nun so darin blätterte und las, hielt mich immer ein Blatt fest, auf dem geschrieben stand: »Die menschliche Seele.« Da sah man einen Tisch abgebildet, darüber ein Triangel mit dem göttlichen Auge und dabei die mit bloßen Punkten angegebene Figur eines Menschen. Dies Geheimnis – denn daß es ein solches andeute, verstand ich wohl – war es, wodurch der Blick meines Geistes zuerst ganz ins Innere gelenkt wurde. »Auch du hast eine Seele oder bist eine Seele!« Dieses Denken ließ mich nicht los, und dieser zuhöchst doch immer ein Mysterium bleibende Gedanke, freilich noch in voller Naivität und im sonderbaren Staunen des kleinen Knaben, war der erste, dessen ich mich noch heute entsinne und welchen mir immer klarer zu machen ich später ein halbes Jahrhundert hindurch treulich gestrebt habe. Außerdem war mein Leben in jenen Umgebungen das einfachste, und ich habe schon oben erwähnt, wie eigentümlich die dortigen altdeutschen Örtlichkeiten, verbunden mit einer freiern Natur und einem mehr abwechselnden Boden, auf das junge Gemüt wirken mußten. Einen tieferen Eindruck hat mir insbesondere der oft wiederholte Besuch einer der reichen, die Stadt mit reinstem, klarstem Wasser überströmenden Quellen hinterlassen. Die Feierlichkeit, mit welcher man von alten Zeiten her diese schöne Naturgabe dort empfangen hatte, die Dankbarkeit, welche immerfort ihr geweiht wurde, hatte etwas, das mir jetzt wie altgriechische Verehrung einer Najade vorkommt, das aber damals nur eben, weil es mir schön und gemütlich erschien, auf den Knaben eine besondere Wirkung hervorbrachte. Jener Quell ist in Mühlhausen bekannt unter dem Namen des Brunnens zu Popperode und liegt etwa eine halbe Stunde vor der Stadt. Schon vor vielleicht zweihundert Jahren hatte die Bürgerschaft beschlossen, ihn besonders zu schmücken: eine Einfassung behauener Steine wurde ihm gegeben, ein Lusthaus mit gewölbten Hallen und fünf spitzen Türmchen, mit Schiefer gedeckt, hatte man dabei aufgeführt, den grünen Anger umher sah man mit einer Mauer eingefaßt und den Brunnen selbst von schönen alten Linden beschattet, kurz, das Ganze, belebt von dem wallenden breiten Quell, dessen tiefes klares Wasser zur Seite mächtig abströmt, um bald weiterhin schon Mühlen treiben zu können, es hat durchaus einen still in sich geschlossenen, eigentümlich anziehenden und beruhigenden Charakter. Alljährlich ziehen die Schulen, geführt von Abgeordneten der Bürgerschaft, da hinaus, singen Lieder am Quell und hängen die Kränze, die sie brachten, in der Halle auf; kurz, es ist hier wirklich noch eine Spur eines alten Naturdienstes vorhanden; und ich kann nicht sagen, wie merkwürdig dieses alles auf den Knaben wirkte. Noch jetzt steht die Örtlichkeit von Popperode lebhaft mir vor dem Gedächtnis.

Sodann übte doch auch die Individualität meines Großvaters mit ihrer besondern Milde und mit dem Frieden, der darüber gebreitet war, einen sehr bedeutenden Einfluß auf das leicht gereizte, innerlich heftige Naturell der jungen Seele. Denn freilich konnte ich mitunter auf eine Art mich aufregen lassen, die manche Strafe mir zuzog. So, als beim Abschießen eines kleinen hölzernen Vogels einer meiner Oheime durch einen geschickten Schuß gleich anfangs den ganzen Vogel zu Fall brachte, geriet ich außer mir, warf mich mit Heftigkeit zur Erde und brach in unaufhaltsames, langes, krampfiges Weinen aus. Gegen diese unglückliche Anlage nun war die Einwirkung eines so einfachen stillen Gemüts als das jenes Alten ein überaus wohltätiges milderndes Öl. Noch ganz deutlich erinnere ich mich, wie im Sommer an stillen Sonntagsnachmittagen er auf duftendem Heu in der kühlen Scheune gern mit uns zu ruhen pflegte und wie er uns da bisweilen biblische Geschichten zu erzählen liebte. Besonders der eine Tag, wo er von der Seefahrt der Jünger sprach und von Christus, wie er über die stürmenden Wogen tröstend und beruhigend daherschreitet, er ist mir immer unvergeßlich geblieben.

Es sollte aber mein Aufenthalt im großelterlichen Hause mir nicht bloß Angenehmes und Gutes bringen, sondern auch eine schwere Erkrankung. Damals, wo Jenners Entdeckung noch nicht die Kindheit gegen das Pockengift schützte, waren denn auch Epidemien der letztern Art häufiger, und so erkrankte ich gleich nach vollendetem fünften Jahre so schwer an den natürlichen Pocken, daß ich fast eine Woche erblindet lag. Auch hier wachte mit rührender Sorgfalt über mich jener gütige Oheim, und noch bewahre ich ein bis ins kleinste gehendes Tagebuch dieser Krankheit, welches er für meine Mutter geführt, ihr aber erst nach beendigter Krankheit gesendet hatte, damit auf zarte Weise mit dem Schreck über die Nachricht von der Erkrankung zugleich die Freude über gelungene Rettung verbunden werde. Mit ihm bewachte treulich Dr. Altenburg den Sturm des Fiebers, leitete es, wie ich noch aus dem Tagebuch ersehe, auf einfach hypokratische Weise, und so kam es denn auch, daß nach überstandenem Leiden ich mich einer fast noch bessern Gesundheit zu erfreuen hatte als vorher.

Im Spätsommer 1794 kamen meine Eltern nach Mühlhausen, um mich abzuholen, und wie schnell doch die Bestimmtheit des Sinneseindrucks in der weichen Seele des Kindes schwindet, dies hatte ich daran Gelegenheit zu erfahren, daß ich beide Eltern und am längsten meinen Vater nicht wiedererkannte, als sie mir scherzweise zuerst unter fremden Namen vorgestellt wurden. Noch immer muß ich, wenn ich hieran gedenke, es seltsam finden, daß, da einzelne Bilder aus frühester Zeit mir noch jetzt vollkommen gegenwärtig sind, damals das Bild geliebter Personen sich so schnell in der Seele des Kindes verdunkeln konnte! Allein bei näherer Erwägung ergibt sich leicht, daß, indem überhaupt ein Sinneseindruck um so fester in der Seele haftet, je stärker im Moment die von ihm bewirkte Erregung dort war, notwendig alle die Vorstellungen, welche täglich und stündlich ohne besondere Erregung in der Seele sich wiederholen, dergestalt, daß sie ganz zur Gewohnheit und deshalb weniger beachtet werden, auch leichter verblassen als irgendein Bild, irgendeine Vorstellung, deren Aufnahme in der Seele durch eine gewisse Gewaltsamkeit bezeichnet worden ist.

Endlich nach einem Jahre wieder in Leipzig angekommen, fand ich meine Eltern, nicht mehr in dem Hause, wo ich geboren, sondern in einer Färberei, gelegen am Wege nach dem schönen Walde, welcher sich längs des Elsterflusses bis gegen Merseburg und Halle hin ausdehnt und dessen nächster Teil bei Leipzig mit dem Namen des Rosentals belegt wird. In dieser Wohnung verlebte ich nun meine nächsten sechs Jahre, erhielt anstatt des geliebten Oheims mehrere andere Lehrer und trieb ziemlich fleißig alles, was man als lernenswert mir darbot. Wenn ich mir nun Mühe gebe, mich zu erinnern, was in jener Periode als insbesondere wichtig für weitere Entwicklung bezeichnet werden müsse, so darf ich drei Momente namentlich hervorheben: einmal ein beginnendes bestimmteres Verhältnis zur freien Natur, ein andermal eine entschiedenere Beziehung zur Gesellschaft und endlich das erste deutlichere Hervortauchen gewisser Neigungen und Eigentümlichkeiten in mir selbst.

Das erste wurde begünstigt durch die Lage unserer damaligen Wohnung in der Nähe jenes schönen Waldes. Aus meinem Fenster sah ich da hinaus, der Fluß hinter unserm Hause floß da hinein, und ich selbst, allmählich mehr heranwachsend, konnte mich nun schon öfter in Wiesen und nahen Waldesrand vertiefen. Gibt es doch dort noch einen Überrest altdeutscher Eichenwaldungen, und insbesondere hatte der sich meilenweit erstreckende Teil, welchen man das »wilde Rosental« nennt, damals noch Überfluß an mächtigen, viele Jahrhunderte zählenden Eichen. Mit einem zweiten Oheim, der meinem Vater im Geschäft beistand, zog ich auch wohl an warmen Sommernachmittagen in jene Schatten und kühlte mich in den gelblichen Wellen der Elster, im Herbst ging ich mit andern Knaben hinaus, um Gerten zu schneiden und Sprenkel den Zugvögeln zu stellen; aber am eigentümlichsten wirkte es doch auf mich, als ich späterhin in den nächstgelegenen Waldteilen allein mich ergehen durfte. Ich lag dann wohl unter einer alten Eiche, sah in die mächtigen Äste und in das Blättergewölbe hinauf, gab Achtung auf das Leben der kleinen Käfer im Grase umher und fing an zu ahnen, daß in diesem stillen Leben eine Menge der seltsamsten Geheimnisse verborgen liegen müßten. Es entwickelte sich dort ein gewisser Hang zur Einsamkeit, und es war mir da oft so besonders wohl. Die frische Waldesluft, der Hauch der Wiesen, es schien mir auch körperlich zusagend und gesund, und wenn ich daher nicht gar oft dorthin mich selbst verlieren durfte, so saß oder stand ich dafür um so mehr am Wasser hinter unserm Hause, trieb Fischfang mit der Angel und sah dabei nach den fernen Wipfeln hinüber. Kam dann der Winter, so boten die kleinern Flüsse, die sich um Leipzig durch die Wälder ziehen, die erwünschteste Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen, in welchem ich bald eine bedeutende Fertigkeit bekam, und noch jetzt kann ich mit Vergnügen mancher Abende gedenken, wo ich das Spätrot des Westens und die schimmernde Mondessichel durch die beschneiten Zweige der Büsche und Bäume in immer neuem Reiz verfolgen durfte, während die blanken Eisen mich rasch über die spiegelnde Bahn des Flusses dahintrugen. Einigemal hätten übrigens beinahe die Najaden den jungen unachtsamen Naturfreund für immer in ihr dunkles Reich hinabgezogen. Zweimal zu verschiedenen Zeiten stürzte ich hinter dem Hause meiner Eltern in den tiefen Fluß und wurde mit genauer Not gerettet, und einmal brach ich, als ich am Waldesrande über das beschneite Flußeis nach der Bahn gehen wollte, plötzlich durch und stand mit einemmal bis an die Brust im Wasser. War an dieser Stelle der Fluß tiefer, so war ich verloren; so waren bloß die Schlittschuhe im Wasser mir entschlüpft, und ich selbst arbeitete mich bald wieder auf das Eis herauf. Im Begriff fortzugehen, vermißte ich jedoch die getreuen Eisen, und sogleich kehrte ich wieder nach der eingebrochenen Stelle zurück und fischte an den schwimmenden Bändern die schon verloren geglaubten heraus, allerdings nicht bedenkend, daß ich mich so einer noch weit größern Gefahr ausgesetzt hatte. Ich kam ganz mit Eiszapfen bedeckt nach Hause, doch blieb dieser Fall sowohl als der zweimalige frühere Sturz ins Wasser ohne weitere Folgen für meine Gesundheit.

Aber nicht bloß für die mich näher umgebende Natur sollte mir deutlicher der Blick aufgehen, auch von weiter entlegener und fremder Landesart einen Begriff zu fassen, sollte dem Knaben erleichtert werden, denn um diese Zeit kehrte Dr. Tilesius, dessen ich oben schon gedacht habe, von Portugal, wohin er als Naturalist mit Graf Hoffmannsegg gegangen, mit vielfältiger Ausbeute beladen zurück und wohnte längere Zeit in oder am Hause meiner Eltern. Ich sah bei ihm ausgebreitet zum erstenmal die wunderlichen Gestalten der Seegeschöpfe, der Seeigel, Korallen, Gorgonien, der Muscheln und Sepien, und sah vielfältige Zeichnungen, die er in jenen Gegenden entworfen hatte; ja, wenn er mir erzählte und ich ihn um ein Bild bat, so nahm er wohl meinen Farbenkasten, zeichnete mir die Küste von Ceuta oder das malerische Cintra auf ein Stück Papier und weckte und nährte in mir so zugleich die Lust an landschaftlichen Versuchen, wozu die eigene Neigung mich frühe schon, aber freilich noch auf ganz kindische Weise getrieben hatte.

Indem mir nun auf diese Art die äußere Welt nach und nach anfing verständlicher zu werden, sollte es auch nicht an Gelegenheit fehlen, von der großen Verschiedenheit der Elemente, aus welcher die menschliche Gesellschaft immer wieder neu gebildet wird, einen deutlichern Begriff zu erlangen. Da nun übrigens dem Kinde immer die Welt im ganzen außerordentlich eng begrenzt erscheint, so hat es auch noch durchaus keinen Begriff von den Bewegungen der Menschheit im großen, sondern gewöhnlich werden einzelne Individuen, denen es näherkommt, ihm zu Repräsentanten größerer Strahlungen dieses Ganzen. Dieser Gedankengang ist indes nicht so unergiebig, als es auf den ersten Blick aussieht, denn wenn wir uns erinnern, daß es zuletzt doch die höchste Auffassung der Menschheit bleibt, wenn sie im Begriff wieder zu einem einzigen Organismus zusammengeht, so darf man immerhin jene früheste Anschauungsweise ganz wohl als eine bestimmte Vorbereitung zu dieser höchsten betrachten. Was mich betraf, dessen Vorstellungen damals noch im Allernächsten befangen waren, so fand ich das, was ich wohl gehört und gelesen hatte von manchen Zweigen und Ständen menschlicher Gesellschaft, in einzelnen Freunden unseres Hauses und andern mir als auffallend gezeichneten Personen gut genug repräsentiert, um mir auf meine Weise einen Begriff dieser Verschiedenheit einzuprägen. So will ich hier nächst Friedrich August Carus, dem Psychologen, den wir oftmals bei uns sahen und in welchem mir immer durch sein ruhiges gehaltenes Wesen der Begriff der Würde des angehenden akademischen Lehrers besonders gegenständlich erschien, namentlich eines Mannes gedenken, dessen schönwissenschaftliche Richtung und dessen feines Gemüt ihn teils selbst als Schriftsteller bekannt gemacht haben, teils ihn mit den ersten Geistern seiner Zeit und namentlich auch mit Goethe in Berührung gebracht hatten: ich meine Friedrich Rochlitz. Dieser Mann, der Sohn unbemittelter Leipziger Bürgersleute, hatte gleich meinem Oheim ebenfalls anfangs Theologie studiert, war aber auch gleich diesem, durch eine innere lebendigere Richtung, von dem enger gefaßten Dogma verscheucht worden und hatte damals bereits begonnen, durch verschiedene Erzählungen und manche ästhetische Schilderungen ein gewisses Aufsehen zu erregen. Gleichzeitig hatte er sich durch Begründung der »Musikalischen Zeitung« ein wahres Verdienst erworben und viele schätzbare Beiträge selbst zu derselben gegeben. Sein ganzes Äußere schien noch einer frühern Periode anzugehören: ich erinnere mich, ihn immer noch in kurzen Beinkleidern, weißen Strümpfen und Schuhen mit großen silbernen Schnallen sowie in gepudertem Haar gesehen zu haben. Übrigens war er von langer schmächtiger Statur, feiner gemütlicher Gesichtsbildung und freundlichem, durchaus gehaltenem Benehmen. Ein Freund von ihm, der damalige Organist der Neukirche in Leipzig und späterhin Kapellmeister in Weimar, August Müller, war ebenfalls und zugleich mit Rochlitz viel in unserm Hause. An diesem, einem kräftigen, untersetzten, ziemlich beleibten Mann, erschien mir zum ersten Male die lebenslustige frische Natur, wie wir sie als charakteristisch für viele ausgezeichnete Tonkünstler kennengelernt haben. Müller spielte für damalige Zeit ausgezeichnet das Fortepiano, und wenn er an Sonntagsnachmittagen zuweilen mit Kraft und Leben die Ouvertüre zum »Figaro« oder zur »Entführung aus dem Serail« vortrug, so vortrug, daß oft die unter unsern Fenstern vorbei nach dem Rosental wallfahrtenden Spaziergänger verweilten, und wenn dann lebhafte Gespräche mit Rochlitz und den Meinigen über Musik sich entspannen, so war ich, so fern mir im ganzen noch diese Sachen lagen, doch immer ein aufmerksamer Hörer. Nicht selten fanden sich bei solchen Gelegenheiten auch noch die Herren Breitkopf und Härtel ein, die Besitzer der großen Handlung, welche Mozarts Werke, die »Musikalische Zeitung« und vieles andere kräftig in die Zeit Eingreifende zutage gefördert hat. Breitkopf, der Sohn von Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, dem berühmten Erfinder des beweglichen Notendrucks und vieler andern Vervollkommnungen der Buchdruckerei, ist mir gleichfalls noch als ein jovialer, an allem geistigen Fortschritt lebendigen Anteil nehmender Mann im Gedächtnis, während sein Associé Härtel – weit mehr berechnend und kälter – mir das Bild eines wohlüberlegenden Geschäftsmannes mit der größten Bestimmtheit darstellt.

Ich selbst, soviel ich mich meiner damaligen Eigentümlichkeiten erinnere, hatte stets etwas mehr in mich Gekehrtes, fast mitunter Verschlossenes und Scheues. Es wurde mir sehr schwer, mich irgendeiner mir weniger bekannten Person vorstellen zu lassen, obwohl ich auf meine Umgebungen gar wohl zu achten gewohnt war. Dabei regte sich zeitig eine gewisse pedantische Ordnungsliebe. Es konnte mir Freude machen, wenn mir meine Mutter erlaubte, wenn sie ausging und ich zu Hause blieb, ihr Zimmer auf das sorgfältigste aufzuräumen und zu ordnen. Mein eigenes Zimmerchen hielt ich gern sehr rein, und meine Bücher und sonstiges Eigentum hatte ich meistens sehr wohl aufgehoben. Ich lebte auch eigentlich mehr sozusagen in mich hinein als aus mit heraus. Die großen Weltbegebenheiten, die zu jener Zeit, von Frankreich ausgehend, Europa erschütterten, der Tod Ludwigs XVI., die Waffentaten der jungen Republik, der sich entzündende Kampf mit England – es lag mir alles zu fern, und wenn auch das Unglück jener Königsfamilie mich in seiner menschlichen Bedeutung rührte, wenn ich davon erzählen hörte, so war doch im ganzen mein Leben noch zu eng begrenzt, um mich an jenen Erschütterungen besondern Anteil nehmen zu lassen.

Daß übrigens bei meiner Erziehung irgendein besonderer Plan befolgt worden wäre oder daß schon früh über den Lebensberuf, den ich dereinst ergreifen sollte, eine Bestimmung stattgehabt hätte, kann ich nicht sagen. Meinem Vater, da ich das einzige Kind blieb, schwebte wohl der Wunsch vor, daß ich dereinst sein Geschäft fortsetzen möchte; indes hörte ich ihn doch oftmals sagen: ich solle nur recht viel lernen, ein vermehrtes Wissen werde auch diesem Geschäft gar sehr zugute kommen. Da es nun ganz gewöhnlich war, daß junge Leute, auch ohne einem eigentlich wissenschaftlichen Studium sich zu widmen, einzelne und namentlich naturwissenschaftliche Collegia an der Universität hörten, und da auch mir dergleichen späterhin für zuträglich gehalten wurde, so ließ man mich um die Zeit meines zwölften Jahres in die Thomasschule eintreten, damit nach weiter verfolgten philologischen Arbeiten späterhin eine Inskription bei der Universität möglich werden möchte.

Bis zu jener Zeit des Eintritts in eine öffentliche Schule hatte ich nur sehr wenig mit andern Knaben verkehrt und wüßte ich denn davon auch nichts Besonderes aufzuzeichnen, was Einfluß auf mein späteres Leben gehabt hätte. Am nächsten meinem Herzen kam ein Knabe, Wilhelm, der Sohn eines Leipziger Kaufmanns Fleischer, aber die Eltern zogen mit ihm in den nächsten Jahren nach Jena, wo ich ihn denn auch einmal besuchte und wohl 12 bis 14 Tage dort in seinem Hause lebte. Der Knabe hatte etwas Mildes und Sanftes, das meinem mehr ernsten Wesen wohltat; das freundliche Gesicht, mit blonden Locken umgeben, war mir sehr lieb geworden, und so interessierte mich nun auch die Örtlichkeit, in welcher er lebte, ja sie hinterließ mir in mehrfacher Beziehung einen bestimmten Eindruck in meiner innern Welt. Wir bestiegen manchen Berg, wie sie dort von den Ufern der Saale in vielfältigen Rücken und Kuppeln sich erheben. Das Neue der Formation dieser Kalkberge, die Ruinen der Kunitzburg, Lobdaburg – das Ziel mancher Burschenzüge –, der abenteuerlich auf der Höhe gelegene Fuchsturm, das eigene goldene Abendlicht in diesem Saaletale – alles regte mich eigentümlich an und ist mir immer gegenwärtig geblieben. Zugleich beschäftigte mich auch die Örtlichkeit der Stadt, deren hohe gotische Kirche und deren rinnende Wasser in den Straßen mich auffallend an Mühlhausen erinnern mußten; vorzüglich wirkte aber das renommistische Treiben der Studenten sonderbar auf die Phantasie des Knaben. Jena war damals noch sehr stark besucht, in hohen Kanonenstiefeln mit mächtigen Schlägern sah man oft Trupps der Landsmannschaften auf dem Markte einherschreiten; Zweikämpfe waren an der Tagesordnung, Fechtübungen wurden oft am Tage bei dem Marktbrunnen gehalten, und da mehrere Studenten in dem Fleischerschen Hause wohnten, mit denen mein Wilhelm bekannt war, so wurde ich denn auch da mit eingeführt und besah mir mit nicht geringer Aufmerksamkeit die großen bequasteten Pfeifen, die weiten steifen Fechthandschuhe und die langen dreispitzigen Schläger mit ihren großen Stichblättern, denn man focht damals alles auf den Stoß, wobei es mitunter an den gefährlichsten und oft tödlichen Wunden nicht fehlte. Zwei Umstände wirkten während dieses Aufenthaltes übrigens auch noch merkwürdig auf mein Gemüt: einmal, daß mir in unserm Hause oben ein noch nicht wieder bewohnter leerer Alkoven gezeigt wurde, in welchem etwa ein Jahr zuvor ein junger Studierender nur mit einem Federmesser sich selbst getötet hatte. Ein dunkler Fleck noch nicht ganz ausgewaschenen Blutes war noch sichtbar in dem öden Raume, und es trat mir zum erstenmal nahe, daß es so eigene Stimmungen der Seele geben könne, wo sie mit Ungeduld die Schranken dieser Existenz zu brechen unaufhaltsam genötigt sein kann. Ein anderes war es, daß in jener Familie noch ein junges Mädchen – man nannte sie Lottchen – erwuchs, die immer sehr freundlich gegen mich war und bei deren eben aufblühender Schönheit mir zum erstenmal die Ahnung kam, es könne dem Leben wohl, im Gegensatz zu jenen schweren nächtlichen Stimmungen, auch ein mächtiges beglückendes Gefühl aufgehen.

Alle diese verschiedenartigen neuen Eindrücke verfehlten denn auch dort nicht, mich in eine gewisse innere Zurückgezogenheit und äußere Stille zu versetzen, so daß ich selbst auf gemeinsamen Spaziergängen immer mich abzusondern liebte und gegen die gewöhnliche Knabenart mehr allein als mit den andern ging; wie ich mich denn daher auch ganz wohl erinnere, daß einstmals einer der der Familie befreundeten Studierenden, als ich bei einem Spaziergange wieder so still vorausging, zu meinem Wilhelm halb ironisch sagte: »Laß ihn nur gehen, das ist der Philosoph!«

Es war nicht gar lange, daß ich, zurückgekehrt nach Leipzig, mich wieder in dem Kreise der Meinigen eingewohnt hatte, als wir die Nachricht bekamen, meinen Freund Wilhelm habe ein bösartiges Scharlachfieber hinweggerafft. Wie ich war er der einzige Sohn seiner Eltern gewesen, und so wie er denn diese in grenzenlosem Kummer zurückließ, so erfuhr auch ich hierbei zum erstenmal die ganze Herbheit des Verlustes, an welchem nun einmal unter tausendfachen Gestalten das Leben des Menschen sich heraufbildet. Verliert er doch sich selbst immerfort (wie Plato sagt, der Leib hört nie auf unterzugehen), und verliert er doch immerfort seine Außenwelt und nur zu oft gerade die ihm besonders lieb gewordenen Gestalten derselben! In früher Jugend, wo man noch gar nicht geeignet ist, zu dem Gefühl einer gewissen höhern Gegenwart in all diesem Wechsel durchzudringen, faßt aber ein jeder bedeutendere Verlust uns um so erschütternder an, und so war ich denn auch hier heftig und tief ergriffen und sollte zum erstenmal rein fühlen, wie dem Menschen, so wie ihm das höchste Glück aus dem Vereinleben mit einer andern Seele erwachsen kann, auch der gewaltigste Schmerz zugeteilt wird, wenn ihm die unmittelbare Wechselwirkung des Lebens mit einer in Liebe umfaßten Seele entrissen wird. Wenn ich unter andern war, so konnte ich ziemlich ruhig erscheinen, aber allein und mir selbst überlassen weinte ich viel und fand Erleichterung in diesen Tränen.

Dieser Tod trennte mich nach und nach auch von andern jungen Freunden, den Geschwisterkindern desselben, in der Familie des Buchhändlers Göschen. Die so nahe verwandten Familien Fleischer und Göschen bewohnten beide die Gebäude des Reichelschen Gartens, in der letztern Familie waren auch mehrere Knaben, und so ergab sich denn früher Gelegenheit genug zu allerhand Spielen; Kinderkomödien wurden aufgeführt, wir lasen die Schlenkertschen Ritterromane zusammen, Friedrich mit der gebissenen Wange war längere Zeit unser Held, und auch die Taten des Wiprecht von Groitzsch wurden mit pappernen Helmen, hölzernen Schwertern und Schilden möglichst nachgeahmt. Dabei kamen denn auch in diesem Hause, dem Hause eines der ersten Buchhändler in Leipzig, manche Fremde und Gelehrte zusammen, deren Persönlichkeit auch mir zuweilen deutlich wurde und nicht ohne Einfluß auf mich blieb. Namentlich war Seume, der Spaziergänger nach Syrakus, schon vor diesem fast über Verdienst bekannt gewordenen Spazierwege immer in dem Göschenschen Hause. Er hatte sich dort als Korrektor in der Buchdruckerei anstellen lassen, und seine scharfe altsoldatische Persönlichkeit verfehlte nicht, auch mir ein Interesse abzugewinnen. Ich erinnere mich eines ländlichen Festes in der Besitzung der Göschenschen Familie in Hohenstädt bei Grimma, wozu meine Eltern geladen waren. Abends war in dem hübsch angelegten terrassierten Garten bei lustiger Illumination eine Art von Jahrmarkt dargestellt, und Madame Göschen, als Geburtstägerin, wurde denn durch alle dortigen Herrlichkeiten geleitet. Manch heiterer Scherz kam dabei zum Vorschein, aber die ernstesten Wünsche sollten dann als Schlußpunkt des Ganzen durch einen Einsiedler auf der untersten Terrasse in einer Grotte dargebracht werden. Diesen Einsiedler stellte Seume vor, und in seiner braunen Kutte mit dem langen Barte und alten treuherzig tüchtigen Gesicht nahm er sich ganz angemessen für diese Rolle aus. Auch Schiller ist in diesem Hause einmal an mir vorübergegangen. Ich erinnere mich seiner als eines ansehnlichen Mannes im blauen langen Oberrocke, der mir, als wir Knaben eben bei einem geselligen Spiel beschäftigt waren, freilich nur flüchtig gezeigt wurde. Von Künstlern machte damals in Leipzig noch Oeser ein gewisses Aufsehen; die biblischen Geschichten, welche er in der Nikolaikirche gemalt hatte, wurden uns Knaben als besondere Herrlichkeiten gezeigt, und obwohl ich mich eben nicht dadurch besonders enthusiasmiert fand, so nahm ich es doch in gutem Glauben hin, daß hier wirklich etwas Außerordentliches geleistet sei. Im März 1799 starb Oeser, und ich erinnere mich noch gar wohl, daß ich von Göschens aus, welche gerade der alten Pleißenburg gegenüber wohnten, wo Oeser als Direktor der dortigen Kunstakademie gelebt hatte, sein stattliches Leichenbegängnis nicht ohne Rührung mit angesehen habe. Meine eigenen Kunstversuche waren noch sehr schwach; doch ließ ich's am Zeichnen und Illuminieren nicht fehlen, wunderte mich aber nicht wenig, als ich etwas später mit dem Sohne des Nachfolgers von Oeser, Schnorr, bekannt wurde, daß dieser – der gegen mich einige Jahre jüngere Knabe Julius (der nachmals so berühmte Maler) – mir eine nackte menschliche Figur schon mit solcher Festigkeit hinzeichnen konnte.

Zwei Ereignisse habe ich nun noch als für mein Leben von Wichtigkeit aus dem verflossenen Jahrhundert zu erwähnen: das erste ist ein schweres Nervenfieber, welches ich als neunjähriger Knabe überstand und wozu vielleicht die gleiche Krankheit meines Onkels, des bei uns wohnenden jüngern Bruders meiner Mutter, die Veranlassung gegeben haben mochte. Merkwürdig genug hatte ich nämlich in jüngern Jahren immer einen großen Abscheu vor Kranken; die liebsten Personen, wenn sie erkrankten, konnte ich nur mit großer Überwindung sehen, und in dieser Beziehung schien in Wahrheit gar nichts den künftig so deutlich ausgesprochenen Beruf zum Arzte vorzubedeuten. Ich erinnere mich noch recht gut des eigenen Gefühls, welches mich ergriff, wenn ich in ein Krankenzimmer eintreten sollte: es war, als wäre ein magisches Netz vor die Tür gespannt, das mich zurückhielt. Und in wie viele Krankenzimmer bin ich späterhin gern und freudig und oft als Hilfe bringender Arzt gegangen! Meine Genesung ging ziemlich langsam; ich mußte von neuem gehen lernen, so war ich angegriffen, aber ich hatte dabei auch eine besondere Liebe zu meinem würdigen alten Arzte empfangen, und mit einer gewissen Ehrfurcht sah ich ihm noch oft in den nächsten Jahren nach, wenn er früh in unserer Nähe vorbei und hinaus in sein Spital zu gehen pflegte.

Das zweite Ereignis, das manchen Einfluß auf mein späteres Leben hatte, war der Umzug meiner Eltern in dasselbe Haus, in welchem ich geboren war. Dies Haus, genannt »Zum Blauen Lamm«, hatte mein Vater, dessen Geschäft immer mehr einen erhöhten Betrieb gewann, im Jahr 1799 angekauft. Manches wurde dort gebaut, ein kleiner Garten ließ sich ganz freundlich einrichten, und ich erhielt nun für meinen Teil eine ruhigere, bequemere Wohnung, welcher glücklicherweise auch hier nicht die Aussicht auf meinen geliebten Eichenwald, das Rosental, fehlte. Daß ich nun noch abgesonderter wohnte, gab meiner Liebe zur Einsamkeit neue Nahrung, und wenn ich dann im elften und zwölften Jahre mehr und mehr in meine Gedanken und meine Lieblingsstudien der Naturgeschichte, der Chemie, Physik und des Zeichnens mich vergrub, so legte das jedenfalls einen wesentlichen Grund für meine künftige Entwicklung.

Fußnoten

1 Ich würde selbst kaum glauben, daß eine Erinnerung aus so früher Zeit erhalten werden könne, allein ich darf daran deshalb nicht zweifeln, weil der zweite Knabe, den meine Mutter gebar, nicht ganz zwei Jahre nach mir zur Welt kam und weil mir eben diesen bald wieder verstorbenen Knaben das Gedächtnis deutlich zeigt. Ich weiß, daß ich eine ältliche Frau in kleiner, goldgestickter Haube sah (die Wehmutter), die ein kleines Kindchen ankleidete, und habe also hieran das Dokument einer Erinnerung aus dem zweiten Jahre.

II.

Nicht lange nachdem wir in diesen neuen Räumen uns eingerichtet hatten, trat ich in die Thomasschule ein. Nach den Kenntnissen der alten Sprachen, die ich durch Privatstunden erhalten hatte, konnte ich in Sekunda aufgenommen werden und sah mich nun auf einmal aus meinem einsamen stillen Zimmer unter eine lärmende Menge bald älterer, bald jüngerer Knaben versetzt und entschiedener der alten Welt Roms und Griechenlands gegenübergestellt. Wir lagen in den Vorhallen der Philologie wie die Kranken um den Teich Bethesda und warteten auch, daß ein Engel herabkäme und die Wasser bewegte, damit aus ihnen der Hauch des alten Heils aufstiege und uns kräftige.

So quälte denn auch ich mich durch die Alten hindurch, ich betrachtete es wie eine notwendige aufgegebene Arbeit, aber keine Freude ging mir dabei auf! Im ganzen hat mir überhaupt das Leben auf der Schule weder einen angenehmen noch einen anregenden Eindruck zurückgelassen, und es war mir ganz recht, als gegen das Jahr 1804 mir erklärt wurde, für die naturhistorischen und chemischen Studien, die ich damals allein auf der Universität zu verfolgen beabsichtigte, habe ich nun klassische Nahrung genug eingesammelt und ich könne denn unter die Zahl der akademischen Bürger jetzt aufgenommen werden.

Am 21. April 1804 also inskribierte mich der damalige Rektor, Domherr Keil, und von da an begann ich die Vorlesungen über Chemie, Physik, Botanik usw. eifrig zu besuchen. Eine neue Welt dämmerte mir jetzt herauf. Die größere Freiheit in Verfolg dieser Studien, anstatt mich zur Nachlässigkeit zu führen, entzündete nur regern Eifer, und abermals muß ich hier, wenn ich an diese Zeiten zurückdenke, mich überzeugen, wie sehr diejenigen im Irrtum sind, welche durch irgend eingeführten Zwang die höhere akademische Freiheit des Lebens und Lernens auf Universitäten beeinträchtigt wissen wollen. Wie in der menschlichen Natur überhaupt mannigfaltige Widersprüche vorkommen, so ist der Geist des Widerspruchs namentlich in der Jugend lebendig, und weit entfernt daher, durch irgendwie zwingende Maßregeln das größere Geistesstreben des Schülers zu heben, wird man bald finden, daß dadurch nur lähmend und hemmend eingewirkt wird. Angeregt will der junge Geist sein, ein höheres, ja ein im ganzen Sinn unerreichbares Ziel will er sich gesteckt sehen, und dann wird das Ringen, jenes lebendige feste Streben anheben, wodurch die Entwicklung des vollendetern Wissens und Könnens allein ermöglicht und endlich verwirklicht werden kann.

Ich verfehlte aber nicht, neben diesen naturwissenschaftlichen Studien auch die Individualität eines Mannes auf mich wirken zu lassen, welcher zu jener Zeit als einer der beliebtesten Professoren von den meisten Studierenden gehört wurde und welcher, obwohl in einer geringern Höhe auf dem Felde der Philosophie sich bewegend, doch durch seine Leichtigkeit des Vortrags und eine gewisse scharfe Dialektik ganz geeignet war, einen Sinn für das Philosophieren in dem Neulinge zu erwecken. Dieser Mann war Ernst Platner, verfolgt in den »Xenien« ob mancher flachen Ansicht und lächerlichen Eitelkeit und von den Philosophen vom Fach ob seines Skeptizismus mit Recht verdächtigt, dessenungeachtet aber von der Menge mit Lust gehört. Unter den übrigen Professoren hatte jedenfalls Schwägrichen den meisten Einfluß auf meine Beschäftigungen; die milde Einfachheit seines Wesens, die völlige Anspruchslosigkeit des stillen Gelehrten, wie sie sich mir in ihm darstellte, sie trugen wesentlich bei, mich an ihn zu ketten. Ich ergriff die Botanik, die er vortrug, mit Leidenschaft, ich war der eifrigste im Kollegium und bei den Exkursionen, die Vergleichung verwandter Formen übte den Verstand, die genauere Kenntnis dessen, was mich im ganzen als Wald und Wiesen schon längst heftig angezogen hatte – es sprach mir nun auch im einzelnen immer mehr zu Herzen. Wie irrig es sei, daß das schärfere Wissen die poetische Wirkung im ganzen störe, erfuhr ich schon damals. Nach Meinung derer, welche nur auf dem Dunkel der Unkenntnis den Regenbogen der Kunst und Poesie leuchtend glauben, hätte mir sollen Flur und Hain verleidet werden, nachdem ich gelernt hatte, in welche Klasse die Gräser und Büsche und Bäume gehörten und wie ihre Blüten gebaut waren und wie sie keimten und reiften, sie, die ich sonst nur massenweise aufgefaßt hatte; aber es war keineswegs so: sie behielten nicht nur die Wirkung ihrer gesamten Schönheit, sondern die Bewunderung der Gesetzmäßigkeit ihrer Gliederung und der Reihenfolge ihrer Entwicklung ließ mich sie nun auch im ganzen noch weit schöner und anziehender finden als vorher.

Damit es übrigens auch an dem Charakter des pedantischen veralteten Professors nicht fehle, erschien ferner an meinem akademischen Horizonte Ludwig, der die »Naturgeschichte der Menschenspezies« sonderbar genug vortrug und an welchem, als einem selbst originellen, etwas trockenen Exemplar der Menschenspezies, die Studierenden manche schwache Seite aufzutreiben und sich damit zu erlustigen wußten. Nahe verwandt in seinen Formen war demselben auch der Professor der Chemie Eschenbach, welcher in seinem gewölbten Laboratorium der Pleißenburg und umgeben von einigen weißen Spitzhunden ebenfalls manchen Mutwillen der Studenten zu erdulden hatte.

So huben denn also meine Studien an, die von hier an so einige Jahre in gleichem Sinne und mit um so größerer Freiheit fortgeführt wurden, dieweil ich damals noch immer nur für Fortsetzung der Geschäfte meines Vaters alle diese Kenntnisse einzusammeln die Aufgabe zu haben schien. Schon jetzt kam mir freilich oft der Gedanke, ob es mir nicht gar schwer werden würde, aus den Vorhöfen der Wissenschaft später wieder zu einer Beschäftigung zurückzukehren, welche doch großenteils mechanischer Art war und als eigentliches Fabrikwesen doch ganz andere Spekulationen als jene szientifischen, denen ich mich jetzt hinzugeben anfing, erforderte. Ich vermied indes diese Gedanken möglichst, ich fürchtete meinem Vater wehe zu tun, wenn ich sie äußerte, ich glaubte auch mitunter, es möge sich ja gar wohl mit einem Geschäft, welches ganz auf chemischen Prinzipien ruht, vereinigen lassen, daß dabei fort und fort ein geistiges höheres Ziel angestrebt werde, kurz, ich ließ dies alles noch einstweilen auf sich beruhen und sammelte wie eine Biene im Frühjahr allen Honig des Wissens fleißig ein, den mir die Alma mater eben darbieten konnte.

Um diese Zeit fing ich auch an, das Zeichnen ernsthafter zu betreiben, und wesentlich fand ich mich darin gefördert durch einen Lehrer, den bereits während meiner Schulzeit mein Vater für mich angenommen hatte. Dieser Mann, mit dem ich eine lange Reihe von Jahren in naher Beziehung geblieben bin, hieß Julius Dietz. Er hatte sich teils auf der Leipziger Kunstakademie, teils bei einem Görlitzer Landschaftsmaler Nathe heraufgebildet, und wenn auch von ihm nicht zu sagen ist, daß er als Künstler selbst irgend etwas wahrhaft Bedeutendes hindurchgeführt und vollendet habe, so lebte dagegen ein eigentümlicher scharfer und regsamer Geist in ihm, welcher ihn teils antrieb, zugleich neben dem Zeichnen mit schöner Literatur und ernster Wissenschaft sich zu beschäftigen, teils seinem Gespräch und ganzen Wesen etwas Pikantes und Anregendes gab, was nicht anders als höchst wohltätig auf den Schüler wirken mußte, zumal wenn diesem selbst schon ein lebendiges Streben einwohnte, welches nur oft an einer gewissen mitunter zu großen Weichheit und Reizbarkeit des Gemüts ein Hemmnis fand. Er hat mich jedenfalls besonders dadurch gefördert, daß, sowie ich nur einigermaßen in Führung von Stift und Pinsel fester und fertiger geworden war, er mich mit hinausnahm ins Freie und mich veranlaßte, anhaltend im Zeichnen nach der Natur mich zu versuchen. Viele dieser Wege sind mir noch jetzt in heiterer Erinnerung! Es waren oft schöne Sommerabende, da wir tief in die Leipziger Waldungen eindrangen, auf irgendeinem freien berasten Platze unser kleines Lager aufschlugen, gegen die uns übermäßig belästigenden Mücken aus dürren Blättern ein kleines Rauchfeuer entzündeten und nun bald einen malerischen alten Stamm, bald einige volle Eichenpartien, bald eins der jäh abstürzenden Ufer des den Wald durchziehenden Flusses mit Pinsel oder Stift eifrig verfolgten. Sank die Sonne, so wanderten wir auf eins der nahen Dörfer zum einfachsten Imbiß, und bei alle diesem ergingen sich denn die Gespräche über manch tüchtigen Gegenstand des Gefühls oder der schärfern Geistesrichtung. Es kam da wohl vor, daß ich mit Heftigkeit irgendeinem Gedankengange mich hingab, welcher mehr von einem heißen Gemüt als umsichtigen Verstande erregt war, und dann fehlte es nicht, daß ein schlagendes Wortspiel oder ein ironischer Scherz meines ältern Freundes dazwischenfuhr und mich einesteils verletzte, andernteils aber gerade am sichersten beitrug, mich auf richtigere Vorstellungen zu leiten. Auch kleine Reisen wurden zusammen ausgeführt; die schönen Saalufer bei Naumburg und die Muldentäler von Grimma sind so von mir zuerst zeichnend durchwandert worden, und wie ich auf diese Weise etwas später auch Dresden zuerst gesehen habe, davon werde ich weiter unten erzählen.

Die Kunst tat übrigens meinen naturwissenschaftlichen Studien nicht nur keinen Eintrag, sondern sie ging mit ihnen Hand in Hand und brachte sogar mannigfaltige Vorteile; denn einesteils gab es bei Botanik, Zoologie und Geologie manche Gelegenheit, wo bildliche Darstellungen höchst erwünscht und nützlich waren (so zeichnete und kolorierte ich Pflanzen für Schwägrichen und malte sauber in Gouache fast sämtliche in Leipzigs Flora vorkommenden Pilze), andernteils übte das Zeichnen den Sinn für Formen ganz außerordentlich, und es wurde mir somit immer leichter, im Geiste Gestaltungsverhältnisse festzuhalten und den Metamorphosen derselben mit regsamer Phantasie nachzugehen, während dieselben von andern nur mit Mühe deutlich erkannt und nur unvollkommen begriffen zu werden pflegten. Werde ich doch späterhin noch oftmals auf das seltsame Verhältnis der Kunst und Wissenschaft zurückkommen, welches durch mein Leben immerfort sich hindurchgezogen hat – ein Verhältnis, über welches ich heimlich und öffentlich mit vielfachem Tadel oft genug angegriffen worden bin und welches doch allein imstande war, gerade in derjenigen Weise mich entwickeln zu lassen, in welcher ich endlich mich doch entwickelt habe.

Recht erwogen können wir indes im Lebensgange jedes irgend weitergekommenen Menschen einen zwiefachen Boden seines Wachstums unterscheiden. Wir können den ersten den für das unbewußte, den andern den für das bewußte Leben nennen. Der erste umfaßt die Verhältnisse, unter welchen der Mensch geboren wird, die Einflüsse, welche in frühester Zeit die Ausbildung seines Körpers und die Erweckung seines Geistes bedingen, er umfaßt den Stamm, dem er entsprossen, die Örtlichkeit, in welcher er zuerst gelebt hat, kurz alles, wodurch seine Individualität zuerst im ganzen und allgemeinen befestigt worden war. Was dagegen den zweiten betrifft, so gehört zu ihm alles, was in der Periode dieses Lebens irgend bedingend und mächtig einwirken konnte, in welcher zuerst ein kräftiges Wissen von sich selbst, ein bestimmtes Fühlen der gerade dieser Individualität bestimmten Lebensrichtung und das ernstere Wollen, einem gewissen Ziele mit Entschiedenheit nachzustreben, begonnen haben. Dies ist dann die Periode, wo der erwachte Geist gleichsam zum erstenmal sich umschaut und sich besinnt; dies ist die Periode, von welcher an der Mensch nicht mehr sein Leben nur so hinnimmt als ein gegebenes; die, wo er die Geister, welche auf ihn wirken, bestimmter und freier aufzufassen anfängt, und von welcher an nun erst die reichere und eigentümlichere Zeit des Daseins gerechnet werden kann.