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Ursprünglich als philosophische Problemstellung aufgekommen, erhob Freud das 'Unbewusste' zum Zentralbegriff der Psychoanalyse. Die Autoren zeichnen die Entwicklung des Begriffs in seiner ganzen Vielfalt nach und unterscheiden dabei zwischen einem vertikalen und horizontalen Modell des Unbewussten. Während das vertikale Unbewusste gleich einer Verdrängungsmaschine arbeitet, entspricht das horizontale einem Resonanzraum. Nach der Leitvorstellung psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Therapien bedarf es einer Bearbeitung der vertikalen Ebene in Form der Bewusstmachung des Unbewussten mit der Zielsetzung, dass das Ich wieder 'Herr im eigenen Haus' wird. Demgegenüber trägt das horizontale Modell den vielfachen Resonanzen in der Behandlungssituation Rechnung, die entsprechend Freuds Diktum 'Unbewusstes versteht Unbewusstes' für die therapeutische Beziehungsgestaltung von größter Bedeutung sind. Um das Konzept in all seiner Komplexität zu begreifen, kann man sich nicht für eines dieser Modelle entscheiden; vielmehr, so die Autoren, müssen beide in ihrem Zusammenspiel berücksichtigt werden. Dies birgt ein neues Verständnis des Verhältnisses von psychoanalytischer Theorie und Praxis.
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Seitenzahl: 183
Günter Gödde, Michael B. Buchholz
Unbewusstes
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ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2068-0
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Bewusstsein versus Unbewusstes – das ist ein Thema, das seit Jahrhunderten in immer wieder neuen Anläufen aufgegriffen und diskutiert wird. Im Verhältnis zu anderen Themen wie Erkenntnis und Wahrheit, Tugenden und Laster, Glück und Leid ist es ein vergleichsweise »junges« Problem, wie man schon daran sehen kann, dass der Begriff »Bewusstsein« erstmals im Jahre 1720 von Christian Wolff und der Begriff des Unbewussten sogar erst im Jahre 1800 von Friedrich Wilhelm Schelling verwendet wurde.
Es gibt nicht die Kontroverse über Bewusstsein und Unbewusstes, sondern allenfalls eine anhaltende Kontroverse oder besser: eine ganze Reihe von Kontroversen mit höchst unterschiedlichen Pointierungen. Zunächst handelt es sich um ein philosophisches Thema, das in der Epoche des Rationalismus und der Aufklärung initiiert wird, in der Romantik eine eminent wichtige Rolle spielt, aber auch in der Philosophie des 19. Jahrhunderts virulent bleibt, besonders in einer Richtung, die als »Philosophie des Unbewussten« bezeichnet wird (etwa Eduard von Hartmann, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche).
Bei Johann Friedrich Herbart, Gustav Theodor Fechner und Carl Gustav Carus sind erste Ansätze einerPsychologiedes Unbewussten erkennbar. Am Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer Abtrennung der wissenschaftlichen Psychologie von der Philosophie; hier formiert sich die »klassische Bewusstseinspsychologie« und als Gegenbewegung zu ihr die Psychoanalyse, für die das Unbewusste zum Grundpfeiler und Aushängeschild wird.
Im 20. Jahrhundert fächert sich die Psychoanalyse in verschiedene tiefenpsychologische Richtungen wie die analytische Psychologie, die Individualpsychologie, die Daseinsanalyse und andere auf. Aber auch innerhalb der Psychoanalyse im engeren Sinne wechseln die Perspektiven: von der Triebkonzeption über die Ich-, die Objektbeziehungs- und Selbst-Psychologie bis zur intersubjektiven Wende. Parallel dazu entwickelt sich die von Edmund Husserl angebahnte »phänomenologische Bewegung«, die in ihren Analysen konsequent vom Bewusstsein ausgeht, aber die Phänomene des Unbewussten durchaus ernst nimmt.
In den letzten Jahrzehnten spielt die Kontroverse über Bewusstsein und Unbewusstes besonders in der »Philosophie des Geistes«, der Säuglings- und Bindungsforschung, der kognitiven Psychologie und den Neurowissenschaften eine Rolle.
Es ist nicht ohne Bedeutung, sich klarzumachen, in welcher Weise eine Theorie basale Unterscheidungen bzw. Schemata anlegt, die dann in der weiteren Entwicklung normalerweise nicht mehr reflektiert werden. Zu diesen Schemata gehören die Polaritäten von Höhe und Tiefe, höheren und niedrigeren Seelenkräften, Vernunft und Leidenschaft, Geist und Fleisch, Leib und Seele, Gut und Böse, oben und unten, vertikal und horizontal, hell und dunkel etc. Solche basalen Unterscheidungen haben erhebliche Konsequenzen – auch für die praktische therapeutische Arbeit.
Wir wollen das Unbewusste unter zwei Hauptperspektiven betrachten: vertikal gesehen als Verdrängungsapparat, horizontal gesehen als sozialer Resonanzraum, kurz gefasst alsrepressivesundresonantesModell des Unbewussten. Repression hat mit psychischen Prozessen zu tun, in denen Verdrängung, Hemmung, Abwehr und Unterdrückung wirksam sind. Resonanz kommt dem intuitiven bzw. empathischen Verstehen nahe. Beide Perspektiven spielen bereits in der philosophischen und psychologischen Tradition des 19. Jahrhunderts eine gewichtige Rolle und erst recht in Freuds Werk und den Weiterentwicklungen seiner theoretischen und therapeutischen Konzepte bis hin zur heutigen psychodynamischen Psychotherapie.
Das repressive kann auch als vertikales Modell des Unbewussten bezeichnet werden. Es spricht sich etwa in der Aufforderung an einen Patienten aus, Gedanken »aufsteigen« lassen zu sollen. Freuds Wort von der Tiefenpsychologie gehört ebenso dazu wie die Vorstellung von seelischen Abgründen. Das vertikale Modell unterscheidet zwischen Oberfläche und Tiefe, die nicht nur gefürchtet, sondern auch als Ort des Wahren, Ursprünglichen und Wirklichen geschätzt wird.
Die theoretische Ausarbeitung des vertikalen Modells hat vorrangig den Aspekt des Repressiven herausgestellt, also die Verdrängung und andere Abwehrleistungen. Die »Wiederkehr des Verdrängten« wird als »Aufstieg« durch die Verdrängungsschranke hindurch gesehen und das passt zur Umgangssprache, wenn wir von Unterdrückung reden. Während die Verdrängungsschranke das »Untere« vom »Oberen« quer liegend verriegelt, könnte man vom »verinnerlichten« und »inneren Konflikt« sprechen. Stavros Mentzos (2009) hat zuletzt darauf hingewiesen, dass hier schon eine Wendung zu einem horizontalen Modell des Unbewussten angedeutet wird, weil das Äußere vom Inneren geschieden ist.
Die Auffassung von einem resonanten Unbewussten, das gleichsam in horizontaler Richtung soziale Bezüge zum anderen entfaltet, steht in eigentümlicher Spannung zu den vertikal gedachten Richtungen eines Unbewussten, das »unten« vermutet wird. So bevorzugte Freud für die therapeutische Haltung in der Praxis ein horizontales Resonanzmodell nach der Devise: Unbewusstes versteht Unbewusstes. Der Analytiker solle »dem gebenden Unbewußten« des Patienten »sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons […] die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt« (Freud 1912a, S. 381).
Mit einer Haltung »gleichschwebender Aufmerksamkeit« könne das Unbewusste des Therapeuten anhand der »freien Assoziationen« des Patienten dessen Unbewusstes erschließen. Christopher Bollas spricht hier vom »Freud’schen Paar«. Der Bezug zur großen Liebe, die da mit anklingt, stellt einerseits Bezüge her zu jener Sympathie, ohne die es auch bei Sándor Ferenczi »keine Heilung« gibt, andere könnten mit Carl Gustav Jung Bezüge zur unio mystica ahnen, moderne Baby-Watcher denken eher in musikalischen Metaphern und sprechen von »attunement« oder von Resonanzen.
In der Behandlungssituation ist das vertikale Modell eher eine Art Hintergrund, eine Ressource, ein orientierender Kompass – nicht aber eine reale Abbildung dessen, was geschieht. In der Behandlungssituation kommen vielfache Resonanzen zum Tragen, die im vertikalen Modell nicht ausgedrückt werden könnten, die aber für die therapeutische Beziehungsgestaltung, für den Kontakt, für den Behandlungserfolg, fürs Verstehen von größter Bedeutung sind. Gerade in der horizontalen Dimension liegt unseres Erachtens eine weitere Innovation, die schon von Freud angestoßen wurde. Sie findet durch die Entdeckung der Spiegelneuronen (Bauer 2005) ihre neurowissenschaftliche Bestätigung – wir kommen darauf zurück.
Darüber hinaus findet die Freud’sche Idee einer Resonanz neuerdings auch in vielen anderen Studien eine Bestätigung. Wir wollen einige davon berichten und so begründen, weshalb wir meinen, dass die Konzeption des Unbewussten der Überlappung von vertikalem und horizontalem Denken bedarf. Dort, wo sich die Linien beider Betrachtungsweisen kreuzen, findet Psychoanalyse nach unserer Auffassung ihre theoretische und eben auch praktische Mitte. Für die therapeutische Arbeit ein unschätzbarer Wert.
Günter Gödde und Michael B. Buchholz
Wie auch immer man es formulieren mag, es muss klar sein, dass es hier um Metaphern geht, weil eben Seelisches nicht anders als durch Metaphern formuliert werden kann. Das horizontale Modell vollzieht jedenfalls eine »Umwertung der Werte«, schätzt die Oberfläche und sucht unbewussten Sinn im verbalen und gestischen Austausch, nicht dahinter.
Freud war ein ungemein vielseitiger Denker. Er wusste, dass man in der Welt des Unbewussten nicht klarkommt, indem man die Dinge auf eine und nur eine Theorie zurechtschneidert. Das Unbewusste entzieht sich solchen Formatierungen und bezwingenden Eindeutigkeiten. Es ist gerade dadurch charakterisiert, dass es in keine alleinige theoretische Schematisierung passt. Jede Theorie des Unbewussten muss sich deshalb immer ihrer Unzulänglichkeit bewusst bleiben.
Eine mögliche Theorie des Unbewussten verbirgt sich hinter der Metapher, dass es sich um einen »Dampfkessel brodelnder Energien« handle. Eine andere steckt in der Vorstellung, das Unbewusste verliere nichts, es sei ein Gedächtnisarchiv von gewaltigen Ausmaßen. Eine weitere liegt in der Vermutung, das Unbewusste beherberge alles Verdrängte.
Solche Bilder verführen schnell zu der Annahme, beim Unbewussten liege eine grenzenlose Beliebigkeit vor, die sich eher in Zufälligkeiten ausdrücke. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Schon Sigmund Freud versuchte, den unterschiedlichen Aspekten des Unbewussten gerecht zu werden. Dabei zeigt sich, wie sehr die Betrachtung des Unbewussten von der Perspektive abhängt. Der Mensch, seine Geschichte, seine Psyche lassen sich ähnlich wie bei einem kugelförmigen Körper aus unendlichen Perspektiven betrachten. Denkt man daran, dass in der griechischen Antike Aristophanes die Menschen als »Kugelwesen« beschrieb, dann deutet sich hier an, wie sehr schon damals die Perspektivik und die mit ihr verbundene Komplexität für die Menschen an Bedeutung gewann.
Ein solches perspektivisches Denken ergab sich für Freud aus der therapeutischen Praxis. Hier hat er den Analytiker als »Dämonenbekämpfer« (in der Fallgeschichte der Dora) beschrieben, dann aber auch seine eigene Rolle als jemand gesehen, der die »Dämonen« ruft. Er verglich seine Tätigkeit mit der des »Chirurgen«, ja er formulierte sogar, der Analytiker solle sich den Chirurgen »zum Vorbild nehmen« wegen dessen sachlich-kühler Einstellung.
Das steht in klarem logischem Widerspruch zu der nächsten Beschreibung, nach der der Analytiker ein »Spiegel« sein solle, der dem Analysierten nichts zeige, als was dieser ihm zeige. Aber ein Spiegel ist weit passiver als ein Chirurg! Der Chirurg muss heilen, indem er öffnet, eindringt und verletzt. Ein Spiegel hingegen heilt durch homöopathische Dosierung, ein menschlicher Spiegel durch emotionale Wärme. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu, wenn Freud davon spricht, der Analytiker sei manchmal »Bergführer« und manchmal sogar »Erzieher«. Über welche »Berge« will er führen? Wieso erzieht der Analytiker, der doch »neutral« und »abstinent« bleiben soll? Logisch gesehen sind das Widersprüche, praktisch gesehen aber erscheint ein solcher Blick unbedingt erforderlich.
Eine solche vergleichbare Situation findet sich auch in anderen Bereichen, sie ist für die Psychoanalyse keineswegs einzigartig. Kartografen etwa zeichnen eine Straßenkarte für Autos anders als dieselbe Landschaft mit Wegen für Wanderer oder Radfahrer. Ganz zu schweigen von einem Geologen, der die Gesteinsarten und ihre Verteilung grafisch darstellt. Die Landschaft bleibt dieselbe, Landkarten jedoch fallen ganz verschieden aus. Teils so verschieden, dass der Autofahrer mit einer Wanderkarte nichts anzufangen wüsste, ja sich sogar behindert fühlen würde – und umgekehrt.
Landkarten enthalten sehr unterschiedliche Informationen. Sie sind keine Abbildungen! Information wird durch Selektion erzeugt. Man kann gar nicht anders, als bestimmte Aspekte aus dem Gesamten der Landschaft gedanklich gleichsam herauszuschneiden und diese auf der Karte darzustellen. Es ist sogar unmöglich, eine Landschaft vollständig abzubilden. Wenn es gelänge, hätte man nicht eine Karte, sondern eine Verdoppelung der Landschaft im Maßstab 1:1 – und eine solche »Karte« wäre extrem unhandlich.
Information ist nicht etwas, was immer »da« ist und konstant bleibt. Information ist höchst variabel. Die Landkarte entsteht, indem der Kartograf etwas weglässt. Und mehr noch: Er gibt Bedeutung. Bedeutungen wiederum wandeln sich bzw. sind von ihrem Kontext abhängig. Was dem einen zentral für die Linienführung, ist dem anderen ein lästiges Wanderhindernis. Manchmal ist diese Änderung so stark, dass solche Gegenstände der Welt (Autobahnen, Hügelketten) vollständig ignoriert werden. Dann werden sie, um im Vergleich zu bleiben, gleichsam »unbewusst«.
Solche Prozesse, in denen etwas unbewusst bleibt, treten in unserem Alltag fortwährend auf. Führen wir ein Gespräch in einem Zimmer, dann achten wir meistens überhaupt nicht auf die Farbe der Wände oder auf die Temperatur – es sei denn, die Farben sind grell oder »hässlich« und die Temperatur übersteigt bestimmte Werte. Gleichwohl bemerken wir manchmal während eines Gesprächs den fehlenden Knopf am Hemd unseres Gegenübers oder die eigene Müdigkeit oder die Zahnschmerzen – und zugleich ignorieren wir es. Solche Beobachtungen führen wir häufig nicht in die Kommunikation ein, weil sie sie »verstören« würde. Erst wenn wir sie aussprechen, wird es »Information«, obwohl es für unser körperliches Empfinden immer schon eine war und sich in die Wahrnehmung vordrängte.
Warum aber lassen wir solche Wahrnehmungen weg? Weil wir Selektion betreiben, damit das Geschäft der Kommunikation weitergehen kann. Auch Kommunikation basiert auf Selektion. Oder noch stärker formuliert: auf Ignoranz! Wir lassen beständig etwas aus, ignorieren es als »nicht bedeutsam«, als »nebensächlich«, als »nicht dazugehörig«.
Aber solche »Ignoranz« darf natürlich nicht zu weit gehen!
Ein Lehrer in der Schule, der sich beschränken würde auf das bloße Vermitteln von Wissensinhalten und der nicht etwa zugleich Ansprechpartner wäre für seine Schüler, der sich nur beschränken würde auf das eine und nur das eine – der würde seine Aufgabe doch wohl recht schlecht erfüllen! Ein Anwalt, der einer wegen Scheidungssachen vor ihm sitzenden weinenden Frau, die nicht ein noch aus weiß, nur die Paragrafen erklären würde, käme seiner Aufgabe wohl schlecht nach. Und würden wir nicht erwarten, dass er sich verantwortlich fühlt, wenn eben diese Frau gewisse Sicherheiten braucht, weil der Ehemann gewalttätig geworden ist?
Ein Arzt, der sich nur für die organischen Aspekte der Krebs-Diagnose interessieren würde, nicht aber für Empfinden, Angst und Ratlosigkeit seiner Patientinnen und Patienten, würde bald das Vertrauen verlieren. Ein Arzt muss sich nicht nur um die körperlichen Aspekte des Wohlergehens seiner Patienten kümmern, sondern ebenso um die seelischen und sozialen, manchmal auch um die finanziellen – und wo er es nicht tut, empfinden wir das als Vernachlässigung seiner ärztlichen Aufgaben. Medizin ist nicht nur technische Lösung körperlicher Probleme, sie bezieht den ganzen Menschen mit ein.
Das Problem der Ganzheitlichkeit bzw. der Perspektivität haben also nicht nur Psychotherapeuten.
In all diesen Fällen drückt sich nämlich eine multiperspektivische Beschreibung dessen aus, was einer zu tun hat, und wir begreifen, dass diese Beschreibungen logisch widersprüchlich sein können. So widersprüchlich oder unlogisch, wie es ist, wenn wir auf einer meteorologischen Karte die Autobahn suchten. Wie aber kann ein Lehrer, ein Anwalt, ein Arzt all diese Aspekte realisieren? Wie kann man sich mit dem »ganzen« Menschen« beschäftigen?
Es lässt sich nun besser verstehen, warum Freud eine solche Vielzahl von metaphorischen Rollen für den Analytiker verwendete. Er löste dies Problem für die analytische Profession, indem er mit seiner Metaphorik vom Chirurgen, vom Spiegel, vom Bergführer, vom Dämonenbekämpfer und Erzieher einige der wichtigsten Perspektiven beschrieb; solche, von denen er meinte, sie könnten helfen, das Problem des »ganzen Menschen« einigermaßen in den Blick zu bekommen. Freuds Multiperspektivität ist also nicht Problem, sondern Lösung.
Nur wer auf der Idee bestehen wollte, dass man mit einem und nur einem einheitlichen Ansatz die Welt bewältigen könnte, müsste darin ein Problem sehen. Nur wer meint, ein einziges wissenschaftstheoretisches Programm müsse überall wirksam durchgesetzt, mit einer einzigen Methode könne jedes Problem gelöst, Effektivität nachgewiesen und Vergleiche durchgeführt werden, der müsste diese Multiperspektivität eliminieren. Wer so denkt, muss sich belehren lassen, dass ein etwas weniger methodischer Rigorismus ein beachtliches Mehr an Realismus zur Folge hat.
Das ist das Problem von Menschen, die meinen, man könne in menschlichen Belangen immer eindeutige Anweisungen geben. Nein, wahrscheinlich ist es richtig, Menschen stattdessen zu befähigen, solche multiperspektivischen »Widersprüchlichkeiten« lebbar zu machen, sie auszuhalten, aus ihnen kreative Kraft zu schöpfen und sie nicht eliminieren zu wollen.
Das gilt erst recht, wenn man sich auf das Unbewusste einer Person einstellen möchte, dessen Bedeutung in dieser Beschreibung in die Nähe von »Unendlichkeit« rückt. Nicht etwa »unendlich weit entfernt«, sondern »unendlich viel« an Bedeutungsgehalt, an Stimmungen, an Schwankungen und Instabilitäten, an symbolischen Chiffren und Schattierungen, an Verknüpfungen von Ideen, Bildern, Worten. Sich dieser Dimension zu öffnen, ist der Sinn der behandlungstechnischen Grundregel, wonach sich das empfangende Unbewusste des Analytikers auf das des Analysanden einstellen solle wie der Receiver des Telefons auf den Teller. Gleichsam magnetische Schwingungen aufnehmen und sie durch die Aufnahme hörbar machen – schon wieder eine Metapher.
Das Wesen des Menschen ist Gegenstand Jahrtausende alter Erörterungen. Der Streit geht darum, ob der Mensch ein mehr von seiner Geistigkeit oder von seinen niederen Kräften bestimmtes Wesen sei.
Ein früher (christlicher) Ausgangspunkt für die Abtrennung des »inneren Menschen« ist Paulus:
»So finde ich nun ein Gesetz, daß mir, der ich will das Gute tun, das Böse anhanget. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen, ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern« (Röm. 7, 22ff.).
Und an einer anderen Stelle schreibt er: »Darum werden wir nicht müde; sondern ob auch unser äußerlicher Mensch verfällt, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneuert« (2. Kor. 4, 16).
Hier ist mit der Unterscheidung des inneren vom äußeren Menschen zugleich die Unterscheidung des Guten vom Bösen angesprochen; in den Gliedern wohnt »ein ander Gesetz« als im »Gemüte«. Zwar schreibt Paulus im ersten Brief an Timotheus (6, 16), dass Gott in »unzugänglichem Lichte wohnt«, aber zugleich gibt er auch der Überzeugung Ausdruck: »Ich lebe aber, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir« (Gal. 2, 20).
Man muss sich nicht auf lange theologisch-hermeneutische Klärungen einlassen, um zu sehen, dass der in Paulus lebende Christus einer ist, der von oben aus der Höhe, aus der himmlisch-göttlichen Sphäre zu ihm gesandt, in ihn eingesenkt wurde, und dass der Ort, den er als »Gemüt« bezeichnet, jener ist, an dem er ihn empfängt. Dem so von erleuchtendem Licht erstrahlten Gemüt stehen die »anderen Gesetze des Fleisches« entgegen, die sich auszutreiben ein die Menschheit fesselndes Unternehmen geworden ist. Die Stichworte dazu lauten: Geißler und Ketzer, Inquisition und Zucht, Askese und freier Wille. Sie werden zu seelischen Mächten, die darüber gebieten, ob wir das Gute tun und das Böse lassen.
So sah es die christliche Tradition, und die Philosophen wurden in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht müde, dies ebenso zu sehen. Freilich reichen hier die Wurzeln weit über die christliche Tradition hinaus. Vor allem ist die Platon’sche Seelenlehre zu nennen, die mittelalterliche Philosophie mit Thomas von Aquin und seinen Gegenspielern wie Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart sowie der Deutsche Idealismus bis hin zu so esoterischen Denkern wie Rudolf Steiner.
Nicht zufällig will uns erscheinen, dass diejenigen, die anders dachten, zugleich diejenigen waren, die eine Geschichte der persönlichen Verfolgung, Ausgrenzung und Marginalisierung hinter sich hatten. Wir denken an den von Thomas von Aquin gleichsam politisch niedergetretenen Ibn Ruschd, dessen arabische Tradition und Aristoteles-Interpretation bis zu den Pariser Erlassen um 1270 höchst einflussreich war. Wir denken aber auch an Spinoza, dessen radikale Rationalität sich aus den Erfahrungen der inquisitorischen Verfolgung ebenso speiste wie aus seiner Vertreibung aus der jüdischen Gemeinde von Amsterdam.
Nur wenige dachten nicht im Schema von höheren und niederen Seelenkräften. Cusanus lehrte die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Teilhabe an der Unendlichkeit, Meister Eckhart die Befreiung des Ichs aus den Banden der Selbstbehauptung (vgl. Flasch 2004, S. 46, und 2006, S. 136). Das waren sozusagen frühe Relationalisten, Denker der menschlichen Bezogenheit in einem göttlichen Kosmos. Aber die meisten dachten gleichsam autistisch, sahen »den Menschen« in diesem Pluralis majestatis als vereinzelten Einzelnen, der von höheren oder niederen Kräften bestimmt war. Schopenhauer nannte dies 1819 die »Welt als Wille und Vorstellung«, wobei der Wille wohl dem nahekommt, was wir heute als »Trieb« bestimmen würden, und die »Vorstellung« das anvisiert, was heute unter dem Titel des Konstruktivismus thematisiert würde. Wir sehen die Welt als unser Gebilde und sind dabei vom Willen in einer uns nur höchst beschwerlichen Durchsichtigkeit getrieben. Nietzsche schließt sich dem an, wenn auch mit einer »Umwertung der Werte«; er feierte die Triebe und wandte sich gegen die einengenden Mächte des Moralischen, die den Menschen nur schwächten.
Den Widerstreit zwischen diesen Kräften greift dann die ebenfalls weitgehend solipsistisch, ich-orientiert verfahrende Psychoanalyse auf, jedenfalls in Wendungen wie denen, die vom Unbewussten als einem Dampfkessel brodelnder Energien reden, oder wenn Freud sich an seinem Lebensabend anbietet, zu erweisen, dass sich auch die höheren Stockwerke des Seelenlebens, eben jene geistigen Mächte, aus dem naturhaften unteren Grunde ableiten ließen. Dass Freud vielfach aus diesem Schema ausgebrochen ist, wollen wir hier gerne bestätigen, etwa wenn er die Psychoanalyse als »weltliche Seelsorge« bestimmt (vgl. Buchholz 2003). Dennoch sah er ähnlich wie Carl Gustav Jung auch noch tiefere Grabungen für möglich an, wenn er gelegentlich vom gemeinsamen Unbewussten sprach. Jung jedenfalls grub, immer in diesem Schema von Oben und Unten bleibend, noch das kollektive Unbewusste aus.
Der Fortschritt wurde eindeutig darin gesehen, tiefer zu graben und wie ein Archäologe Schätze ans Tageslicht zu fördern; darin überboten sich die Psychoanalytiker der ersten Generation in kleinen Aufsätzen, die kurze klinische Notizen waren und die dem Leser die frischen Befunde der seelischen Ausgrabungen zum Staunen überreichten.
Das vertikale Schema bestimmte also auch die Haltungen der Psychoanalytiker. Während manche weiterhin »paulinisch« vor den bösen Mächten des Fleisches warnten, konnten diejenigen, die tiefer sahen, leichter für eine Befreiung der niederen Kräfte eintreten, was sich etwa am Stichwort der »kulturellen Sexualmoral« und ihren rigiden Einschränkungen zeigt (vgl. Freud 1908). Der aufklärerische Gestus war der einer Enttabuisierung, einer Lockerung der Mächte und Kräfte statt deren Niederhaltung. Dies wandelte sich, als Freud 1920 nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs vom Todestrieb zu sprechen begann. Bis hin zu Alexander Mitscherlich reichte nun der neue Gestus des Warners und Mahners, der die Öffentlichkeit über das Raubtier unter dem »dünnen Firnis der Zivilisation« informierte.
Aufklärung wurde hier nicht als Befreiung der unteren Seelenvermögen, sondern als Warnung vor ihnen umbuchstabiert. Auch das war bei Freud, etwa in seinem der Traumdeutung