Unbezähmbare Gezeiten - D.G. Ambronn - E-Book

Unbezähmbare Gezeiten E-Book

D.G. Ambronn

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Beschreibung

Der Student Johannes Gilmer stirbt an einer Überdosis Kokain. Scheinbar eine klare Sache. Aber Kommissar Jörgensen von der Kieler Mordkommission rätselt, ob nicht alles anders sein könnte, als es zu sein scheint. Und mit dem nächsten Toten wird das zur Gewissheit. Krimi für Menschen, die keinen Thriller, sondern ein wohliges und spannendes Leseabenteuer suchen.

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Das Buch:

Der Student Johannes Gilmer stirbt an einer Überdosis Kokain. Scheinbar eine klare Sache. Dann landet der Fall bei Kommissar Jörgensen auf dem Tisch. Ist vielleicht alles viel komplizierter als gedacht? Sind nicht nur Drogen im Spiel? Steckt vielleicht etwas ganz anderes dahinter?

Dann zeigt sich, dass Johannes Gilmer nur der Erste war, der sterben musste.

Kommissar Jörgensen von der Kieler Kriminalpolizei ermittelt, und sein alter Chef Kommissar i.R. Kühl mischt mit.

Der Autor:

D.G. Ambronn (Jahrgang 1955) studierte Germanistik und Anglistik in seiner schleswig-holsteinischen Heimat. Seit einigen Jahren widmet er sich dem Schreiben.

Weitere Bücher von D.G. Ambronn:

Dass du in Venedig wärst (Roman)

Und was ist mit Rosemarie? Ein Kieler Kriminalroman

Eine irische Winterreise und andere Erzählungen und Kurzgeschichten

Hinweis:

Dies ist ein Roman. Die Personen und Ereignisse in diesem Buch existieren nur in der Fantasie des Autors. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind rein zufällig. Dies gilt auch für die tatsächliche Arbeitsweise der Kriminalpolizei in Kiel oder anderswo. Ähnlichkeiten sind zwar hier und da möglich, aber nicht zwangsläufig.

Euer Feind, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe, immer auf der Suche nach einem, den er verschlingen kann.

1. Brief des Petrus

PERSONEN

Apollonia „Loni“ Sommer findet einen Toten,

Johannes Gilmer ist der, der gefunden wird,

Bruno Roswall war mit Johannes in Albanien,

Marit May wurde von Johannes ‚Entlein‘ genannt,

Georg Gilmer hat gute Beziehungen, außer zu seinem Sohn Johannes,

Rik Britman geht Gilmer bei allem zur Hand,

Saskia Schmidt macht das auch,

Mechthild Landsberg hütet ihre Herde,

Carlotta Gilmer ist ihre Tochter,

Irmentraut Frenzen interessiert sich nicht nur für die Landwirtschaft,

Tycho Frenzen wartet auf die große Story,

Dr. Martinist misstrauisch,

Sabrina Jörgensen mag es nicht, wenn man ihr Essen mit langen Zähnen isst,

Kommissar Jörg-Peter Jörgensen soll einen Fall aufklären, der anfangs gar kein Fall zu sein schien,

Kommissar i.R. Richmuth Kühl lebt in einer Seniorenwohnung und hört allerlei Tratsch,

und der Kater bleibt im Bett.

Inhaltsverzeichnis

Montag

1. Kapitel

2. Kapitel

Dienstag

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Mittwoch

6. Kapitel

7. Kapitel

Donnerstag

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Montag

(Der erste Tag)

1. Kapitel

Wehmütig betrachtete er den wolkenverhangenen Himmel. Trist und grau erinnerte er daran, dass der Herbst bald dem Sommer ein Ende bereiten würde. Er dachte an die drei Wochen, die hinter ihm lagen. Es hatte auch zwei oder drei Tage gegeben, an denen es regnete und der Himmel so aussah wie der Kieler Himmel heute. Aber an diese Tage konnte er sich nur noch ganz dunkel entsinnen. Geblieben war nur die Erinnerung an die sanften Hügel in jenem besonderen Licht, immer ein wenig dunstig und so den Farben alles Grelle nehmend. Hügel, hinter denen sich oft weitere Hügel erhoben und dann noch mehr Hügel. Wie Meereswellen, die schließlich in der Ferne in einem milchigen Graublau verschwanden. Er sah vor sich wieder die Weingärten, die Olivenhaine, die von Zypressen gesäumten Alleen, hier und da die ausladenden Kronen der Pinien und die malerischen kleinen Dörfer, deren Häuser sich auf den steilen Hügeln Schutz suchend um eine Kirche herum aneinanderschmiegten.

Und dann fiel ihm jener Abend ein, als sie von einem Restaurantbesuch in einem kleinen Nest – Hatte es nicht Bibbona geheißen? – durch die stille und nur von den Sternen erhellte warme Sommernacht zu ihrer Unterkunft außerhalb des Ortes gegangen waren und plötzlich Leuchtkäfer gesehen hatten. Er hatte Sabrina an sich gedrückt, während sie dastanden und sich wie die kleinen Kinder über den ungewohnten Anblick freuten.

Aber jetzt saß er wieder hier in der Blume, oben unterm Dach, wo die Mordkommission residierte, und sein Blick kehrte zum Computerbildschirm zurück. Er vertiefte sich in die Einzelheiten der Ermittlungen im Fall der bulgarischen Prostituierten, die während der letzten Kieler Woche ermordet worden war. Obwohl seitdem zwei Monate vergangen waren, gab es immer noch keine heiße Spur. Auch während seines Urlaubs hatten die Kollegen keine Fortschritte gemacht. Alles in allem frustrierend, aber nicht ungewöhnlich. Was, fragte er sich, konnten sie tun, um Bewegung in die Sache zu bringen? Hatten sie etwas übersehen? Gab es etwas, was sie nicht bedacht hatten?

Das Telefon riss ihn aus seinen Überlegungen. Kriminaloberrat Holm wollte ihn sprechen. Jörgensen seufzte und machte sich auf den Weg.

„Wir haben hier einen kniffligen Fall“, eröffnete sein Vorgesetzter ihm, nachdem sie ein paar höfliche Floskeln ausgetauscht hatten. „Es geht um einen Junkie, der sich den goldenen Schuss gesetzt hat. Auf den ersten Blick eine eindeutige Angelegenheit. Auch wenn es ein Junge aus gutem Hause gewesen ist. Kann halt überall passieren. Aber Dr. Martin sind ein paar Dinge aufgefallen, die ihn misstrauisch gemacht haben.“

Jörgensen kannte Dr. Martin nur flüchtig. Er arbeitete erst seit Kurzem in der Rechtsmedizin, aber er wusste, dass er seinen Job sehr gewissenhaft machte.

„Kümmern Sie sich um die Sache, ja?“

Jörgensen nickte wortlos.

„Was ich sagen wollte ist, kümmern Sie sich bitte persönlich darum? Der Vater des Toten ist Georg Gilmer. Sie wissen doch, dieser Sozialheini. Der kennt nicht nur den einen oder anderen von den Presseleuten, er ist auch gut in die Politik hinein vernetzt. Vor allem zu den Grünen, und die sind bekanntlich nicht unsere besten Freunde. Wenn Gilmer uns die auf den Hals hetzt … Ich verlasse mich auf Sie. Seien Sie vorsichtig und machen Sie keinen Blödsinn. Verstanden?“

Jörgensen hatte verstanden.

„Haben Sie übrigens schon Ihre neue Mitarbeiterin kennengelernt? Ja? Sehr gut. Betüdeln Sie sie ein bisschen. Es ist zu schade, dass Frau Waldvogel schon wieder im Mutterschutz ist. Ich hatte gehofft, sie könnte Ihre Nachfolgerin werden. Sie gehen ja bald in den wohlverdienten Ruhestand, mein lieber Herr Jörgensen. Aber eine Kommissarin mit zwei Kindern? Dabei brauchen wir doch dringend mehr Frauen. Vor allem in Führungspositionen. Für Leute wie Ihrem alten Chef, diesem Richmuth Kühl, ist bei uns heutzutage kein Platz mehr. Als ich hierher versetzt wurde, war er ja schon weg, und dafür bin ich auch sehr dankbar. Es reicht, dass die Kollegen beim Bier Geschichtchen vom alten Kühl erzählen und sich dabei vor Vergnügen auf die Schenkel klopfen. Heute brauchen wir hier bei der Polizei keine Typen mehr. Wir brauchen vor allem Frauen. Aber das sagte ich ja bereits. Wenn eine Frau in diesem Land Bundeskanzler werden kann, dann erwartet man, dass die auch hier bei uns Karriere machen. Ich hoffe, Sie sind mit mir einer Meinung, Herr Jörgensen. Gut. Also seien Sie nett zu Frau Morel.“

Als Jörgensen wieder in seinem Büro war, überflog er den recht schmalen Vorgang, den Holm ihm mitgegeben hatte. Dann rief er Sattler zu sich.

„Ich hab den Fall Gilmer auf dem Tisch. Wer hat sich bisher um die Sache gekümmert?“

„Gilmer? Ist das der Junge, der gestern an einer Überdosis gestorben ist?“ Sattlers graublaue Augen sahen ihn wie so oft ein bisschen orientierungslos an. „Eigentlich keiner.“

„Waren die Leute vom Dauerdienst denn nicht dort?“

„Vom KDD? Ich glaube schon. Aber es war doch eine ziemlich klare Sache. Halt ein Junkie, der nicht genug kriegen konnte.“

„Also, dann machen Sie sich jetzt bitte mal schlau, was da gestern genau gelaufen ist. Ich höre mir inzwischen an, was Dr. Martin zu erzählen hat.“

Jörgensen rief das Rechtsmedizinische Institut im Uniklinikum an. Es dauerte eine Weile, bis er Dr. Martin am Apparat hatte.

„Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich war gerade mitten in einer Untersuchung. Ja, ein komischer Fall, dieser Johannes Gilmer. Todesursache vermutlich Atemdepression würde ich sagen. Er hatte sich Kokain gespritzt, das obendrein mit Fentanyl gestreckt war. Das behaupten die Leute von der Toxikologie jedenfalls, und wir wollen ihnen ausnahmsweise mal glauben.“

„Gespritzt? Ich habe immer nur davon gehört, dass die Leute Kokain schnupfen.“

„Die Reichen und die Schönen, die ja. Wer aufs Geld sehen muss, spritzt es lieber. Da hat man mehr davon.“

„Verstehe.“

„Also, was ich sagen wollte. Spritzen ist ziemlich gefährlich, weil die Wirkung viel schneller eintritt als beim Schnupfen. In Sekundenschnelle. Außerdem war da auch noch, wie gesagt, das Fentanyl. Es kommt immer wieder vor, dass Kokain oder Heroin damit ein wenig gestreckt werden, aber hier war der Anteil wohl ungewöhnlich hoch.“

„Und was ist an diesem Fentanyl so besonders?“

„Es ist ein synthetisches Opioid. Wird normalerweise Krebspatienten in der letzten Phase verabreicht. Wenn nichts anderes mehr hilft. Wirkt ungefähr 100 Mal stärker als Morphium, ist darum aber auch verdammt gefährlich. Vor allem, wenn man es zusammen mit Kokain konsumiert.“

„Warum nimmt man es denn überhaupt zum Strecken?“

„Es steigert die Wirkung und außerdem ist es billig und leicht zu beschaffen. Wird massenweise in China produziert. Und nicht nur da. Wenn man einen Chemiebaukasten hat, kann man es im Zweifelsfall sogar selbst herstellen.“

„Aha. Aber irgendetwas an der Sache gefällt Ihnen nicht, oder?“

„Stimmt. Der Junge war Anfang zwanzig und kerngesund. Fit wie’n Turnschuh. Keine Hinweise auf einen längerfristigen Drogenmissbrauch. Auch keine Spuren, dass er jemals zuvor irgendwas gespritzt hat. Nur die eine einzige Einstichstelle. Auch nicht die typischen Entzündungen, die man bei Leuten findet, die sich Koks spritzen. Ich würde fast sagen, er ist zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Zeug in Berührung gekommen. Die Kollegen werden sicherheitshalber auch noch eine Gaschromatografie mit einer Probe der Haare von dem Jungen durchführen. Aber ich bin sicher, dabei wird nichts anderes rauskommen, als was ich Ihnen jetzt gesagt habe.“

„Dann hat er es bei diesem ersten Mal wohl übertrieben.“

„Stimmt. Er war sogar so leichtsinnig, es sich im Stehen zu spritzen.“ Der Mediziner lachte leise.

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Er ist danach hingefallen und hat sich ganz böse den Kopf gestoßen. Ich sagte ja, wenn man es sich spritzt, wirkt es innerhalb von Sekunden.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Na ja, oder jemand hat ihm erst eins über den Schädel gegeben und ihm dann den Schuss gesetzt.“

„Verstehe ich Sie richtig? Sie meinen, jemand hat …?“

„Ich bin Mediziner, kein Polizist. Ich sage Ihnen nur, was ich festgestellt habe. Was daraus für Schlüsse gezogen werden müssen, das ist Ihr Job. Er weist jedenfalls eine Kopfverletzung auf, die aber nicht die Todesursache gewesen ist.“

„Aber ausreichend, um ihn …?“

„Genau.“

Jörgensen dankte dem Doktor und ging dann zu Sattler.

„Also? Was war los?“

„Der Rettungsdienst und der Notarzt waren zuerst da, haben die Spritze gesehen und gleich an Drogen gedacht, und weil der Junge tot war, haben sie die zuständige Wache alarmiert, und die haben eine Streife hingeschickt. Der Notarzt hat sich darauf beschränkt, den Tod festzustellen. Aber weil eine unnatürliche Todesursache höchst wahrscheinlich war, haben die Jungs vom Dauerdienst die Leiche in die Rechtsmedizin bringen lassen. Ja, und dann hat man die Angehörigen ermittelt und informiert und die obligatorische Meldung an die Staatsanwaltschaft rausgehauen und das war’s.“

„Mmh. Die Jungs haben sich doch sicher wenigstens ein bisschen in der Wohnung von diesem Gilmer umgesehen, oder?“

„Na klar. Sie haben kleine Mengen an Koks gefunden, zwei oder drei Einmalspritzen, ein paar Joints, aber alles eigentlich nicht der Rede wert.“

„Wer hat den Toten denn überhaupt entdeckt?“

„So ein Mädel, eine Studentin. Die war mit dem Jungen verabredet.“

„Und wie kriege ich diese Studentin?“

„Steht das nicht in der Akte?“

„Habe ich wohl überlesen.“

Apollonia Sommer wohnte in der Olshausenstraße in einem der Altbauten ganz oben unterm Dach, und Kommissar Jörgensen hatte das Glück, sie dort auch anzutreffen.

Er sah sich interessiert in ihrem kleinen, aber halbwegs aufgeräumten Ein-Zimmer-Appartement mit Hochbett und Kochnische um.

„Möbliert gemietet“, meinte sie, als sie seinen Blick bemerkte.

Sie hatte eine offene und lebhafte Art, die dem Kommissar gefiel. Er nannte ihr den Grund seines Besuchs.

„Hab ich mir schon gedacht. Der arme Johannes. Er war doch noch viel zu jung, um zu sterben.“

„Waren Sie näher mit ihm bekannt?“

„Na ja, so vom Studium halt. Wir haben manchmal Sachen zusammen gemacht, Referate und so.“

„Hatten Sie einen Schlüssel zu seiner Wohnung?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Wie sind Sie denn gestern in die Wohnung reingekommen?“

„Erst habe ich unten an der Haustür geklingelt. Während ich gewartet habe, kam jemand raus und ich bin halt rein. Oben bei Johannes habe ich wieder geklingelt. Ich habe einen Moment gewartet, dann habe ich die Klinke probiert. Wissen Sie, ich bin da nicht so schüchtern. Es war nicht abgeschlossen. Also habe ich mir gesagt, Johannes muss da sein. Ich dachte, er hat die Tür offengelassen wegen mir, weil wir ja verabredet waren. Na ja, und er war ja auch da. Er lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Ich hab ihn an der Schulter gefasst, um ihn wachzurütteln, aber ich hab sofort gemerkt, dass er nicht nur am Schlafen ist. Da habe ich die 112 gewählt, und es hat Gott sei Dank nicht lange gedauert, bis die Sannies da waren. Irgendwann kam dann auch der Notarzt, und der hat festgestellt, dass Johannes tot ist. Ich konnte das alles nicht ertragen und wollte weg, aber die Sannies meinten, ich müsste warten, bis die Polizei kommt. Ich habe mich in die Küche verdrückt. Später habe ich denen dann meinen Spruch aufgesagt und bin abgehauen.“

„Wussten Sie, dass Gilmer Drogen nahm?“

„Kein bisschen. Mir ist nie was aufgefallen. Aber so gut kannten wir uns auch wieder nicht. Wir hatten nichts miteinander, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Und Sie? Nehmen Sie Drogen?“

„Fehlanzeige.“ Dann lachte sie. „Na gut, vielleicht mal einen Ballon auf einer Fete, das schon. Wer macht das nicht?“

„Einen Ballon?“

„Na, Sie wissen schon, Hippy Crack, diese Kapseln für die Schlagsahne. Ist ja auch nicht verboten, oder? Ich hätte nie gedacht, dass Johannes härtere Sachen nimmt. Er war eigentlich nicht der Typ dafür. Er stand mehr auf Sport und gesunde Ernährung und so was alles.“

„Sie waren gestern nicht zum ersten Mal in der Wohnung von Johannes Gilmer, wenn ich richtig verstehe.“

„Nein, ich sagte ja, wir hatten schon ein paar Mal was zusammen gemacht. Und meistens haben wir uns bei ihm getroffen. Da war es nicht so beengt wie hier.“ Mit einer flüchtigen Geste wies sie auf ihr kleines Appartement und lächelte dabei schief. „Gestern waren wir verabredet, weil wir eine gemeinsame Seminararbeit schreiben sollten, nämlich über Becket oder die Ehre Gottes von Jean Anouilh und den historischen Hintergrund dieses Stückes. Eine mühsame Angelegenheit. Ziemlich trockenes Thema, aber Johannes mochte so was.“

„Sie kannten also seine Wohnung recht gut. Ist Ihnen gestern dort irgendetwas aufgefallen?“

„Nein, nichts. Es war alles wie immer.“

„Denken Sie genau nach. Versuchen Sie sich an gestern zu erinnern. Sie haben die Wohnungstür geöffnet und sind reingegangen. Was haben Sie gesehen? Als sie in den Raum kamen, wo Sie Johannes Gilmer fanden. Ist Ihnen da etwas aufgefallen?“

Sie überlegte eine Weile mit geschlossenen Augen.

„Etwas fällt mir jetzt ein. Sein Laptop, der stand auf dem Schreibtisch, und der lief immer noch. Ich meine, er war noch nicht im Ruhemodus. Möglicherweise hat Johannes kurz vorher noch daran gearbeitet. Wenn ich mir vorstelle, er könnte noch gar nicht so lange tot gewesen sein … furchtbarer Gedanke!“

Als Nächstes wollte Jörgensen mit den Eltern von Johannes Gilmer sprechen. Im Laufe seines Berufslebens hatte er sich daran gewöhnen müssen, trauernde Angehörige mit seinen Fragen zu belästigen, aber er tat es immer noch ungern. Wenigstens war er es nicht, der die Nachricht vom Tod des Jungen überbringen musste. Andererseits machte die eindringliche Warnung von Kriminaloberrat Holm wegen der guten Beziehungen des Vaters die Sache beileibe nicht angenehmer.

Die Gilmers wohnten in Düsternbrook im Niemannsweg. Zur Straße hin war ihr Haus durch Bäume und Sträucher vor neugierigen Blicken fast gänzlich verborgen. Jörgensen entdeckte das Haus nur dank der an einem Pfeiler neben der Auffahrt angebrachten Hausnummer. Er parkte seinen Wagen am Straßenrand und betrat das Grundstück. Es lagen kaum mehr als 500 Meter und doch Welten zwischen dem Altbau mit der armseligen Studentenbude von Apollonia Sommer und dieser schmucken, zweigeschossigen Jugendstilvilla.

An der Haustür standen zwei Namen, Gilmer und Landsberg. Mechthild Landsberg, so viel wusste er, war die Ehefrau von Georg Gilmer.

Jörgensen klingelte.

Eine kleine, rundliche Frau öffnete. Sie mochte Mitte fünfzig sein und er fragte sich, ob ihre Haare wirklich noch blond oder schon gefärbt waren. Sie musterte ihn ernst, aber nicht abweisend.

„Frau Landsberg?“ Jörgensen stellte sich vor. „Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Wenn ich ungelegen komme, sagen Sie es ruhig.“

Sie zögerte einen Moment, aber dann bat sie ihn herein. Sie führte ihn in einen Raum, der offensichtlich als Arbeitszimmer fungierte. Es war ein lichtdurchflutetes Eckzimmer mit Regalen voller Bücher und Zeitschriften, einem Schreibtisch, auf dem inmitten von Büchern und Papieren ein Laptop stand. In einer Ecke in Fensternähe waren drei Stühle um ein kleines Tischchen gruppiert.

Jörgensen erinnerte sich, in der Akte gelesen zu haben, dass Mechthild Landsberg Pastorin war.

„Ich hoffe, die Unordnung hier stört Sie nicht.“ Sie lächelte ein wenig gequält. „Wir hätten ins Wohnzimmer gehen sollen, aber ich bin es gewohnt, Besucher hier zu empfangen.“

„Machen Sie keine Umstände, Frau Landsberg.“

„Dann nehmen Sie doch bitte Platz.“

Jörgensen setzte sich mit dem Rücken zum Fenster und bemerkte an der gegenüberliegenden Wand neben der Tür ein großes, geschnitztes Kruzifix.

Mechthild Landsberg registrierte seinen Blick. „Ein katholischer Kollege hat es mir geschenkt. Es stammt aus einer Kirche, die aufgegeben und abgerissen werden musste.“ Für einen Moment senkte sie ihren Blick, dann fixierte sie Jörgensen. „Sie kommen wegen Johannes, nehme ich an. Was kann ich für Sie tun?“

„Es tut mir leid, Sie so kurz nach diesem traurigen Ereignis belästigen zu müssen.“

Sie versuchte zu lächeln. „Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Der Tod ist mein tägliches Geschäft. Hin und wieder auch mal eine Taufe oder eine Trauung, aber meistens sind es Trauerfeiern.“

„Nun, ich will versuchen, Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen. Ich bin gekommen, weil im Zusammenhang mit dem Tod Ihres Sohnes ein paar Unstimmigkeiten aufgetaucht sind, und denen müssen wir nun nachgehen.“

„Unstimmigkeiten?“

„Die Todesursache“, fuhr Jörgensen unbeirrt fort, „war Kokain beziehungsweise ein Mix aus Kokain und Fentanyl. Wussten Sie, dass Ihr Sohn Drogen nimmt? Ich meine, harte Drogen?“

„Nein, ich hätte das auch nie für möglich gehalten. Aber ich fürchte, Sie erleben es häufiger, dass Eltern aus allen Wolken fallen, wenn Sie so etwas fragen.“

„Nun, es war wohl auch nicht erkennbar, dass Ihr Sohn abhängig war. Wohnte er schon lange nicht mehr bei Ihnen?“

Sie zögerte einen Moment mit der Antwort. „Vor anderthalb Jahren ist er ausgezogen, kurz nachdem er mit dem Studium angefangen hatte.“ Und dann gab sie sich einen Ruck. „Er verstand sich nicht mehr so richtig mit seinem Vater.“

„Erlauben Sie mir zu fragen, warum das so war? Gab es einen konkreten Anlass?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Mmh. Wissen Sie etwas über den Umgang Ihres Sohnes? Freunde? Mädchen?“

„Ich muss gestehen, seit er nicht mehr bei uns lebte, wusste ich darüber nicht mehr so genau Bescheid. Während seiner Schulzeit hatte er einen Freund, den Bruno. Die beiden waren damals unzertrennlich.“

„Die Freundschaft besteht aber nicht mehr, wenn ich Sie richtig verstehe.“

„Nein, so viel ich weiß, sahen die beiden sich kaum noch. Nach dem Abitur sind sie zusammen für etliche Wochen mit einer alten Karre in den Süden gefahren. Wir haben uns damals viele Sorgen um die beiden gemacht. Aber sie sind heil und gesund zurückgekommen, nur …“

„Nur?“

„Irgendwie war Johannes ein anderer Mensch. Ernster. In sich gekehrt. Und auch kritischer. Er hat uns dies und das von der Reise erzählt, aber nichts, was seine Veränderung erklärt hätte. Vielleicht … wenn wir Bruno gefragt hätten, was vorgefallen ist … Aber das haben wir selbstverständlich nicht getan. Wenn es etwas war, worüber Johannes nicht mit uns reden wollte, dann mussten wir das akzeptieren.“

„Und seitdem hat sich sein Verhältnis zu seinem Freund abgekühlt? Und auch das zu seinem Vater?“

„Ja … ja, wenn Sie so wollen.“

„Sie sagen, Ihr Sohn hätte sich verändert. Er sei ernster, kritischer geworden. Wie äußerte sich das denn konkret?“

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll.“

„Versuchen Sie es.“

„Er wirkte auf mich irgendwie … verwirrt. Er vertrat plötzlich ganz sonderbare Auffassungen.“

„Können Sie mir ein Beispiel geben?“

„Ich weiß nicht … sehen Sie, ich bin Pastorin und eines Tages fragte er mich, warum die Kirche bei ihren Versuchen, die Bibel in den historischen Kontext zu stellen, die wichtigen Dinge als überholt darstelle. Warum muss ausgerechnet die Auferstehung Jesu von den Toten als ein nicht wörtlich zu nehmendes Ereignis wegrationalisiert werden? Das hat er mich gefragt. Und warum stattdessen nicht lieber den ganzen Sozialquatsch über Bord werfen? Das mit der Nächstenliebe und so weiter. Das ist es doch, was tatsächlich überholt und nicht mehr zeitgemäß ist. Um die Witwen und Waisen kümmere sich heute schließlich die Sozialversicherung, dafür bräuchte es keine Kirche und keine Christen mehr. Es war einfach furchtbar absurd, was er manchmal sagte. Sie sind kein Theologe und werden das nicht nachvollziehen können. Einmal hat er mich sogar gefragt, warum wir all jene Menschen betrügen und belügen, die glauben, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist, dass wir ihnen die Hoffnung rauben auf ein Leben nach dem Hier und Jetzt auf Erden.“ Jörgensen merkte, dass es ihr nun doch schwerfiel, ihre professionelle Nonchalance zu bewahren. Nach einer Weile sagte sie: „Entschuldigen Sie, Herr Jörgensen, ich fange an, zu schwafeln. Ich bin Ihnen keine große Hilfe.“

„Aber nein, ich hatte Sie ja um ein Beispiel gebeten.“

„Ich erwähnte vorhin Bruno Roswall. Also, auch wenn die beiden wohl kaum noch Kontakt gehabt hatten, vielleicht kann er Ihnen trotzdem mehr erzählen.“

Jörgensen zückte sein Notizbuch und Mechthild Landsberg nannte ihm die Anschrift der Eltern des Freundes. Die würden sicher wissen, wie man Bruno erreichen könne.

„Und wie war das mit Mädchen?“

„Solange er hier bei uns wohnte, gab es nichts Ernstes, nur die üblichen kleinen Flirts. Und danach? Ich weiß es nicht, aber ich glaube, wenn er die Richtige gefunden hätte, das hätte er mir erzählt.“

„Und wenn er irgendwelche Probleme, große Probleme, gehabt hätte? Hätte er darüber auch mit Ihnen gesprochen?“

„Vielleicht.“ Sie zögerte einen Moment. „Sehen Sie, es ist immer so eine Sache, sich mit Problemen an eine Pastorin zu wenden. Ich habe natürlich immer versucht, ihm eine Mutter zu sein, aber manchmal kann man nicht aus seiner Haut heraus. Und wenn die Kinder älter werden, merken sie, wenn man in antrainierte Muster verfällt.“

„Ich verstehe.“

„Vielleicht sollten Sie auch mit meiner Tochter sprechen. Die beiden hatten ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Sie kann Ihnen möglicherweise eher weiterhelfen.“

„Sie wohnt noch hier bei Ihnen?“

„Oh, ja. Sie müsste sogar zu Hause sein. Ich werde sie holen. Am besten unterhalten Sie sich mit ihr im Wohnzimmer. Ihr Zimmer ist so chaotisch, es wäre ihr furchtbar peinlich, wenn ein Fremder das sehen würde. Und ich muss leider hier noch ein wenig arbeiten. Ich habe morgen eine Trauung. Leute, die ich gut kenne. Die kann ich nicht hängen lassen, nicht einmal jetzt, wo …“ Ihr versagte die Stimme, und sie ging schnell zur Tür.

Nach ein paar Minuten kehrte sie mit einem jungen Mädchen zurück.

„Meine Tochter Carlotta. Sie zeigt Ihnen den Weg ins Wohnzimmer. Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?“

„Fragen Sie, Frau Landsberg.“

„Sie sprachen vorhin von Unstimmigkeiten.“

„Ja? Ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Ich meinte Unklarheiten. Ob ihr Sohn regelmäßig Drogen nahm, woher er das Zeug hatte, und so weiter.“