Margherita und der dunkle Widerschein der Welt - D.G. Ambronn - E-Book

Margherita und der dunkle Widerschein der Welt E-Book

D.G. Ambronn

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Beschreibung

Margherita Civitella ist gerade 13 Jahre alt, als die britische Regierung am 4. September 1939 Deutschland den Krieg erklärt. Sie lebt mit ihren Eltern - einem Italiener und einer Engländerin - und ihren Geschwistern im Süden Großbritanniens. Mehr und mehr wird der Alltag der Familie vom Krieg geprägt, von Ängsten und Sorgen, aber auch von Hoffnung und Träumen. Zugleich ist der Zweite Weltkrieg die Zeit, in der Margherita Civitella vom Kind zu einer jungen Frau wird. Im Alter blickt sie zurück auf diese Zeit und erzählt ihre Geschichte vom Leben im Krieg und vom Erwachsenwerden im Krieg.

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Das Buch:

Im Alter von über achtzig Jahren schreibt Margherita Civitella ihre Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg auf. Als die Deutschen am 1. September 1939 in Polen einmarschieren, ist sie 13 Jahre alt und geht noch zur Schule.

Ihre Geschichte erzählt vom Leben im Krieg und vom Erwachsenwerden im Krieg.

Der Autor:

D.G. Ambronn wurde am 3. Juli 1955 an der schleswigholsteinischen Nordseeküste geboren. Er studierte Anglistik, Germanistik und Philosophie in Kiel und lebt auch heute noch im Norden, sofern er nicht gerade auf Reisen ist.

Schon früh machte er erste literarische Gehversuche, aber dann ließ ihm seine Tätigkeit in der Sozialbranche nicht mehr die Zeit dafür. Erst nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben begann er wieder zu schreiben.

Vom Verkauf seiner Bücher nicht leben zu müssen, erlaubt ihm, sich dem aktuellen Publikumsgeschmack, dem Diktat der Literaturkritik und dem Zeitgeist insgesamt verweigern zu dürfen. Von dieser Möglichkeit macht er gerne Gebrauch, auch um sich an Schriftstellern zu orientieren, die heute keine so große Wertschätzung mehr genießen: E.T.A. Hoffmann, Robert Louis Stevenson, Ernest Hemingway, George Simenon, Nikos Kazantzakis, Alain Robbe-Grillet und anderen großen Erzählern des 19. und 20. Jahrhunderts.

Weitere Bücher von D.G. Ambronn:

Dass du in Venedig wärst (Roman)

Und was ist mit Rosemarie? Ein Kieler Kriminalroman

Eine irische Winterreise und andere Erzählungen und Kurzgeschichten

Unbezähmbare Gezeiten. Ein Kieler Kriminalroman

All den Erwachsenen gewidmet, die meine Kindheit und Jugend geprägt haben, die den zweiten Weltkrieg miterlebt haben und die ich gerne besser verstanden hätte.

*

Und Sabine Winkler voll Dankbarkeit für ihre Unterstützung und ihre wohlwollende Wertschätzung meiner Geschichten.

INHALT:

Der Krieg beginnt

Rückkehr nach

Sissingden Manor

Die Welt jenseits der Schule

Liebe und Hass

Weihnachten 1939

Anfang eines neuen Jahres

Große Veränderungen

Unter der Erde und in der Luft

Ferien bei Onkel Alexander

Herbst in Newquay

Ende eines alten Jahres

Nachwort

Personen

Der Krieg beginnt

Vieles von dem, was ich erzählen werde, habe ich selbst erlebt, anderes ist mir berichtet worden, manchmal erst Jahre oder Jahrzehnte nach dem Krieg. Vielleicht ist das eine oder andere so nie geschehen. Jene Zeit liegt ja schon über 70 Jahre zurück. Dennoch habe ich alles aufgeschrieben, weil ich denke, dass auch in dem, was nur ein Trugbild ist, geboren aus einer verblassenden Erinnerung, mehr Wahrheit steckt, als viele Menschen denken, und dass nur alles zusammen genommen verstehen lässt, was wir damals erlebt haben. Wie wir gelebt, geliebt und gelitten haben, wovor wir Angst gehabt und worauf wir gehofft haben, worüber wir uns freuten und wovon wir nur träumen konnten.

Der Krieg begann an jenem Spätsommertag im September 1939, einem Freitag, an dem im Rundfunk gemeldet wurde, die Deutschen seien in Polen einmarschiert. Ich kann mich sehr gut an jenen Tag erinnern, obwohl ich erst 13 Jahre alt war. Ich konnte noch nicht wirklich ermessen, was diese Nachricht bedeutete und was folgen würde. Aber ich sah die sorgenvollen Gesichter meiner Eltern, die den Großen Krieg miterlebt hatten, und selbst mein Bruder und seine drei Freunde, die das Wochenende bei uns in Oaklands House verbrachten, sonst eine ausgelassene Bande und immer zu allerlei Späßen aufgelegt, waren an diesem Tag ernster, als ich sie jemals zuvor erlebt hatte. Sie waren alle einige Jahre älter als ich und hatten bereits ihr Höheres Schulzertifikat in der Tasche.

Nach dem Mittagessen gingen die vier in den Eibengarten hinaus. In der Mitte dieses Gartens war ein leeres Piedestal, von dem Mutter scherzhaft behauptete, es sei wie jenes, das Paulus in Athen auf dem Areopag vorgefunden hatte, dem unbekannten Gott geweiht.

Die Sonne gleißte, als wäre immer noch Sommer, und Gino1, mein Bruder, und Esmond, die sich auf die Stufen, die zum Piedestal hinaufführten, gesetzt hatten, blinzelten zu den beiden anderen empor. Ich war den vieren nachgegangen, um ihnen zuzuhören, und hoffte, würde ich in gebührender Entfernung bleiben und den Mund halten, so würden sie mich wohl nicht verscheuchen.

„Das bedeutet Krieg“, sagte Gino. „Wenn Hitler Polen angreift, das hat Mr Chamberlain gesagt, dann gibt es Krieg.“

„Ach, der Chamberlain!“, erwiderte Danny. „Der hat sich schon so viel von Hitler gefallen lassen. Der wird auch dieses Mal wieder ganz kleinlaut den Schwanz einziehen.“

Danny, der eigentlich Daniel Chatzmann hieß, war Deutscher, und er war Jude. Seine Eltern hatten geahnt, was die Machtübernahme der Nazis für Folgen haben könnte, und sie hatten ihren ältesten Sohn beizeiten zu Verwandten nach London geschickt. Sie selbst waren mit den anderen beiden Kindern in Berlin geblieben. Da war die gut gehende Arztpraxis, das Haus in Dahlem. Sollten sie das gegen ein Leben als mittellose Flüchtlinge in England eintauschen? Vielleicht würde alles ja doch nicht so schlimm, wie sie fürchteten. So mögen sie gedacht haben.

„Aber das ist es ja gerade“, erwiderte Gino. „Frieden für unsere Zeit hat er gesagt, als er aus München zurückkam und mit seinem Abkommen herumwedelte. Und jetzt? Wenn er nicht bald Härte zeigt und Herr Hitler in die Schranken weist, werden sie ihn zum Teufel jagen.“

„Wie harmlos das klingt“, sagte Esmond, den die anderen immer nur Sonny nannten. Er war ein eher verschlossener Typ, keineswegs schüchtern, überhaupt nicht, aber er vermittelte das Gefühl, irgendetwas tief in seinem Innern verborgen zu halten, etwas, das andere unter keinen Umständen sehen sollten. Ich wurde damals nie so ganz schlau aus ihm. „Hitler in die Schranken verweisen? Ist euch überhaupt klar, was das bedeutet? Was Krieg bedeutet?“

„Ja, aber es ist nun mal die einzige Sprache, die Herr Hitler versteht“, sagte Billy. „Argumente, die aus Gewehrläufen und aus Kanonen kommen. Die versteht er, sonst nichts.“

„Ach. Und wer wird wohl diese Gewehre in der Hand halten und wer wird wohl diese Kanonen abfeuern?“, fragte Sonny. „Wir, Billy, wir.“

„Ich habe keine Angst davor“, erklärte Billy etwas zu pathetisch.

„Und ich auch nicht“, ergänzte Danny. Im Gegensatz zu Billy, der in der Schule in jeder Sportart zu brillieren verstanden hatte, war Danny schmächtig, jemand, dem man auf den ersten Blick ansah, dass er ein Bücherwurm war. Aber das Leuchten in seinen Augen, als er sprach, das hat mich schon damals ahnen lassen, dass er es ernst meinte. Todernst.

„Ihr seid doch bescheuert“, ereiferte sich Sonny. „Begreift ihr denn nicht? Jetzt, wo wir mit der Schule fertig sind, könnten wir das Leben in vollen Zügen genießen. Alles könnten wir tun, studieren, reisen oder faulenzen, uns in der Kneipe volllaufen lassen und Spaß haben mit den Mädels. Alles, was uns gerade in den Sinn kommt. Aber wenn es Krieg gibt, dann ist es Essig damit. Und diese Gelegenheit kommt auch nie zurück. Selbst wenn wir lebend aus dem Krieg zurückkommen, diese schönsten Jahre unseres Lebens sind für uns auf immer und ewig verloren.“

„Mag sein.“ Danny zögerte. „Aber wenn es sein muss, ich meine, wenn der Krieg sein muss, dann ist das eben unsere Aufgabe. Dann können wir uns nicht einfach aus der Verantwortung stehlen.“

„Du willst also kämpfen? Magst Herr Hitler wohl nicht, wie?“, fragte Billy.

„Ja, ich will kämpfen.“

Billy lachte spöttisch.

„Nun“, sagte Gino, „im Augenblick gehören wir noch nicht zu den aufgerufenen Jahrgängen. Aber …“, er machte eine Pause und ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern, „ … es steht natürlich jedem der Herren frei, sich schon jetzt freiwillig zu melden.“

„Dann tun wir es doch!“ Billy ballte die Rechte zur Faust und hieb damit auf die Handfläche seiner Linken.

„Ihr redet wie kleine Kinder, die Cowboy und Indianer spielen wollen. Wenn ihr erst mal draußen im Dreck liegt mit vollgeschissenen Hosen, weil euch die Kugeln und Granaten um die Ohren fliegen und links und rechts von euch die Leute krepieren, werdet ihr anders denken.“

„Ach, komm Sonny! Du bist doch sonst nicht so feige.“

„Halt, Billy!“ Ich war froh, dass Gino dazwischen ging. „So nicht. Sonst fangen wir noch an, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, statt das mit denen der Jerrys zu machen.“

„Wenn du meinst. Aber was sagst denn du dazu, Eyetie? Wirst du dich freiwillig melden?“, ging Billy jetzt auf Gino los.

Ich hielt den Atem an. Ich wusste damals gar nicht, was Eyetie eigentlich bedeutete, aber das wusste ich: Es war ein Wort, das Engländer benutzten, um verächtlich über Italiener zu sprechen. Dabei war Gino doch gar kein Italiener. Er war der Sohn eines Italieners, das schon. Aber er war hier in England geboren und seine Mutter war Engländerin. Das Blut stieg mir zu Kopf, als ich daran dachte, dass jener Italiener auch mein Vater war. War ich also auch ein Eyetie? Ich beobachtete meinen Bruder. Ich versuchte zu erahnen, was in ihm vorging. Wie würde er reagieren? Ich an seiner Stelle hätte Billy wahrscheinlich eine Ohrfeige verpasst.

„Wir müssen Herr Hitler eine Lektion erteilen, das meine ich“, antwortete Gino schließlich mit einem Lächeln.

Ich atmete tief durch und war stolz, dass er sich von Billy nicht hatte provozieren lassen.

Billy grinste und meinte: „Tja, Sonny, Pech gehabt. Du bist überstimmt.“

„Sonny wird schon selber wissen, was er zu tun hat“, mischte ich mich jetzt doch dreist in die Unterhaltung der Großen ein. Ich mochte Sonny schon damals recht gerne, obwohl ich nicht glaube, dass ich bereits zu jener Zeit in ihn verliebt war. Das kam erst später. Im Herbst 1939 war es immer noch mein großer Bruder, den ich abgöttisch verehrte. Gino war für mich der strahlende Held, gut aussehend, wagemutig, erfolgsverwöhnt und jeder Situation gewachsen. Er hatte viel von unserem Vater geerbt. Er hatte tatsächlich etwas Südländisches. Er war ein echter Herzensbrecher. Ich war mächtig stolz auf ihn, aber andererseits stimmte es mich ein wenig traurig, wenn ich ihn ansah. Ich war eindeutig das Kind meiner Mutter, eine unscheinbare graue Maus, lebhaft und selbstbewusst, das ja, aber keine, bei der die Jungs zweimal hinschauen würden. Davon war ich jedenfalls überzeugt. Aber noch war ich ja sowieso viel zu jung, um Blicke von Jungs auf mich ziehen zu dürfen, und Mutter und meine Lehrerinnen wachten darüber, dass mich auch möglichst kein Junge zu sehen bekam. Ginos Freunde zählten in dieser Hinsicht nicht. Die waren ja so unendlich viel älter als ich.

Bevor jemand mich wegen meiner vorlauten Bemerkung zurechtweisen konnte, kam Abigail aus dem Haus herübergelaufen. Abi, wie sie genannt wurde, war eine entfernte Cousine von Danny, dass heißt, sie war die Tochter jener Verwandten in London, bei denen Danny untergekommen war. Sie war wie ich auf der Sissingden Manor School for Girls, und wir waren die besten Freundinnen. Eigentlich hatten die anderen Danny nur kennengelernt, weil Abi meine Freundin war. Obwohl sie so alt war wie ich, war sie auch mit fast vierzehn immer noch ein niedliches, kleines Mädchen mit Sommersprossen im Gesicht. Sie schien nicht erwachsen werden zu wollen. Sie war eine ganz Brave, immer ängstlich darauf bedacht, nichts zu tun oder zu sagen, wofür man sie hätte zurechtweisen können. Wir ergänzten uns also sehr gut, ich war nämlich eher störrisch und aufmüpfig.

„Gino, deine Mutter sagt, sie will jetzt im Haus die Verdunklung vorbereiten. Du sollst bitte mit Margie zu ihr kommen und helfen.“

Natürlich boten auch alle anderen sofort ihre Unterstützung an, und so gingen wir gemeinsam ins Haus hinüber.

Obwohl noch gar kein Krieg erklärt war, hatte die Regierung sofort nach dem Angriff der Deutschen auf Polen die Pflicht zur Verdunklung verkündet. Schon Wochen vorher hatte jeder Haushalt eine Reihe von Merkblättern bekommen, welche Regeln im Kriegsfall gelten würden und was jeder Bürger dann zu tun hätte. Eines der Merkblätter befasste sich mit der Pflicht zur Verdunklung. Die Eltern hatten die Hinweise studiert und, wie dort empfohlen, sich beizeiten überlegt, wie das Haus verdunkelt werden könnte, und das dafür notwendige Material besorgt.

Ich erinnere mich auch jetzt noch, wie groß die Angst war, die Deutschen könnten gleichzeitig mit dem Angriff auf Polen auch ihre Bomber zu uns schicken, Kriegserklä rung hin oder her. Wenn wir jetzt daran gingen, unsere Häuser zu verdunkeln, taten wir etwas zu unserer Verteidigung, nicht viel, aber wenigstens standen wir nicht hilf und tatenlos wie Lämmer vor der Schlachtbank. Zugleich machte es uns allerdings auch klar, wie einschneidend sich unser Alltag durch die Ereignisse im fernen Polen verändert hatte und wohl noch weiter verändern würde.

Es war wie eine kleine Armee, die sich im Salon zusammenfand. Einzig Vater fehlte. Er war nach Faversham gefahren, um in seiner Brauerei ein Auge auf die Vorbereitungen zu haben. Mutter erklärte uns in groben Zügen, was geplant war, und teilte dann jedem seine Aufgabe zu. Frank Evans, der Gärtner, sollte all jene Fensterscheiben, die die Eltern als unwichtig erachteten, mit schwarzer Farbe übermalen und sie damit dauerhaft verdunkeln. Mary und Betty, die beiden Dienstmädchen, hatten unter Aufsicht meiner Mutter die schweren, schwarzen Vorhänge, die die Eltern meterweise gekauft hatten, um die Räume im Erdgeschoss zu verdunkeln, zuzuschneiden und zum Aufhängen vorzubereiten. Wir jungen Leute bekamen den Auftrag, mit schwarz gefärbtem Segeltuch die Fenster der Schlafräume in den oberen Stockwerken zu verhängen. Wir sollten dazu den großzügig zugeschnittenen Stoff einfach oben auf die Fensterrahmen nageln.

Wir nahmen es mit der Verdunklung sehr ernst. Auch wenn man allgemein erwartete, dass die deutschen Bomber vor allem London angreifen würden, auf dem Weg dorthin würden sie möglicherweise geradewegs über uns hinwegfliegen. Manch einer in dieser Gegend erinnerte sich an die sem Tag wohl wieder an die drei Pulvermühlen von Faversham, die fünf Jahre zuvor nach Schottland verlegt worden waren. Jahrhundertelang war Faversham Englands Zentrum für die Herstellung von Schießpulver und Explosivstoffen aller Art gewesen, aber seit es Flugzeuge gab, waren die Pulvermühlen an diesem Standort zu verwundbar, zu nahe am Kontinent. Ja, die Pulvermühlen waren fort, aber wir Menschen waren immer noch da, und wir hofften inständig, dass die Deutschen irgendwie mitbekommen hatten, dass es hier keine Pulvermühlen mehr gab.

Mutter machte die Runde und trieb alle an voranzukommen. Dann endlich konnten wir durchatmen. Alle Fenster im Haus und auch im Nebengebäude, wo die Hausangestellten wohnten, waren verdunkelt oder konnten bei Bedarf mit wenigen Handgriffen verdunkelt werden.

„Jetzt bleibt uns nichts anders übrig, als abzuwarten“, erklärte Mutter. „Wenn die Sonne untergegangen ist, werden wir sehen, ob alles gut so ist, oder ob der alte Ned Slater etwas zu kritisieren finden könnte.“ Slater war einer der Luftschutzwarte in unserem Dorf, und die hatten von nun an auch die Verdunklung in ihrem Bezirk zu überwachen. Von allen versah Ned Slater seine Aufgaben am verbissensten, und so manch einer sollte in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten Ärger mit ihm bekommen. Er war zwar schon arg schwerhörig, aber er hatte Augen wie ein Luchs, und das würde er sehr bald bei der Suche nach Lücken in der Verdunklung demonstrieren.

Nach dem Abendessen, als es draußen vollständig dunkel war, wurde in allen Räumen Licht gemacht, während Vater und Gino die Gebäude umrundeten und Ausschau hielten, ob irgendwo ein verräterischer Lichtschein zu bemerken war.

Eins ums andere Mal fanden sie etwas auszusetzen. Endlich kamen sie ins Haus zurück, und Vater sagte: „Wir müssen vorsichtig sein.“ Ich glaube, nur Mutter und Gino haben damals wirklich verstanden, was er meinte. Ich habe es erst im Juni 1940 begriffen, als Mussolini England den Krieg erklärte. Vater war Besitzer einer gutgehenden Brauerei, lebte seit bald zwanzig Jahren in diesem Land und war mit der Tochter eines Bischofs der Kirche von England verheiratet, aber er hieß Massimiliano Civitella, und jeder wusste natürlich, dass er Italiener war. Und dann war da auch noch sein Erfolg mit der heruntergewirtschafteten Brauerei. Die hatte er kurz nach seiner Ankunft in England dank der finanziellen Unterstützung seines Vaters übernehmen können und wieder zu einem profitablen Unternehmen gemacht. Das neideten ihm manche.

Als die Arbeit geschafft war, sagte Mutter zu mir: „Es ist Zeit für dich.“

„Ja, Mutter.“

Sie hatte immer Angst, ich könnte mich in den Ferien daran gewöhnen, spät schlafen zu gehen.

„In einer Woche sind die Ferien vorbei, und dann musst du dich wieder an die Zeiten im Internat halten.“

„Ja, Mutter.“ Wie nüchtern Mutter manchmal dachte. Es war Krieg! Wie würde die Welt aussehen in einer Woche? Vielleicht lag dann schon alles in Schutt und Asche. Oder vielleicht waren die Deutschen dann hier. Würden sie uns erlauben, weiter zur Schule zu gehen?

Ich machte mich für die Nacht fertig und als ich gerade das Licht löschen wollte, ging die Tür auf, und meine kleine Schwester Lulu kam herein. Sie hatte die Ereignisse des Tages als ein aufregendes Spiel betrachtet. So schien es jedenfalls. Immer und überall war die Vierjährige mit Begeisterung herumgetobt und Mutter hatte später große Mühe, sie zur gewohnten Zeit zu Bett zu bringen.

„Ich habe Angst“, sagte sie, und ohne viel Aufhebens kam sie und schlüpfte zu mir unter die Bettdecke, so wie sie es seit einiger Zeit machte, wenn sie nachts von einem Unwetter wach wurde. Natürlich habe ich ihr nicht gesagt, dass es mir genauso ging.

Ich löschte das Licht, und der Raum war plötzlich stockfinster. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass die Verdunklung in beide Richtungen wirkte. Eine solche vollkommene Finsternis war ich nicht gewohnt, und zusammen mit den schlimmen Nachrichten des Tages steigerte sie meine Ängste fast ins Unerträgliche. Ich wagte nicht, mich zu bewegen und atmete nur ganz flach, damit nichts zu hören war. Lulu war scheinbar sofort eingeschlafen. Oder stellte sie sich nur tot, so wie ich? Was, wenn die Deutschen ihre Bomber wirklich schon heute Nacht schicken würden? Hatten sie die Polen nicht auch ganz überraschend angegriffen? Schließlich hielt ich es nicht länger aus. Ich stand auf, tastete mich zum Fenster und schob den schwarzen Vorhang ein Stück beiseite. Der Mond war inzwischen aufgegangen, aber von meinem Fenster aus konn te ich ihn nicht sehen. Ich sah nur den Eibengarten, wie er still dalag im weißen Mondlicht.

Ich ging wieder ins Bett, aber einschlafen konnte ich immer noch nicht. Ich dachte an die zwei kleinen Luftschutzbunker, die Anderson Shelter genannt wurden, die Evans nicht weit vom Haus entfernt auf Vaters Anweisung hin gebaut hatte. Einen für die Familie, einen für die Dienstboten. Wenn die Bomber heute Nacht kämen, würde ich mir Lulu schnappen und mit ihr dorthin rennen. Aber würde ich überhaupt rechtzeitig etwas mitbekommen? Im Falle eines Angriffs sollte Ned Slater, oder wer von den Luftschutzwarten gerade Dienst hatte, unten im Dorf seine Handsirene ertönen lassen. Die konnte man bis hierher hören, aber nur ganz leise. Ich war mir sicher, dass ich davon nicht aufwachen würde. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich vielleicht die ganze Nacht wach geblieben, aber ich war noch in einem Alter, in dem der Körper früher oder später den nötigen Schlaf unerbittlich einfordert.

Hinter dem Eibengarten lag ein kleines Wäldchen und jenseits davon war ein Teich, wo wir an heißen Sommertagen badeten. Dazu war es trotz des milden Spätsommerwetters längst nicht mehr warm genug. Dennoch machten Abi und ich uns am nächsten Morgen nach dem Frühstück auf den Weg dorthin. So hatten wir ein Ziel, obwohl wir uns eigentlich nur einmal in Ruhe und von den Großen ungestört unterhalten wollten.

„Also, ich, das haben die Eltern entschieden“, sagte Abi, „ich werde nicht evakuiert. Warum auch? Gut, wir leben in London, aber ich gehe da ja nicht zur Schule. Also braucht man mich auch nicht zu evakuieren.“

Im Falle eines Krieges sollten alle Kinder aus den Großstädten aufs Land in die Dörfer und kleinen Orte gebracht werden. Darüber hatten die Behörden schon vor einiger Zeit alle Eltern informiert, aber es war ihnen freigestellt, ob sie ihr Kind evakuieren lassen wollten oder nicht.

„Aber die Ferien sind doch erst in einer Woche vorbei. Wenn die deutschen Bomber vorher schon kommen, dann steckst du ganz tief im Schlamassel.“

„Ich will aber nicht evakuiert werden.“

„Dann bleib doch einfach hier bei uns, und Vater fährt uns beide nächstes Wochenende zur alten Sissy.“ Die alte Sissy, so nannten wir Schülerinnen die Sissingden Manor School for Girls. Sie befand sich nur 30 oder 35 Kilometer von Oaklands House Richtung Süden, mitten im Weald.

„Aber ich kann doch nicht einfach hier bei euch bleiben.“

„Aber natürlich kannst du! Vater ruft deine Eltern an und macht alles klar.“

„Meinst du, dass deine Eltern damit einverstanden wären?“

„Na klar. Und deine Eltern haben sicher auch nichts dagegen. Wenn Adolf tatsächlich seine Bomber schickt, bist du hier besser aufgehoben als in London. Na ja, ein bisschen besser jedenfalls.“

„Wie meinst du das?“

„Weil die Bomber ja ständig über uns hinweg fliegen werden. Mutter meint, dass sie deshalb früher oder später sogar die alte Sissy evakuieren werden. Die ganze Schule! Mit Mann und Maus. Vielleicht nach Schottland oder Wales oder wer weiß wohin.“

„Das ist ja allerhand! Aber wie soll das denn gehen?“

„Keine Ahnung. Wir werden ja sehen.“

Abi schwieg einen Moment. „Aber mal was ganz anderes, Margie. Meinst du, dass die Jungs wirklich alle Soldaten werden? Alle außer Sonny vielleicht.“

„Wenn die anderen das machen, wird Sonny es auch tun. Billy ist ein Idiot. Wie kann er es wagen, zu behaupten, Sonny sei feige?“

„Aber Danny, meinst du, dass Danny das auch macht? Soldat werden? Kann er das überhaupt, hier in England? Er ist doch Deutscher.“

„Keine Ahnung. Aber warum nicht? Deutscher, Engländer, Italiener, na und? Warum soll nicht jeder Mensch selber entscheiden dürfen, für wen oder gegen wen er kämpfen will?“

„Vielleicht hast du recht. Aber was ist, wenn Danny gefangen genommen wird? Ich meine, von den Deutschen. Wer weiß, was sie dann mit ihm machen. Ich mag gar nicht daran denken. Also, wenn Danny irgendwas passiert, das wäre furchtbar.“

„Ach, ihm passiert schon nichts.“

Wir waren nicht mehr weit vom Teich entfernt, als Abi mich plötzlich am Arm packte.

„Hör doch mal. Ich glaube, da sind Leute am Teich.“

Jetzt hörte ich auch Stimmen, und neugierig, wie wir waren, verließen wir den Weg und schlichen lautlos durchs Gebüsch vorwärts. Wie enttäuscht war ich, als ich sah, dass es nur Mary, unser Dienstmädchen, und David Godfrey, der Sohn vom Wirt der Three Horseshoes, waren.

Mary war ein nettes Mädchen, aber immer ein bisschen verträumt. Wie oft kam es vor, dass sie etwas vergaß oder falsch machte, und dann von Mutter gehörig ausgeschimpft wurde. Sie war eine grazile Schönheit, kein derbes Mädchen vom Lande, was sie ihrer Abkunft nach hätte sein können. Später, als ich zum ersten Mal Bilder von den Präraffaeliten sah, fühlte ich mich an sie erinnert. War nicht auch die versponnen, ja geradezu entrückt wirkende Jane Morris, die jenen Malern oft Modell gestanden hatte, die Tochter eines Stallknechts und einer Wäscherin gewesen?

Aber was um alles in der Welt machten Mary und David Godfrey hier?

Gebannt verfolgten wir, was sich vor unseren Augen abspielte. Auch wenn wir in der behüteten Welt eines Mädcheninternats aufwuchsen, wussten wir bald Bescheid. Schließlich gingen wir ja oft genug ins Kino! Jetzt hatte David sogar Marys Hände ergriffen, zog sie zu sich heran und hätte Mary nicht den Kopf abgewandt, wer weiß, möglicherweise hätte er sie gar geküsst.

Natürlich bekam Abi es sehr schnell mit der Angst zu tun. Sie war einfach nicht dafür geschaffen, verbotene Dinge zu tun. Sie wollte weg und versuchte, mich mit fortzuziehen, aber ich sträubte mich. Die Unruhe, die dabei entstand, verriet uns, und die beiden Verliebten, denn das waren sie ja zweifellos, bemerkten uns.

„Hallo, wer ist da?“, rief David. Er war ein junger Mann mit einem blonden Lockenkopf, dessen Bewegungen immer noch etwas linkisches hatten, wie die eines jungen Fohlens. Aber man konnte bereits erkennen, dass er einmal ein kräftiger, stiernackiger Mann werden würde, so wie sein Vater. Mit dem wagte sich keiner der Gäste anzulegen, nicht einmal, wenn sie sturzbetrunken waren.

„Ach, du bist es, Margie. Was treibt ihr euch denn hier rum?“ Er bemühte sich, seine Stimme fest klingen zu lassen, aber so ganz wollte es ihm nicht gelingen.

„Wir gehen nur ein bisschen spazieren“, antwortete ich.

„David, wir hätten uns nicht treffen sollen“, sagte Mary mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme. „Sie wird alles der Herrin erzählen und was wird dann aus mir?“

„Wir mussten uns sehen. Und außerdem … Margie ist ein gutes Mädchen. Sie wird uns nicht verraten. Nicht wahr, du erzählst niemandem etwas, oder?“

„Natürlich nicht“, erklärte ich. Mir war klar, was Mutter tun würde, wenn sie von diesem Stelldichein erfahren würde. In solchen Dingen verstand sie keinen Spaß.

„Siehst du, Mary. Alles ist gut.“

„Nein. Du sagst das so einfach. Ich muss zurück. Jetzt gleich. Nein, lass mich los. Bitte, David.“

„Ich liebe dich, Mary“, sagte er noch, als sie sich schon längst abgewandt hatte und zum Oaklands House zurücklief. Ich glaube nicht, dass sie seine Worte noch gehört hat. David wandte sich schließlich ab und ging Richtung Dorf.

„Willst du deiner Mutter wirklich nichts erzählen, Margie?“

„Natürlich nicht. Ich bin doch keine Petze!“ Das gehörte zu den ersten Dingen, die man in einem Internat lernte, keine Petze zu sein. Abi war allerdings ein furchtbarer Angsthase. Ich glaube, das war einer der Gründe, warum sie meine beste Freundin war. Sie war für mich wie eine kleine Schwester. Ich hätte damals gerne eine kleine Schwester gehabt, ein Mädchen, das immer ein bisschen verschüchtert und unbeholfen war und das ich behüten und bemuttern konnte. Ein Mädchen halt wie Abi. Meine kleine Schwester Lulu war für diese Rolle leider völlig ungeeignet. Sie war einfach viel zu klein und vor allem viel zu frech.

Natürlich hatte Mutter nichts dagegen, dass Abi bis zum Ende der Ferien bei uns blieb, und nachdem Vater mit Mr Pardo telefoniert hatte, war die Sache abgemacht.

Der Tag verging sonderbar ereignislos. Die Deutschen kamen nicht, und in den Nachrichten hörten wir nur ein paar recht nebulöse Meldungen über den Verlauf der Kämpfe in Polen. Keine Kriegserklärungen, und die Bündnispartner Polens blieben untätig. Die Bündnispartner, das waren wir. Wir und die Franzosen.

Die Verdunklung ging uns heute schon viel leichter von der Hand, wenngleich es noch eine Weile dauern würde, bis sie schließlich zu jener Routine geworden war, die unseren Alltag jahrein, jahraus prägen sollte.

In dieser Nacht erwachte ich, und ich war schlagartig hellwach. Alles war still und fast finster. Was hatte mich geweckt? Ich schaltete meine kleine Taschenlampe ein, um zu sehen, wie spät es war. Kurz vor elf. Ich hatte kaum mehr als eine Stunde geschlafen. Ich hatte auch in dieser Nacht die Verdunklung beiseitegeschoben und sah, wie plötzlich ein gleißendes Licht die Nacht erhellte. Waren das die deutschen Bomber? Es donnerte, wieder ein Aufleuchten. Ich lief zum Fenster. Das Donnern und Blitzen wiederholte sich. Es schien ein ganz normales Gewitter zu sein, aber sicher war ich mir nicht. Ich verharrte lange am Fenster, um Gewissheit zu erlangen. Dann ging die Tür von meinem Zimmer auf.

„Ich kann nicht schlafen“, sagte Lulu. „Ich mag den Krieg nicht.“ Und mit diesen Worten kroch sie unter meine Bettdecke.

Ich hielt noch eine Weile am Fenster Ausschau, aber am Ende sagte ich mir, dass es wohl doch nur ein Gewitter war, und ging wieder ins Bett. Lulu brummelte ein wenig im Schlaf, als ich sie beiseiteschob, um Platz im Bett zu finden. Der Krach draußen wollte und wollte nicht aufhören. Ich lag noch lange wach, obwohl ich nicht mehr zweifelte, dass es nur ein Gewitter war.

An Sonntagen gingen wir morgens alle ins Dorf in die Kirche. So war es Brauch. Nur Vater blieb meist zurück. Wie die meisten Italiener war er eigentlich Katholik, aber er war in die Kirche von England übergetreten, denn Großvater hätte seine Tochter nie einem Papisten zur Frau gegeben. Als Bischof warb er zwar unermüdlich für ein brüderliches Miteinander der verschiedenen Konfessionen, aber er war halt nicht nur Bischof, sondern auch Vater. Also wechselte Massimiliano Civitella der Liebe wegen den Glauben. Aber im Herzen blieb er Katholik und begleitete uns nur an ho hen Feiertagen in die Kirche, ja, und auch dann nur um Mutter keinen Kummer zu bereiten.

Frank Evans, der Gärtner, fehlte ebenfalls. Er entstammte einem streng nonkonformistischen Elternhaus und radelte ins Nachbardorf, wo eine methodistische Kapelle war. Aber das, was sie Kapelle nannten, war in Wirklichkeit nichts anderes als ein schmuckloser, quadratischer Bau – selbstverständlich ohne einen Kirchturm –, der als Versammlungsraum diente.

Normalerweise durfte ich zu Hause bleiben, wenn Abi zu Besuch war, aber heute, wo das Land an der Schwelle eines Krieges stand, meinte Mutter, müssten wir alle im Gebet zusammenstehen. Da käme es auf jeden Einzelnen an. Selbst Vater musste mit. Abi hätte uns auch gerne begleitet, denn ihre Eltern waren säkulare Juden, die sich von der Synagoge fernhielten, aber davon wollte Mutter nichts wissen. Nur von Billy und Danny war weit und breit nichts zu sehen. Sie schliefen wohl noch.

Als wir nach dem Gottesdienst zurückkehrten, und Abi uns kommen hörte, lief sie uns ganz aufgeregt entgegen. Der Premierminister, erzählte sie, werde gleich eine Ansprache im Radio halten.

Wir stürmten alle ins Wohnzimmer und umringten den Radioempfänger. Ich schaute auf die Uhr. Gerade war es 11 Uhr 15, da sagte eine Stimme unendlich ruhig und sachlich:

„Hier ist London. Sie hören jetzt eine Erklärung des Premierministers.“ Und dann hörten wir seine Stimme: „Ich spreche zu ihnen aus dem Kabinettszimmer in 10 Downing Street. Heute Morgen hat der britische Botschafter in Ber lin der deutschen Regierung eine ultimative Botschaft übermittelt, worin es hieß, dass, sollten wir nicht bis 11 Uhr von ihnen hören, dass sie bereit seien, ihre Truppen sofort aus Polen zurückzuziehen, ein Kriegszustand zwischen uns bestehen würde. Ich muss Ihnen jetzt sagen, dass wir keine solche Zusage erhalten haben und dass dieses Land sich folglich im Kriegszustand mit Deutschland befindet.“

Nach einer Kunstpause redete er weiter, aber ich muss gestehen, seine Worte erreichten mich nicht mehr. Zu fürchterlich war seine Botschaft gewesen. Krieg. Es war Krieg, wirklich und wahrhaftig Krieg. Ich hatte keine Ahnung, was das tatsächlich bedeutete, aber ich ahnte, es war etwas, dass das ganze Leben aus den Fugen geraten lassen würde.

Schließlich rief der Premierminister alle auf, gelassen und mutig die kommenden Herausforderungen anzugehen und fürs Erste den wichtigen Anweisungen der Regierung, die im Anschluss an seine Ansprache verlesen würden, Folge zu leisten. Diese Mitteilungen der Regierung gaben mir, dem fast 14-jährigen Schulkind, eine erste konkrete Vorstellung davon, was Krieg bedeutete. Es war weniger die Ankündigung, dass ab sofort alle Veranstaltungen, drinnen und draußen, Kino- oder Theatervorführungen, Sportveranstaltungen, alles, wo eine größere Anzahl von Menschen zusammenkam, verboten seien. Nein, was meine Fantasie beflügelte, war die Begründung, die der Sprecher verlas, dass im Falle eines deutschen Bombenangriffs bei solchen Zusammenkünften mit vielen Opfern zu rechnen sei. Ich sah den Saal des Kinos in Faversham vor meinem geistigen Auge, dann ein grelles Aufblitzen, Rauch und Trümmer und mittendrin unzählige verunstaltete Leichen und Schwerverletzte. War ich auch unter ihnen?

Es kamen Hinweise zum Verhalten bei Bomben- oder Gasangriffen. Giftgas, das kannte man aus dem Großen Krieg, kannte und fürchtete man. Die Bomben aber, die wurden noch mehr gefürchtet, denn deren verheerende Wirkung stand bisher nur als Menetekel an der Wand. Manche hatten von den Bombenangriffen im Spanischen Bürgerkrieg in der Zeitung gelesen, hatten von Guernica erfahren und so war die Furcht vor dieser neuen, ebenso schrecklichen wie unbekannten Gefahr riesengroß. Die meisten Menschen erwarteten damals, die Deutschen würden Feuer und Verdammnis über uns regnen lassen. Und natürlich spürten wir Kinder, welch große Angst unsere Eltern hatten.

Nachdem der Sprecher erklärt hatte, ans Ende der Ankündigungen der Regierung gelangt zu sein, folgte eine längere Stille und dann spielte ein Orchester „God Save the King“ und die Eltern und alle, die bisher vor dem Radio gesessen hatten, standen auf.

Danach schaltete Vater den Empfänger ab. Lange sagte niemand etwas, bis ich das Schweigen brach. Noch heute ist es mir furchtbar peinlich, wie dumm ich mich damals angestellt habe. Mit meinen Worten wollte ich mich wohl auch nur irgendwie gegen all diese bedrückenden Mitteilungen zur Wehr setzen und wenigstens ein Stückchen weit aus den Klauen des Gefühls der Ohnmacht befreien.

„Der hat gesagt, in meine Kleidung soll in Zukunft ein Etikett eingenäht sein, wo mein Name und meine Anschrift drauf stehen. Was soll der Blödsinn? Ich bin doch kein kleines Kind mehr, dass ich vergesse, wer ich bin und wo ich wohne.“

„Vielleicht“, sagte Vater ernst, „kannst du nicht mehr sagen, wer du bist und wo du wohnst.“

Ich habe wohl recht dumm dreingeblickt, während ich diese Antwort verdaute.

„Jetzt mach dem Kind doch nicht unnötig Angst“, meinte Mutter zornig. „Es ist auch so alles schon schlimm genug. Du hast doch gehört, was Mr Chamberlain gesagt hat. Wir sollen die Ruhe bewahren und tapfer sein. Dann wird alles gut.“

Nie hatte ich bis dahin erlebt, dass einer von meinen Eltern dem anderen gegenüber harsche Worte gebraucht hatte. Ich weiß nicht, ob so etwas hinter verschlossenen Türen passierte, aber es war noch nie vor uns Kindern geschehen. Offensichtlich war Mutter so aufgewühlt, dass sie weit davon entfernt war, Mr Chamberlains Rat befolgen zu können, und das war erstaunlich, denn sie war erzogen worden, die Zähne zusammenzubeißen, was auch immer kommen mochte, und ich kannte sie bisher nur als Menschen, der sich nie gehen ließ.

Einen Moment lang presste Mutter die Lippen zusammen, dann wandte sie sich an Lulu und mich:

„Ihr beide holt jetzt eure Gasmasken, und wir üben in der Bibliothek noch einmal, wie man sie aufsetzt.“

Nicht schon wieder, dachte ich. Ich hasste dieses verfluchte Ding. Man setzte es auf, und im Handumdrehen beschlug die Scheibe und man sah alles wie im Nebel. Und außerdem bekam man darunter so schlecht Luft. Aber Mutter war unerbittlich. Wir nahmen vor ihr Aufstellung, die Kartons mit den Masken umgehängt, und dann gab sie das Zeichen. Hastig rissen wir die Masken heraus und stülpten sie uns über den Kopf, immer begleitet von tadelnden Worten, weil wir das nach Mutters Meinung nie schnell genug taten. Wenn wir dann verkleidet wie Außerirdische vor ihr standen, bedeckte sie mit der Hand die Öffnung des Filters und wenn wir dann trotzdem noch Luft bekamen, wurde der Gurt der Maske fester gezogen, bis es richtig wehtat. Und wenn die Maske dann richtig saß, mussten wir unter den Tisch kriechen. Wegen der Bomben, die die Deutschen ja auch gleich mit abwerfen würden. Dann standen wir wieder auf, nahmen die Masken ab, und alles ging von vorne los. Solche Übungen dauerten manchmal eine viertel Stunde lang oder sogar noch länger und endeten meist erst dann, wenn Lulu so bitterlich weinte, dass es sinnlos war weiterzumachen.

„Ihr werdet mir eines Tages noch dankbar sein.“ Mit diesen düsteren Worten beendete Mutter dann den Maskendrill. Ich habe mich damals immer gefragt, warum die Großen das Aufsetzen der Gasmaske nicht zu üben brauchten.

Als ich nach dem Mittagessen mit Abi in den wunderschönen Spätsommernachmittag hinaus wollte, rief Mutter mir hinterher:

„Vergiss deine Gasmaske nicht!“

„Nein, Mutter“, antwortete ich resignierend.

Wir legten uns ins Gras und genossen die wärmenden Sonnenstrahlen. Vielleicht würde es einer der letzten Sommertage in diesem Jahr sein. Wir redeten nicht viel, wir hingen beide unseren Gedanken nach. Es herrschte eine friedvolle Stille, die nur dann und wann unterbrochen wurde vom Brummen einer Hummel auf der Suche nach einem letzten bisschen Nektar. Waren sie nicht zu beneiden, diese Hummeln? Sie brauchten sich keine Gedanken über den Krieg zu machen, denn in ihrer kleinen Welt kam so etwas nicht vor.

Das eine oder andere Mal sah ich am Himmel Flugzeuge, aber ich hatte keine Ahnung, ob die kleinen schwarzen Objekte nun deutsche Flugzeuge waren oder unsere eigenen. Sie flogen weit, weit über uns, ohne uns irgendetwas anzutun. Wir hatten erfahren, dass es am Vormittag schon gleich nach der Kriegserklärung Luftalarm gegeben hatte. Er war ein falscher Alarm gewesen, aber wir hatten sowieso nichts davon mitbekommen. Das Dorf war wohl doch zu weit weg und der Klang von Ned Slaters Handsirene hatte uns nicht erreicht.