Eine irische Winterreise - D.G. Ambronn - E-Book

Eine irische Winterreise E-Book

D.G. Ambronn

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Beschreibung

Elf Erzählungen und Kurzgeschichten über die wichtigen Dinge im Leben: über Liebe und Hass, über Freude und Trauer, Wiedersehen und Abschiednehmen, Reisen und Zuhausebleiben, über Sommer und Winter, Frühling und Herbst und über Anfang und Ende. Geschichten zwischen Ernst, Humor und Ironie.

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Das Buch:

Elf Erzählungen und Kurzgeschichten über die wichtigen Dinge im Leben: über Liebe und Hass, über Freude und Trauer, Wiedersehen und Abschiednehmen, Reisen und Zuhausebleiben, über Sommer und Winter, Frühling und Herbst und über Anfang und Ende.

Der Autor:

D.G. Ambronn (geb. 1955) studierte Germanistik und Anglistik in seiner schleswig-holsteinischen Heimat. Seit dem Ende seines Berufslebens widmet er sich dem Schreiben und lässt sich dabei von den Erinnerungen an all die Orte, die er im Laufe seines Lebens gesehen hat, und den Menschen, die ihm dort begegnete sind, inspirieren.

Weitere Bücher von D.G. Ambronn:

Dass du in Venedig wärst (Roman)

Und was ist mit Rosemarie? Ein Kieler Kriminalroman

INHALT

Was ich dir erzählen wollte

Eine irische Winterreise

Das Märchen vom besonderen Weihnachtsgeschenk

Ein Teufel

Der Frieden danach

Die glückliche Straße von einst

Wo die Verzückung weilt

Kleine Mädchen, große Herzen

Die Verachtung

Ein anderes Zeichen im Himmel

A

NHANG

Nur allein der Liebe wegen

Was ich dir erzählen wollte

Als ich hierher kam, um für immer zu bleiben, das war vor über zwanzig Jahren, da freute ich mich darauf, in dieser wunderschönen, großen Stadt leben zu dürfen. Aber inzwischen ist mir nur noch ein ganz kleines Stückchen von Rom geblieben. Nur noch das, was ich sehe, wenn ich aus dem Fenster schaue. Da vorne zwischen den Bäumen kann ich den Tiber sehen und ein wenig von der Engelsbrücke. Nur im Winter, wenn die Platanen kein Laub tragen, habe ich einen freien Blick auf die Engelsburg jenseits des Flusses.

Ich verlasse das Haus schon seit Jahren nicht mehr. Nach dem Frühstück bringt Signora Aversa mich hierher zu meinem Sessel am Fenster, und ich beobachte die Welt dort draußen. Es ist immer etwas los. Die Leute sagen, hier am Tiber mit all dem Verkehr ist es viel zu laut. Aber das stört mich nicht. Ich kann nämlich inzwischen nicht mehr so gut hören. Dir ist sicher auch schon aufgefallen, dass man mit mir etwas lauter reden muss, habe ich recht?

Hier sitze ich also und schaue aus dem Fenster. Wenn die Sonne scheint, so wie heute, freue ich mich, weil die Welt dann viel freundlicher aussieht. Den ganzen Tag lang sitze ich hier. Und ich warte. Ja, ich warte, und du fragst dich jetzt sicher, worauf ich warte. Eigentlich gibt es nichts mehr, worauf man mit 92 noch warten kann. Man hat ja schon alles hinter sich. Trotzdem warte ich. Auf irgendetwas. Was soll ich auch sonst tun?

Du bist das Mädchen – Oh, entschuldige! – die junge Frau, von der Ludovica mir geschrieben hat. Ihr nennt sie auch Lulu, so wie wir es getan haben, nicht wahr? Sicher hat sie dir gesagt, wo ich wohne. Bevor sie dir von mir erzählt hat, wusstest du wahrscheinlich nicht einmal, dass es mich überhaupt gibt. Wir sind ja nur sehr entfernt miteinander verwandt.

Dich nennen sie Debs, obwohl du eigentlich Deborah heißt. Ein schöner Name. Lulu meint, dass sie sich über deinen Besuch sehr gefreut hat. Ich habe meine Schwester schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Zuletzt – lass mich nachdenken – ich glaube, das war vor zehn Jahren, als sie hier in Rom war. Ach, vielleicht ist es auch schon länger her. Ich bringe solche Dinge inzwischen oft durcheinander.

Da drüben auf der Anrichte steht ein Foto von ihr, das zweite von links. Du erkennst sie sicher nicht wieder. Damals war sie ein junges Mädchen und ging noch zur Schule. Das Bild da vor der Vase, das bin ich mit Esmond. Signora Aversa sorgt immer für frische Blumen. Sie meint, das gehört sich so bei einem Hochzeitsfoto.

Wir waren damals so glücklich miteinander. Leider ist es nicht immer so gewesen. Eine Zeit lang haben wir uns getrennt, aber am Ende haben wir uns doch wieder ausgesöhnt. Dann ist er gestorben. Ganz plötzlich. Ein Herzinfarkt. Das war vor zwanzig Jahren. Ich bin dann hierher nach Rom gezogen. Mein Vater war aus Rom. Er hat seine Heimat verlassen, als Mussolini an die Macht kam. Seine Eltern sind hiergeblieben, aber er, er ist nach England gegangen. Dort hat er meine Mutter kennengelernt, eine Engländerin, die nicht einmal katholisch war. Sie haben trotzdem geheiratet. Ganz rechts, das uralte Foto, das sind sie, meine Eltern, und das Kind auf dem Schoß meiner Mutter, das ist mein Bruder. Er hieß George, aber wir haben ihn Gino genannt. Hat Lulu dir von ihm erzählt? Wer die Menschen auf den übrigen Bildern sind, sage ich dir später einmal. Wenn es dich überhaupt interessiert.

Ich sehe es dir an, dass du dich hier wie in einem Museum fühlst. Wenn man jung ist, ist die Zukunft viel interessanter als die Vergangenheit. Aber, glaube mir, im Laufe des Lebens ändert sich das. Ich habe viel über die Vergangenheit nachgedacht, und dann habe ich das, woran ich mich noch erinnern konnte und was mir noch so durch den Kopf gegangen ist, schließlich auch aufgeschrieben. Eigentlich nur für die Kinder.

Lulu sagt, du hast es gelesen, als du in den Ferien bei ihr warst. Ich bin sicher, es hat dir nicht gefallen. Oh, du musst jetzt nicht aus Höflichkeit so tun, als wenn es anders wäre. Du lebst in deiner Welt und in deiner Zeit. So wie ich auch. Und ich konnte nur von meiner Welt und meiner Zeit erzählen. Ich sah auch keine andere Möglichkeit, als bei der Wahrheit zu bleiben, denn all die Menschen, von denen ich erzähle, sind ja schon tot. Nur ich und Lulu sind noch da, und Lulu war damals noch ein kleines Mädchen. Sie hat wahrscheinlich gar nicht richtig mitbekommen, was um sie herum passierte. Oder es zumindest nur aus ihrer kindlichen Sicht heraus wahrgenommen. Nur ich konnte noch berichten, was wirklich passiert ist. Ich habe das als große Belastung empfunden. Kannst du das verstehen? Wenn ich es nicht erzählt hätte, und zwar so, wie es wirklich gewesen ist, dann wäre alles vergessen und vergangen gewesen. Alles, was geschehen ist, und all die Menschen, die damals gelebt haben.

Vielleicht tut es mir einfach nur leid, dass meine Welt untergeht. Und ich mit ihr. Sie war am Ende doch so schön. Ich habe ja auch nie eine andere kennengelernt.

Aber dir hat es nicht gefallen. Das verstehe ich. Du hast diese Zeit nicht erlebt. Du siehst die Dinge so, wie es deine Zeit von dir verlangt. Als ich jung war, habe ich das auch getan. Ich habe es auch nicht gerne gehört, wenn die Älteren davon redeten, wie alles früher gewesen sei.

Ich habe erzählt, was Menschen im Krieg erlebt haben. Ja, davon musste ich berichten, denn das war das, was uns geprägt hat. Der Krieg mit all den Ängsten und der Sehnsucht nach Frieden und danach, dass alles eines Tages wieder gut wird.

Du hörst nicht so gerne, dass es Kriege gegeben hat und dass es sie immer noch gibt. Natürlich sagt dein Verstand dir, dass es sie gab und gibt, aber du möchtest nicht daran erinnert werden. Ich wünsche dir, dass du den Krieg tatsächlich vergessen darfst und er für dich nie Wirklichkeit wird. Aber ich habe einen Krieg miterlebt. Als er anfing, war ich gerade 13 Jahre alt, und als er vorbei war, war ich eine junge Frau. Aber das hast du ja alles gelesen.

Ah, da kommt Signora Aversa mit dem Tee. Du nimmst doch sicher auch eine Tasse, oder? Es ist Melissentee. Ich trinke schon lange keinen schwarzen Tee mehr am Nachmittag. Der bekommt mir nicht mehr so gut.

Die Sonne wird bald untergehen. Weil dies die Nordseite des Hauses ist, scheint sie praktisch nie hier ins Zimmer. Aber wenn sie scheint, liegt alles, was ich draußen sehe, im Sonnenlicht. Zumindest so lange, bis die Schatten der Häuser, so wie jetzt, die Bäume am Fluss erreichen. Um diese Zeit des Jahres sind die Tage ja leider schon sehr kurz.

Als ich noch jung war, kamen mir die Tage viel länger vor.

Eine irische Winterreise

Wir, der Eduard und ich, saßen mit unseren irischen Freunden im Wohnzimmer und bewunderten den Weihnachtsbaum. Es war ein bisschen so, als wären wir nach Hause gekommen. In ein vertraut-fremdes Zuhause, das ganz und gar undeutsch war, in das wir uns nach etlichen Besuchen hinein gelebt hatten. Manchmal fielen wir immer noch in unser Deutschsein zurück, aber es gab auch Augenblicke, wo es uns gelang, Urlaub von uns selbst zu machen. Und manchmal staunten wir einfach nur, dass es heute, im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts immer noch Länder in Europa gibt, die so ganz und gar anders sind als alle anderen.

Wir bewunderten also gebührend den Weihnachtsbaum und tranken irisches Bier aus Dosen. Das Bier war gut, Macardles Ale, hier in Dundalk gebraut und anderswo praktisch unbekannt. Der Weihnachtsbaum war für unseren Geschmack allerdings ein bisschen sehr bunt. Man sah eigentlich nur Weihnachtsbaumschmuck. Keine Ahnung, ob darunter ein echter Baum war oder ein künstlicher. Oder gar nichts. Wie beim Schottenrock.

Die erste Dose Bier hatten wir schnell geleert und dann ins offene Kaminfeuer geworfen. Weil Brendon das auch so machte. Ich habe leere Bierdosen noch nie so entsorgt. Aber ich habe zu Hause auch keinen offenen Kamin. Dann führte Brendon uns in eine Art Hobbyraum, wo er neuerdings selber Wein keltert. Wenn ich das richtig verstanden habe, hatte er eine Art Pulver aus getrockneten Weintrauben und noch irgendwas anderem erstanden, das er mit Wasser angerührt und dann in einen großen Glasballon gefüllt hat. Jetzt wartete er darauf, dass daraus Wein wird.

Nachdem wir die Versuchsanordnung gebührend bewundert hatten, erklärte Brendon uns, dass es noch einige Wochen dauern würde, bis der Wein fertig ist. Wir hörten es mit einer gewissen Erleichterung. Bis dahin würden wir nicht nur über die Wicklow Mountains, sondern auch über alle anderen Berge sein.

Dundalk liegt übrigens an der Straße zwischen Dublin und Belfast, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Nordirland entfernt. Die Landschaft sieht in dieser Jahreszeit ein bisschen grau in grau aus. Nicht das kräftiges Grün, wie wir es sonst gesehen haben. Es ist schließlich Winter. Aber Gott sei Dank gibt es in Irland keinen Winter so wie bei uns. Schnee kennen die hier überhaupt nicht.

Morgen mehr. Jetzt leg ich mich erst Mal aufs Ohr.

Nach dem Frühstück hat Brendon uns zu einer Stelle gefahren, wo die Autos von ganz allein den Berg hoch rollen. Ja, wirklich. Es war irgendwo draußen in der Pampa. Er tat furchtbar geheimnisvoll. Er hielt den Wagen in einer Senke zwischen zwei kleinen Hügeln an. Machte den Motor aus. Dann löste er die Bremse. Und tatsächlich, der Wagen rollte rückwärts den Hügel hinauf. Er ist dann noch einmal zum tiefsten Punkt der Senke zurückgefahren und der Wagen rollte auch diesmal wieder den Hügel hoch. Ich glaube, das Ganze ist nur eine optische Täuschung, aber die Iren sind mächtig stolz darauf, dass in ihrem Land nicht einmal die Gesetze der Physik gelten. Wenn die Wissenschaftler immer das letzte Wort hätten, wäre ja auch die Sache mit den Leprechauns gar nicht möglich. Die Leprechauns, das sind die kleinen, grünen Männchen, die immer dummes Zeug machen und die nicht vom Mars stammen, sondern schon immer in Irland lebten. Deshalb sind sie ja auch grün, weil die Insel so grün ist. Ich habe keine Ahnung, warum die vom Mars auch grün sind.

Heute waren wir in der Disco. Mit Paddy, dem ältesten Sohn von Brendon und Fiona, und ein paar jüngeren Iren. Brendon und Fiona fühlen sich für die Disco zu alt. Wir waren schon spät dran, trotzdem gingen wir vorher noch in die Bar. So früh am Abend sind nur die Kids in der Disco, erklärte man uns.

Wir tranken Black Russians. Das ist ein Cocktail aus Wodka und Kaffeelikör mit Guinness und Cola. Sieht sehr schwarz aus, und wenn man zu viel davon trinkt, wird einem wahrscheinlich sogar völlig schwarz vor Augen.

Es war schon nach elf, als wir in die Disco wechselten. Zusammen mit der Eintrittskarte bekamen wir einen Coupon für ein Mitternachtsmahl. Das war ein Hähnchenschenkel und dazu ein paar gekochte Kartoffeln in der Schale. Zum Essen ging man in einen separaten Raum. Wir also auch. Die anderen Gäste waren wohl nicht richtig hungrig. Jedenfalls erinnerten sich etliche daran, wo das herkam, was auf ihrem Teller lag, und ließen die Hähnchenschenkel durch den Raum fliegen. Und die Kartoffeln gleich hinterher. Vielleicht hatten die Leute vorher wie wir Black Russians getrunken. Kann es sein, dass die sich negativ auf das Hungergefühl auswirken? Wir kamen jedenfalls auch schnell zu der Überzeugung, eigentlich keinen Hunger zu haben und gingen wieder. Das hatte den Vorteil, dass wir nicht von Hähnchenschenkeln oder Kartoffeln getroffen wurden.

Die Disco war ansonsten wie eine ganz normale Disco, nur dass das aufregende Treiben auf der Tanzfläche plötzlich gestört wurde, als die Stimmung gerade am schönsten war. Die Lichter gingen an, alle standen auf und lauschten mit feierlicher Miene der irischen Nationalhymne. Sehr viele sangen sogar mit. Anschließend gingen alle nach Hause. Also blieb uns nichts anderes übrig, als das auch zu tun.

Nachdem Brendon uns vorgeschwärmt hatte, was für ein tolles Getränk Potcheen ist, wollten wir das nun auch gerne probieren. Brendon machte ein betont ernstes Gesicht, weil es Potcheen nur schwarz gebrannt gibt. Die Leute auf dem Land brennen ihn heimlich. Dann trinken sie ihn ganz schnell oder verschenken oder verkaufen ihn. Das machen sie, damit keiner mehr da ist, wenn die Polizei kommt und den Potcheen beschlagnahmen will. Manchmal sind sie nicht schnell genug. Aber das ist nicht so schlimm, denn unter den Polizisten gibt es welche, die den beschlagnahmten Potcheen stibitzen und unter der Hand verhökern. Sofern sie ihn nicht lieber selber trinken. Auf die Schnelle hätte er keinen Schwarzbrenner an der Hand, sagte Brendon, aber jemanden, der beschlagnahmten Potcheen besorgen könne, das wäre machbar.

Am Abend führte er uns in eine ziemlich finstere Kneipe, in der wir vorher noch nie waren. Na ja, es gibt in Dundalk angeblich an die 150 Pubs, wie sollen wir die alle kennen? Brendon hat uns erzählt, dass immer wieder Leute versuchen, an einem Abend in jedem dieser Pubs ein Bier zu trinken. Pub crawl nennt man das. Geschafft hat es aber bisher keiner. Ich vermute, das liegt daran, dass die Pubs wegen der Sperrstunde schon so früh schließen.

Dieses Pub hier war wirklich ein bisschen altmodisch, noch richtig mit Sägespänen auf dem Fußboden und so. Der Schwarzhändler war schon da, und wir haben uns zu ihm an den Tisch gesetzt und zusammen Bier getrunken. Er sah ganz harmlos aus. Dann hat er mir unterm Tisch etwas, das in Packpapier eingewickelt war, zugeschoben, und dabei haben er und Brendon ziemlich konspirative Gesichter gemacht. Ich habe hinterher zu Eduard gesagt, dass die beiden uns sicher ein wenig auf den Arm nehmen wollten und uns was vorgespielt haben. Uns, den Touris aus Germany. Aber wer weiß?

Den Silvesterabend feierten wir mit unseren irischen Freunden zusammen in einem Pub. Wir hatten vorher Eintrittskarten gekauft. Nicht billig. Dafür war alles frei, Essen und Trinken. Nur gab es eigentlich gar nichts zu essen, außer ein paar armseligen Sandwiches, die kurz vor Mitternacht mit Pappnasen und Papphüten zusammen herumgereicht wurden. Damit alle sich verkleiden konnten. Mit den Pappnasen und Papphüten. Zu trinken gab es aber reichlich, vor allem Bier.