Dass du in Venedig wärst - D.G. Ambronn - E-Book

Dass du in Venedig wärst E-Book

D.G. Ambronn

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Beschreibung

Roman über eine große Liebe, ein Verbrechen und den Winter in Venedig: Im vierzigsten Jahr seines beschaulichen Lebens reist Karl aus Interesse an der Malerei nach Venedig. Dort begegnet ihm Caterina, und das ändert alles. Er lernt jene Liebe kennen, von der der Dichter sagt, sie sei wie Luzifer vom Himmel herabgeschleudert worden. Caterina verbirgt etwas vor ihm, und ein Ereignis, das lange zurückliegt, macht eine gemeinsame Zukunft unmöglich. Das meint jedenfalls Caterina, aber Karl will das nicht wahrhaben. Viele Jahre später begegnen sie sich wieder, im Winter in Venedig, und Karl erfährt, was sie ihm damals verheimlicht hat. Bekommt ihre Liebe am Ende doch noch eine Chance?

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Das Buch:

Im vierzigsten Jahr seines beschaulichen Lebens reist Karl aus Interesse an der Malerei nach Venedig. Aber dann begegnet ihm dort Caterina, und das ändert alles. Er lernt jene Liebe kennen, von der der Dichter sagt, sie sei wie Luzifer vom Himmel herabgeschleudert worden.

Caterina verbirgt etwas vor ihm, und ein Ereignis, das lange zurückliegt, macht eine gemeinsame Zukunft unmöglich. Das meint jedenfalls Caterina, aber Karl will das nicht wahrhaben.

Der Autor:

D.G. Ambronn (geb. 1955) studierte Germanistik und Anglistik in seiner schleswig-holsteinischen Heimat. Seit dem Ende seines Berufslebens widmet er sich dem Schreiben und lässt sich dabei von den Erinnerungen an all die Orte, die er im Laufe seines Lebens gesehen hat, und den Menschen, die ihm dort begegnete sind, inspirieren.

Weitere Bücher von D.G. Ambronn:

– Und was ist mit Rosemarie? Ein Kieler Kriminalroman

– Eine irische Winterreise und andere Erzählungen und Kurzgeschichten

Nun sprach ich von dir, daß du in Venedig wärst, daß du noch alle Liebe, alle Wonne jenes Augenblicks im Herzen trügest – … da rief sie wie in Begeisterung: ›Ich hab’ es gefühlt – ich hab’ es gefühlt … ach, ich wußt’ es ja nur nicht, was so seltsam mein Innerstes durchdrang, es war wohl Lust, aber auch zugleich Schmerz!‹

(E.T.A. Hoffmann, Doge und Dogaressa)

Der Autor dankt Sabine Winkler ganz herzlich für ihre äußerst wertvolle Hilfe, die Fehler, die sich in die erste Auflage eingeschlichen hatten, ausfindig zu machen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

„Als ich aus Bologna zurückkam, erzählte Caterina mir, Arcangelo Bonfiglio sei tot. Ich hatte nie zuvor von ihm gehört. Er sei, sagte sie, in gewissen Kreisen Venedigs ein sehr bekannter Mann gewesen.

‚Er war Kunsthändler. Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich allerdings, dass er in unsaubere Geschäfte verwickelt war. Vorgestern fand man ihn in San Silvestro. Zusammengesunken in einer Kirchenbank, als würde er ein kleines Nickerchen machen. Aber er war tot. Kennen Sie die Kirche? In der Nähe der Rialtobrücke, wissen Sie? Die Zeitung schreibt, es war ein Herzinfarkt. Er sei siebzig gewesen und leidend. Die Trauerfeier findet morgen in San Geremia statt. Es werden sicher viele Menschen hingehen.‘

‚Sie auch?‘

‚Vielleicht.‘ Sie fuhr sich mit den Fingern beider Hände durch die blonden Locken, schüttelte den Kopf und dadurch sah die Haarpracht noch üppiger aus und erinnerte mich wieder einmal an die Mähne eines Löwen.

Ihre Worte klangen in mir nach. Ein zwielichtiger Kunsthändler? Hatte ich nicht gerade erst erfahren, dass Caterina, als sie jung war, Malerin werden wollte? Aber was besagte das? Warum sollte sie ihn nicht kennen? Und trotzdem.

Es war jetzt zehn Tage her, dass Caterina und ich uns zum ersten Mal begegnet waren. Seitdem sahen wir uns fast jeden Tag. Wir hatten bisher über alles Mögliche geredet, nur nicht über uns selbst. Das winterliche Venedig hatten wir durchstreift, Augen und Ohren nur für die Welt, die uns umgab. Es waren glückliche Tage, und es klingt vielleicht sonderbar, aber es fällt mir heute schwer, mich darauf zu besinnen, dass diese in meiner Erinnerung verklärten Tage oft mit grauem und kühlem Winterwetter einhergingen.

Meine Arbeit an einem Buch über den Barockmaler Guido Reni hatte mich dann gezwungen, nach Bologna zu fahren. Ich war nur eine Nacht geblieben, und als ich zurückkam, verlor unsere Zweisamkeit ihre Unschuld. Nicht, dass Sie das jetzt missverstehen. Ich meine damit die Arglosigkeit und Unbekümmertheit, die sie bisher ausgezeichnet hatten. Wir fingen an, übereinander zu reden.

Eigentlich begann es damit, dass uns ein alter Mann begegnete, von dem Caterina später sagte, sein Name sei Cavallino, Lorenzo Cavallino. Wir waren in der Kirche Santissima Trinità gewesen und wollten anschließend einen Caffè trinken. Sie würde eine Bar kennen, meinte Caterina, wo selten Touristen seien.

Ich verlor schnell die Orientierung im Gewirr der schmalen, fast menschenleeren Gassen. Die müde Wintersonne mochte irgendwo scheinen, aber unten in den engen Häuserschluchten blieb sie unsichtbar.

Dort also begegneten wir diesem Cavallino. In der Linken trug er einen Plastikbeutel, mit der anderen Hand berührte er ungelenk die Krempe seines verbeulten Filzhutes. Ungepflegte, graue Haare schauten unter der Kopfbedeckung hervor. Er sagte Signora, und Caterina erwiderte den Gruß mit einem leichten Neigen des Kopfes, während wir an dem Alten vorbeigingen. Ich maß der Begegnung in jenem Moment überhaupt keine Bedeutung bei. Ich war nur ein wenig belustigt, was für sonderbare Leute Caterina kannte.

Die Bar, in die sie mich führte, erwies sich als ein schlicht eingerichteter Raum mit einer langen Fensterfront. Hier und da hingen die üblichen Bilder von Venedig an den Wänden, nur die Fläche hinter dem Tresen war reserviert für Poster, Wimpel und andere Fanartikel eines italienischen Fußballvereins. An einem Tisch in der Nähe des Eingangs saßen zwei Italienerinnen mittleren Alters und unterhielten sich lebhaft. Ein kleines Mädchen stand neben ihnen, hielt sich am Bein einer der Frauen fest. Sein Kopf lag in deren Schoß, während es uns unentwegt beobachtete, schweigend und ohne eine Miene zu verziehen.

‚Der alte Mann, er war einmal mein Lehrer.‘ Caterina sagte es so leise, dass ich nicht sicher war, richtig verstanden zu haben. Ich blickte sie fragend an. ‚Er war ein hoch angesehener Künstler hier in Venedig, aber eines Tages fing seine rechte Hand an zu zittern, sodass er nicht mehr malen konnte. Das war kurze Zeit, nachdem ich seine Schülerin geworden war. Meine Eltern hatten mich zu ihm geschickt, weil sie dachten, ich hätte Talent. Sie hofften, aus mir könnte eine zweite Rosalba Carriera werden.‘

Sie lachte.

‚Dabei ist hier für Neues schon lange kein Platz mehr. Heutzutage werden in Venedig nur noch Konservatoren gebraucht, Menschen, die die Stadt und all ihre Kunstschätze vor dem schleichenden Verfall bewahren. Die Touristen sollen schließlich noch möglichst lange gut davon haben.

Aber wie auch immer, ich wurde also Cavallinos Schülerin. Alles Neue beginnt mit der Aneignung des Alten. Das hat Lorenzo Cavallino mir als Erstes beigebracht. Wochenlang, nein, monatelang haben wir in der Galerie der Akademie die Bilder der alten Meister studiert oder sind von Kirche zu Kirche gezogen, um das auch mit den Gemälden dort zu tun. Wir waren ein seltsames Paar, Cavallino, schon hoch in den Fünfzigern, immer furchtbar nachlässig gekleidet und schon damals mit langen grauen Haaren und ich, ein junges Ding, gerade zwanzig geworden.‘

Ich versuchte, mir vorzustellen, wie Caterina damals ausgesehen haben mochte. Sicher war sie so wie heute eher zierlich, das runde Gesicht mit den auffallend grünen Augen möglicherweise auch bereits umrahmt von der blonden Löwenmähne. Aber hatte sie damals schon diesen traurigen Zug um den Mund?

‚Wir suchten die Werke auf, die Cavallino für bedeutsam ansah, und dann hielt er mir mit seiner schnarrenden Stimme endlose Vorträge. Manchmal erregten wir den Unmut des Aufsichtspersonals, aber das war ihm egal.

Unsere Streifzüge widmeten wir nach einiger Zeit einzelnen Malern und ihren Besonderheiten. Angefangen bei Veneziano und den Vivarinis, später dann Cima da Conegliano, Gentile und Giovanni Bellini und wie sie alle heißen. Immer wieder hat Cavallino mich nach unseren Wanderungen das Gesehene und Gelernte in die Praxis umsetzen lassen. Mal zeichnete ich, um Bilder so zu komponieren, wie sie es getan hatten, dann wieder musste ich ihre Farben, ihren Pinselstrich und so fort imitieren.

Kurz nachdem ich seine Schülerin geworden war, begann also seine rechte Hand zu zittern. Es bedrückte ihn, nicht mehr malen zu können und es fiel ihm schwer, sich damit abzufinden. Wie zum Ausgleich steigerte er sich in das Weitergeben seiner Meisterschaft an mich hinein. Er war förmlich besessen von dieser Aufgabe. Er wollte im und durch die Werke anderer weiterexistieren. Cavallino belauerte mich, um zu sehen, ob ich die Eigenarten eines jeden der alten Meister wirklich erfasst hatte. Angespornt von seinen Hinweisen auf Fehler, manchmal verletzt und gedemütigt durch seine unerbittliche Kritik machte ich mir immer mehr und mehr deren Technik zu eigen.‘

Während sie sprach, sah Caterina nicht mich an, sondern sie starrte unentwegt auf ein Bild an der Wand, eine alte Schwarzweißfotografie des Glockenturms der Markuskirche, die zeigte, wie der Turm 1902 einstürzte. Zwei breite Risse, die wie auf dem Kopf stehende Blitze aussahen und sich von unten nach oben ausbreiteten, schienen den Campanile zu zerreißen, während er sich bereits leicht in Richtung auf den Dogenpalast hin neigte.

‚Erzählen Sie doch weiter. Ich habe nicht geahnt, dass Sie Malerin sind.‘

‚Ich male schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ich habe es längst aufgegeben. Genau genommen habe ich nie wirklich angefangen.‘ Der Blick ihrer grünen Augen wandten sich wieder mir zu. ‚Cavallino hat mir das Malen beigebracht, und als ich alles gelernt hatte, habe ich damit aufgehört.‘

‚Warum?‘

‚Ach, das ist alles schon so lange her. Tun Sie mir den Gefallen, und lassen Sie uns über etwas anderes reden.‘

Ich mochte mich ihrer Bitte nicht verschließen, auch wenn ich damals nicht verstand, warum ihr dieses Thema unangenehm war. Ich überlegte einen Moment, dann fiel mir ein, dass mir schon seit unserem Wiedersehen in der Santissima Trinità eine Frage auf der Zunge lag.

Als ich jene Kirche betreten hatte, entdeckte ich Caterina schon bald, aber bevor ich mich ihr nähern konnte, sprach ein Geistlicher sie an. Er trug ein weißes Habit mit einem großen blauen Malteserkreuz auf der Brust und dazu einen schwarzen Umhang, was ihn als Angehörigen der Johanniter Chorherren auswies, zu deren Orden diese Kirche gehörte. Caterina war in die Betrachtung eines Bildes vertieft gewesen und erschrak heftig. Dann ergriff sie schnell die Hand des grauhaarigen Alten und küsste sie, was der vergeblich zu verhindern versuchte.

Ich hatte mich außer Hörweite der beiden gehalten, um sie nicht zu stören. Angesichts ihrer ernsten Mienen fragte ich mich, worüber sie wohl sprechen mochten. Ihre Unterhaltung dauerte nur wenige Minuten, dann bemerkte Caterina mich. Völlig grundlos fühlte ich mich ertappt, aber gleichzeitig schlug mein Herz höher, als unsere Blicke sich trafen.

Jetzt wechselte ich also das Thema und sagte: ‚Sie sprachen vorhin mit dem Priester sicher über den Einbruch in seine Kirche. Welch ein spektakulärer Kunstraub! Sogar die ausländischen Zeitungen berichteten darüber. Ein Altarbild in dieser Größe zu stehlen! Eine Holztafel, die fünf Meter in der Höhe und fast zwei fünfzig in der Breite misst! So etwas mitten in Venedig unbemerkt aus einer Kirche zu entwenden, ist eine echte Meisterleistung. Selbst bei Nacht.‘

‚Messen Sie die Qualität eines Gemäldes in Zentimetern?‘ Ihre grünen Augen funkelten zornig. ‚Wissen Sie überhaupt, was auf dem Bild dargestellt ist?‘

Das eine oder andere Mal hatte Caterina mich bereits mit dem unerwarteten Aufblitzen ihrer Angriffslust überrascht, ja, ich muss sogar sagen, erschreckt. Und es war wirklich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, plötzlich und unvermittelt, aber meist ebenso schnell wieder vorbei. Vielleicht reagierte ich auch nur so empfindlich auf alles, was sie tat und was sie sagte, weil sie mir so unendlich viel bedeutete. Und das, wo wir uns doch erst seit ein paar Tagen kannten. Oder vielleicht sogar gerade deswegen?

Sie werden lachen, wenn ich sage, dass ich mich ein wenig wie ein Hund gegenüber seinem Herrn verhielt. Immer darauf bedacht, jede Äußerung, jede Geste und jedes auch noch so kleine Zeichen zu bemerken. Dabei hätte ich, anders als ein Hund, die Freiheit gehabt, all das zu ignorieren. Aber ich war verliebt in diese Frau. Verliebt? Nein, diese Formulierung ist viel zu banal. Ich liebte diese Frau mit jener Liebe, von der der Dichter sagt, sie sei wie Luzifer vom Himmel herabgeschleudert worden.

Aber zurück zu jenem Gespräch.

‚Eine Madonna mit Kind‘, antwortete ich auf ihre Frage und kam mir dabei ein wenig lächerlich vor. Wie ein kleiner Junge in der Schule. ‚Außerdem ist sie von verschiedenen Heiligen umgeben, ich weiß aber nicht mehr, von welchen. Und gemalt hat es Giovanni Bellini.‘

Nachdem ich meine Antwort, wie ich fand, zufriedenstellend aufgesagt hatte, fragte ich: ‚Was meinte denn der Priester zu dem Diebstahl?‘

Caterina zuckte nur mit den Schultern.

‚Wir haben nicht darüber gesprochen. Wir sprachen über Bonfiglio. Wir kannten ihn beide, Don Vincenzo und ich.‘ Und dann erzählte sie mir von Bonfiglios Tod, seinem schlechten Ruf und der anstehenden Trauerfeier in San Geremia. Schließlich stand sie auf. ‚Wollen wir noch einen kleinen Spaziergang machen? Die Sonne geht bald unter.‘

Wir verließen die Bar und gingen Richtung Lagune und dann am Wasser auf den Fondamente Nove entlang. Es war erst vier Uhr, aber der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu. Der Himmel war immer noch wolkenlos und von winterlich fahlem Blau, aber die Fondamente lagen bereits im langen Schatten der Häuser, die links von uns aufragten. Nur zur Rechten, in der Lagune, leuchtete in einiger Entfernung immer noch die Friedhofsinsel San Michele mit ihren roten Mauern und dem Grün der Bäume im Licht der tief stehenden Sonne. Die Oberfläche des Wassers bewegte sich kaum. Es war völlig windstill, und es wurde jetzt zunehmend kühler.

Wir erreichten die Stelle, wo die Fondamente Nove abrupt enden. Eine Weile standen wir unschlüssig da und blickten auf das dunkle Wasser der Sacca de la Misericordia.

‚Ich muss fort‘, sagte Caterina.

‚Wann sehen wir uns wieder?‘

‚Ich weiß nicht. Wohnen Sie immer noch in der Locanda San Basegio? Ja? Ich melde mich bei Ihnen.‘

Im nächsten Augenblick machte sie kehrt, und als sie nach wenigen Schritten rechts in eine Passage einbog, war sie aus meinem Blickfeld verschwunden. Keine Menschenseele war mehr weit und breit zu sehen.

Ich blieb noch eine Weile am Ende der Fondamente stehen. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ihr hinterherzuspionieren.

Nach ein paar Minuten machte ich mich ebenfalls auf den Weg und bog in dieselbe Gasse ein wie Caterina. Auch dort war jetzt kein Mensch zu sehen. In der schmalen Häuserschlucht hallten meine Schritte ungewöhnlich laut. Ich blieb stehen und horchte, ob da noch etwas anderes war. Vergeblich. Niemand schien hinter den Mauern um mich herum zu sein. Oder hielten sie, wie ich, inne, um zu lauschen?

Ich ging bis zum Ende der langen Passage. Schließlich erreichte ich den nächsten Kanal. Ich überlegte, ob Caterina über die Brücke weiter geradeaus oder nach links am Kanal entlang gegangen war. Mit einem Schulterzucken entschied ich mich für geradeaus und gelangte so nach einer Weile auf die Strada Nova, Venedigs Einkaufsmeile. Dort herrschte auch jetzt im Winter und während der Abenddämmerung reger Betrieb.

In einer Weinbar machte ich Halt und bestellte am Tresen einen Prosecco und ein paar von den kleinen Snacks, die man, wie Sie sicher wissen, in Venedig Cicchetti nennt.

Ich setzte mich in eine Ecke. Dort stand ein Klavier, das ich hier völlig fehl am Platz fand. Ich genoss die Wärme in der kleinen Cantina. Erst jetzt merkte ich, wie durchgefroren und hungrig ich war. Seit dem Frühstück im Hotel in Bologna hatte ich nichts mehr gegessen. Ich verschlang die Häppchen und spülte sie mit dem Wein hinunter. Dann lehnte ich mich entspannt zurück. Mir gefiel der Trubel hier und die lauten Stimmen. Ich hatte das stille Venedig hinter mir gelassen und war im lauten und vergnügten Venedig angekommen.

Was ich aber noch längst nicht hinter mir gelassen hatte, waren die Gedanken an Caterina. Sie summten wie ein Schwarm Hornissen in meinem Kopf herum, und ich konnte sie einfach nicht dazu bringen, sich in Reih und Glied zu bewegen. Sätze, die Caterina gesagt hatte, drängten sich in den Vordergrund. Sie verschwanden und machten anderen Sätzen Platz. Nebulöse Ahnungen stiegen auf, die mein Herz schneller schlagen ließen. Aber auch die wurden schnell wieder zu einem Teil des wild dahin jagenden Schwarms. Und dann sah ich das Bild von Guido Reni wieder vor mir. Die Darstellung des Evangelisten Matthäus und eines Engels. Wegen dieses Gemäldes hatte ich mich an jenem Tag mit Caterina in Santissima Trinità getroffen.

‚Es erinnert ein wenig an seinen Hieronymus mit Engel, den ich gestern in Bologna gesehen habe‘, hatte ich zu ihr gesagt, nachdem wir das Bild eine Weile schweigend betrachtet hatten. ‚Da ist der Heilige, der in sein Buch schreibt, da ist der Engel, der ihm etwas erzählt, ja, wer weiß, vielleicht sogar etwas diktiert. Sehen Sie. Sogar die Haltung der Finger des Engels ist identisch, Daumen und Zeigefinger der Rechten umfassen den ausgestreckten Zeigefinger der Linken. Wie bei dem Hieronymus.‘

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. ‚Das ist nichts Besonderes. Auch Caravaggios Engel umfasst seinen linken Zeigefinger auf diese Weise, als er zu Matthäus spricht. Und der von Domenichino auch. Aber sehen Sie denn nicht den Unterschied zum Hieronymus mit Engel?‘

‚Doch, doch‘, beeilte ich mich zu sagen. ‚Es ist ein ganz anderer Stil. Die Darstellung von Licht und Schatten ist hier eindeutig von Caravaggio beeinflusst. Der Hieronymus hingegen erinnerte mich mit seinen leuchtenden Farben eher an die Malerei der Renaissance.‘

‚Aber so schauen Sie doch auf den Engel!‘, erklärte Caterina ungeduldig, und wären wir nicht in einer Kirche gewesen, hätte sie jetzt möglicherweise mit dem Fuß aufgestampft. ‚Hieronymus muss zu dem Engel, der majestätisch über ihm schwebt, aufsehen. Matthäus hingegen beugt sich zu ihm herab, denn der Engel schwebt nicht, er steht vor ihm und ist viel kleiner als Matthäus. Hieronymus’ Engel ist der mächtige Bote des noch viel mächtigeren Gottes. Zu ihm kann Hieronymus nur ehrfürchtig aufblicken. Matthäus’ Engel hingegen steht für jenen Gott, der sich klein und schwach zeigt und so den Menschen lieben und sich seiner erbarmen kann.‘

Dass Caterina solch eine religiöse Seite besaß, war genauso neu und überraschend für mich wie ihre Vergangenheit als Malerin. All das ging mir nun durch den Kopf, und das nicht nur, während ich in der Cantina meinen Wein trank. Den ganzen Rest des Tages und auch in der Nacht fand ich keinen Frieden. Ich schlief unruhig, von Träumen geplagt, und wurde immer wieder wach. Schließlich stand ich lange vor Tagesanbruch auf.

Es war halb sechs. Um diese Zeit konnte ich in der Locanda noch kein Frühstück bekommen. Also machte ich einen Spaziergang.

Venedig war in nächtliches Dunkel gehüllt, nur vom Licht der Straßenlaternen erhellt. Es war trocken und windstill, jedoch bitterkalt. Ich fror, aber ich mochte nicht umkehren und mir etwas Wärmeres anziehen. Irgendwann kam ich zu einer kleinen Bar, die bereits geöffnet hatte. Ich nutzte die Gelegenheit, mich mit einem Cappuccino ein wenig aufzuwärmen.

Die anderen Gäste waren offensichtlich Venezianer. Für sie hatte der Arbeitstag entweder schon längst begonnen, und sie machten hier eine kleine Pause, oder sie waren auf dem Weg zur Arbeit. Es waren ausschließlich Männer, und sie unterhielten sich mit lauten Stimmen in einer Sprache, die ich für Venesiàn hielt, den Dialekt der Venezianer, und wovon ich praktisch kein Wort verstand. Dröhnendes Lachen begleitete die Unterhaltung. Sie schienen sich alle untereinander zu kennen. Möglicherweise kamen sie jeden Morgen um diese Zeit auf einen Caffè hier herein. Jeder von ihnen füllte in dieser Gruppe scheinbar eine bestimmte Rolle aus, und ich glaubte schon nach wenigen Minuten, das Spiel zu durchschauen. Es gab keinen Zweifel, dass jeder die ihm zugefallene Rolle gerne spielte, niemand war Außenseiter, selbst jener, gegen den sich der Spott der anderen in der Hauptsache richtete, akzeptierte das ohne erkennbaren Groll.

Als mehrere von ihnen die Bar verlassen hatte, wurde es ruhiger. Die Verbliebenen unterhielten sich in gedämpftem Ton miteinander, sodass mein Interesse an ihnen erlahmte. Was sollte ich nun anfangen? Ins Hotel zurückgehen? Gestern Abend hatte der Locandiere für mich in der Zeitung die Uhrzeit der Trauerfeier für Bonfiglio nachgeschlagen. Warum hatte ich ihn eigentlich danach gefragt? Wollte ich hingehen in der Hoffnung, Caterina dort zu sehen?

Als ich die Bar verließ, war der Tag angebrochen, ohne dass es richtig hell geworden wäre. Der Himmel war unsichtbar. Über der Stadt lag ein tristes, milchiges Grau. Die Spitzen der Kirchtürme waren nur noch verschwommen zu sehen. Ich wusste, in welche Richtung ich mich wenden musste, um zur Kirche San Geremia zu gelangen.

Ich kam dort lange vor Beginn der Trauerfeier an und stand eine Weile unschlüssig auf dem Platz vor der Kirche. Ich ging schließlich in Richtung des Canal de Cannaregio weiter. Als ich den Kanal überquerte, sah ich an einer Anlegestelle, dort, wo sich auf der Wasserseite ein zweites Portal der Kirche befindet, ein Boot, das einem Wassertaxi ähnelte. Aber wo sich sonst die Kabine für die Fahrgäste befand, war eine offene Fläche mit einem Podest, auf dem ein mit Blumen geschmückter Sarg ruhte. Etliche Zuschauer beobachteten, wie der Sarg von vier kräftigen und feierlich gekleideten Männern vom Boot geholt wurde. Ein schmaler Weg am Kanal entlang führte dorthin, also gesellte ich mich zu den Schaulustigen.

Der Sarg ruhte auf einem etwa einen Meter hohen Metallgestell mit kleinen Gummirädern und die Männer rollten ihn Richtung Kirche. Hier und da trat jemand kurz vor, als der Sarg in seine Nähe kam, und berührte ihn flüchtig mit der Hand, um von dem Toten Abschied zu nehmen. Oben auf den Stufen vor dem Portal stand ein Geistlicher und besprengte den Sarg mit Weihwasser, dann ging er voraus in die Kirche, und die vier Männer hoben den Sarg an und trugen ihn die Stufen empor hinter dem Priester her. Von den Umstehenden schlossen sich etliche der kleinen Prozession an, andere wandten sich ab und verließen den kleinen Platz, und ich war einer von ihnen.

Ich wollte zum Haupteingang der Kirche zurück und dort die ankommenden Trauergäste beobachten. Sicher waren auch schon einzelne durch diesen Eingang hineingegangen, aber da es noch fast eine Viertelstunde bis zum Beginn der Feier war, würden die meisten sicher erst noch kommen.

Ich war kaum wieder auf dem Campo San Geremia, da näherte sich von gegenüber Caterina. An ihrer Seite ging ein Mann, der deutlich älter war als sie. Sie überquerten den Platz, ohne ein Wort oder einen Blick zu wechseln, so, als würden sie nur zufällig nebeneinander hergehen, und betraten dann die Kirche.

Einen Moment lang registrierte ich einfach nur, was sich vor meinen Augen abspielte, dann wurde mir klar, dass ich gerade den Mann gesehen hatte, mit dem Caterina verheiratet war. Ich weiß nicht, woher diese plötzliche Eingebung rührte, allein, es gab für mich keinen Zweifel, und später sollte sich herausstellen, dass ich mich nicht geirrt hatte.

Menschen lösten sich einzeln, paarweise, in kleinen Grüppchen aus dem Strom der Passanten, der den Platz diagonal überquerte, und strebten dem Eingang der Kirche entgegen. Nach einigem Zögern folgte ich ihnen.

Das Innere des klassizistischen Baus war hell und gleichzeitig nüchtern, und an einem trüben Tag wie diesem wirkte es so grau und trist wie die Welt draußen. Aber das nahm ich nur am Rande wahr.

Ich setzte mich weiter hinten in der Nähe des Eingangs hin. Von dort aus konnte ich viele der Anwesenden beobachten, denn der Grundriss der Kirche war ein griechisches Kreuz, und die Bänke und Stühle waren entsprechend in einem Halbkreis um den Mittelpunkt dieses Kreuzes angeordnet. Diese Mitte bildete heute der geschmückte Sarg des Arcangelo Bonfiglio.

Ich hatte Caterina schnell entdeckt. Sie saß in dem Block zur Linken des Altars. Sie hielt den Kopf gesenkt, als würde sie beten.

Ich fasste den Mann neben ihr ins Auge. Trotz seines Alters, das ich damals auf Mitte sechzig schätzte, und seiner vollständig ergrauten Haare war er eine stattliche Erscheinung. Er hatte ein kantiges, glattrasiertes Gesicht mit einer auffälligen Nase. Dieses Gesicht war zu einer reglosen Trauermiene erstarrt und sein Blick auf den Sarg gerichtet. Dann bemerkte ich zu seiner Linken einen Mann, der auf ihn einredete, unauffällig und sicher leise, wie es sich in einer solchen Situation gehörte, aber nahezu ohne eine Pause zu machen. Dieser Mann war noch einmal um etliches älter als Caterinas Begleiter. Selbst auf so große Entfernung erkannte ich, dass er ein Greis war.

Jetzt legte der Alte seine Hand auf den Unterarm seines Nachbarn, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, aber der sah ihn nur kurz an und kehrte dann, ohne ein Wort erwidert zu haben, zu seiner Betrachtung des Sargs zurück. Der Alte hörte nicht auf zu reden. Seinen Gesten glaubte ich entnehmen zu können, dass er über den Toten sprach, aber vielleicht habe ich mich auch geirrt.

Ich weiß bis heute nicht, wer dieser Mann war. Ich habe Caterina später einmal nach ihm gefragt, aber sie hat mir nur eine ausweichende Antwort gegeben. Ich bin jedoch überzeugt, dass sie und ihr Mann ihn kannten.

Vom Ablauf der Trauerfeier habe ich nicht viel mitbekommen. Selbst wenn ich besser Italienisch gekonnt hätte, wäre es mir nicht gelungen, meine Gedanken beisammen zu halten.

Ich beobachtete Caterina und unvermittelt fiel mir wieder jener Augenblick ein, als ich die Stufen hinabstürzte und ihr gleichsam in die Arme fiel. Die Erinnerung daran trieb mir auch an jenem Tag noch das Blut in die Wangen. Ich hatte mir eingebildet, wie ein alter Seebär den Wellen trotzen zu können, und war gar nicht auf die Idee gekommen, mich am Handlauf festzuhalten. Das Boot schwankte heftig im unberechenbaren Wellengang. Im Fallen versuchte ich, Halt zu finden, aber ich griff ins Leere und stürzte nach vorne.

Es war einer jener kleinen, aber schnellen Wasserbusse, die die Venezianer auch als Motoscafi bezeichnen und die nur auf den Linien um die Insel herum eingesetzt werden. Vom Einstieg des Motoscafo führen drei Stufen hinunter zur Kabine. Weil schon eine Menge Fahrgäste an Bord waren, war ich auf der obersten Stufe stehen geblieben. Ja, und dann habe ich mein Gleichgewicht verloren, und am Fuß der Stufen stand Caterina. Klein und zierlich, wie sie war, gelang es ihr trotzdem, meinen Sturz aufzufangen. Sie können mir glauben, ich wäre angesichts meiner Ungeschicklichkeit am liebsten im Boden versunken, aber sie lachte nur. Ich durchsuchte mein bescheidenes Italienisch nach Worten, mit denen ich mich bei ihr entschuldigen konnte.

‚Sie sprechen sehr gut Italienisch‘, erwiderte sie lächelnd in fast akzentfreiem Englisch, nachdem sie dem gestammelten Bekenntnis meiner Reue mit der Langmut einer Lehrerin zugehört hatte. ‚Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung. Aber ich dachte anfangs, Ihr Sturz wäre nur ein Vorwand gewesen, um mich kennenzulernen.‘

Ihnen brauche ich nicht zu erzählen, dass ich so etwas nie und nimmer tun würde, ja nicht einmal in der Lage bin, mir Derartiges in meiner Fantasie vorzustellen. Dennoch habe ich mich von ihr ertappt gefühlt und bin rot geworden.

‚Aber ich bitte Sie, nichts lag mir ferner.‘

‚Schade‘, meinte sie lachend.

Wir standen am Fuß der Stufen, und zwar so dicht beieinander, dass ich nicht wagte, ihr ins Gesicht zu sehen.

‚Wissen Sie, manchmal vergesse ich mein Alter.‘

Verwundert über ihre Worte überwand ich meine Scheu und schaute ihr ins Gesicht. Aber ich sah, um genau zu sein, eigentlich nur ihre grünen Augen und um die herum Schemen. Ich hätte gerne etwas Raum zwischen ihre und meine Augen gebracht, aber die Wand hinter mir ließ das nicht zu. Sie war es, die zu meiner Überraschung den Blick zuerst abwandte, und das verunsicherte mich noch mehr. Eine Weile standen wir schweigend im Gang, dann erreichte das Boot die nächste Haltestelle, und etliche Fahrgäste stiegen aus. Eine Bank wurde frei.

‚Wollen wir uns nicht setzten?‘, fragte ich, und sie willigte ein. Ich überlegte, ob ich ein Gespräch über das Wetter oder über Venedig oder dergleichen beginnen sollte, aber ich fand, es wäre besser, nichts zu sagen als etwas so Banales. Also schwieg ich, und sie schwieg auch. Das Boot bog in den Kanal von Giudecca ein und arbeitete in der kabbeligen See. Auch damals war es ein grauer Tag mit einem wolkenverhangenen Himmel. Hier unter Deck spürten wir glücklicherweise nichts von dem bitterkalten Wind. Wir sahen auch nicht, was rings um das Boot vorging, denn die Feuchtigkeit im Raum hatte die Scheiben undurchsichtig gemacht.

Als die Haltestelle nahe des Markusplatzes nicht mehr weit war, räusperte ich mich und fragte: ‚Darf ich Sie zum Ausgleich für mein Missgeschick auf einen Kaffee einladen?‘, und ich wunderte mich, wie heftig mein Herz dabei schlug.

‚Einverstanden. Lassen Sie uns ins Caffè Florian gehen.‘ erwiderte sie schlicht. Es war, als hätte sie nichts anderes als genau diese Frage von mir erwartet.

Bisher hatte ich das berühmte Café auf dem Markusplatz gemieden, weil ich mir sagte, es sei ein Ort, wo ausschließlich Touristen verkehrten. Ich hatte mich geirrt. Vielleicht war es auch nur im Winter anders. Niemand saß an den Tischen vor dem Café, und auch wir gingen hinein. Die Ausstattung im Stil des 19ten Jahrhunderts mit all dem Plüsch, dem Gold und den Spiegeln beeindruckte mich.

Wir passierten einen Kellner in einem strahlend weißen Jackett mit einer schwarzen Fliege, der Caterina lächelnd begrüßte. Offensichtlich war sie hier bekannt. Sie bestellte sich, ohne lange zu überlegen, einen Cappuccino und eine Frittella Venexiana und eine Frittella mit Zabaione. Ich folgte ihrem Beispiel, obwohl ich damals noch nicht wusste, was Frittelle sind. Ich war zum ersten Mal in der Karnevalszeit in Venedig.

Caterina saß auf der mit rotem Plüsch bezogenen Bank unter einer Malerei, die eine Harfe spielende Frau darstellte. Jetzt, wo sie ihren gut gefütterten Mantel abgelegt hatte, wirkte sie auf mich zierlich, ja, geradezu zerbrechlich. Sie schien in meinen Augen zu lesen, was ich dachte, denn sie richtete sich auf, nahm die Schultern zurück, wie um größer und kräftiger zu wirken.

Sie nippte an ihrem Cappuccino und meinte dann mit fast so etwas wie Wehmut in der Stimme: ‚Nun haben Sie doch meine Bekanntschaft gemacht, obwohl Sie es nicht wollten.‘

Was sollte ich antworten? Ich hätte mich auf ihren spöttischen Tonfall einlassen und versuchen können, etwas Geistreiches zu erwidern. Aber ich war ihr bereits hoffnungslos verfallen. Denken Sie jetzt bitte nicht, ich wäre wie ein alter Trottel irgendeiner hübschen, jungen Larve auf den Leim gegangen. Caterina war kein junges Mädchen mehr. Damals schätzte ich sie auf Anfang oder Mitte dreißig, später erfuhr ich, dass sie wie ich um die Vierzig war. Auf den ersten Blick sah sie recht unscheinbar, um nicht zu sagen gewöhnlich aus. Es waren ihre grünen Augen, die mich fesselten. Nicht weil sie grün waren. Nein. Es war eher diese leise Traurigkeit, die aus ihnen sprach und die mich gefangen nahm. Aber das alles waren für mich damals im Caffè Florian nur sehr diffuse Eindrücke. Ich antwortete also recht einfältig:

‚Ich weiß diese Bekanntschaft durchaus zu schätzen, aber leider kenne ich bisher noch nicht einmal Ihren Namen.‘

Es war arg unhöflich, das zu sagen, ohne zuvor den eigenen Namen zu nennen, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mich mit dem Vornamen oder dem Familiennamen vorstellen sollte. Sie löste mein Problem, indem sie schlicht sagte:

‚Caterina.‘

Ich nannte nun auch meinen Vornamen, und mein Herz schlug wieder heftig. Wir waren ja keine alten Bekannten, die sich wie selbstverständlich mit dem Vornamen anredeten. Wir waren Fremde. Wir kannten nicht den Familiennamen des anderen. Dieses Gemenge aus Anonymität und Vertrautheit erzeugte ein prickelndes Gefühl von Heimlichkeit, ja Komplizenschaft. Was von nun an zwischen uns geschah, spielte sich in einer ganz besonderen Sphäre ab.

Selbstverständlich hätte alles auch an diesem Nachmittag enden können. Als wir uns später vor dem Caffè Florian voneinander verabschiedeten und uns in entgegengesetzte Richtungen entfernten, stand es uns beiden frei, ein Wiedersehen zu vermeiden. Ihr stand es frei, und mir stand es frei. Dennoch haben wir uns am nächsten Tag wiedergesehen. So, wie wir es verabredet hatten.

Ich habe lange darüber nachgedacht, warum sie zu unserer Verabredung in der Galerie der Akademie gekommen ist. Wenn ich jetzt sage, dass es wohl an mir lag, denken Sie möglicherweise, ich hielte mich für eine Art Don Juan. Nein, was ich damit sagen will, ist, dass sie vom ersten Augenblick an in mir einen Menschen gesehen hat, dem Oberflächlichkeit fremd ist. Vielleicht kann man mich schwermütig nennen, obwohl ich kein Grübler und kein Pessimist bin. Schwermütig eher in dem Sinn, dass meine Gefühle tief und beständig sind. Ich bin sicher, dass sie das sofort erkannt hat, damals, als wir im Motoscafo zusammenstießen, und aus einem Grund, den ich auch heute immer noch nicht weiß, war es das, was sie damals brauchte. Sie hat es vielleicht nicht bewusst gesucht, aber als es geschah, hat sie sich darauf eingelassen.

Ich habe mich später auch immer wieder gefragt, was passiert wäre, wenn ich von Anfang an von Caterinas Ehe gewusst hätte. Hätte ich mich dann auch in sie verliebt? Kann der Verstand dieses mächtige, dieses geheimnisvolle Gefühl ersticken, bevor es sich entfaltet, im Keim ersticken wie ein Feuer? Wenn ich ihren Ehering gesehen hätte, wer weiß, was dann geschehen wäre. Oder was alles nicht geschehen wäre. Aber sie trug Handschuhe. Wegen der Kälte.

Andererseits hätte ich natürlich damit rechnen müssen, dass eine ansprechende Frau in ihrem Alter längst ihren Platz im Leben gefunden hat, einen Partner, ein Heim, Kinder, eine Aufgabe. Aber selbst wenn, hätte es einen Unterschied gemacht? Nein, ich bin sicher, wenn man dem Menschen begegnet, dem man bestimmt ist und der einem bestimmt ist, dann kann nichts und niemand verhindern, was geschieht. Alles muss dann eintreffen mit der Zwangsläufigkeit einer Naturkatastrophe.

Sie fragen sich wahrscheinlich, wie ich dazu komme, derart dummes Zeug zu reden. Wenn Sie mich für einen romantischen Narren halten, nehme ich Ihnen das nicht übel, und es fällt mir schwer, etwas dagegen vorzubringen. Die Begegnung mit Caterina löste etwas in mir aus, gegen das ich machtlos war. Es war schön, es war berauschend, und es schmerzte. Ja, auch das. Es war, wenn Sie mir diesen albernen Vergleich erlauben, wie ein schmackhaftes, aber scharf gewürztes Essen.

Ich konnte mich an jenem Tag nicht mehr erinnern, warum ich eigentlich zum Markusplatz fahren wollte, und so wanderte ich nach der Begegnung mit Caterina ziellos umher durch schmale, düstere Gassen, bis ich plötzlich auf dem kleinen Platz vor der Kirche San Giovanni in Bragora stand. Ich wusste von einem bedeutenden Bild Cima da Coneglianos dort und betrat die Kirche.

Schon vom Eingang aus leuchteten mir vom anderen Ende des Raumes, von hinter dem Altar, die freundlichen, überwiegend blauen Töne seines Bildes entgegen. Es zeigte die Taufe Christi. Ich stand vor dem Aufgang zum Altar, dort, wo eine rote Kordel zwischen zwei goldenen Ständern den Besucher aufforderte, dem heiligen Raum fernzubleiben, und ließ mich von Cimas Gemälde gefangen nehmen. Während Johannes die kleine Schale mit dem Taufwasser über den Kopf Christi hielt, war dessen Blick auf den Betrachter des Bildes gerichtet. In diesem Blick, mit dem Christus mich ansah, eröffnete sich mir ein neues, ein viel tieferes Verständnis der Taufe. Vielleicht erscheint Ihnen der Gedanken wie eine Blasphemie, aber war ich an jenem Tag nicht auch in etwas Neues hineingetauft worden? Die gütigen Augen Christi hielten mich an jenem Tag förmlich gefangen.

All das ging mir nun durch den Kopf, während die Trauerfeier für Bonfiglio ihren Fortgang nahm.

Ich ließ meinen Blick durch die Kirche und über die anderen Besucher schweifen und entdeckte den alten Maler Cavallino, Caterinas Lehrer, der uns am Tag zuvor begegnet war.

Dann machte ich in der Menge noch ein anderes bekanntes Gesicht aus. Nicht weit von mir saß der Priester, mit dem sich Caterina in Santissima Trinità unterhalten hatte. Mich durchfuhr es siedend heiß. Er beobachtete mich. Kein Zweifel. Vielleicht schon länger. Unsere Blicke trafen sich kurz. Hatte er mich mit Caterina in seiner Kirche gesehen und bemerkt, dass wir zusammen gegangen waren? Mir fiel ein, dass Caterina gesagt hatte, Bonfiglio sei ein gemeinsamer Bekannter von ihr und dem Priester gewesen. Ein Priester und ein Kunsthändler, der in dunkle Geschäfte verwickelt war? Was hatten die miteinander zu schaffen?

Am Ende der Trauerfeier verließen etliche Menschen die Kirche durch das Portal zum Campo San Geremia hin, andere blieben zurück, vielleicht, um dem Sarg durch den Ausgang zum Kanal hin zu folgen. Draußen würde er wieder an Bord des Motorbootes aufgebahrt und dann zur letzten Ruhe auf die Friedhofsinsel San Michele gebracht werden.

Ich war einer der Ersten, die die Kirche verließen, und stand dann am Rand des Platzes mit dem Rücken zum Ausgang und tat so, als würde ich die Fassade des Palazzo Labia studieren. Aber mir entging nicht, wie Caterina und die beiden Männer aus der Kirche kamen und sich in Richtung des Bahnhofs entfernten.

Ich weiß nicht mehr, ob es von Anfang an meine Absicht war oder ob es eine spontane Eingebung war, jedenfalls zögerte ich keinen Moment, ihnen in einigem Abstand zu folgen. Im Gewühl hätte ich sie beinahe aus den Augen verloren, und ich beschleunigte meine Schritte.

Vor der Scalzikirche blieben sie stehen, wechselten noch ein paar Worte und trennten sie sich dann. Der alte Mann entfernte sich über die Brücke, Caterina und ihr Begleiter, den ich von nun an bei seinem Namen nennen will, auch wenn ich den erst später erfuhr, nämlich Cristoforo Palese, gingen zur Anlegestelle der Wassertaxis. Sie stiegen in eines der Boote und verschwanden nach einer kurzen Anweisung an den Bootsführer in der Kabine. Das Taxi legte ab und kaum hatte es Fahrt aufgenommen und die Mitte des Canal Grande erreicht, ging ich hastig an Bord eines anderen Bootes. Ich hoffe, Sie werden mich jetzt nicht auslachen, aber mir fiel nichts Besseres ein, als zu dem Mann am Steuer zu sagen:

‚Folgen Sie dem Taxi dort!‘

Er verzog keine Miene und demonstrierte die Weltgewandtheit venezianischer Taxichauffeure, indem er schlicht Aye aye, Sir antwortete.

Caterina und ihr Mann ließen sich in Richtung San Marco fahren. Mein Taxi folgte in gebührendem Abstand. Wir kamen an San Geremia vorbei, wo nur noch eine Handvoll Menschen dabei zusah, wie Bonfiglios Sarg an Bord des Motorboots geschafft wurde.