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Joshua ist ein schwer verkopfter Mittvierziger, dessen Leben nur aus Arbeit, Langstreckenlauf und einem kaputten Magen besteht. Nobbi, ein feinstofflicher Human's Assistent, der zwar ein Herz aus Gold, aber auch einen Hang zu ver-rückten Situationen hat, bekommt den Auftrag, Joshua in ein gesundes und glückliches Leben zu führen. Mit Nobbis Einmischung beginnt für Joshua eine turbulente Zeit voller Erinnerungen und neuer Erfahrungen. Diese führen ihn in die Tiefen seiner eigenen Gefühle sowie zu dem Geschenk echter Freundschaft. Gemeinsam lassen die beiden auf humorvolle und unkonventionelle Weise aus Joshuas traumatischen Vergangenheiten Flügel für eine erfüllende Zukunft wachsen.
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Seitenzahl: 173
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Danai Krüger
… und aus der Vergangenheit wurden Flügel
Joshuas Abenteuerreise zu sich selbst
Roman
Impressum
© 2023 Danai Krüger
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
Lektorat & Korrektorat
Bianca Weirauch | lektorat-weirauch.de
Umschlaggestaltung, Layout, Buchsatz
Vera Fechtig, Owlet Grafikdesign e.U. | owlet.at
Bildnachweise
Federn: Krzysztof Bubel, Bild-Nr. 602391695, stock.adobe.com
Porträt: Birgit Döring Fotografie | birgit-doering-fotografie.de
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
ISBN
Softcover
978-3-384-04735-9
eBook
978-3-384-04736-6
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Kapitel 1: Feuer
Kapitel 2: Technik
Kapitel 3: Stimmungen
Kapitel 4: Trauer
Kapitel 5: Warum
Kapitel 6: Vaterlos
Kapitel 7: Freunde
Kapitel 8: Zeit für sich
Kapitel 9: Selbstfürsorge
Kapitel 10: Meisterkurs der anderen Art
Kapitel 11: Luft zum Atmen
Kapitel 12: Flügel aus Vergangenheiten
Über die Autorin & Angebot
Über die Arbeit der Autorin
Angebot
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Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Verbinde Dich gerne mit mir
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Prolog
»Chehef, echt jetz?« Nobbi war fix und fertig. Er schaute sich seinen Auftrag an und konnte nicht glauben, dass sein Chef ausgerechnet ihm diesen Fall übertragen hatte. Okay, bei seinem letzten Einsatz als feinstofflicher Human’s Assistent hatte es ein paar Pannen gegeben, aber nichts, was er nicht wieder hingebogen bekommen hätte. Er würde sich in Zukunft auf unterstützende Handlungen beschränken statt seinen Aufträgen Wörter zuzuflüstern. Diplomatie war eben nicht seine Stärke.
Noch während Nobbi so vor sich hin grübelte, beobachtete er seinen Auftrag. Dieser lief kraftvoll über den Waldweg und schaute nicht nach links, nicht nach rechts. An den hellen Punkten an den Ohren konnte Nobbi erkennen, dass sein Auftrag alle Geräusche des Waldes ausgeschaltet hatte. Mit der Überlegung, was sein Auftrag wohl hörte, kam Nobbi mit seinen Gedanken wieder ins Jetzt. Der Art des Laufens nach vermutete Nobbi, dass es entweder Hardrock oder ein Hörbuch à la Wie werde ich als Manager noch erfolgreicher war. Dabei entging dem Läufer offensichtlich völlig, dass der trockene Boden geradezu dazu einlud, langsamer zu laufen und das Federn unter seinen Füßen zu genießen. Es war die Übergangszeit, in der der Frühling vorsichtig seinen Platz neben dem Winter einnahm. Die Bäume waren noch kahl, die Luft kalt und der Himmel hatte noch das typische Winterblau. Und doch, die Luft hatte schon eine andere Qualität bekommen. Irgendwie weicher, weiter – das konnte man aber nur spüren, wenn man nicht wie besessen in hohem Tempo durch den Wald rannte. Ob sein Auftrag wohl vor etwas davonlief? Es sah fast so aus. Sein Körper war sportlich durchtrainiert, aber irgendwie auch ein bisschen eckig in seinen Bewegungen. Die Schritte groß, die Atmung eher kontrolliert als natürlich und, ohne es begründen zu können, hatte Nobbi den Eindruck, dass sein Auftrag zu schnell für sich selbst lief. Etwas passte nicht. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, wenn sein Auftrag auf andere Läufer oder gar Spaziergänger traf. Fast unmerklich, aber eben nur fast, verhärtete sich sein Körper noch mehr. Gerade so, als würde er die Luft anhalten, um auf gar keine Art und Weise mit den anderen Menschen in Verbindung zu kommen. Im großen Abstand lief er an den anderen vorbei. Nobbi meinte alleine an der Körperhaltung zu erkennen, dass sein Auftrag sich mal über die Langsamen, Genießenden lustig machte und manchmal herablassend über die bunte, langsam laufende Sportkleidung die Nase rümpfte. Nein, zu dieser Spezies wollte sein Auftrag ganz sicher nicht gehören.
Doch wie kam das bloß? Wieso störte sich jemand, der offensichtlich durchtrainierter war als viele andere, an weniger Trainierten? Wirkliche Hindernisse waren sie hier im Wald nicht. Wieso hatte jemand, der so trittfest lief, keinen Blick für die Schönheit der Muster übrig, die die Schatten der kargen Bäume auf seinem Weg zeichneten? Und wieso, zum Kuckuck, war nicht einmal Platz in seinen Ohren für den ersten, zaghaften Gesang der Vögel, das Rauschen des Windes?
Wie um alles in der Welt sollte Nobbi so jemanden auf den Weg zu sich selbst führen?
Kapitel 1: Feuer
Einige Tage später. Joshua Ehrlich verstand dieses Bedürfnis nach Gelobtwerden nicht. Sein Projektmitarbeiter Andreas, zuständig für die Projektfinanzverfolgung, schaute ihn erwartungsvoll an, nachdem er den aktuellen Finanzstatus vorgestellt hatte. Zugegeben, seine Excel-Tabelle war sehr leicht nachvollziehbar und gleichzeitig sinnvoll detailliert aufgebaut. Andreas selbst war top vorbereitet. Egal welche Fragen das Team stellte, er hatte eine kompetente Antwort oder gab einen Termin an, zu dem er die Informationen nachreichen würde. Aber es war doch schließlich selbstverständlich, dass man seine Arbeit gewissenhaft machte. Oder nicht? Auch Überstunden gehörten dazu, wieso wurde damit immer wieder regelrecht geprahlt, wie viele Stunden man diesen Monat gearbeitet hatte? Okay, Andreas gehörte nicht zu diesen Prahlern, seine Augen warteten aber regelrecht auf ein Lob. Joshua seufzte und erinnerte sich an das letzte Führungskräfte-Training. Die Trainerin hatte die Wichtigkeit, Mitarbeitern Wertschätzung zu zeigen, immer wieder erwähnt. Also seufzte er innerlich und sagte: »Gute Arbeit, Andreas. Danke.« Dann ging er zum technischen Statusbericht von Gregor über. Aus dem Augenwinkel sah er das enttäuschte Gesicht von Andreas. Was sollte das denn jetzt? Er hatte ihn doch gelobt. Leistung ist selbstverständlich, ein »gut gemacht« sollte da doch reichen. Mit dieser Feststellung widmete er sich endgültig der Frage, wie weit Gregor mit seinem Problem war. Die Klassifikationsgesellschaft hatte zum 15. Februar neue Vorschriften offiziell verabschiedet und nicht alle Änderungen waren vor der Veröffentlichung bekannt gewesen.
Diese Erinnerung an das morgendliche Projektteammeeting begleitete Joshua auf seiner Montagslaufrunde. Er war gerade in den Weg am Fluss entlang eingebogen. Na toll, bei dem schönen Wetter waren wieder Hinz und Kunz unterwegs. Alle paar Meter musste er um Menschen Bögen machen, die redeten und lachten. Selbst entgegenkommende Jogger bremsten ihn manches Mal aus, wenn er nicht gleich überholen konnte. Äußerst unbefriedigend. Aber die Nachlese mit Gregor im Anschluss an das Meeting mit der Fertigung hatte so lange gedauert, dass er die Strecke in der Stadt nehmen musste, wollte er nicht mit Lampe auf dem Kopf durch die Felder laufen.
Mittlerweile war Joshua in der Innenstadt angekommen. Wenn er die Seitenstraßen nahm, konnte er wenigstens ein einigermaßen gleichmäßiges Tempo laufen. In seinen Gedanken wendete er sich wieder dem Gespräch mit Gregor zu. Schon zum dritten Mal ging er Satz für Satz durch, kam aber nicht weiter. Obwohl das Laufen beim Stressabbau helfen sollte, schien er sich innerlich immer mehr zu verspannen.
Während Joshuas Gedanken kreisten und kreisten, schüttelte Nobbi seinen ovalen Kopf, sodass seine roten Haare wild hin und her flogen. Normalerweise legte Nobbi viel Wert auf das Aussehen seiner Frisur, aber jetzt kam er aus dem Wundern und Kopfschütteln über Joshua nicht heraus. Er lief genauso abgeschnitten von allem in der Stadt, wie er damals bei ihrem ersten Treffen im Wald gelaufen war. Dabei gab es doch so viel Spannendes zu sehen. Nobbi hätte am liebsten vor jedem zweiten Schaufenster angehalten und sich die Auslagen angeschaut. Da gab es den Laden mit den selbst gemachten Schokoladenprodukten: Chocolate 4U. Ein Teil leckerer als das andere. Nobbi hätte sich von links nach rechts durchfuttern können. Nur die Teile aus Bitterschokolade hätte er liegen lassen. Vollmilch war die einzig wahre Schokolade und zur Not ging auch weiße. Aber er musste ja zusehen, dass er hinter Joshua herkam. Der hatte aber auch ein Tempo drauf. Jetzt rasten sie an einer Apotheke vorbei, um gleich darauf in die Ägidius-Straße einzubiegen, die direkt zu Joshuas Wohnung führte. Nobbi konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte vor lauter Schokoladen-Träumen vergessen, Joshua vor der Apotheke in die Wallstraße abbiegen zu lassen. Und jetzt war die Ägidiusstraße durch eine Kundgebung regelrecht verstopft. Joshua drehte ganz von alleine wieder um, lief zurück Richtung Apotheke und bog in die Wallstraße ein.
Dieses Mal ließ sich Nobbi nicht ablenken. Zielsicher flog er Joshua zwischen die Beine, direkt vor dem Pianohaus Morgenstern. Nobbi flog mit so viel Elan hin und zurück, nach links und nach rechts, dass Joshua ins Stolpern kam und fast hinfiel. In letzter Sekunde bemerkte Nobbi seinen Übereifer, sauste zu seinem Nacken und packte mit seinem Maul den Kragen von Joshuas Laufjacke. Mit kräftigen Schlägen seiner kleinen, grünen Stummelflügel zog er am Kragen, sodass Joshua auf den Füßen blieb, wenn auch gerade noch so eben. Geschafft! Joshua war genau vor dem Schaufenster von Morgenstern stehen geblieben, in dem DAS Klavier stand. Nobbi war mit seiner Aktion und sich selbst sehr zufrieden und gluckste in sich hinein. Allerdings würde sein Chef das sicher anders sehen und ihm einen Vortrag zum Thema Achtsamkeit halten. Nobbi musste zugeben, dass sein Chef damit recht hätte. Darüber würde er sich aber später Gedanken machen. Jetzt musste er sich erst mal auf seinen nächsten Einsatz vorbereiten.
Joshua war verblüfft. Wann war er das letzte Mal beim Laufen so gestolpert? Und dann noch ohne erkennbare Ursache? Immer noch leicht nach vorne gebeugt, schüttelte er über sich selbst den Kopf. Mitten im Aufrichten hielt er jedoch inne. Sein Blick war auf etwas ihm sehr Vertrautes gefallen. Zwei Klavierpedale schauten unter dem Resonanzboden eines Klaviers hervor. Das Holz hatte einen warmen, recht hellen Braunton. Der Resonanzboden war schlicht, aber offensichtlich liebevoll bearbeitet. Die Seitenteile des Gehäuses waren stabil und begannen sich kurz unterhalb der Tastatur mehrfach zu gabeln. Auch hier war die liebevolle Herstellung von Hand deutlich sichtbar. Die Tastatur schimmerte eher matt weiß bis beige, nicht so künstlich strahlend weiß wie bei modernen Klavieren. Sie war wohl noch aus Elfenbein. Nach heutigen Maßstäben ein absolutes No-Go, Anfang 1900 war es jedoch gang und gäbe. Joshua kam aus dem Staunen nicht heraus. Der Tastaturdeckel hatte einen schönen S-Schlag und der daraus hervorschauende Notenhalter war ein Kunstwerk für sich. Zugleich erkannte Joshua, wie geschickt es dem Klavierbauer gelungen war, künstlerische Gestaltung mit der praktischen Funktion des Notenhaltens zu verbinden. Der gleiche Künstler musste die Oberplatte des Gehäuses gearbeitet haben. Wunderschöne Schnitzereien waren in die beiden oberen Ecken eingearbeitet. Voll aufgeblühte, zarte Blumen lagen hier neben- und manchmal übereinander. Die Blumenmitte war in winzige Punkte aufgeteilt, jedes Blütenblatt schien einzigartig. Dort, wo die Topplatte auf die Seitenteile des Gehäuses traf, rankten sich die Blüten bis zur Tastatur hinunter. Zwischen der rechten und linken Blütenpracht waren zwei aus Messing gefertigte Kerzenständer angebracht. Auch jeder von ihnen ein Kunstwerk aus ineinander verschlungenen Messingbändern. Als hätte der Messingschmied versucht, ein Paisleymuster aus Messing nachzuempfinden. Auch hier war die Liebe zum Detail nur zu deutlich sichtbar. Jemand hatte rote Kerzen in die Halter gesteckt, was die Ausstrahlung des Klaviers noch wärmer machte. Die Topplatte war wieder einfach gehalten, doch in ihrer Schlichtheit der krönende Abschluss dieses Kunstwerks. Joshua konnte sich nicht sattsehen. Es war ihm egal, dass er vom Laufen verschwitzt war. Es war ihm egal, dass dieses Mal er es war, der anderen im Weg stand. Nur dieses Klavier aus der Gründerzeit war wichtig. Es hatte nichts gemein mit dem modernen, schwarzen Klavier, das bei seinen Eltern im Wohnzimmer gestanden hatte und auf dem er Spielen gelernt hatte. Er sog jedes Detail der Maserung dieses Klaviers auf, die in sich schon ein von der Natur gezeichnetes Kunstwerk war. Das Holz war so lebendig in seinen Schattierungen, als würde es von selbst anfangen zu klingen. Er wusste, dass sich hinter dem Tastaturdeckel der Name des Erbauers finden würde. Wer wohl dieser Meister gewesen war? Leben würde er sicher nicht mehr, und doch lebte er gleichzeitig durch dieses einmalig gestaltete Stück Musik weiter. Was für ein Nachlass an die Welt.
Nobbi beobachtete fasziniert die Veränderung, die beim Anblick des Klaviers in Joshua passierte. Ob Mr. Ober-»Ich ignoriere alles und jeden«-Sportler merkte, dass sich seine Finger von ganz alleine zu bewegen begannen? Dass sie wie von selbst anfingen, Bachs Präludium C-Dur zu spielen?
Wow, sein Chef hatte mal wieder recht gehabt. Musik war der Schlüssel für Joshua zu sich selbst. Um die Tür noch ein bisschen weiter zu öffnen, begann Nobbi, ganz liebevoll Feuer in das Herzzentrum von Joshua zu atmen. Die Flammen erweckten alte Erinnerungen zum Leben. Diese würden es Joshua möglich machen, wieder ins Fühlen zu kommen.
Während Joshua gebannt auf das Klavier starrte, wurde ihm in der Mitte seiner Brust, auf Höhe seines Herzens, ganz warm. Noch auffälliger für ihn war jedoch, dass das Bild des Klaviers wie von Flammen umzüngelt wurde. Etwas in ihm wusste, dass die Wärme in seiner Brust und die Flammen vor seinen Augen zwar irgendwie zusammenhingen, aber so ganz verstand er es nicht. Er blickte weiter auf das von Flammen umgebene Klavier und begab sich auf seine erste emotionale Zeitreise.
Joshua befand sich in einer Wohnung, die im Stil der Kriegsjahre eingerichtet war. Eine Frau stand am Herd und bemühte sich, mit dem wenigen, das ihr zur Verfügung stand, eine sättigende Mahlzeit zustande zu bringen. Runzelige Kartoffeln, ein kleines Stück Speck, den Rest kannte er nicht. Die Frau am Herd war seine Großtante. Woher wusste er das? Aus dem Nebenzimmer, vermutlich das Wohnzimmer, hörte er, wie Tonleitern geübt wurden. Einige Tonleitern klangen schon sehr fließend. Sicherlich die ohne viele Vorzeichen. Andere ließen die Finger immer wieder hängen bleiben. Der Spieler oder die Spielerin gab aber auch bei vielen Vorzeichen nicht auf. Hartnäckig fanden die Finger immer wieder den Weg über die schwarzen Tasten und die Tonleitern wurden jedes Mal ein bisschen fließender. Joshua bewunderte den schnellen Fortschritt und sah beim Zuhören aus dem Fenster. So musste eine typische Arbeitergegend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgesehen haben. Dicht an dicht stehende Wohnungsblöcke aus rotem Backstein, der aber irgendwie schmutzig aussah. Er war wohl in einer Großstadt im Norden Deutschlands. Die Fenster standen wegen der großen Hitze alle offen, ein leichter Geruch nach Verbranntem wehte in die Wohnung. Der Geruch mischte sich mit dem Duft des Eintopfs. Die Frau am Herd verließ ihren Kochtopf kurz und ging in das Zimmer, aus dem die Klaviermusik kam. Neugierig folgte ihr Joshua. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er zwar beobachtete, aber selbst nicht gesehen wurde. Kurzzeitig fragte er sich, wie das angehen könnte, doch stellte er schnell fest, dass ihm dieses Wissen egal war. Er schaute durch die offenstehende Zimmertür und hörte die Frau sagen: »Lisa, sei so lieb. Spiel doch jetzt ein paar schöne Melodien. Du weißt doch, ich höre Ännchen von Tharau so gerne.«
»Ja, Mutter. Aber morgen muss ich die Tonleitern weiterüben, sonst ist Herr Dr. Lehning mit mir unzufrieden«, kam die Antwort von dem ungefähr zehnjährigen Mädchen am Klavier. Einem Klavier, das dem im Schaufenster ähnelte, aber eindeutig nicht das gleiche war. Das Holz war dunkler, die Schnitzereien einfacher gehalten. Aber auch hier handelte es sich um ein sehr schönes Exemplar. Wo es heute wohl war?, fragte sich Joshua. Die Antwort sollte er früher bekommen, als ihm lieb war. Doch zunächst blieb sein Blick an einem Familienbild hängen. Schwarz-weiß, die Kleidung typisch für diese Zeit. Es zeigte zwei erwachsene Frauen, ernst, aber doch mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Die Eltern blickten mit großer Strenge drein. Wie es damals üblich war, trugen alle vier ihre wohl beste Kleidung für den Fotografen. Der Vater im Anzug, die Mutter im Kostüm mit Brosche. Die beiden jungen Frauen trugen schlichte, hochgeschlossene Kleider und hatten sich das Haar in weich fallenden Wellen frisiert. Nicht übermäßig, denn Frauen sollten zu der Zeit nicht mehr nur schön sein, sondern patent ihre Familie managen. Das hatte ihm mal seine Großmutter erzählt. Zu Joshuas Überraschung erkannte er gerade sie als junge Frau auf dem Foto. Sie stand links auf dem Bild, direkt vor ihrem Vater. Dem war sie wie aus dem Gesicht geschnitten. Bei genauerem Hinsehen erkannte Joshua sogar seine eigene Augenpartie bei seinem Urgroßvater und seiner Großmutter wieder. Die junge Frau rechts von seiner Großmutter war ihre deutlich ältere Schwester. Die Frau, die sich gerade Ännchen von Tharau gewünscht hatte. Das gabs doch nicht, was geschah hier eigentlich?
Der weiche Dreier-Rhythmus des Liedes holte ihn zurück. Das Mädchen hatte wirklich schon einen sehr gleichmäßigen Anschlag, der die musikalischen Figuren leicht ineinanderfließen ließ. Er sah, wie die Mutter ihrer Tochter liebevoll über die Haare strich, dabei aber einen besorgten Gesichtsausdruck hatte. Sie ging zurück in die Küche. Während sie begann, die letzten schrumpelig aussehenden Kartoffeln zu schälen und in den Eintopf zu werfen, sah sich Joshua in der Wohnung um. Wenn er aus dem Fenster schaute, blickte er direkt zu den Nachbarn, dahinter Dächer, so weit das Auge reichte. Auf dem Küchenkalender zum täglichen Abreißen links neben dem offenen Fenster sah er die 27, darunter stand in klein: Dienstag. In der rechten oberen Ecke stand der Monat: Juli. Links oben das Jahr: 1943. Das Datum setzte sich wie ein Puzzle zusammen: Es war der 27. Juli 1943. Der Brandgeruch, der besorgte Blick der Mutter, als die Tochter von morgen sprach – hatte sie eine Ahnung, was auf sie zukommen würde?
In dem Moment war es für Joshua, als würde jemand seinen Film ausblenden. Es blieb einen Moment schwarz, dann blendete sich der nächste Film ein. Nämlich der Film, der erklärte, warum Flammen um das Klavier im Schaufenster züngelten.
Sirenengeheul fraß sich in Joshuas Ohren. Er konnte die Panik von Mutter und Tochter spüren, als wäre es seine eigene. Die Mutter griff nach dem Koffer, in dem sie schon seit einer ganzen Zeit die wichtigsten Papiere und die ihr wertvollsten Fotos aufbewahrte. Die Tochter griff ihre Puppe und die Mozart-Noten, aus denen sie ihrem Klavierlehrer Herrn Dr. Lehning morgen vorspielen wollte. Zusammen liefen die zwei in den Keller, wo sich bereits einige Nachbarn eingefunden hatten. Joshua konnte die schon jetzt abgestandene Luft förmlich riechen. Die Gesichter spiegelten Angst und Hoffnung auf einen Fehlalarm wider. Gerade hatte der Luftschutzwart die Kellertür hinter der letzten Nachbarin geschlossen.
Dann fielen die ersten Bomben. Wieder blendete sich der Film aus und es wurde schwarz.