Und dahinter das Meer - Laura Spence-Ash - E-Book

Und dahinter das Meer E-Book

Laura Spence-Ash

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Beschreibung

London 1940: Um ihre elfjährige Tochter vor Luftangriffen zu schützen, beschließen die Thompsons schweren Herzens, Beatrix für ungewisse Zeit zu einer Gastfamilie in die USA zu schicken. Nach der langen Schiffspassage trifft Bea wütend und verängstigt in Boston ein, aber schon bald fühlt sie sich bei den Gregorys zu Hause, während ihre Erinnerungen an das Leben in England langsam verblassen. Mit ihren Gasteltern und deren Söhnen William und Gerald teilt Bea nicht nur ihren neuen Alltag, sondern verbringt auch unvergessliche Sommer im Ferienhaus der Familie in Maine. Doch ausgerechnet als Bea sich zu fragen beginnt, ob William mehr für sie sein könnte als ein Bruder, kommt der Tag, an dem sie nach London zurückkehren muss ...

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Seitenzahl: 495

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mare

Laura Spence-Ash

Und dahinter das Meer

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch

von Claudia Feldmann

mare

Die Originalausgabe erschien 2023

unter dem Titel Beyond That, the Sea bei Celadon Books,

einem Imprint von Macmillan Publishers, New York.

Copyright © 2023 by Laura Spence-Ash

Seite 7:

Der Satz aus William Trevor, Turgenjews Schatten,

ist nach der 2011 bei Hoffmann und Campe erschienenen

Übersetzung von Thomas Gunkel zitiert.

Der Satz aus Virginia Woolf, Die Wellen, wurde von

Claudia Feldmann für die vorliegende Ausgabe übersetzt.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich

geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke

des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2024 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag nach Catherine Casalino / Celadon Books

Covermotiv © Rekha Garton / Trevillion Images

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-840-3

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-702-4

www.mare.de

Für M und D

»Die Gegenwart ist kaum vorhanden; die Zukunft existiert nicht. In den kurzen Augenblicken eines Menschenlebens zählt nur die Liebe.«

William Trevor, Turgenjews Schatten

»Am Anfang war da das Kinderzimmer mit Fenstern, die auf einen Garten hinausgingen, und dahinter das Meer.«

Virginia Woolf, Die Wellen

Inhalt

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Epilog

Epilog

Über das Buch

Prolog:Oktober 1963

Beatrix

Damals saß Beatrix am liebsten neben Mr G, wenn er sie alle zum Festland ruderte. Sie verfolgte, wie die Stadt allmählich in Sicht kam, die Gebäude langsam größer wurden, der weiße Kirchturm leuchtend vor dem tiefblauen Himmel. Das war in Maine, wo die Familie stets den Sommer verbrachte, und es war während des Krieges, obwohl sie das fast vergaßen, wenn sie dort waren. Mrs G trug meist ein ärmelloses Kleid in Rosa oder Gelb, dazu die kurze Perlenkette, und sie kreischte auf, wenn William und Gerald sich gegenseitig mit Wasser bespritzten und sie dabei auch etwas abbekam. Mr G verdrehte die Augen und schimpfte halbherzig mit den Jungen, die Brille mit Meersalz gesprenkelt, während sich seine gebräunten Arme in gleichmäßigem Rhythmus vor und zurück bewegten. Sobald sie nah genug waren, gab er Beatrix ein Ruder, und dann legten sie das letzte Stück bis zum Ufer gemeinsam zurück.

Einmal im Jahr aßen sie in dem kleinen Restaurant in der Stadt, das am Ende des Kais lag. Sie saßen jedes Jahr am gleichen Tisch, einem Ecktisch mit fünf Plätzen mit direktem Blick aufs Wasser. So, erklärte Mrs G, konnten sie alle zuschauen, wie der Himmel sich beim Sonnenuntergang über der Insel – ihrer Insel – verfärbte, wie sich die Spitzen der Nadelbäume erst deutlich von dem Orange-Rosa abhoben und dann immer mehr verschwammen, je dunkler der Himmel wurde. Kein einziges Mal in den Jahren, als Beatrix dort war, enttäuschte sie das Wetter an diesem Abend. Und immer wenn sie die Insel vom Festland aus sah, war sie überrascht, wie anders sie aus der Ferne wirkte. Sie war wunderschön, ein unscharfer grüner Fleck zwischen Meer und Himmel. Und sie war so klein, dass Beatrix sie auf ihrer Handfläche halten konnte. Doch wenn sie sich auf der Insel befanden, war sie es, Beatrix, die klein war. Die Insel war ihre ganze Welt, als existierte gar nichts anderes.

Sie bestellten Clam Chowder, gegrillte Maiskolben und Hummer, dazu Backkartoffeln in Alufolie, oben aufgeschnitten, sodass sie dampften. Im ersten Sommer, als Beatrix mit dabei war, machten die Jungen sich über die harten roten Panzer her, sobald die Teller vor ihnen standen. Gerald war so aufgeregt, dass es ihn nicht auf seinem Stuhl hielt, und William, der als Erster Fleisch fand, legte den Kopf in den Nacken, um die tropfende Butter aufzufangen. Beatrix band sich langsam die Serviette um, beobachtete alles genau und trank einen Schluck Wasser. Mr G gab Mrs G, die neben ihr saß, ein Zeichen, und Mrs G tätschelte ihr beruhigend das Bein, begann dann, ihren Hummer auseinanderzunehmen, wobei sie immer wieder innehielt, damit Beatrix sehen konnte, was sie tat, und es ihr nachmachen konnte.

Doch all das liegt in der Vergangenheit. An diesem Abend sitzt Beatrix allein in einem Restaurant am Meer, und sie bestellt Hummer, während die Kellnerin die Kerze in dem kleinen Glas anzündet. Als der Hummer kommt, bindet sie sich die Serviette um und betrachtet ihr Spiegelbild im dunklen Fenster. Im August ist sie vierunddreißig geworden. Über zwanzig Jahre sind vergangen. Es fällt ihr schwer, das Mädchen von damals mit der Erwachsenen in Einklang zu bringen, die sie jetzt ist. Als wären sie zwei verschiedene Menschen. So viele Jahre lang hat sie versucht zu vergessen. Sie schnuppert am Ärmel ihrer Jacke; das Meer hat sich in ihren Kleidern eingenistet. Sie kann die Wellen hören, die ans Ufer schlagen. Dieser Ort – eine Stadt am Firth of Forth, kurz hinter Edinburgh – ist flach, der Wind rau. Aus dem Wasser ragen Felsen und kleine Inseln. Das Ganze hat etwas Wildes, das sie an Maine erinnert. Wenn sie die Augen schließt, ist es fast so, als wäre sie dort.

Anfang September ist sie von ihrer Reise nach Amerika zurückgekommen und hat sich sofort in die Arbeit gestürzt. Das neue Schuljahr begann turbulent, ständig wollte jemand etwas von ihr, und es gab Tage, an denen hätte sie genauso gut in ihrem Büro schlafen können, so wenig Zeit verbrachte sie in ihrer Wohnung. Im Oktober, als es endlich etwas ruhiger wurde, spürte sie, wie verloren sie sich fühlte. Haltlos.

Die Gregorys in Amerika wiederzusehen, mit ihnen auf dem Friedhof zu stehen, hatte sie aufgewühlt, und alles war zurückgekommen – die fünf Jahre, die sie dort verbracht hatte, die Familie, die für diese kurze Zeit zu ihrer geworden war. Die Trauer, als sie sie verloren hatte. Die Trauer, die so schwer zu begraben gewesen war. Auf einmal fand sie sich in dem Haus wieder, das sich so vertraut anfühlte, in der Küche, die nach Zitrone und Zimt und Butter roch; spürte Mrs Gs Arme um sich, hörte, wie sie ihr etwas ins Ohr flüsterte. Wieder hatte sie nicht gehen wollen, und doch hatte sie es wieder getan. Sie hatte sie alle ein zweites Mal verloren.

Mum hatte sie ermuntert, ein paar Tage Urlaub zu machen, um aus ihrem Alltag herauszukommen, sich ein bisschen frischen Wind um die Nase wehen zu lassen. Vielleicht würde das helfen. Sie hatte ihr diese Stadt empfohlen, weil sie als kleines Mädchen dort gewesen war und es ihr dort sehr gefallen hatte. Sie sagte etwas von Stränden und Vögeln, der entspannenden Zugfahrt von London in den Norden. Der Ort war recht hübsch, aber wohl nicht mehr die pittoreske viktorianische Stadt, die ihre Mutter im Kopf hatte. Beatrix fragte sich, ob ihre Mutter sich der Ähnlichkeit mit Maine überhaupt bewusst gewesen war. Schließlich war sie ja nie dort gewesen. Sie selbst hätte vorher auch nicht damit gerechnet.

Sie isst ein wenig Hummer, doch ihr wird klar, dass es ihr damals vor allem deshalb so gefallen hat, weil sie es zusammen gemacht haben. Sie kommt sich töricht vor, wie sie allein in diesem müden, leeren Speisesaal mit ihm ringt, und fühlt sich noch schlechter. Sie schiebt den Teller weg und bestellt einen Kaffee. Der Strahl des Leuchtturms ist jetzt zu sehen, in gleichmäßigen Abständen streift er über das schwarze Meer. In manchen Nächten hatte sie mit Gerald und William im Wald gezeltet, und obwohl sie sich nie weit vom Haus entfernten, hatten sie sich vollkommen allein gefühlt, als wären sie auf einer Insel gestrandet, die einzigen Überlebenden. Die Dunkelheit fast greifbar. Mithilfe ihrer Taschenlampen gingen sie hinunter zum Wasser, setzten sich auf einen der großen Felsen, ließen ihre Lichtstrahlen hierhin und dorthin wandern und schalteten die Lampen dann aus, um die schwarze Nacht zu betrachten, die Sternenwelt, die auf das Meer herabschien. Am glücklichsten war sie, wenn sie in der Mitte saß und die beiden zu ihren Seiten spüren konnte.

Das Abendessen in der Stadt wurde stets gekrönt von einem Schokoladenkuchen, von Mrs G gebacken und vorab hinübergebracht, mit ein paar Kugeln Pfefferminzeis. Es gab drei dicke Kerzen, die ausgepustet werden mussten: eine für William, eine für Gerald und eine für Beatrix; und ihre Namen standen in schnörkeliger blauer Schrift auf dem Zuckerguss. Meine August-Geburtstagskinder, sagte Mrs G. Schon wieder ein Jahr vorbei. Das ganze Restaurant sang Happy Birthday, wenn der Kuchen mit den brennenden Kerzen aus der Küche gebracht wurde. Sobald er auf dem Tisch stand, erhoben sich die drei und beugten sich darüber, und Mrs G hielt Beatrix’ Haar zurück, damit es nicht in die Flammen geriet. Zu dem Zeitpunkt war es bereits dunkel, da die Sonne untergegangen war, und ihre Gesichter wurden von den Kerzen erleuchtet. Gerald mit seinem roten Haar und den Sommersprossen, dem ansteckenden Lächeln. William mit seinen von der Sonne gebleichten blonden Locken und dem ernsten Gesicht. Was sahen sie, wenn sie sie anschauten? Beatrix weiß es nicht, aber sie nimmt an, dass sie die Freude, die sie empfand, auch ausstrahlte. Wenn sie daran zurückdenkt, dann hat sie den Moment vor Augen, wie sie alle drei über die Kerzen gebeugt Luft holen, überlegen, was sie sich wünschen sollen, und einander in die Augen sehen.

In jenem letzten Sommer hatte sie sich gewünscht zu bleiben. Für immer mit ihnen allen zusammen zu sein. Jetzt beugt sie sich vor, pustet die Kerze in dem Glas aus und schließt die Augen.

Erster Teil:1940–1945

Reginald

Am Abend lässt Reginald die Jungs im Pub wissen, wie stolz er ist. Jedem, der hereinkommt, erzählt er von Neuem davon, wie es war, als Beatrix weggefahren ist. Sie stellen Fragen, wollen Einzelheiten wissen. Diejenigen, deren Kinder schon fort sind, kennen die Geschichte bereits, oder eine Variante davon. Wie heiß und schwül es morgens gewesen war. Wie sie im Ballsaal des Grosvenor Hotel gestanden haben und wie er sich vor sie hingekniet hat, als es Zeit war zu gehen. Wie Beatrix zu seinen Abschiedsworten genickt hat, das Gesicht zu ihm geneigt, aber den Rücken ganz gerade. Wie tapfer sie gewesen ist; sie hat nicht geweint, obwohl er Tränen in ihren Augen gesehen hat.

Einen Tag später kann er sich nicht mehr genau erinnern, was er zu ihr gesagt hat, als er vor ihr auf dem Boden kniete. Im Stillen sorgt er sich, dass er das Wichtigste vergessen hat. Aber an dem Abend erzählt er allen im Pub, wie stark sie gewesen ist. Mein tapferes elfjähriges Mädchen. Er erfindet die Worte, die sie zueinander gesagt haben. Und er verschweigt, dass er und Millie sich mit aller Kraft zusammengerissen haben, als sie sich von Beatrix abwandten und durch die Menge nach draußen gingen, dass er eigentlich noch nicht bereit dazu war. Er glaubt nicht, dass er je bereit dazu sein wird.

Immer wieder hat er denselben Traum: Er geht in voller Montur ins Meer, die nassen Kleider schwer an seinem Körper. Er schiebt die Wellen beiseite, geht tiefer hinein, und dann ist er mit einem Mal wieder in dem Ballsaal, auf dem Weg nach draußen, während andere hineinstreben. Er streift sie mit den Schultern und vermeidet es, in ihre Gesichter zu blicken, denn er weiß, dass in ihren Augen dieselbe Fassungslosigkeit steht wie in seinen, weil sie hier sind, weil sie die Entscheidung getroffen haben, ihre Kinder weit fortzuschicken. Allein, übers Meer. Erst als sie auf der Straße vor dem Hotel waren, in der schwülen Luft, unter den schweren grauen Wolken, fing Millie an zu weinen und flehte ihn an, umzukehren und ihr Mädchen zurückzuholen. Er hat ihre Hand genommen und sie weggezogen. In seinem Traum streckt er beide Hände aus und wünschte, er könnte das Schiff packen, auf dem sein Kind jetzt ist, und es drehen, seinen Kurs ändern. Und er reckt die Arme und versucht, das Land zu berühren, wo sie von nun an leben wird.

Die Geschichte, die er den Jungs erzählt, ist nur die halbe Wahrheit. Beatrix hat geweint, sich an ihn geklammert, die Arme um seine Taille geschlungen. Sie hat Millie die Schuld an allem gegeben, hat sich geweigert, sich von ihr zu verabschieden, war die ganzen vierundzwanzig Stunden – von dem Moment an, als sie es ihr gesagt haben, bis zum Aufbruch – wütend auf sie. Dabei war es Reginald, der darauf bestanden hatte, sie müsse weg, weil er wusste, dass die Bomben immer näher kamen und es keine Möglichkeit gab, Beatrix oder überhaupt jemanden von ihnen davor zu beschützen. Sein älterer Bruder war im letzten Krieg gewesen, deshalb wusste Reginald, was auf sie zukam. Der Krieg hatte einen langen Schatten über seine Kindheit geworfen, hatte ihn die schneidende Angst gelehrt. Es war eine schwere Entscheidung für ihn und Millie gewesen. Besser, sie geht nach Amerika, hatte er gedacht, da wird der Krieg sie nicht so leicht zu fassen bekommen. Aber er hatte Beatrix nie erzählt, dass er Millie keine andere Wahl gelassen hatte. Er ließ sie in dem Glauben, dass es Millies Entscheidung gewesen war.

Millie

Millie wird die Wut nicht los. Die von Beatrix auf sie, weil sie sie zum Weggehen gezwungen hat, und ihre eigene auf Reg, weil er ihrem Flehen nicht nachgegeben hat. Lass mich mit ihr gehen, hat sie gesagt. Und dann später, mitten in der Nacht, als sie beide, schlaf los und ohne sich zu berühren, an die Decke starrten: Lass sie hierbleiben. Wir haben den Luftschutzkeller und die U-Bahn. Wir können zu meinen Eltern aufs Land. Ich kann sie beschützen, flüsterte sie immer wieder. Ich kann sie beschützen. Aber Regs Entschluss stand fest.

Sie hat sich nie für einen wütenden Menschen gehalten. Gefühlsbetont, ja. Stur, auf jeden Fall. Doch jetzt fließt sie über von Kummer und Zorn. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie Reg jemals verzeihen wird. Und sie weiß, dass sie sich selbst niemals verzeihen wird. Wieder und wieder steht sie im Ballsaal, durchlebt die letzten Augenblicke, spürt die warme Wange ihrer Tochter.

Sie heftete Beatrix das Schild an die Brust, das der Mann ihr gegeben hatte. Trotz der Hitze an diesem Tag waren ihre Hände eiskalt, und sie rieb sie mehrmals fest aneinander, bevor sie in Beatrix’ Kleid griff, um die Sicherheitsnadel vorsichtig zu befestigen. Auf dem Schild stand außer dem Namen eine lange Nummer, und Millie prägte sie sich ein, damit sie sie niemals wieder vergaß. Vielleicht wäre das die einzige Möglichkeit, ihre Tochter wiederzufinden. Auf dem Heimweg überkam sie Panik, weil sie nicht mehr genau wusste, ob die letzte Zahl eine Drei oder eine Sechs war.

Am Abend davor hatte sie Beatrix in der kleinen Küche die Haare gewaschen und geschnitten, mit einem Handtuch als Unterlage. Beatrix trug nur ihre Unterwäsche. Millie kämmte das nasse Haar vor dem Schneiden aus und staunte, dass die dicken Strähnen Beatrix schon fast bis zur Taille reichten. Als sie ihre Tochter umdrehte, um die Vorderseite auszukämmen, fiel ihr auf, dass deren Brüste zu sprießen begannen, und begriff, dass sie sich verändert haben würde, wenn sie einander wiedersahen. Sie würde kein kleines Mädchen mehr sein. Und da war die Wut wieder, doch jetzt war sie in ihren Händen, und so schnitt sie, ohne nachzudenken, ihrer Tochter das Haar bis zum Kinn ab. Die Schere schnippte, lange Locken fielen zu Boden, das weiße Handtuch wurde braun, und Beatrix weinte. Millie schnitt den dichten, dunklen Pony zu einer strengen Linie quer über die Stirn. Diesen Haarschnitt hatte sie ihr, als sie klein war, alle drei Wochen verpasst.

Jetzt kann sie nicht mehr schlafen. Sie liegt in Beatrix’ Bett, die Knie an die Brust gezogen. Sie versucht sich vorzustellen, wo ihr Mädchen jetzt ist, irgendwo mitten auf dem Atlantik. Hat sie Hunger? Ist sie einsam? Was für eine Angst sie haben muss, mit all dem tiefen Wasser, das das Schiff umschlingt. Die hohen Wellen. Das endlose Meer. Millie schnuppert an einer Haarlocke, die sie in einen kleinen Pergaminumschlag geschoben und in ihrem Buch versteckt hat.

Beatrix

Beatrix hasst die neue Frisur. Sie sieht aus wie ein Kind. Wenn sie nach ihrem Haar greift, ist da nur ihr Hals. Alle Mädchen in der Kabine teilen sich einen kleinen Handspiegel, den eine von ihnen im Koffer mitgenommen hat. Beatrix streicht sich den Pony mithilfe von Wasser und Spucke aus der Stirn und verflucht lauthals ihre Mutter, zur Freude der Jüngeren unter ihnen.

Ihre Tage sind ausgefüllt. Sie ziehen sich an, helfen einander, die Rettungswesten aus Kork anzulegen, und gehen zum Frühstück, wo sie Schokoladeneis essen dürfen. Sie laufen in einer Horde von einem Ende des Schiffes zum anderen, wobei Beatrix sich immer am Handlauf festhält und, wenn möglich, an der Innenseite bleibt. Das Schiff fährt kaum geradeaus, sondern schlängelt sich zwischen den silbrigen Eisbergen hindurch, die in der Sonne glitzern. An Bord gibt es auch eine Horde Jungen, aber die sind wilder als die Mädchen, und Beatrix geht ihnen meist aus dem Weg. Nachmittags gibt es Zuckerkekse, die größer sind als ihre Hände. Die Spuckerei ist weniger geworden. In den ersten Tagen mussten sie sich ständig übergeben: in die kleinen Waschbecken, in die Mülleimer, in Kaffeedosen. Nachts, wenn Beatrix nicht schlafen kann, wenn die Jüngste im Bett unter ihr weint, geht sie an Deck und sieht hoch zu den Sternen. Sie wickelt sich in ihre Decke und legt sich in einen Liegestuhl, weit weg vom Rand. Es ist kalt und dunkel, und doch ist es vielleicht mit das Schönste, was sie je gesehen hat. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass der Himmel so voll, so lebendig sein kann. Dass er eine solche Tiefe hat. Die Luft ist ganz klar. Sie fragt sich, ob sie jemals in Amerika ankommen. Es fühlt sich an, als würden sie sich nicht von der Stelle bewegen, obwohl das Schiff vorwärtsstampft. Was passiert wohl, falls der Krieg vorbei ist, während sie noch auf See sind? Werden sie umkehren und zurückfahren? Wie werden ihre Eltern davon erfahren?

Anfangs hat Beatrix Angst gehabt. Der verdunkelte Zug voller Kinder. Die Begleiterin, die »There’ll Always Be an England« sang und eine kleine britische Flagge schwenkte. Die langen Feldbettenreihen in dem Fischereilager in Liverpool. Das riesige, mit einer schwarzen Plane bedeckte Schiff. Die Gangway, die bei jedem Schritt schwankte. Sie waren alle still und verängstigt, unsicher, wem sie vertrauen konnten. Fast alle Mädchen weinten. Beatrix nicht. Dad hatte gesagt, sie müsse stark sein.

Das ist nur ein paar Tage her, aber wenn Beatrix an die Abreise zurückdenkt, sind da nur noch Bruchstücke: Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Fußboden in ihrem Zimmer, weigert sich zu helfen, sieht zu, wie ihre Mutter den kleinen braunen Koffer packt. Kleider, dreifach gefaltet, Socken, zu Bällen geschlungen, und obenauf ein flattriger, geblümter Schal, ein Geschenk für die Frau in Amerika. Beatrix sieht die Hände ihres Vaters, der Ehering locker am Finger, sieht, wie sie ein paar Fotos in eine Seitentasche schieben und dann die Gurte um den Koffer festzurren. Der handgeknüpfte Läufer mit dem Blumenmuster in Rosa und Blau, der seit jeher neben ihrem Bett gelegen hat, in der einen Ecke ein Fleck, der aussieht wie ein Hundekopf. Der ungewohnte Duft nach Pfannkuchen, der Zucker von den Nachbarn geborgt, damit das letzte Frühstück etwas Besonderes ist.

Einen Monat zuvor hatte ihre Mutter sie beim Heimkommen allein im Wohnzimmer auf dem Fußboden vorgefunden, wo sie Solitär spielte, die Gasmaske vor dem Gesicht. Beatrix trug sie jetzt immer, wenn sie allein war, obwohl sie das Gefühl und vor allem den Geruch schrecklich fand, wie Teer auf einer heißen Straße. Die Jungen in der Schule trugen sie während der Pause und jagten einander über den Hof, ihre Grunzgeräusche gedämpft durch die Maske. Doch Beatrix wusste, dass sie ihr das Leben retten konnte. Ihr Onkel war im ersten Krieg verbrannt worden, über seine Arme liefen Flüsse aus dunkelroter Narbenhaut. Ihre Mutter hatte die Einkäufe fallen gelassen, als sie sie mit der Maske erblickte, und ein kostbares Ei war auf dem Dielenboden zerbrochen. Beatrix weiß, dies war der Moment, als ihre Mutter beschlossen hat, dass die Tochter nicht bleiben konnte.

Schon verblassen ihre Erinnerungen an den Ballsaal. Nur spätnachts tauchen einzelne Schnipsel davon auf. Die großen Buchstaben des Alphabets, die durch den Raum gereicht werden. Ein dunkler Balkon voller Erwachsener, die nach unten schauen und winken. Eine Frau, die weint. Fremdartige amerikanische Akzente.

Die Rücken ihrer Eltern, als sie davongehen. Die Hand ihres Vaters auf der Schulter ihrer Mutter. Eine Laufmasche im Strumpf ihrer Mutter.

Beatrix

Beatrix steht allein in Boston auf dem Kai. Alle anderen sind abgeholt worden. Es ist schon heiß, obwohl es noch früh ist. Der Mond hängt wie mit Kreide gemalt am blassblauen Himmel. Sie hat ihr Lieblingskleid an, aus roter Wolle mit weißem Kragen und Paspeln an den Ärmelbündchen. Sie hat es extra angezogen, weil ihre Mutter gesagt hat, sie soll sich so hübsch wie möglich machen, aber es ist viel zu warm dafür, und ihr läuft der Schweiß über den Rücken.

Die Frau, die die anderen Kinder ihren Gastfamilien zugewiesen hat, sieht dauernd auf ihre Uhr und ihre Liste. Die Gregorys, sagt sie wieder, und ihre Stimme klingt mit jedem Mal schärfer. So heißen sie doch, oder? Beatrix nickt. Die Sonne wandert höher, duckt sich hinter eine Wolke, und Beatrix tritt von einem Fuß auf den anderen. Sie berührt das Schild, das sie jeden Morgen an ihre Brust geheftet hat, seit sie London verlassen haben. Die Ränder beginnen auszufransen.

Es kommt Beatrix so vor, als hätte sie ihr Zuhause schon vor Jahren verlassen, als wäre das Mädchen, das sie dort gewesen ist, ein ganz anderes als das, was jetzt hier steht. So viel ist passiert, obwohl es nur zwei Wochen waren, und zugleich ist es wie eine Geschichte aus einem Buch, als hätte das alles jemand anders erlebt. Der Zwischenstopp in Kanada, wo sie sich von den meisten ihrer neuen Freundinnen verabschieden musste. Noch ein Zug und danach eine kleine Fähre, die sich durch die rauen Wellen kämpfte. Dann endlich ruhigeres Wasser, als sie den Bostoner Hafen erreichten. Auf einer kleinen Insel drei barfüßige Kinder mit Angeln auf einem Anleger, die winkten, als die Fähre vorbeifuhr. Willkommen in Amerika, dachte Beatrix.

Sie blickt nach unten, vergewissert sich, dass ihr Koffer und ihre Gasmaske noch da sind, und als sie den Kopf wieder hebt, steht ein Junge vor ihr. Es ist fast so, als hätte sie ihn mit ihrem Willen herbeigezaubert. Er ist größer als sie, mit lockigem blondem Haar, das ihm fast bis zum Kragen reicht. Er hebt den Arm, weil ihn die Sonne blendet. Das ist William, denkt sie, nein, sie weiß es. Aus dem Brief, den sie von ihnen bekommen haben, in dem das Haus und die Familie beschrieben waren; auf dem Schiff hat Beatrix ihn jeden Abend gelesen. Einige Abschnitte kennt sie auswendig. Gerald ist der jüngere von den beiden Jungen, er ist gerade neun geworden, und William ist dreizehn. Er ist schlauer, als ihm guttut, hat Mrs Gregory geschrieben. Will Baseballspieler werden, wenn er groß ist. Beatrix dachte, er hätte braunes Haar. Sie hat nicht damit gerechnet, dass er so groß ist und dass er grüne Augen hat. Aber trotzdem muss er es sein.

Beatrix, sagt er mit überraschend tiefer Stimme. Fast lächelt er. Sie nickt, und dann kommt noch ein Junge herbeigelaufen, mit erhitztem Gesicht, breitem, schiefem Grinsen und rotblondem Haar, das in der Sonne schimmert. Das ist eindeutig Gerald. Du bist Beatrix, stimmt’s, sagt er. Du musst es sein, ich weiß es. Ja, sagt sie und lächelt nun auch, denn er hat einen komischen Akzent und Unmengen von Sommersprossen, und er ist ein offener, herzlicher amerikanischer Junge.

Nancy

Nach dem Abwasch bereitet Nancy den Teig für die Frühstücksmuffins zu, verquirlt Butter und Zucker zu einer gleichmäßigen Masse. Im Haus wird es allmählich ruhig. Ethan hat sich in sein Büro zurückgezogen. William ist in seinem Zimmer. Selbst Gerald, der bereits gebadet hat und längst im Bett liegen sollte, aber noch dreimal wieder heruntergekommen ist, scheint eingeschlafen zu sein. Dies ist normalerweise ihre liebste Tageszeit, wenn alles still ist und sie für sich sein kann, backen, lesen oder einen Tee trinken. Durchatmen.

Doch jetzt ist das Mädchen mit dem Baden dran. Nancy war erschrocken, als sie Beatrix am Kai erblickt hat, so blass, die schmutzigen weißen Socken, die halb in den schweren Stiefeln verschwanden, die dunklen, wachsamen Augen. Worauf hatten sie sich da bloß eingelassen? Und wie mochte es erst für sie sein? Von zu Hause fortgeschickt zu werden, ganz allein? Nancy fragt sich, was das für Eltern sein müssen, die eine solche Entscheidung treffen, obwohl ihr bewusst ist, dass sie keine Ahnung hat, wie es ist, einen Krieg mitzuerleben. Aber sie glaubt nicht, dass sie es fertigbrächte; sie kann sich nicht vorstellen, William oder Gerald allein auf ein Schiff zu bringen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn die Vereinigten Staaten in den Krieg eintreten. Sie betet jeden Abend, dass es nicht so weit kommt, oder falls doch, dass ihre Söhne dann noch zu jung sind.

Als der Teig fertig ist, holt Nancy den Karton heraus, den sie in die Abseite im Flur gestellt hat. Sie hat ihn letzte Woche auf dem Heimweg von Maine bei ihrer Schwester abgeholt, und darin sind lauter Mädchensachen: Puppen, Bücher, ein kleines Teegeschirr. Einige von den Sachen haben ihr als Kind gehört, andere, wie diese eleganten Porzellanpuppen, sind von ihren Nichten. Beatrix wirkt nicht wie ein Puppenmädchen, und sie selbst ist auch keines gewesen. Sie nimmt jedes Teil heraus und legt es auf den Küchentisch. Die winzigen Puppen ihrer Mutter mit den viktorianischen Kleidern. Eine angeschlagene Teetasse, die früher mal zu einem Set gehört hat. Die What Katy Did-Bücher, die sie so geliebt hat. Doch sie sind alt und abgegriffen, die Seiten lösen sich aus dem Einband, und Nancy bezweifelt, dass sie Beatrix gefallen. Andererseits kennt sie das Mädchen ja noch gar nicht. Sie packt die Sachen wieder in den Karton und stellt ihn zurück in die Abseite. Sie erscheinen ihr so kindisch für jemanden, der aus einem Land kommt, wo Krieg herrscht. Ihr geht eine Stelle aus dem ersten Brief der Eltern nicht aus dem Kopf: In ihrem Zimmer haben wir einen Stapel Zeitungsartikel über Nervengas gefunden. Sie hatte den Satz unterstrichen: »Bereits zwei Minuten Kontakt mit dem Gas sind tödlich.«

Nancy geht leise nach oben. Die Tür des Gästezimmers ist einen Spalt geöffnet. Das Mädchen sitzt in der Ecke, die Knie an die Brust gezogen, und spricht mit einer gerahmten Fotografie. Dad, sagt sie. Ich hab’s geschafft. Ich bin hier. Nancy tritt einen Schritt zurück und wischt sich mit dem Schürzenzipfel übers Gesicht.

Beatrix

Die Badewanne mit den Klauenfüßen steht in einem Erker mit drei Fenstern, die alle auf den Garten hinausgehen. Doch jetzt ist es dunkel, sodass man nichts sehen kann, und Mrs Gregory zieht nacheinander die weißen Rollos herunter. Wasser läuft in die Wanne, und sie hält immer wieder die Hand hinein und dreht an den Hähnen. Sie nimmt ein Handtuch, faltet es auseinander und schüttelt es aus, dann faltet sie es wieder in der Mitte und streicht über die weiche Oberfläche. Ihr großer Saphirring funkelt im Licht. Ihr Lippenstift ist leuchtend rot, und ihre Zähne sind weiß.

Sie sieht ganz anders aus als Beatrix’ Mutter, die groß und dunkel und schlank ist. Diese Frau ist rundlich und riecht nach Zitrone. Am Kai kam sie hinter den Jungen herbeigelaufen, hat Beatrix in die Arme geschlossen und sie erst auf die eine Wange geküsst und dann auf die andere. Beatrix hat ganz still dagestanden, während die Frau sie umarmte. Dann hat die Frau das Schild abgemacht und es in ihre Handtasche gesteckt. Das brauchst du jetzt nicht mehr, Liebes, hat sie gesagt. Du gehörst jetzt zu uns.

Beatrix, sagt sie, die Hand im warmen Wasser, ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie sieht Beatrix an, die Brauen zusammengezogen, und Beatrix sieht darin Geralds Lächeln und Williams Stirnrunzeln. Soll ich dir helfen, oder möchtest du lieber allein baden? Die Linien in ihrem Gesicht vertiefen sich, und dann streicht sie Beatrix eine Haarsträhne hinters Ohr und legt ihr die schwere, fleischige Hand auf die Schulter. Du musst mir beibringen, wie man mit einem Mädchen umgeht, sagt sie mit einem Lachen und einem Seufzer. Ich bin so lange nur von Jungs umgeben gewesen. Sie verstummt und wartet.

Beatrix antwortet nicht. Sie versteht nicht so recht, was die Frau von ihr will, sie weiß nur, dass sie nicht gehen soll, deshalb zieht sie sich aus, bis sie nackt vor dieser Frau steht, spürt die weiche Matte unter ihren Füßen, einen leichten Luftzug, der durch die Fenster hereinweht, die Rollos, die gegen die Rahmen klopfen. Sie steigt auf den Hocker und taucht die Füße vorsichtig in das heiße Wasser, und dann, als sie sich an die Temperatur gewöhnt hat, setzt sie sich und lehnt sich zurück, bis alles außer ihrem Kopf unter Wasser ist. Es fühlt sich himmlisch an. Mrs Gregory seift einen Waschlappen ein, hebt Beatrix’ Arm und reibt ihn sanft ab. Beatrix schließt die Augen und schläft fast ein. Sie hebt die Beine, sodass sie schweben.

Später im Bett, das so hoch ist, dass sie wieder auf einen Hocker steigen muss, riecht Beatrix die Zitronenseife an jedem ihrer Finger.

Beatrix

Die Treppe windet sich in einem Halbkreis nach unten in die Eingangshalle mit dem Fußboden aus weißen und schwarzen Marmorfliesen. Beatrix geht langsam hinunter, die Hand auf dem Geländer aus Mahagoni, und ihre Schuhe machen kein Geräusch auf dem orientalischen Läufer, der die Stufen bedeckt. An der Wand neben der Treppe hängen riesige Porträts in goldenen Rahmen. So muss sich Prinzessin Margaret fühlen, wenn sie morgens zum Frühstück nach unten geht. Beinahe hätte sie laut gelacht. Das Haus ist lichtdurchflutet. Auf dem Tisch in der Eingangshalle steht eine prächtige Kristallvase voll üppiger Blumen in Rosa und Gelb.

Beatrix kann Stimmen hören – es klingt nach Mrs Gregory und Gerald –, aber für einen Moment bleibt sie allein in der Halle stehen. Das Wohnzimmer ist ein paar Stufen hinunter zu ihrer Rechten, und sie ist ziemlich sicher, dass ihre ganze Wohnung zu Hause in den einen Raum passen würde. Gestern Abend hat Gerald ihr eine Geheimtreppe gezeigt, die hinter einem Regal voll unechter Bücher verborgen ist. Und es gibt eine ganze zweite Etage, die sie noch gar nicht gesehen hat. Sie blickt hinaus in den Garten. King, der Schäferhund der Gregorys, liegt schlafend auf der Terrasse, den Kopf auf der großen Vorderpfote. Direkt am Haus sind Blumenbeete, ein Stück weiter gibt es einen Gemüsegarten, und dahinter erstreckt sich Rasen bis zu einer Reihe von Kiefern in der Ferne. Alles hier ist riesengroß. Wie weit ist es wohl bis zum Meer? In welcher Richtung liegt ihr Zuhause?

Ethan

Ethan sitzt bei fast geschlossener Tür in seinem Arbeitszimmer und versucht, den Stundenplan für die ersten Schultage nach den Ferien zusammenzustellen, lauscht stattdessen jedoch auf die Geräusche, die aus der Küche nebenan herüberdringen. Das Mädchen ist zum Frühstück heruntergekommen. Er kann die Aufregung in Nancys Stimme hören, sie ist lauter und höher als sonst, und er weiß, dass sie zu viel Eier mit Speck auf den Teller füllt. Gerald lässt immer wieder einen Gummiball auf dem Boden springen, und Ethan muss an sich halten, um nicht zu brüllen.

Er war dagegen gewesen, das Mädchen aufzunehmen. Allein schon die Kosten. Nancy hatte seine Bedenken mit einer Handbewegung beiseitegefegt. Was macht denn ein kleiner hungriger Mund mehr schon aus, Ethan, hatte sie gesagt. Wir müssen alle unseren Teil beitragen. Doch etwas anderes beschäftigt ihn fast genauso sehr: Er kennt sich mit Mädchen nicht aus. Er ist – hier, in diesem Haus – ohne Geschwister aufgewachsen. Sein Vater war Fachbereichsleiter für Mathematik an der Jungenschule gewesen, und er selbst war nach seinem Abschluss in Harvard hierhin zurückgekehrt, um unter seinem Vater zu arbeiten, und hatte später seine Nachfolge angetreten. Er denkt den ganzen Tag an nichts als Jungen: wie er sie am besten unterrichtet; wie er sie zu anständigen jungen Männern erzieht; wie er sie bestrafen soll, wenn sie über die Stränge schlagen. Seit er selbst Vater geworden ist, hat er eigenartigerweise an Selbstvertrauen verloren. Er hatte gedacht, er würde der führende Elternteil sein, derjenige, der immer wüsste, was zu tun wäre, derjenige, dem die Kinder folgen würden. Doch Strategien, die im Klassenzimmer aufgehen, sind zu Hause nicht zu gebrauchen. Was bei Gerald funktioniert, scheint bei William nicht zu funktionieren. Und beide stehen Nancy näher, die oft zu milde zu ihnen ist. Zu Hause ist es chaotischer, er hat weniger Kontrolle, und so zieht er sich immer öfter in die wohltuende Einsamkeit seines Arbeitszimmers zurück. Dennoch fühlt er sich in Gesellschaft von Jungen wohl, er weiß, wie er mit ihnen umgehen muss, worüber er mit ihnen reden kann. Abgesehen von Nancy und seiner Mutter und ein paar Cousinen ist sein Leben stets von Jungen und Männern bevölkert gewesen.

Aber ihm ist klar, dass Nancy darin eine Möglichkeit sieht, endlich ein Mädchen zu bekommen. Sie war enttäuscht, als William zur Welt kam, und bei Gerald erneut. Sie haben es weiter versucht, aber nach der dritten Fehlgeburt meinte der Arzt, jetzt sei es genug. Sie hat nie etwas gesagt – über ihre Enttäuschung, dass es beide Male ein Junge geworden ist, über die Fehlgeburten, über die Anordnung des Arztes –, weil sie ein von Grund auf positiver Mensch ist. Und genau das hat ihm von Anfang an so gefallen. Er hat gehofft, ihr Wille, stets das Gute zu sehen, würde ihm helfen, aus sich herauszukommen, ein besserer Mensch zu werden als der, der er seiner Meinung nach ist.

Es klopft leise an der Tür. Ja, sagt er mit bemüht sanfter Stimme, denn er weiß, es ist weder Nancy noch einer von den Jungs. Das Mädchen drückt die Tür auf, bleibt jedoch draußen stehen. Hallo, sagt sie. Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, Sir. Sie wagt es kaum, ihn anzusehen, und beide blicken sofort wieder weg. Mrs Gregory lässt fragen, ob Sie bitte zum Frühstück in die Küche kommen können. Ethan nickt, raschelt mit seinen Papieren. Er sollte sie fragen, ob sie gut geschlafen hat oder ob sie irgendetwas braucht, aber als er wieder aufsieht, ist sie verschwunden.

Millie

Das Telegramm ist unter der Tür durchgeschoben worden, und Millie tritt darauf, als sie in die Wohnung kommt. beatrixwohlbehalten angekommen stop bezauberndesmädchen stop gewöhnt sich gut ein stop. Sie hat seit dem Tag, als Beatrix weggefahren ist, nicht mehr geweint, aber jetzt sackt Millie mit dem Telegramm in der Hand auf die Dielen, rollt sich auf die Seite und krümmt sich zusammen. Die Tränen laufen an ihrem Gesicht herunter und tropfen auf den Boden. Da ist Erleichterung, aber vor allem Reue. Sie hätte Beatrix sagen sollen, dass sie sie lieber dabehalten hätte. Sie hätte Reg zwingen sollen, seine Meinung zu ändern. Es ist dunkel, als sie schließlich aufsteht, um sich umzuziehen und das Abendessen vorzubereiten. Reg wird bald da sein. Jeden Abend hat er bei seiner Rückkehr gefragt, ob ein Telegramm gekommen ist.

Doch an diesem Abend fragt er nicht, obwohl sie bemerkt, wie er die Post auf dem Tisch im Flur durchsieht. Und so sagt sie es ihm noch nicht. Sie versteckt das Telegramm, zweimal vorsichtig gefaltet, im Reißverschlussfach ihrer Handtasche.

Eine Woche geht vorüber, und sie liest das Telegramm immer wieder, auf dem Weg zur Arbeit und auf dem Heimweg. Die Ecken reißen schon langsam ein. Druckerschwärze von ihren Fingern verschmutzt das gelbe Papier. Die Blockbuchstaben verblassen allmählich. Sie weiß nicht, ob sie es Reg jetzt noch zeigen kann. Er wird vermuten, dass sie es schon eine ganze Zeit gehabt hat.

Nancy

Am ersten Schultag leuchtet der Himmel blau und weit. Nancy hat den Kindern ihre Lunchpakete vorbereitet und in braune Papiertüten gepackt: hart gekochte Eier, Tomatensandwiches, Haferkekse mit Rosinen. Sie macht ein Foto von ihnen auf der Veranda, dann gibt sie William und Gerald einen Kuss auf die Stirn und drückt Beatrix’ Schulter. Sie weiß, dass das Mädchen Berührungen nicht immer mag, aber sie kann einfach nicht anders, als die Arme um den mageren kleinen Körper zu legen. Beatrix versteift sich, doch dann spürt Nancy zu ihrer Überraschung, wie ein Kuss ihre Wange streift.

In den zwei Wochen seit ihrer Ankunft ist Beatrix’ Gesicht ein bisschen voller geworden, aber ihre Augen blicken nach wie vor ängstlich. Sie ist stets höf lich, antwortet auf jede Frage, hilft in der Küche und räumt ihr Zimmer auf, spricht jedoch nie von sich aus. Aber sie lacht über Geralds Kaspereien und scheint sich in Williams Gesellschaft wohlzufühlen. Nancy ist stolz auf ihre Jungs, darauf, wie sie das Mädchen aufgenommen haben. Einen schönen Tag, sagt Beatrix. Danke für das Lunchpaket. Nancy stupst Gerald an. Von Beatrix’ guten Manieren könntest du dir mal eine Scheibe abschneiden, sagt sie. Und jetzt ab mit euch. Sie kann es kaum erwarten, dass sie aus dem Haus sind, aber sie weiß, dass sie den ganzen Tag auf ihre Rückkehr warten wird.

Gerald

Wir laufen zusammen zur Schule, Mum, sagt Gerald und springt von den Verandastufen auf die Erde. Er ahmt begeistert die Art nach, wie Beatrix redet. Sie klingt immer so klug. Deshalb nennt er seine Mutter jetzt Mum, sagt Cheerio, wenn er ins Zimmer kommt, und gestern beim Abendessen hat er behauptet, Vater mache viel Wind um nichts. Er weiß, dass es William nervt – ein Grund mehr, es zu tun –, aber es zaubert den Hauch eines Lächelns auf Beatrix’ Gesicht. Und dass du mir ja nicht auf die andere Straßenseite gehst, bevor sie drinnen ist, William, sagt Mutter noch einmal, und William nickt und deutet mit dem Kinn auf Bea. Ganz der Vater, sagen alle über William. Gerald weiß, das bedeutet, dass er selbst anders ist.

Die drei folgen dem Weg, der durch die Wiese führt, die an die Rückseite der Schule grenzt. Einen Trampelpfad nennt Vater so etwas. Der beste Weg, um von hier nach da zu kommen. William geht vorneweg, und Gerald bildet die Nachhut. Das Haar, das ihnen beiden bis zum Kragen reichte, ist jetzt weg; seit dem Friseurbesuch gestern haben sie einen rosigen Nacken und einen Bürstenhaarschnitt. Gerald mag es, über die Stoppeln zu streichen. Die Sonne wärmt bereits. Das Laub hat noch nicht begonnen, sich zu verfärben, und die Wiese ist voller Wildblumen. Er pflückt eine gelbe Blume und dann noch eine und noch eine und versteckt sie hinter seinem Rücken. An der Tür zur Grundschule bleiben sie alle stehen. Gerald umarmt Beatrix kurz. Wie dünn sie ist. Er kann ihre Rippen spüren. Einen vorzüglichen Morgen wünsche ich, sagt er grinsend, drückt ihr die Blumen in die Hand und verschwindet durch die schwere Tür. Idiot, hört er William sagen. Als er sicher ist, dass sie weitergegangen sind, kommt er noch einmal nach draußen. Er sieht, wie sie bei der Mädchenschule stehen bleiben, beide den Blick zum Boden gerichtet, und dann geht Beatrix hinein, die Blumen in der Hand. Gerald sieht zu, wie William die Straße zur Jungenschule überquert. Bevor er das Gebäude betritt, blickt er noch einmal über die Schulter, und Gerald weiß, er vergewissert sich, dass sie wirklich drinnen ist. Gerald winkt ihm zu, aber William wendet sich um und geht hinein.

Im Unterricht sollen die Schüler einen Brief an den Lehrer schreiben, in dem sie das Aufregendste schildern, was sie während des Sommers erlebt haben. Lieber Mr Thatcher, schreibt Gerald, Beatrix ist aus London zu uns gekommen, um vor Bomben sicher zu sein. Als er den Stift hinlegt, merkt er, dass seine Handflächen vom Pollen ganz gelb sind.

Beatrix

Die Briefe treffen nicht regelmäßig ein, sondern schubweise. An manchen Tagen liegen zwei oder drei auf dem Küchentisch, wenn Beatrix aus der Schule kommt. Dann wieder gibt es Wochen ohne einen einzigen. Sie liest die Briefe nie gleich in der Küche, aber sie reibt das dünne Papier zwischen Daumen und Zeigefinger, während sie ihren Snack knabbert, voller Staunen, dass sie etwas berührt, das ihre Eltern vor nicht allzu langer Zeit berührt haben. Dass dieses Etwas es irgendwie von dort hierher geschafft hat. Später, in ihrem Zimmer, hinter der fast geschlossenen Tür liest sie den Brief mehrmals hintereinander. Er ist stets gleich aufgebaut. Zuerst schreibt Mummy, dann Dad, dessen Worte sich in den enger werdenden Platz quetschen und manchmal noch an den Rändern hoch- und runterwandern. Dads Schrift ist schwer zu entziffern; Mummys ist verschnörkelt. Sie erzählen ihr von den Nachbarn, von den Großeltern, was es zum Abendessen gab. Dad erzählt Witze. Beatrix versucht, sich ihre Stimmen vorzustellen, während sie liest.

Jedes Mal wenn sie mit dem Brief durch ist, reißt sie vorsichtig die Briefmarke für Gerald heraus und legt ihn danach zu den anderen in ihrer Schreibtischschublade. Manchmal liest sie sie nachts alle hintereinander. Und je öfter sie sie liest, desto mehr denkt sie an das, was nicht drinsteht. Sie weiß nicht, ob sie jede Nacht im Luftschutzkeller verbringen. Sie weiß nicht, wie oft die Bomben fallen. Sie fragt sich, ob sie ihren Stuhl am Küchentisch stehen gelassen haben.

Beatrix antwortet jede Woche; nach der Kirche und dem Sonntagsessen setzt sie sich an den kleinen Schreibtisch in ihrem Zimmer, das auf den Garten hinausgeht. Sie möchte ihnen von den Farben hier erzählen: von den gelben Blättern, die den Boden unter den Bäumen bedecken; von den kleinen lila Blumen auf der Tapete in ihrem Zimmer; von den leuchtenden Himbeeren, deren Saft beim Frühstück aus den Muffins läuft. Aber sie findet nie die richtigen Worte. Oder die Worte sind da, aber es fühlt sich falsch an, sie hinzuschreiben. Sie stellt sich vor, wie die beiden in der dunklen Wohnung auf dem Sofa sitzen und ihr Vater an dem Loch in der Armlehne pult, aus dem die weiße Füllung herausquillt. Oder wie sie in den Luftschutzkeller unter dem Haus laufen, zu ihrem Platz neben der wackeligen Holztreppe. Sie riecht den Uringestank, hört das leise Getrappel der Ratten. Alles dort kommt ihr düster vor, nur Grau und Braun. Deshalb erzählt sie ihnen lieber lustige Geschichten über Gerald. Wie gut sie in Latein ist. Dass William Ärger bekommen hat, weil er bei einer Geschichtsklausur geschummelt hat. Von ihrer neuen Freundin, die sie nach Boston ins Konzert eingeladen hat.

Sie erzählt ihnen nicht, dass sich Mr Gregory jeden Samstagmorgen eine alte, beerenfleckige Schürze umbindet und Pfannkuchen macht. Dass Mrs Gregory sie jeden Abend badet und zu Bett bringt. Dass sie die Sonntagnachmittage liebt, wenn sie mit den Gregorys in der Bibliothek sitzt und im Radio das New York Philharmonic Orchestra hört. Dass sie sich in manchen Nächten nicht mehr erinnern kann, wie die Eltern aussehen. Dann schaltet sie das Licht an und betrachtet die Fotos, versucht, sich die Einzelheiten einzuprägen. In solchen Nächten tauchen sie in ihren Träumen auf.

William

Beatrix ist anders als alle Mädchen, die William kennt. Sie ist klug, und sie ist ernst, außer wenn sie über Geralds alberne Scherze lacht. Eigentlich sollte sie Gerald nicht auch noch dazu ermutigen, aber trotzdem freut sich William über diese Momente, denn es ist, als würde sich etwas von ihr lösen, wie ein Vogel, der davonfliegt. Ihr Gesicht entspannt sich und scheint förmlich aufzublühen. Sie ist nicht hübsch, so wie Lucy Emery oder Marian Smith mit ihren blonden Locken und blauen Augen. Beatrix’ Augen und Haare sind dunkel, und wenn sie sich Sorgen macht, werden ihre Augen fast schwarz. Man weiß nie, was sie denkt. Und wenn sie besonders ängstlich ist, reibt sie sich mit dem Daumen unter der Nase oder wickelt eine Haarsträhne um ihre Finger.

William hätte nichts dagegen, quer übers Meer weggeschickt zu werden, um bei einer anderen Familie zu leben. Er fragt sich, wie Beatrix ihr »Abenteuer«, wie seine Mutter es nennt, findet. Gegenüber der Familie spricht sie nie darüber – was sie wohl ihren neuen Freundinnen erzählt? Sie beantwortet Mutters und Vaters Fragen, aber sie sagt immer nur das Nötigste. Er weiß, dass für sie alles hier anders ist, und genau darüber wüsste er gerne mehr. Inwiefern ist es anders? Wie war es, in London zu leben, wo es jede Nacht Bombenalarm gab?

Er versucht sich ihre Wohnung in London vorzustellen. Er sieht bodentiefe Fenster und Kerzen auf dem Kaminsims. Gemälde in Blau- und Purpurtönen an den Wänden. Dunkle Samtvorhänge. Wenn sie nicht da ist, betrachtet er das Foto von ihren Eltern, das neben ihrem Bett steht. Ihr Vater gefällt ihm; er sieht aus, als wäre er immer zu Scherzen aufgelegt, im Gegensatz zu seinem eigenen Vater, der so gut wie keinen Humor hat. Ihre Mutter wirkt ein wenig kalt, distanziert. Doch den Ausdruck auf ihrem Gesicht – kein Lächeln, aber auch kein Stirnrunzeln – hat er schon oft bei Beatrix gesehen, wenn sie in Gedanken anderswo ist, bevor etwas sie in die Gegenwart zurückholt und sie daran erinnert, wo sie ist.

In der Woche vor Thanksgiving spannt seine Mutter sie alle nach der Schule ein, um den Garten und die Terrasse winterfertig zu machen, Pies und Kuchen zu backen und im Haus aufzuräumen. Sie feiern Thanksgiving abwechselnd hier und bei seinen drei Tanten, und dieses Jahr sind sie an der Reihe. William spürt eine kribbelnde Vorfreude, ist aber bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Gerald hingegen platzt förmlich vor Begeisterung. Das wird so toll, sagt er zu Beatrix, während sie die Terrasse sauber machen. Es gibt lauter leckere Sachen. Klingt großartig, sagt Beatrix und nickt, obwohl William weiß, dass sie das alles schon gehört hat. Sie recht einen weiteren Haufen Laub auf die schwarze Plane. Er musste ihr zeigen, wie man einen Rechen benutzt. Gerald wirft sich auf den Laubhaufen. Ich kann’s gar nicht erwarten, ruft er in den strahlend blauen Himmel. Ich liebe Thanksgiving!

Beatrix schüttelt den Kopf über ihn, dann wendet sie sich William zu. Was ist mit dir?, fragt sie. Liebst du es auch? Wenn sie solche Fragen stellt, neigt sie den Kopf zur Seite, und sie will eine richtige Antwort, will wissen, was er wirklich denkt. Er ist sich nicht sicher, ob es sonst noch jemanden in seinem Leben gibt, der Fragen stellt, ohne schon eine Antwort im Sinn zu haben. Es ist okay, sagt er, recht das Laub aus dem Blumenbeet und wirft es auf Gerald. Was daran gefällt dir am besten?, fragt sie. Die Verwandten? Das Essen? Das Danken? Das Danken. Darüber hat er noch nie nachgedacht. Dass es eigentlich ein Fest des Dankens ist. Es ist ein Tag, ein schöner Tag, um mit allen zusammenzukommen. Ein Tag, an dem sein Vater zu abgelenkt ist, um sich über ihn zu ärgern. Aber er bezweifelt, dass seine Familie Dankbarkeit empfindet. Die Familie seiner Mutter lebt schon ewig hier, ihre Vorfahren lassen sich bis zu den Pilgervätern zurückverfolgen. Wahrscheinlich waren ein paar davon schon beim allerersten Thanksgiving dabei. Sollten sie dankbarer sein, als sie es sind? Die Frage hat er sich noch nie gestellt. Aber jetzt tut er es, wegen Beatrix. Vielleicht ist sein Bild von ihrem Zuhause ganz falsch.

Alles, sagt er. Aber vor allem das Danken. Dafür, dass wir von den Briten weg sind. Dass wir unser eigenes Land haben. Er grinst sie an, und sie verdreht die Augen. Na, dann bin ich mal gespannt, was am 4. Juli passiert, sagt sie. Wahrscheinlich werde ich geteert und gefedert und ins Hafenbecken geworfen. O ja, wir sind schon bei der Planung, sagt William und recht noch mehr Erde und Laub auf den zappelnden Gerald.

Seine Mutter ruft von der Hintertür, dass Gerald mit dem Unsinn aufhören und Beatrix ihr beim Tischdecken helfen soll, und Beatrix gibt William ihren Rechen, aber nicht ohne zuvor ebenfalls noch eine Handvoll Laub auf Gerald zu werfen. Als sie an William vorbeiläuft, schenkt sie ihm ein seltenes Lächeln, und er nimmt kurz ihren Duft wahr. Ihre Wangen sind leuchtend rot.

Beatrix

Auf dem Küchentisch liegen nach der Schule zwei persönlich überbrachte Einladungen. Edle, elfenbeinfarbene Umschläge, auf dem einen Beatrix’ Name, auf dem anderen Williams, beide in kunstvoller Schrift. Mrs G lächelt, als Beatrix ihren vorsichtig öffnet, um ihn nicht zu zerreißen. Noch nie hat sie etwas so Elegantes mit ihrem Namen darauf gesehen. Gerald schaut vom anderen Tischende aus zu, das Kinn in die Hände gestützt. Eine Weihnachtsparty bei Lucy Emery, am Samstag vor Weihnachten. Wir müssen dir ein Kleid kaufen, Kind, sagt Mrs G. Am Wochenende fahren wir in die Stadt. Beatrix zieht die Stirn kraus. Aber ich habe doch mein rotes Kleid, sagt sie. Mein Lieblingskleid. Kurz herrscht Schweigen, dann dreht Mrs G sich um. Nein, Liebes, sagt sie sanft. Bei den Emerys geht es nobel zu. Du brauchst ein richtiges Partykleid.

Am Samstag fahren Beatrix und Mrs G zum Einkaufsviertel Downtown Crossing. Die Straßen sind voller Menschen, und Mrs G bleibt vor dem Kaufhaus Jordan Marsh stehen und schiebt sich, Beatrix’ Hand fest in ihrer, durch das Gedränge. Das musst du sehen, sagt sie. Im Schaufenster feiert eine Familie Weihnachten. Der Vater sitzt in einem karierten Morgenmantel am Kamin und liest die Zeitung. Die Mutter, in einem hellblauen Nachthemd und passendem Morgenmantel, klatscht in die Hände, während die drei Kinder – zwei Jungen und ein Mädchen – ihre Geschenke auspacken. Der Fußboden ist mit Spielzeugen und Geschenkpapier übersät. Aus den außen angebrachten Lautsprechern tönen Weihnachtslieder. Beatrix gehen die Augen über. So etwas hat sie noch nie gesehen. Genau wie unsere Familie, denkt sie, der Vater, der liest, die Mutter, die sich kümmert, und zwei Jungen und ein Mädchen. Sie spürt, dass Mrs G sie anschaut, wie sie es immer tut, wenn sie sie gerne umarmen würde, aber das Gefühl hat, dass sie es besser lassen sollte.

Sie betreten das hell erleuchtete und geschäftige Kaufhaus, und Mrs G legt Beatrix die Hand auf den Rücken, dirigiert sie sanft zu den Fahrstühlen. Im zweiten Stock, wo sie aussteigen, reihen sich Kleider an den Wänden, die funkeln wie Edelsteine. Oh, ist das herrlich, sagt Mrs G voller Freude, während sie über Seide und Satin streicht. Es ist Jahre her, dass ich in so ein Kleid gepasst habe. Aber mit deiner Figur? Du kannst alles tragen, was dir gefällt. Beatrix nickt. Sie hat ihr Kleid schon entdeckt. Es ist aus blauem Satin mit einem Unterrock aus Tüll in einem helleren Blau, und schüchtern zeigt sie darauf. So eins hat Prinzessin Margaret letztes Jahr getragen. Mrs G winkt eine Verkäuferin herbei, und im Nu ist die Umkleide voller Kleider. Beatrix probiert eins nach dem anderen an, allein, und tritt dann in den schmalen Flur hinaus, damit Mrs G den Reißverschluss hochzieht und die Haken und Ösen schließt. Sie geht vor dem großen Spiegel auf und ab und lernt, sich schwungvoll zu drehen, sodass ein wunderbares Rascheln zu hören ist, wenn die Röcke aufwirbeln und ihre Beine und die Wand streifen.

Das blaue Kleid gefällt Beatrix am besten, obwohl Mrs G das smaragdgrüne bevorzugt. Es passt gut zu deiner Haut und deinem Haar, Liebes, und es hat so etwas Weihnachtliches. Aber ich möchte, dass du glücklich bist und dich in deinem Kleid wohlfühlst, also nehmen wir das blaue, ja? Beatrix nickt nur, weil sie Angst hat, dass sie weinen muss, wenn sie etwas sagt. Noch nie hat sie etwas so Elegantes angehabt. Außerdem, sagt Mrs G zu der Verkäuferin, brauchen wir noch passende Schuhe und Handschuhe. Mach dir keine Gedanken wegen des Schmucks, Liebes, sagt sie zu Beatrix, ich habe eine Perlenkette, die genau die richtige Länge für den Ausschnitt hat.

Als sie mit den Schachteln in der Hand zum Ausgang gehen, erblickt Beatrix in der Menge ein Paar Beine, die aussehen wie die ihrer Mutter, die Strumpfnaht in einer perfekten Linie auf der schlanken Wade. Im ersten Moment denkt sie, sie ist es, und streckt mit einem klagenden Laut die Hand aus, um ihre Mutter beim Ärmel zu fassen. Was ist denn, Liebes?, fragt Mrs G besorgt, und die Frau dreht sich um, und es ist gar nicht ihre Mutter. Natürlich nicht. Beatrix schüttelt den Kopf und spürt, wie ihr die Röte in die Wangen steigt, während Leute sich an ihnen und an den Ständen mit Make-up und Parfüm, Handtaschen und Schmuck vorbei Richtung Ausgang schieben. Entschuldigung, murmelt sie. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen, aber ich habe mich geirrt. Tut mir leid. Ihr fällt auf, dass sie während dieser Einkaufstour kein einziges Mal an Mummy gedacht hat. Was hätte sie von alldem gehalten? Hätte sie das Kleid gebilligt? Soll sie anbieten, es selbst zu bezahlen, obwohl sie kein Geld hat? Vielleicht kann Dad ja welches schicken. Mrs G kämpft sich neben ihr vorwärts. Ach, Bea, sagt sie, und Beatrix sieht, wie sich leise Sorge auf ihrem Gesicht abzeichnet, wie immer, wenn Beatrix sich zurückzieht, hier gibt es ganz köstliche Blaubeermuffins. Sollen wir uns noch etwas gönnen, bevor wir gehen? Beatrix schüttelt erneut den Kopf, mit einem Mal wütend auf diese Frau, die offenbar alles hat, der nichts fehlt. Sie merkt, dass sie sie verletzt hat, aber sie ist nicht in der Lage, ihr zu erklären, was sie beschäftigt. Dann nimmt Mrs Gs Gesicht wieder den gewohnten ruhigen Ausdruck an; eine Art Schutz, wie Beatrix weiß. Sie hat gelernt, dass jeder eine Maske trägt. Dann lass uns zum Auto gehen, Liebes. Das hier war wirklich anstrengend.

Auf dem Heimweg starrt Beatrix aus dem Seitenfenster. Zwei Tage zuvor hat es geschneit, und jetzt ist selbst das prächtige Boston grau und kalt und schmutzig. Sie fragt sich, ob zu Hause auch Schnee liegt. Wie kann es sein, dass dort Krieg herrscht? Oft kommt es ihr so vor, als würde sie in einem Märchenland leben, einem Land, wo man schöne Kleider kauft und auf Partys geht und Blaubeermuffins isst. Das Mädchen in dem Märchen ist ein anderes als das zu Hause. Es ist nur eine Fassade, sagt sie sich, bald wird sie wieder in ihrem richtigen Zuhause sein, und das hier wird zu etwas werden, das sie in einem Traum erlebt hat. Wie dumm von ihr zu glauben, dass die Familie im Schaufenster ihre wäre, dass sie hierhin gehörte. Sie sieht auf die Uhr, die sie auf Londoner Zeit eingestellt lässt. Zu Hause ist es jetzt acht Uhr abends. Ihre Eltern sitzen im Dunkeln, die Kerzen sind zu Stummeln heruntergebrannt, dann verlöschen sie.

Reginald

An Weihnachten trifft Reginald alle Vorbereitungen, um in der Fabrik einen Telefonanruf empfangen zu können. Er geht in seinem kalten, dunklen Aufseherbüro auf und ab und wartet darauf, dass es klingelt; Millie sitzt neben dem Apparat. Sie haben es vergessen, sagt Millie, als fünf Minuten vergangen sind. Unsinn, erwidert Reginald, irgendwas klappt nicht mit der Verbindung. Heute rufen doch alle irgendwen an. Wir hätten sie anrufen sollen, sagt Millie, und Reginald schließt die Augen. Es hat keinen Sinn, darauf zu antworten.

Als das Telefon schließlich klingelt, zucken sie beide zusammen, und Reg sieht Millie geradezu überrascht an. Sie nimmt den Hörer ab, bevor es ein zweites Mal klingeln kann. Schätzchen, sagt sie, meine Süße. Reg sieht trotz der Dunkelheit, wie sich ihr Gesicht verhärtet. Ja, hallo, Nancy, sagt sie. Danke, Ihnen auch. Millie klingt wie ihre Mutter, kalt und förmlich. Sie unterhalten sich ein paar Minuten, aber Reg nimmt nichts davon wahr, so sehr sehnt er sich danach, die Stimme seiner Tochter zu hören. Dann verändert sich Millies Tonfall, wird weicher. Schätzchen, sagt sie erneut, meine Süße. Und dann weint sie so sehr, dass sie nicht mehr sprechen kann. Reg nimmt ihr den Hörer aus der Hand und hält ihn zwischen sie beide. Beatrix, sagt er, sprich mit uns. Und das tut sie. Ihre liebe Stimme, die aus der Dunkelheit erklingt, die Worte unterbrochen von knisterndem Schweigen.

Auf dem Heimweg wirken die vertrauten Straßen fremd in der Dunkelheit. Millie ist still, distanziert, die Hände in den Taschen, die Lippen zusammengepresst.

Reg hat gemerkt, dass Beatrix anders geklungen hat, aber er kann nicht genau sagen, was es war. Wahrscheinlich der Akzent. Hier und da klang schon etwas Amerikanisches durch. Sie hat ausgiebig von einer Party erzählt, auf der sie mit William war – oder war es Gerald? Er kann sich nicht merken, wer wer ist –, und als er mit Ethan gesprochen hat, hat der sie Bea genannt. Da war eine Vertrautheit zu spüren, die Reginald eigentlich beruhigen sollte, ihm das Gefühl geben, dass sie dort gut aufgehoben ist, doch stattdessen spürt er, wie sich sein Magen zusammenkrampft.

Frohe Weihnachten, sagt Millie später und hebt in der dunklen, nur von Kerzenstummeln erleuchteten Wohnung ihr Glas. Reginald tut es ihr gleich, doch er bringt kein Wort heraus.

Gerald

Gestern Abend vorm Zubettgehen hat es angefangen zu schneien, und als Gerald aufwacht, entdeckt er begeistert, dass seine Fensterscheiben mit Eisblumen bedeckt sind, die aussehen wie Fichtenzweige. Keine zwei Schneeflocken sind gleich. Gerald überlegt staunend, wie viele Möglichkeiten es gibt. Der Schnee fällt immer noch, vom Wind umhergewirbelt, und die Welt ist ganz still geworden. Sonst ist noch niemand wach. Als er King zur Hintertür hinauslässt, verschwindet der Hund hinter einer Schneewehe und springt dann mit allen vieren zugleich über den schneebedeckten Rasen.

Gerald haucht seinen warmen Atem auf die Glasscheibe der Tür und schreibt mit dem Zeigefinger seine Initialen hinein: GG, 9. Es reizt ihn nicht, hinauszugehen. Das Schöne an einem Tag wie diesem ist nicht, dass für ihn die Schule ausfällt. Er geht gern zur Schule, obwohl er gelernt hat, das für sich zu behalten. Aber bei diesem Wetter kann er zu Hause bleiben und herumpusseln. Er kann an seiner Briefmarkensammlung arbeiten oder seiner Mutter in der Küche helfen oder mit Bea ein Brettspiel machen. Willie will bestimmt raus, Schlitten fahren mit seinen Freunden, die Buckelpiste am Hügel hinunterjagen.

Hinter sich auf der Treppe hört er Schritte. Er dreht sich um. Es ist Bea, die wie immer leise und bereits fertig angezogen herunterkommt. Er hat sie noch nie im Nachthemd gesehen. Trägt sie überhaupt eines, wie Mutter? Vielleicht zieht sie ja auch einen Schlafanzug an, so wie er. Morgen, G, sagt sie mit offenem Gesicht und großen Augen. Ich hab noch nie so viel Schnee gesehen. Sie stellt sich zu ihm ans Fenster, und sie stehen schweigend da, Schulter an Schulter, und sehen zu, wie King draußen herumtobt. Sieh mal, sagt sie und zeigt auf etwas. Was sind denn das für Spuren?

Wahrscheinlich die von einem Kaninchen. Oder einer Katze. Bea nickt. Winter in der Stadt ist ganz anders, sagt sie schließlich. Und unsere Wohnung ist im vierten Stock, deshalb habe ich noch nie so eine Welt ganz in Weiß gesehen. Gerald erwidert nichts darauf. Er hat gelernt, dass man sie am besten zum Reden bekommt, wenn man nicht zu viele Fragen stellt, obwohl er Mühe hat, sich zurückzuhalten, so viele drängen sich in seinem Kopf.

Es gefällt ihm, sie um sich zu haben. Anfangs war es aufregend, aber jetzt gehört sie einfach zum Haushalt und füllt einen Platz aus, von dem er gar nicht gemerkt hat, dass er leer war. Er vergöttert Willie, aber er weiß, dass sein Bruder sich nicht mehr für ihn interessiert; bestenfalls duldet er ihn, und Gerald spürt, wie Willie sich immer weiter entfernt. Und in diese Lücke passt Bea perfekt. Er genießt es, dass sie ihn G nennt. Wie gerne würde er in diesem Moment ihre Hand halten oder den Arm um ihre Schulter legen oder sie auf die Wange küssen, aber er weiß, dass sie das nicht will, also begnügt er sich damit, sie neben sich zu spüren. Beatrix haucht ebenfalls auf die Scheibe und schreibt ihre Initialen direkt über seine: BT, 11. So stehen sie zusammen da, bis King wiederauftaucht, die Schnauze mit nassem Schnee bedeckt, und hereingelassen werden will.

Millie