»Und dann bin ich auch noch Hauptschule gekommen…« - Matthias Völcker - E-Book

»Und dann bin ich auch noch Hauptschule gekommen…« E-Book

Matthias Völcker

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Beschreibung

Die Hauptschule bzw. die Hauptschulbildung befindet sich noch immer in einer tiefen Krise – und das trotz unzähliger Reformbemühungen vonseiten der Bildungspolitik und bereits erfolgter Nachrufe. In der Forschungsliteratur wird die Hauptschule mittlerweile als ein Ort beschrieben, an dem Chancenungleichheit sukzessive produziert und reproduziert wird. Darüber hinaus finden sich Beschreibungen und Begriffe für diese Schulform, in denen implizit immer eine soziale Abwertung zum Ausdruck gelangt, wenn etwa von »Restschule«, »Verliererschule« oder gar von »Verwahranstalten für die Hoffnungslosen« die Rede ist. Matthias Völcker untersucht diese gesellschaftlich produzierte Verachtung und hinterfragt, wie die Schülerinnen und Schüler an Hauptschulen selbst mit dieser Stigmatisierung umgehen. Er befragte hierfür annähernd 1.300 Schülerinnen und Schüler und führte zahlreiche Gespräche, in denen die Schülerinnen und Schüler von ihren alltäglichen Erfahrungen und über das gesellschaftliche Bild einer entwerteten Schulform berichten. Es eröffnen sich damit Einblicke in einen Bildungsgang, der nicht nur gesellschaftlich weitgehend diskreditiert ist, sondern der gleichwohl diskreditierend wirkt und viele Benachteiligungen institutionell sogar noch verstärkt. Matthias Völcker zeigt sowohl theoretisch als auch empirisch, dass der Status »Hauptschüler« für die Betroffenen einen deutlichen sozialen Makel darstellt: »[…] dann bin ich auch noch Hauptschule gekommen und dann wars ja ganz vorbei – dann war ich dumm.« (Karina, 16 Jahre)

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Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2013 an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen.

Inhaltsverzeichnis

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Einleitung: Die Krise ‚der‘ Hauptschulen

Erster Teil: Die Hauptschule im Bildungssystem

1 Eine Schulform in der ‚Falle‘?

2 Von der ‚Schule der Zurückgebliebenen‘ zur ‚Restschule‘?

2.1 Die anerkennungsbezogenen Probleme von Volks- und Hauptschulen

2.2 Die ‚neuen‘ Hauptschulen und ihre problematische Stellung im Bildungssystem

3 Zur Entwicklung der Schülerzahlen an Hauptschulen

4 Das Stigma der Hauptschule

4.1 Die Konstitution des sozialen Raums im Kontext von Stigmatisierungsprozessen

4.2 Stigmatisierungen und soziale Ungleichheit in schulischen Kontexten

5 ‚Barrieren‘ des Hauptschulabschlusses beim Übergang in das Ausbildungssystem und die Folgen fehlender (beruflicher) Perspektiven

5.1 Die Hürden des Übergangs für geringqualifizierte Jugendliche

5.2 Die Folgen fehlender beruflicher Perspektiven für die Jugendlichen

6 Zwischenfazit (1) – Die Hauptschule im deutschen Bildungssystem

Zweiter Teil: Identität

7 Identität oder die Frage nach den Möglichkeiten des Gleichseins in der Spätmoderne

8 Der Identitätsbegriff im Spiegel seiner historischen und disziplinären Entwicklung

8.1 Die Identitätstheorie von George Herbert Mead

8.2 Die Identitätstheorien von Erving Goffman und Lothar Krappmann

8.3 Die Identitätstheorie von Erik H Erikson

8.4 Identität und/oder Selbstkonzept?

8.5 Die Theorie der sozialen Identität

9 Lebenswelt – ‚total diffus‘?! Zum situativen Charakter von Identität

9.1 Die neue ökonomische Rationalität

9.2 Die historischen Grundlagen neoliberaler Theorie(n)

9.3 Der ‚Sieg‘ der Neoliberalismen

9.4 Das Subjektverständnis in der neoliberalen Theorie

9.5 Die Revitalisierung der sozialen Frage

9.6 Die Instrumentalisierung pädagogischer Arbeit

9.7 Von ‚Patchworkern‘ und ‚Driftern‘: Identitätsprozesse im Wandel

9.8 Der narrative Charakter von Identität

10 Zwischenfazit (2) – Identität und institutionalisierte Identitätsbeschädigungen

Dritter Teil: Zur Identitätskonstruktion bei Hauptschülern

11 Fragestellungen und methodischer Zugang

11.1 Das Untersuchungsdesign

11.2 Operationalisierung von Stigmaerleben und schulischer Merkmale

11.2.1 Operationalisierung des Konstrukts Stigma

11.2.2 Operationalisierung schulischer Variablen

11.3 Die Verknüpfung quantitativer und qualitativer Verfahren

12 Form und Struktur des Hauptschulstigmas

12.1 Stichprobe und Vorgehensweise

12.2 Schulbezogene Untersuchungsinstrumente

12.3 Instrument zur Erfassung des Stigma-Erlebens bei Hauptschülern

12.4 Deskriptive Ergebnisse zum Stigmaerleben

12.5 Stigmatisierungen im Kontext schulischer Faktoren

12.5.1 Stigmafaktor: Leistungsfähigkeit und Motivation

12.5.2 Stigmafaktoren: Konformität und Selbstrepräsentation

12.6 Zwischenfazit (3) – Kollektive Identitätsformationen im Hauptschulbildungsgang

13 Entwurf einer Theorie des Hauptschulstigmas: Zur Entstehung und zum Umgang mit identitären Beschädigungen

13.1 „Es heißt ja dann immer, ja, dumm die meisten sind ja Schlampen […], können einfach nichts, die kriegen doch sowieso keinen Job, es werden doch sowieso Hartz IV Empfänger“: Zur sozialen Konstitution des Hauptschulstigmas

13.1.1 Viele Wege führen auf die Hauptschule

13.1.2 Schulbiographische Pfade (1): Der direkte Weg: von der Grundschule auf die Hauptschule

13.1.3 Schulbiographische Pfade (2): vom Gymnasium oder der Realschule auf die Hauptschule

13.1.4 Schulbiographische Pfade (3): von der Förderschule auf die Hauptschule

13.2 Konstitution und soziale Bedeutung des Hauptschulstigmas

13.2.1 Hauptschüler über Hauptschüler

13.2.2 Hauptschüler und die Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Position

13.2.3 Die Rolle der Schule und des Schulalltags im Kontext von Stigmatisierungsprozessen

13.2.4 Das soziale Umfeld im Kontext des Hauptschulstigmas

13.2.5 Gesellschaftliche und mediale Aspekte im Kontext von Stigmatisierungen

13.3 ‚Eigentlich bin ich ja ganz anders‘ – Die Konstitution des Selbstbildes im Kontext institutioneller Identitätsbeschädigungen

13.3.1 Distinktion und Differenzierung

13.3.2 Distinktion und Differenzierung als Aushandlungsprozesse

13.3.3 Distinktion und Differenzierung als Ablehnungsprozesse

13.3.4 Anerkennung und Respektabilität

13.3.5 Handlungsfähigkeit

13.4 Zwischenfazit (4) – Stigmatisierungen und deren Folgen

14 „Dann bin ich auch noch Hauptschule gekommen und dann wars ja ganz vorbei“: Stigmatisierungsprozesse im Bildungssystem und deren identitäre Folgen

Literatur

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabellen

Tab. 1: Schülerinnen und Schüler im achten Schuljahr differenziert nach Schulart 1952-2005

Tab. 2: Schulbezogene Items der Untersuchung

Tab. 3: Stichprobe aufgeteilt nach Schulform, Jahrgang und Geschlecht

Tab. 4: Konfirmatorische Faktorenanalysen im Kontext des Stigmas einer kollektiven Identität von Hauptschülerinnen und Hauptschülern (Modellberechnungen und Fit-Werte)

Tab. 5: Korrelationen der Faktoren

Tab. 6: ICCs auf Klassenebene für die gesamte Stichprobe mit 92 Clustern (Schulklassen)

Abbildungen

Abb. 1: Schulstrukturreformen und Auswirkungen in den Bundesländern unter besonderer Berücksichtigung der Hauptschule

Abb. 2: Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I

Abb. 3: Zeitlicher Verlauf und Methoden des Forschungsprojektes

Abb. 4: Beispielitem zur Erfassung der verinnerlichten Fremdwahrnehmung von Hauptschülerinnen und Hauptschülern

Abb. 5: Adjektivliste zur Erfassung schulformbezogener Stigmatisierungen

Abb. 6: Itemkennwerte zur Skala: Allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung

Abb. 7: Itemkennwerte zur Skala: Selbstkonzept intellektueller Fähigkeiten

Abb. 8: Itemkennwerte zur Skala: Fürsorglichkeit des Lehrers

Abb. 9: Itemkennwerte zur Skala: Partizipation im Schulalltag

Abb. 10: Itemkennwerte zur Skala: Partizipation im Unterricht

Abb. 11: Itemkennwerte zur Skala: Schulangst

Abb. 12: Itemkennwerte zur Skala: Umgang und Zusammenhalt in der Klasse

Abb. 13: Itemkennwerte zur Skala: Streit und Misstrauen in Klasse

Abb. 14: Darstellung der verwendeten Instrumente in der Untersuchung

Abb. 15: Itemkennwerte zur Skala: Stigma Leistungsfähigkeit

Abb. 16: Itemkennwerte zur Skala: Stigma Motivation

Abb. 17: Itemkennwerte zur Skala: Stigma Konformität

Abb. 18: Itemkennwerte zur Skala: Stigma Selbstrepräsentation

Abb. 19: Itemkennwerte zur Skala: Kompensation

Abb. 20: Übersicht über Stigma- und Kompensationsskalen

Abb. 21: Balkendiagramme zur prozentualen Verteilung der Stigmawahrnehmungen

Abb. 22: Bivariate Zusammenhangsmaße zwischen Stigmavariablen, Kompensation und schulbezogenen Variablen (gesamte Erhebungspopulation)

Abb. 23: Bivariate Zusammenhangsmaße zwischen Stigmavariablen, Kompensation und schulbezogenen Variablen (nur Hauptschule)

Abb. 24: Bivariate Zusammenhangsmaße zwischen Stigmavariablen, Kompensation und schulbezogenen Variablen (nur Haupt- und Realschule)

Abb. 25: Bivariate Zusammenhangsmaße zwischen Stigmavariablen, Kompensation und schulbezogenen Variablen (nur KGS)

Abb. 26: OLS-Regression mit abhängiger Variable Leistungsfähigkeit.

Abb. 27: OLS-Regression mit abhängiger Variable Motivation

Abb. 28: OLS-Regression mit abhängiger Variable Konformität

Abb. 29: OLS-Regression mit abhängiger Variable Selbstrepräsentation

Abb. 30: Berufswünsche nach Branchen und Gruppen von Jungen und Mädchen (Angaben in Prozent), codiert nach ISCO-88

Abb. 31: Entwurf einer Theorie des Hauptschulstigmas

Einleitung: Die Krise ‚der‘ Hauptschulen

„Ich war gut, ich konnte alles und in der Grundschule mein Abgangszeugnis mir hat nur eine Note gefehlt, äh eine Note hätte ich nur, um eine Note hätte ich mich in einem Fach verbessern müssen, ich wär aufs Gymnasium gekommen. Und ich war richtig gut und dann bin ich sitzengeblieben und das kann ja jedem ma passiern. Ja, und dann bin ich da äh total gemobbt worden von diesen Lehrern ja und ja-und damit hats angefangen und dann bin ich auch noch nochma runter, dann bin ich auch noch Hauptschule gekommen und dann wars ja ganz vorbei - dann war ich dumm.“

(Karina1, 16 Jahre)

Der Schulbesuch ist für Kinder und Jugendliche mit neuen Erfahrungen aber auch vielen Herausforderungen verbunden. Als eine der zentralen Institutionen der Gesellschaft übernimmt die Schule dabei eine Vielzahl an Aufgaben und Funktionen. Dazu gehören neben Qualifikations-, Allokations- und durchaus umstrittenen Selektionsfunktionen auch Integrations- und Legitimationsleistungen und das Schulsystem gilt als der „Ort der gesellschaftlich kontrollierten und veranstalteten Sozialisation“ (Fend 1981: 4; auch Fend 2011; Wiater 2006; Veith 2008). Die Schule ist außerdem ein Ort der Kulturüberlieferung, in der Schülerinnen und Schüler2 „im weitesten Sinne […] Erfahrungen, Inhalte, Symbole, Fertigkeiten, Maßstäbe und Einstellungen sowie […die, M.V.] charakteristischen kulturellen Lebensweisen“ erfahren und kennenlernen (Biller [o.J.]: 487).3 Damit ist Schule auch ganz zentral an der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung beteiligt.

In diesem Zusammenhang steht auch die vorangestellte Aussage der 16-jährigen Karina. Allein in dieser kurzen Ausführung verbinden sich auf die Persönlichkeit bezogene Zuschreibungen, die mit einer ganz bestimmten Schulform verbunden sind und deren Besuch durchaus mit destruktiven Folgen für die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung von Schülerinnen und Schülern einhergehen kann. Karina besucht eine Hauptschule und damit eine Schulform über ‚die‘4 bereits viel und teilweise kontrovers, berichtet und geschrieben worden ist. Ein Schüler oder eine Schülerin an einer Hauptschule zu sein, bedeutet nicht nur eine Schulform am ‚unteren Ende der Bildungshierarchie‘ besuchen zu müssen, sondern ist gleichwohl an eine Vielzahl negativer wie abwertender Zuschreibungen und Persönlichkeitseigenschaften geknüpft, welche in vereinfachten wie diskreditierenden Typisierungen wie ‚faul‘, ‚dumm‘ oder ‚asozial‘ zum Ausdruck gelangen können. In der Forschungsliteratur wird die Hauptschule mittlerweile als ein Ort der gesellschaftlichen Produktion von Verachtung beschrieben (Wellgraf 2012). Darüber hinaus finden sich Beschreibungen und Begriffe für diese Schulform, in denen implizit immer eine soziale Abwertung zum Ausdruck gelangt, wenn etwa von ‚Restschulen‘, ‚Verliererschulen‘ (vgl. Böhnisch/Schröer 2001: 104f.) oder gar von ‚Verwahranstalten für die Hoffnungslosen‘ die Rede ist (vgl. etwa Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 15ff.).5

Die vorliegende Arbeit6 handelt von diesen gesellschaftlichen Bildern und hinterfragt, wie Schülerinnen und Schüler an Hauptschulen damit umgehen. Damit stehen v.a. die Folgen der Schulformzugehörigkeit für Schülerinnen und Schüler in einer gesellschaftlich entwerteten Schulform im Mittelpunkt. Hierbei berichten und erzählen Schülerinnen und Schüler über ihre alltäglichen Erfahrungen und über das gesellschaftliche Bild ihrer Schulform. Damit eröffnen sich aber auch Einblicke in eine Schulform, die nicht nur gesellschaftlich weitgehend diskreditiert ist, sondern in der viele Benachteiligungen institutionell sogar noch verstärkt werden und die sich mittlerweile in einer Art Legitimationsvakuum befindet. Zwar ist die Hauptschule, wie alle anderen Schulformen auch, eine Institution der Gesellschaft und damit auch eine für die Gesellschaft. Doch kämpft sie wie kein anderer Bildungsgang mit erheblichen strukturellen, curricularen wie auch auf die Akzeptanz bezogenen Problemen.

Doch steht die Hauptschule nicht allein, sondern ist vielmehr fest eingewoben in ‚gesellschaftliche Strukturen‘, die sich in den vergangenen Jahrzehnten durch vielfältige und tiefgreifende Veränderungen und Umbrüche auszeichnen. In dieser Arbeit werden deshalb auch die Zusammenhänge zwischen sozialen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen im Zusammenhang mit identitären Folgen am Beispiel der Zugehörigkeit zu einer entwerteten Schulform untersucht.

Denn die Folgen der Hauptschulzugehörigkeit gewinnen vor dem Hintergrund dieser massiven gesellschaftlichen Umbrüche an zusätzlicher Brisanz. Dies zeigt sich etwa besonders eindringlich am Beispiel der Verschiebungen bezogen auf die Akzeptanz der (Hauptschul-)Zertifikate, die längst nicht mehr mit den Hoffnungen und Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler aber eben auch nicht mehr den Erwartungen von Arbeitgebern entsprechen. Darüber hinaus wenden sich v.a. die Eltern in der Schulwahlentscheidung ihrer Kinder systematisch von der Hauptschule ab, die in ihren Augen lediglich geringe bis keine Perspektiven bietet, eine erfolgversprechende Bildungs- und Berufsbiographie im Kontext aussichtsreicher Bildungszertifikate zu eröffnen (vgl. Büchner/Koch: 2001: 71). Der damit verbundene langsame, tendenziell aber unausweichliche Niedergang der Hauptschulen (vgl. Rösner7 2007) erweist sich als zentrale Herausforderung für die Bildungspolitik. Diese hat auch mittlerweile darauf reagiert und die Hauptschule in vielen Bundesländern entweder vollständig abgeschafft oder neue Sekundarschulmodelle etabliert, in denen die Hauptschulbildung allerdings weiterhin ein fester Bestandteil ist. Die überwiegend im Zentrum von Strukturdebatten geführten Diskurse über die Hauptschule blenden jedoch die alltäglichen (Leidens-)Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern dieser Schulform weitgehend aus. Vor allem‚ ihr Scheitern wird dabei immer noch als ein individuell verschuldetes Ungenügen hinsichtlich der Erfüllung sozialer ‚Standards‘ an Fähigkeiten und Kompetenz verhandelt (vgl. Solga 2004: 97ff.). Insbesondere die Zugehörigkeit zur Hauptschule wird als ein solches Versagen thematisiert, selbst von denen die diese Schule besuchen müssen. Karina hat einleitend bereits darauf verwiesen und ihre Versetzung auf eine Hauptschule als das Ende einer Abstiegsgeschichte beschrieben, in der sie ihre eigene Entwicklung als individuelles Ungenügen auffasst und der Abstieg auf eine Hauptschule den Endpunkt einer Versagensentwicklung darstellt, denn „dann wars ja ganz vorbei - dann war ich dumm“ (Karina, 176).

Die Vorgehensweise dieser Arbeit besteht in einer theoretischen wie empirischen Untersuchung dieser Entwicklungen. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Innerhalb der ersten beiden Teile werden die theoretischen Grundlagen erarbeitet, unterschiedliche Ebenen und Bezugsperspektiven argumentativ entwickelt sowie zentrale Begriffe und theoretische Modelle eingeführt. Im Vordergrund stehen v.a. die historischen Entwicklungen wie auch die gegenwärtige Situation der Hauptschule (Teil 1) aber auch gesellschaftliche Entwicklungen (Teil 2). Letztgenannte werden dabei v.a. in Verbindung mit dem Identitätsbegriff im Zusammenhang mit äußeren, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Konstitution von Selbstverhältnissen in spätmodernen Gesellschaften untersucht. Die Arbeit schließt mit einer empirischen Untersuchung, in der die Folgen der Hauptschulzugehörigkeit im Zusammenhang mit der Identitätsentwicklung erforscht werden (Teil 3). Dazu werden sowohl statistische Daten und ferner Erkenntnisse aus Gesprächen mit Hauptschülern aus einer Untersuchung in Südniedersachsen herangezogen und Zusammenhänge zwischen Stigmatisierungsprozessen und deren identitären Folgen erforscht.

Im ersten Teil werden die Entwicklungen der Hauptschule bis in die Gegenwart skizziert. Dargestellt werden die Ursprünge und Entwicklungen einer Schulform, die selbst das Resultat vielfältiger Reformen des Hauptschulvorläufers, der Volksschulen, in den 1960er-Jahren ist. Bildungstheoretisch und Bildungspolitisch können bereits diese Entwicklungen als problematisch charakterisiert werden, da bereits zum Zeitpunkt der Etablierung der Hauptschulen als ‚unterer Schulform innerhalb der Bildungshierarchie‘ erhebliche Anerkennungsund Identitätsprobleme, sowohl in Bezug auf die Schulform wie auch für Schülerinnen und Schüler, beobachtet werden konnten (vgl. etwa Wünsche 1972). Diese bildungspolitische Skizzierung mündet in der Charakterisierung der momentanen Situation der Hauptschulen wie auch gegenwärtiger Reformen dieses Schultyps. Die Hauptschulbildung wie auch der Hauptschulabschluss sind dabei trotz erheblicher Schülerzahlverluste und bereits formulierter Nachrufe (vgl. etwa Rösner 2007) immer noch eine zentrale Säule des Bildungssystems. Im Anschluss hieran werden die auf die Schülerinnen und Schüler bezogenen Konsequenzen dieser Entwicklungen beschrieben. Dabei werden Verbindungslinien zwischen den institutionellen Strukturen und den identitären Folgen für Schülerinnen und Schüler thematisiert, wobei v.a. der Begriff des Stigmas in seiner institutionellen wie individuellen Bedeutung im Mittelpunkt steht (vgl. Knigge 2009; Solga 2009; 2010). Daran anknüpfend werden die biographischen Wirkungen dieser Prozesse in ihrer Relevanz für die weitere Entwicklung thematisiert, v.a. an der zentralen Nahtstelle des Übergangs von der Schule in das Ausbildungssystem. Dabei werden die auf soziale Akzeptanz, Anerkennung und Wertschätzung bezogenen Herausforderungen von Jugendlichen beschrieben, die sich am Ende ihrer Schulzeit – die selbst bereits mit Niederlagen und Rückschlägen verbunden ist – mit den Herausforderungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes und den geringen Möglichkeiten der Verwertbarkeit der Bildungszertifikate gegenüber sehen.

Diese auf den Bildungsgang bezogenen Probleme blieben jedoch ohne Berücksichtigung gesellschaftlicher Prozesse und Merkmale und einer Analyse der Gegenwartsgesellschaft nur unvollständig. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht daher nicht nur eine theoretische Charakterisierung, sondern eine Systematisierung von gesellschaftlichen und kulturellen Merkmalen der Gegenwartsgesellschaft v.a. hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Konstitution von Selbstverhältnissen. Besonders der Identitätsbegriff und das historisch gewachsene und gewandelte Verständnis dessen, was Identität eigentlich ist, eröffnen Einblicke in die Tiefe und gleichzeitig die individuelle Bedeutung von gesellschaftlichen Veränderungs- und Transformationsprozessen. Neben eher allgemeinen Überlegungen zum Identitätskonstrukt werden hier v.a. klassische wie gegenwärtige Identitätstheorien vorgestellt und disziplinäre Unterschiede wie Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Für die Gegenwartsgesellschaft ist dabei charakteristisch, dass Identität nicht länger als ein stufenförmiger Prozess beschrieben werden kann (vgl. wie etwa bei Erikson 1973), sondern Krisenerfahrungen wie subtile und offen formulierte Ängste und Unsicherheiten erheblich zugenommen haben und spätmoderne Selbstverhältnisse charakterisieren. Fragmentierung, Bruch und Diskontinuität werden dabei zu einem Dauerbestandteil der Existenz. Die institutionellen Stabilitäts- und Kontinuitätsannahmen, welche überwiegend noch den klassischen Identitätstheorien zugrundelagen, weichen mehr und mehr einem Zustand der permanenten Gegenwart von Risiken (vgl. Arnoldi 2009: 15ff.). Diese Entwicklungen wiederum können mit einer Vielzahl an gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen in Verbindung gebracht werden, wobei v.a. in soziologischen Untersuchungen der ‚Zeitgeist‘ und das kapitalistische Akkumulationsregime immer wieder im Mittelpunkt stehen. Denn gerade an dieser so zentralen gesellschaftlichen Schnittstelle zeichnen sich erhebliche Veränderungen ab, da nicht nur die Erwerbsarbeit und das individuelle Verhältnis zu dieser sich sukzessive verändern, sondern selbst auf ein gewandeltes Subjektverständnis verweisen, wobei sich Eigenverantwortung und die Verheißungen der Moderne dialektisch verkehrt haben und mittlerweile selbst zu einer Art Zwang avanciert sind. Diese Verschiebungen werden ursächlich in der Forschungsliteratur immer wieder und durchaus vereinfachend, mit dem Begriff ‚des‘ Neoliberalismus in Verbindung gebracht, wobei in dieser Arbeit eine kritische Auseinandersetzung mit ‚neoliberalen‘ Theorien erfolgt. Doch, so viel sei bereits hier gesagt, führte die sukzessive Durchdringung menschlicher Existenzen mit auf ökonomischer Rationalität basierenden Grundannahmen zu tiefgreifenden Erschütterungen. So zeichnet sich etwa das gegenwärtige Subjektverständnis durch vielfältige Veränderungen aus, indem zunehmend das ‚menschliche Kapital‘ und die individuell zu schulternde Selbstoptimierung zur gesellschaftlichen Maxime erhoben worden sind. Zugleich kann für die Gegenwartsgesellschaft von einer wiederkehrenden Verfestigung von einst für überwunden geglaubten Unsicherheiten und damit von Verwundbarkeit ausgegangen werden, wobei die soziale Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine erstaunliche Renaissance erfahren hat (vgl. Castel/Dörre 2009: 11ff.). Bereits Max Weber verwies in der protestantischen Ethik auf diesen untrennbaren Zusammenhang zwischen Individuum und kapitalistischen Akkumulationsregime, indem „der siegreiche Kapitalismus […] seit er auf mechanischer Grundlage ruht“ (Weber 2006 [1904]: 201) und seinen originär religiösen Verpflichtungen entrissen wurde, selbst als unentrinnbare Grundlage westlicher Lebensformen fungiert (vgl. ebd., 197).

Im daran anschließenden dritten Teil wird nach diesem gesellschaftstheoretischen Exkurs die Ausgangsfrage dieser Arbeit wieder aufgegriffen und die identitären Folgen der Schulformzugehörigkeit von Jugendlichen in entwerteten Bildungsgängen erforscht. Im Mittelpunkt stehen dabei sowohl die in den Institutionen (re-)produzierten identitären Beschädigungen wie die Frage nach den daraus hervorgehenden Folgen für das Handeln und subjektive wie kollektive Deutungen vonseiten der Schülerinnen und Schüler. Mit Hilfe numerischer wie nicht-numerischer empirischer Verfahren werden Antworten auf die Frage gesucht, was es aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler bedeutet ein Hauptschüler zu sein.

Methodisch basiert die Studie auf einem Mixed-Method-Ansatz, mit dessen Hilfe verschiedene Ebenen und Merkmale erfasst werden können. Einerseits werden dabei Form und Struktur von schulischen Stigmatisierungsprozessen im Hauptschulbereich untersucht und statistische Zusammenhänge mit schulischen wie außerschulischen Variablen gesucht. Andererseits werden die alltäglichen Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern thematisiert, wobei hier die Erforschung von Entstehungsbedingungen und identitären Folgen institutionell produzierter Verachtung im Vordergrund stehen soll, mit deren Hilfe abschließend einige Eckpunkte eines Entwurfs einer Theorie des Hauptschulstigmas erarbeitet werden.

Methodisch wurden hierzu neben einem umfangreichen Fragebogeninterview mit annähernd 1.300 teilnehmenden Schülerinnen und Schülern an Haupt-, Haupt- und Realschulen sowie Gesamtschulen noch zusätzlich 21 Interviews geführt. Instrumente und Methoden sind dabei gleichberechtigt und wurden mit dem Ziel eingesetzt, sowohl die Dimensionen schulbezogener Stigmatisierungsprozesse identifizieren und erklären zu können und deren zugrundliegenden Entwicklungszusammenhänge und identitären Folgen herauszuarbeiten. Damit können nicht nur Aussagen bezogen auf Form und Struktur, sondern ebenso hinsichtlich der Qualität von institutionell bedingten Verletzungen beschrieben werden.

Mit ihrer Fertigstellung ist diese Arbeit bereits selbst ein Stück der Geschichte über die Hauptschule. Denn als mit der Arbeit begonnen wurde, waren die Veränderungen im Bereich der Bildungspolitik in Niedersachsen weder voraussehbar noch in ihrer Breite greifbar. In Niedersachsen wurde das Bildungssystem aber mittlerweile nicht nur durch die Einführung der neuen Oberschulen um eine weitere Schulform ergänzt, sondern es zeigen sich v.a. in lokalen Kontexten der Bildungslandschaften erhebliche Veränderungen, die bis heute andauern und deren weitere Entwicklungen noch nicht absehbar sind. Doch damit ist die Arbeit auch aktueller denn je, denn viele der bereits umgesetzten oder noch geplanten Reformen und politischen Anstrengungen stehen im Zusammenhang mit dem sukzessiven Niedergang der Hauptschule, einer Schulform die, zumindest in Niedersachsen, auch weiterhin besteht, deren Zukunft jedoch, so viel sei bereits vor dem Hintergrund der hier gewonnenen Forschungsergebnisse gesagt, durchaus fragwürdig erscheint.

Das Erstellen dieser Arbeit wäre ohne die Unterstützung, den Einsatz und die Hilfe einer Vielzahl von Menschen weder denkbar noch möglich gewesen. Dafür bin ich unendlich dankbar. Allen voran danke ich besonders meinen Betreuern, Professor Dr. Hermann Veith, Professor Dr. Ulrich Brinkmann und Professorin Dr. Nicolle Pfaff, die mir den Raum und die Möglichkeit gaben, diese Arbeit zu schreiben und von denen ich in zahlreichen Gesprächen wertvolle Anregung und Aufmunterung erhielt. Besonderer Dank gilt hier auch den studentischen Hilfskräften Stephanie Dittmer, Katrin Stade, Alexandra Koziar, Stefan Jadzweski und Britt Alessa Wunnenberg.

Für kritische Impulse genauso wie für freundschaftliche wie kollegiale Unterstützung während der Arbeit danke ich v.a. Ronny Kästner, Catharina Kessler, Johanna Hildebrandt, Rita Hoffmeister, Mathias Bendl, Tanja Volter, Philipp Hampe, Martin Woda, Felix Steiniger, Christin Silz, Christiana Bers, Frieder Leon Schillinger, Stephan Vogel, Laura Truar, Florian Schermann, Thorsten Hertel, Mario Förster, Michaela Weiß, Caroline Gennen, Nathalie Waldmann, Michaela Nietert und v.a. auch Brigitte Nimz, Frauke Lindloff und Hanne Heuer, die mich mit ihrem Humor auch in schwierigen Zeiten immer wieder auf ‚die richtige Bahn lenkten‘.

Susanne Haldrich danke ich für die vielen Anmerkungen und das ausführliche Lektorat des Manuskripts.

Sonja Rothländer und Robert Lehnert vom Universitätsverlag Konstanz danke ich für die Möglichkeit meine Arbeit in diesem Verlag veröffentlichen zu können und die sehr gute Zusammenarbeit und Untersützung während der Erstellung des Manuskripts.

Außerdem danke ich Frau Heike Mehmke für ihren Rat, ihre Hilfe und kritischen Impulse während der Entstehung der Arbeit.

Meinen Eltern und Großeltern danke ich für die ‚zahl’reiche – eine Promotion kostet viel, Nerven und Geld, dass weiß ich jetzt – aber v.a. auch emotionale Unterstützung und den Beistand auch in schweren Zeiten.

Abschließend danke ich aber vor allem den Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern, Direktorinnen und Direktoren, die mich im Forschungsprozess nicht nur unterstützten, sondern mir Einblicke in ihre Lebenswelten erlaubten und zahlreiche neue Perspektiven eröffneten. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

1 Alle Namen und unmittelbar die Identität der Interviewpartner betreffenden Angaben und Hinweise auf spezifische Orte und Schulen wurden anonymisiert.

2 In dieser Arbeit werden in den ersten beiden Kapiteln sowohl männliche wie weibliche Bezeichnungen verwendet. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird im dritten Kapitel überwiegend die maskuline Form verwendet. Damit sind dann jedoch immer sowohl Schülerinnen wie auch Schüler oder Lehrerinnen und Lehrer gemeint. Darüber hinaus sind an einigen Stellen explizit Schülerinnen oder Schüler gemeint. Dies geht jedoch unmittelbar aus dem Text hervor.

3 Daneben werden in der Forschungsliteratur oft vernachlässigte kustodiale (Flechsig/Haller 1975) wie auch administrative Funktionen beschrieben (Saalfrank 2012).

4 Besser wäre es in diesem Kontext und aufgrund der Bildungshoheit der Länder von Hauptschulbildungsgängen zu sprechen. Die Organisation ist in den Bundesländern unterschiedlich geregelt.

5 Selbst Hauptschullehrer äußern sich überwiegend negativ und belustigend über ihr ‚Schülerklientel‘, wenn etwa ‚Kai Lange (Pseudonym) über seine Schülerinnen und Schüler schreibt: „Aber es sind – man kann es drehen, wie man will – im Großen und Ganzen schlichte Gemüter, mit denen wir es zu tun haben. Und diese Tragik hat immer wieder amüsante Anekdoten im Gepäck, nicht zuletzt deshalb, weil auch wir Lehrer unter diesen erschwerten Bedingungen Tag für Tag zu bestehen haben“ (Lange 2013: 8).

6 Dieses Buch ist die gekürzte und an einigen Stellen überarbeitete Version meiner im Oktober 2013 in Göttingen eingereichten Disserationsschrift mit dem Titel: „Dann bin ich auch noch Hauptschule und dann wars[,] ja ganz vorbei…“: Über die identitären Folgen der Hauptschulzugehörigkeit – eine empirische Studie´.

7 Ernst Rösner spricht in diesem Zusammenhang gar vom ‚Ende der Hauptschulen‘ (Rösner 2007).

Erster Teil

Die Hauptschule im Bildungssystem

1 Eine Schulform in der ‚Falle‘?

Erziehungswissenschaftliche Untersuchungen befassen sich beispielsweise mit schulischen Erfahrungsräumen, pädagogischem Handeln, mit den in den Institutionen agierenden Akteuren, den systemischen Eigenschaften wie auch mit Struktur und Aufbau von Bildungsgängen, Lehr-Lerninhalten, didaktischen und methodischen Aspekten oder der generellen Ausrichtung der Bildungspolitik. Von ‚dem‘ Bildungssystem oder ‚der‘ Bildungspolitik zu sprechen, wäre jedoch eine unzureichende Vereinfachung, zeichnet sich doch gerade die Bildungspolitik durch Pluralität und Vielfalt aus. Ähnlich verhält es sich mit einzelnen Bildungsgängen in den Bildungssystemen.

Die Hauptschule ist seit vielen Jahren ein fester Bestandteil in bildungspolitischen wie auch in bildungstheoretischen Auseinandersetzungen – etwa in Bezug auf die Qualität und Quantität wie auch die Zukunftsfähigkeit dieses Bildungsgangs. Vor allem in Folge internationaler (Leistungs-)Vergleichsstudien wie auch durch politische wie medial dramatisierte Einzelfälle hat die überwiegend politisch geführte (Struktur-)Diskussion jedoch zu höchst heterogenen Resultaten hinsichtlich der Beurteilung der Zukunftsfähigkeit der Hauptschule geführt. Darüber hinaus wurden in den vergangenen Jahren vielfältige Reformen eingeleitet oder gänzlich neue Schulmodelle eingeführt, wobei v.a. der strukturelle Niedergang der Hauptschulen hier den politischen Handlungsdruck evozierte.

Der Hauptschulbildungsgang befindet sich in einer tiefen Krise. Insbesondere die Schulwahlentscheidung der Eltern – insofern man ihnen diese überlässt – und die damit verbundenen Folgen für die Schülerzahlentwicklungen dieser Schulform entfernen sich mehr und mehr von anderen Bildungsangeboten der Sekundarstufe I. Die Hauptschule hat hierbei schon lange den, rein an den Schülerzahlen gemessenen, Anschluss an die Entwicklungen des weiterführenden Schulwesens verloren (vgl. Rösner 2007: 73ff.). Dieser Trend stellt jedoch keineswegs bloß ein Gegenwartsphänomen dar, sondern ist vielmehr eine Entwicklung, die bereits mit der flächendeckenden Einführung der Hauptschulen und bereits davor in den 1950er und 1960er-Jahren zu beobachten war, einer Zeit, in der die klassische Volksschule noch dominierte. Doch der sukzessive Niedergang der Volksund späteren Hauptschulen konnte, trotz einer Vielzahl an Reformbemühungen, bis heute nicht wesentlich verändert oder gar aufgehalten werden (vgl. ebd., 92).

Für die gegenwärtige Situation der Hauptschulen hat eine Forschergruppe um Jürgen Baumert herausgefunden, dass die Situation und Akzeptanz der Hauptschule besonders dann umso schlechter im Vergleich zu anderen Schulformen der Sekundarstufe I ausfällt, je präsenter die umgebenden weiterführenden Angebote sind (vgl. Baumert/Stanat/Watermann 2006: 158ff.). So wenden sich die Eltern in ihrer Schulwahlentscheidung systematisch von einer Schulform ab, die in ihren Augen lediglich prekäre beziehungsweise gar keine Perspektiven mehr bieten kann, um ihren Kindern einen erfolgversprechende Bildungsweg, verbunden mit der arbeitsmarktbezogenen Verwertbarkeit von Bildungszertifikaten, zu eröffnen. Diese Entscheidungen basieren aber auch auf den Erfahrungen der Eltern selbst, die in einer auf Leistung und Erfolg basierenden Gesellschaft vielversprechende Ausgangsbedingungen im Dauerwettkampf um die besten Chancen für ihre Kinder anstreben – angetrieben von einer Art ‚Bildungspanik‘ (Bude 2011) und geprägt durch eigene, sich in habituellen Strategien niederschlagenden Reproduktionsstrategien in und über Bildungsprozesse. Dabei werden Bildungsentscheidungen getroffen, in denen die negativen Merkmale und Zuschreibungen in einer Vermeidungshaltung und Ablehnung der Hauptschule münden und vielmehr ‚zielführende‘ Bildungswege gewählt werden. Mit diesen Entscheidungen soll eine möglichst tragfähige Zukunft mit den damit verbundenen Chancen gewährleistet werden. Kindern und Jugendlichen soll das negative Schicksal der Hauptschule über ‚höherwertige‘ Bildungsabschlüsse folglich erspart bleiben (vgl. Büchner/Koch 2001: 71). Daneben nimmt in der intuitiven Beurteilung zukünftiger sozialer Chancen und der sukzessiven Bindung dieser an Bildungsabschlüsse vonseiten der Erziehungsberechtigten die Durchlässigkeit des Bildungssystems eine entscheidende Rolle in der Schulwahlentscheidung ein. So wird zwar in politischen Auseinandersetzungen immer wieder die Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems hervorgehoben und betont, dennoch haben v.a. bildungssoziologische Forschungen hierzu immer wieder darauf verwiesen, dass dies eher einem Trugschluss und damit einer „Illusion der Chancengleichheit“ (Schultheis 2005: 579; auch Bourdieu/Passeron 1988) denn der empirisch beobachtbaren ‚Wirklichkeit‘ entspricht (vgl. van Ackeren/Klemm 2009: 57f.).

Damit einher geht aber auch eine beständige Verlängerung der Wirkungen der Selektionsmechanismen im Bildungssystem, die bereits in der Grundschule einsetzen und sich selbst über die Phase der ‚harten Selektion‘ der Schullaufbahnentscheidung als Bestandteil einer permanenten Behauptung fortsetzen und zu einem dauerhaften Kampf um Lebenschancen führen (vgl. Bourdieu/Champagne 2010: 284; Solga 2010). Ebenfalls steht die empirische Datenlage der oft betonten Durchlässigkeit des Bildungssystems entgegen. So wechseln zwar durchaus einige Hauptschüler im Verlauf ihrer Bildungsbiographie in die Realschulen, doch ein Großteil kehrt aufgrund negativer Erfahrungen und Leistungsbewertungen wieder auf die Hauptschule zurück (vgl. Heinz et al. 1987: 77). Diese Rückkehr garantiert den Jugendlichen dann jedoch längst keinen sicheren Schulabschluss. Auch hier verweisen Untersuchungen darauf, dass der Anteil derjenigen Schülerinnen und Schüler, die ohne einen Hauptschulabschluss die Schule verlassen, seit vielen Jahren auf einem konstant hohen Niveau stagniert (vgl. etwa Gaupp/Hoffman-Lun 2008: 99f.; Solga 2010: 204, 216).

Darüber hinaus werden in wissenschaftlichen Untersuchungen dem Hauptschulbildungsgang elementare Probleme zugeschrieben, die wesentlich zur Reduzierung seiner gesellschaftlichen Akzeptanz beitragen. Diese äußern sich etwa in eklatanten Mängeln, z.B. einer unvollständigen berufspropädeutischen wie auch nicht ausreichenden Allgemeinbildung oder einer fehlenden eigenständigen curricularen Profilierung, welche die Hauptschule immer in Konkurrenz zu Realschulen und Gymnasien stellt (vgl. Hansel 2000: 111ff.). Zugleich fungieren die schlechten Ausbildungs- und Arbeitsmarktperspektiven, insbesondere für geringqualifizierte Jugendliche, und das gestiegene Anspruchsniveau vieler ausbildender Unternehmen als beständiges Bedrohungsszenario, das viele Jugendliche mit entwerteten Bildungszertifikaten vor der dem Hintergrund der Diskussionen über Ausbildungsreife (vgl. etwa Eberhard 2006) vor immer größere Probleme stellt, ihre Lebens- und Arbeitsmarktperspektiven erfolgreich gestalten zu können (vgl. Bellmann/Dahms/Wahse: 2005: 36).

2 Von der ‚Schule der Zurückgebliebenen‘ zur ‚Restschule‘?

Die Hauptschule hat bis in die Gegenwart mit einem erheblichen Bedeutungsverlust zu kämpfen. Doch kann diese Entwicklung nicht als Alleinstellungsmerkmal gegenwärtiger Entwicklungen des Bildungssystems verstanden werden, sondern vielmehr als ein tief verwurzeltes Charakteristikum des deutschen Bildungssystems. Bereits zu ihrer Entstehungszeit in den 1960er-Jahren kämpfte die Hauptschule um ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Stellung. Vor allem angetrieben durch die Sorge um die internationale Konkurrenzfähigkeit angesichts des Sputnik-Schocks und aus wirtschaftspolitischen Erwägungen setzte in den 1960er und 1970er-Jahren eine Bildungsexpansion ein, in der Mädchen, Katholiken, Landbevölkerung und Arbeiterkinder als Benachteiligte im Bildungswesen und als ‚Bildungsreserve‘ entdeckt wurden (vgl. Dahrendorf 1965; Rolff 1997). Die Bildungsreformen dieser Jahre verfolgten eine Vielzahl unterschiedlicher Ziele, die, neben der allgemeinen Verbesserung der sozialen Chancengleichheit und mehr sozialer Gerechtigkeit, die Bildungsmobilität und das Bedürfnis nach qualifizierten Fachkräften verfolgten (vgl. Hansel 2000: 3-4; Schulz 2000: 69). Bis in die 1960er-Jahre hinein zeichnete sich das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich nur durch eine relativ geringe Zahl an Abiturienten aus. Während in den Jahren 1964/1965 gerade einmal sechs bis acht Prozent eines Jahrganges die gymnasiale Oberstufe besuchten, stieg diese Zahl im Zuge der Reformen bis 1974/1975 auf über 28 % (vgl. Schulz 2000: 69f.). Neben dieser explizit angestrebten Steigerung gymnasialer Abschlussquoten bestand ein weiteres wesentliches Ziel der Bildungsreformen darin, die Volksschuloberstufe zu reformieren, was mit der 1968 bundesweit etablierten Einführung der Hauptschule realisiert wurde (vgl. KMK 1969/1970: 171).

In dem am 13. Februar 1970 vom Deutschen Bildungsrat verabschiedeten „Strukturplan zur Erneuerung des Bildungswesens“ heißt es:

„Die Chancengleichheit soll nicht durch eine Nivellierung der Anforderungen angestrebt werden. Die Aufgabe ist vielmehr, frühzeitig die Chancenunterschiede der Kinder auszugleichen und später das Bildungsangebot so zu differenzieren, dass die Lernenden ihren Lerninteressen und Lernmöglichkeiten entsprechend gefördert werden und entsprechende Angebote weiterführender Bildung antreffen. Gleichheit der Chancen wird in manchen Fällen nur durch die Gewährung besonderer Chancen zu erreichen sein“ (Zitiert nach Michael/Schepp 1993: S. 431).

Die daraufhin konzipierte und praktizierte ‚kompensatorische Erziehung‘ zielte vorwiegend auf Hilfen für benachteiligte Kinder, etwa aus dem Arbeitermilieu. Besonders wichtig scheint aber die Erkenntnis zu sein, dass Gleichbehandlung bestehende unterschiedliche individuelle Voraussetzungen vielmehr festigt und der schulische Unterricht dadurch an der Produktion und Reproduktion von Ungleichheit erheblich beteiligt ist. Dementsprechend bezogen sich die Empfehlungen des Bildungsrats darauf, Chancengleichheit vor allem über strukturelle Veränderungen herzustellen, u.a. über die Einrichtung von Gesamt- und Ganztagsschulen, der Individualisierung von Anforderungen, etwa in der gymnasialen Oberstufe durch die Einführung von Wahlpflichtfächern und die Ansprache von Eigenverantwortlichkeit der Schülerinnen und Schüler.

Mit der darüber hinaus eingeführten neuen Schulform Hauptschule war die Hoffnung einer Steigerung des Ansehens und einer damit verbundenen ‚Gesundung‘ des gesamten Bildungssystems verbunden. Vor allem hinsichtlich der methodischen wie curricularen Neuausrichtung der ‚neuen‘ Hauptschulen im Zuge des Hamburger Abkommens (1964) und der begrifflichen Rahmung der neuen schulischen Formation gingen erhebliche Veränderungen einher (vgl. KMK 1969/1970: 198ff.): darunter eine Verfachlichung des Unterrichts, eine differenzierte Fächeraufteilung in den Naturwissenschaften und die Einführung einer Fremdsprache, verbunden mit dem Ziel, hierdurch den modernen Anforderungen der ökonomischen und technischen Entwicklungen Rechnung tragen zu können (vgl. Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 222). Durch die strikte Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse und die Ausrichtung des Unterrichts auf diese sollten die rationalen und durch die Wissenschaften erkannten Inhalte in den Unterricht integriert werden und dort zur Anwendung gelangen (vgl. Deutscher Bildungsrat 1973: 33).

Die mit der Einführung der Hauptschule verbundenen Erziehungsziele in der Hinführung zu grundlegenden Arbeitstugenden forcierten jedoch eine Entwicklung, deren ständische Orientierung wiederum im Rückgriff auf den Begriff der Begabung bereits zum damaligen Zeitpunkt als längst überholt und wissenschaftlich unhaltbar galt (vgl. Rösner 2007: 64). Denn die darin zum Ausdruck gelangende Berufung auf Formen ‚naturgegebener‘, nativistisch begründeter Ungleichheit entspricht einer unterstellten ‚natürlichen Ordnung‘, in der scheinbar ‚von Natur gegebene‘ Verhältnisse fortgeschrieben und im Bildungssystem verankert wurden.

Auch zum damaligen Zeitpunkt war die gewählte Bezeichnung der neuen Schulform irreführend. Der Begriff selbst besaß und besitzt bis heute keine inhaltliche Bedeutung (vgl. Schulz 2000: 73). Die Hauptschule fungiert nicht als ‚Haupt‘ im deutschen Bildungssystem und ist bei Weitem nicht die zentrale Schulform. Jedoch ist ihre inhaltliche wie systemische Bezogenheit und damit die ‚Konkurrenz‘ zu Realschulen und Gymnasien ein wesentlicher Bestandteil ihres bis heute bestehenden ‚existenziellen Kampfes‘.

2.1 Die anerkennungsbezogenen Probleme von Volks- und Hauptschulen

Für das Verständnis der gegenwärtigen Situation der Hauptschulen sind die bildungstheoretischen Hintergründe in der Entstehung und Entwicklung dieser Schulform von Relevanz (vgl. Klemm/van Ackeren 2009: 13ff.; Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 198f.). Die Volksschule, als direkter Vorgänger der heutigen Hauptschulen, ist in ihrer Entwicklung als eine Schulform beschreibbar, deren gesellschaftliche Akzeptanz sich vielfältigen Problemen gegenüber sah. Als eine Schulform, deren Schülerschaft sich überwiegend aus Kindern der Arbeiterschaft rekrutierte und das ihr verantwortete Schülerklientel als besonders erziehungsbedürftig betrachtete (vgl. ebd., 211), kämpfte sie mit erheblichen Schwierigkeiten, v.a. in Bezug auf die Akzeptanz dieser Schulform, was wiederum eine Abwertung der in ihr erworbenen und über sie erteilten Schulleistungen nach sich zog (vgl. Klewitz/Leschinsky 1984: 85ff.).

Die Grundlage für den Aufbau des preußischen Volksschulwesens legte das unter Friedrich II. verabschiedete Generallandschulreglement von 1763, aber erst mit der Abschaffung des Schulgeldes für den Besuch der Volksschule konnte 1888 die Unterrichtspflicht durchgesetzt werden (vgl. Herrlitz/Hopf/Titze 1993). Es ging dabei aber immer um Elementarbildung auf einem niedrigen Niveau. Hauptlehrgegenstände des Unterrichts waren Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen und Gesang, die in „Fixierung auf den angestammten Lebenskreis und das Milieu“ unterrichtet wurden, sodass „von vornherein die Überschreitung des engen sozialen Horizonts der Volksschulkinder“ ausgeschlossen war (Berg 1977: 253). Die Kinder des ‚Volkes‘ fanden sich in eben dieser Schule, die ohne Zugangsmöglichkeiten zu weiterführenden Bildungsanstalten war, und die in der metaphorischen Umschreibung als ‚Schule der Zurückgebliebenen‘ dem Selektionscharakter einer gewollten Bildungsbegrenzung entsprach (vgl. Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 212). Auch mit der Übernahme einer staatlichen Schulaufsicht und Schulorganisation in der Weimarer Republik und der Etablierung einer einheitlichen, vierjährigen Primarphase, mit einem Volksschuloberbau und daneben bestehenden ‚Vollanstalten‘ höherer Bildung (Mittelschulen, Realschulen, Gymnasien, Oberrealschulen) (vgl. Reichsschulkonferenz 1920: 46ff. nach Rekus/Hinz/Ladenthin 1998: 212) konnte die ständische Organisation ebenso wie die damit einhergehende Selektivität sowie das hierin bereits implizit enthaltene Stigmatisierungsmerkmal der Volksschulen nicht überwunden werden. Diese Schulform erwies sich von Anfang an als institutionalisierte Sackgasse, eine Art Pflichtschule ohne prinzipielle Zugangsmöglichkeiten zu höherer Bildungsanstalten. Vor allem die Unterrichtsgestaltung, als ‚volkstümliche Bildung‘ verstanden, orientierte sich überwiegend an praktischen Aspekten eines ‚anschauungsnahen Denkens‘ sowie eines ‚Denkens am Tun‘ (vgl. Spranger 1955: 80)8 und etablierte und ‚stabilisierte‘ damit ein ständisches und vor allem statisches Verständnis von Gesellschaft. In ihrer schulpraktischen Ausrichtung konzentrierte sich die Volksschule auf handarbeitende Schichten und damit auf ein Bildungs- und Lebensmilieu, in dem die gegebenen gesellschaftlichen und sozialen Umstände der Existenz als bestehende Zustände verstanden und in dieser Entwicklung als lineare Tendenzen fest verankert wurden (vgl. Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 213). Diese volkstümliche Bildung entsagte jedweder Wissenschaftlichkeit und begrenzte die Lehr-Lerninhalte auf das ‚praktische Leben‘ (vgl. Seyfert 1931; Pröve 1951: 482f. nach Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 214). Im Kontrast zur wissenschaftlichen Bildung der höheren Schulen lag die inhaltliche Ausrichtung des Unterrichts auf dem konkreten Alltag und einer damit legitimierten Verengung auf Handlungspraxen in unmittelbaren Lebenskontexten (vgl. Stöcker 1957: 80)9. Die Determinierung der ‚unteren Schichten‘ auf ‚ein Leben in ihrer Lebenswelt‘ unter weitgehendem Ausschluss abstrakter Prozesse des wissenschaftlichen Denkens bildeten damit die Grundlagen für die Legitimation eines Bildungsvermögens des ‚einfachen Menschen‘ und dem implizit daraus notwendig erscheinendem Bedürfnisses nach ‚volkstümlicher Bildung‘. Diese war dann auch überwiegend an der konkreten Gegenständlichkeit orientiert. Damit wurden Prozesse manueller Ausführung über eine damit vermeintlich einhergehende Negierung von Reflektion und Erkenntnis um ihrer selbst willen als gerechtfertigt verankert, welche wiederum im bildungstheoretischen Diskurs die minimale Schulbildung fixierten (vgl. Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 217).

2.2 Die ‚neuen‘ Hauptschulen und ihre problematische Stellung im Bildungssystem

Nach 1945 wurde in fast allen Bundesländern ein vertikales System mit einer vierjährigen Grundschule und einer Dreigliedrigkeit der allgemeinbildenden Schulen vom fünften Schuljahr an eingeführt und das berufsbildende Schulwesen abgetrennt. Vor allem die ökonomischen Veränderungs- und Wachstumsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg und der diesbezüglich gestiegene Bedarf an qualifizierten Fachkräften ließen die ideologisch geführten Diskurse um die Volksschule jedoch schnell in Vergessenheit geraten. Anstelle einer grundlegenden Strukturveränderung des deutschen Bildungssystems hielt der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, der 1953 als beratendes Gremium auf Initiative von Theodor Heuss begründet und hinsichtlich der Entwicklung eines Rahmenplanes konzeptueller Gestaltungsräume des deutschen Bildungssystems etabliert wurde, jedoch an der originären dreigliedrigen Struktur des Bildungssystems fest (vgl. Rösner 2007: 59). Dieses grundständige Beharren wurde auf einem bereits zum damaligen Zeitpunkt höchst fragilen wie fragwürdigen Begabungsbegriff aufgebaut (vgl. Deutsche Ausschuss 1966: 68), der bildungspolitisch eine Differenzierung in unterschiedliche Begabungstypen erlaubte und damit eine (vermeintlich) wissenschaftlich fundierte Grundlage für unterschiedliche Schulformen (vgl. ebd., 75) legitimierte.

Mit der Etablierung der neuen Schulform Hauptschule war darüber hinaus die Hoffnung auf eine Steigerung des Ansehens und eine damit verbundene ‚Gesundung‘ des gesamten Bildungssystems verbunden. Darüber hinaus folgten weitere curriculare Veränderungen, die vor allem der Profilierung der neuen Hauptschulen zuträglich sein sollten. Diese bestanden in der Anwendung veränderter Arbeitstechniken im Unterricht, einer Anhebung der Pflichtschulzeit von acht auf neun Jahre, der Zulassung einer zehnten Klassenstufe (KMK 1969/1970: 200), der Einführung einer Fremdsprache (Englisch) (vgl. Benner/Kemper (2009: 163) sowie der Abkehr vom Primat ‚volkstümlicher Bildung‘ hin zu einem anschauungsnahen, allgemeinbildenden Unterricht. Ernst Rösner stellt in diesem Zusammenhang jedoch kritisch fest, dass die neuen Hauptschulen, die sich in wesentlichen Punkten bereits im 1959 verabschiedeten Rahmenplan des Deutschen Ausschusses wiederfinden, einem strukturkonservativen Aufbau folgten. Auch die Hauptschule wurde als eine vorwissenschaftliche Schule konzipiert, die von ihrer inhaltlichen Ausrichtung volkstümlich geprägt und in der ‚ideologischen‘ Zielstellung vor den „‚Reizen‘, die von der ‚modernen Zivilisation‘ ausgehen, schützen und klare Orientierungen geben“ sowie für Kinder, „die mit geringeren geistigen Kräften ausgestattet sind, eine elementare Bildung für ihr zukünftiges Leben“ ermöglichen sollte (Rösner 2007: 60). Die Hauptschule bildete somit diejenige Schulform, an die sich unmittelbar die berufliche Bildung anschließen sollte. Damit stand ‚die Berufsreife‘ im Vordergrund des schulischen Selbstverständnisses und der pädagogischen Arbeit10 (vgl. Deutscher Ausschuss 1966: 381).

Zusätzlich sollten mit den Reformen und einer strikten Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse und die entsprechende Ausrichtung des Unterrichts vor allem die rationalen und durch die Wissenschaften erarbeiteten Wissenssysteme in den Unterricht integriert werden und dort zur Anwendung gelangen (vgl. Bildungsrat 1973: 33). Die gegenwärtigen Probleme der Hauptschulen brechen jedoch bereits in dieser Entwicklung hervor, da das hierarchisch gegliederte Schulwesen weiterhin institutionell fixierte Lebenschancen und Positionen im sozialen Raum 'eröffnet' (vgl. Bourdieu 1987) und über die Angleichung der Hauptschulen an Realschulen und Gymnasien die Antagonismen zwischen Anpassung und Eigenständigkeit in den Konkurrenzbeziehungen zu anderen Bildungsgängen manifestiert werden (vgl. Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 225). Die mit der Einführung der Hauptschule verbundenen Erziehungsziele in der Hinführung und Entwicklung grundlegender Arbeitstugenden bedingten darüber hinaus eine Entwicklung, in der weiterhin ein statisches Gesellschaftsverständnis vorherrschte. Dabei ist es insbesondere die begabungstheoretische Legitimierung unterschiedlicher Bildungsgänge, die bis heute den Bestandsschutz der Dreigliedrigkeit sichert und gegenwärtig immer wieder als Argument für die Beibehaltung der Hauptschulen herangezogen wird, zu nennen (vgl. ebd., 233ff.). Diese immanente Bezugnahme begründete die Gestalt eines Schulwesens, in dem die Gliederung in ‚begabungsgerechte‘ Schultypen im Umkehrschluss unterschiedlichen ‚Auffassungsfähigkeiten‘ von Kindern und Jugendlichen in Form individueller Befähigungen entspricht und somit gegliederte schulische Angebote als Grundlage einer selektiven schulischen Struktur legitimiert (vgl. ebd., 261). Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Dreiteilung des Schulsystems in Anlehnung an unterschiedliche Begabungstypen, trotz ausbleibender Überprüfung dieser These, entwickeln konnte11. Die in diesem Zusammenhang überwiegend vorwissenschaftlichen Annahmen basieren darüber hinaus auf monokausalen Zusammenhängen (vgl. ebd., 263; Hartnacke 1950; Heid/Fink 2004: 150). Der Begabungsbegriff ist somit mehr ein alltagstheoretisches Konstrukt denn eine pädagogische Kategorie, die zwar bildungspolitisch verwendet werden kann. Unter pädagogischen Gesichtspunkten ist er jedoch ein „gefährlich[er] [Begriff, M.V.], weil […] [dieser, M.V.] die Hauptschüler auf einen bestimmten Ist-Zustand festlegt“ (Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 273).

Vor diesem kurz umrissenen bildungspolitischen Hintergrund wird ersichtlich, dass sich bereits die Etablierung der Hauptschulen in den 1960er-Jahren unter teils fragwürdigen Bedingungen und (vermeintlich wissenschaftlichen) Argumenten vollzog. In der weiteren Entwicklung des Hauptschulbildungsgangs kann dann auch nicht von einer Stabilisierung gesprochen werden, sondern vielmehr von einer weiter zunehmenden sukzessiven Abkehr von dieser Schulform, eine Entwicklung, die bis in die Gegenwart anhält. Dies wird besonders in Bezug auf die Schülerzahlen deutlich. In den Daten der öffentlichen Statistik offenbart sich hierbei ein kontinuierlicher Abwärtstrend. Ernst Rösner (2007) verweist in diesem Zusammenhang in einer bundesweiten Untersuchung zur ‚Lage‘ der Hauptschule auf eine dramatische Entwicklung (vgl. Rösner 2007: 16). Auch andere Studien heben den Bedeutungsverlust dieser Schulform unter Rückgriff auf die Schülerzahlentwicklungen hervor, insbesondere im Vergleich zu Realschulen und Gymnasien (vgl. Bos/Müller/Stubbe 2010: 376ff.; Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 128ff.). Der dabei erkennbare Trend zeigt, dass „der Niedergang der Hauptschule […] in allen Bundesländern, wo es diese Schulform noch gibt, unübersehbar“ ist (Rösner 2007: 9). Die Auseinandersetzung mit diesen Daten und Entwicklungen steht im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts.

8 Hierzu schreibt Spranger: „Es gilt also nicht, das Lebensdienliche aus dem Bildungsprozess auszuschalten […,] sondern es durch die Beziehung auf die sittliche Ordnung der Kultur zu veredeln. Diese Kultur ist bei uns Arbeitswelt in betontem Sinne“ (Spranger 1995: 104).

9 Stöcker betont dabei v.a. die Unterschiede zwischen volkstümlicher und wissenschaftlicher Bildung, wenn er schreibt: „Volkstümliche und wissenschaftliche Bildung gründen und orientieren sich an zwei verschiedenen Denkweisen, dem volkstümlichen und dem wissenschaftlichen ‚Denken‘, wenngleich es auch hier Zwischenzonen gibt, wenngleich beide Denkformen auch ineinandergreifen und auch die Gegenstände mindestens äußerlich die gleichen sein können“ (Stöcker 1957: 79). Volkstümliche Bildung beschreibt er als „die Denkweise des schlichten Menschentums, wie sie sich in den konkreten Lebenssituationen, in bestimmten Fällen des Alltags äußert, in denen sich der handelnde, schaffende oder denkende Mensch mit der Umwelt auseinandersetzt, sie meistert, beherrscht und gebraucht. Hier werden die Gegenstände nicht mehr in jener neutralen Objektivität erkannt und genommen, sie sind nur Objekte in einem jeweiligen Sinn- und Bedeutungszusammenhang, in einer konkreten Sinnhaltung“ (Stöcker 1957: 80).

10 Eine Entwicklung, die scheinbar in der Gegenwart wieder verstärkt Zuspruch zu finden scheint. So gibt es bereits Erwägungen, die berufliche Orientierung bereits in der fünften Klassenstufe zu etablieren.

11 Ein Vorgang der sich gegenwärtig zu wiederholen scheint, etwa in den durch die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) formulierten fachbezogenen Bildungsstandards, die sich an schulzweigspezifischen ‚Kompetenzmustern‘ orientieren (vgl. KMK 2004; Pongratz 2009).

3 Zur Entwicklung der Schülerzahlen an Hauptschulen

Im Mittelpunkt dieser statistischen Beschreibungen stehen neben schulformbezogenen Verteilungen von Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen Bildungsgängen ebenso demografische Effekte12. Einen ersten Einblick in die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte bieten Kennzahlen bezogen auf die prozentuale Verteilung von Schülerinnen und Schülern in unterschiedlichen Bildungsgängen, deren Entwicklungsrichtung die sukzessive Abkehr von den Hauptschulen bei einer gleichzeitigen Steigerung der Bedeutung der weiterführenden Angebote der Sekundarstufe I verdeutlicht13. Es zeigt sich, dass die tendenzielle Abwendung von der Hauptschule keinesfalls bloß ein gegenwärtiges Phänomen darstellt, sondern einen Trend, der seit vielen Jahrzehnten beobachtet werden kann.

In Tabelle 1 sind diese kontinuierlichen Verschiebungen für einen Zeitraum von über 50 Jahren abgebildet Dabei zeigt sich insbesondere der drastische Verlust von Schülerinnen und Schülern für die Hauptschulen bis in die Mitte 1990er-Jahre hinein, der zwar zu einer Stärkung der weiterführenden Schulformen der Sekundarstufe I führte, jedoch verheerend für die Hauptschulen war. Die Entwicklungen seit den 1990er-Jahren sind für die Hauptschulen mit einem sich leicht stabilisierenden Trend verbunden, dessen tendenzielle Richtung jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass sich hierin eine Verfestigung widerspiegelt, die auf einen Trend „weg von der Volks- und Hauptschule, hin zu Realschulen und Gymnasien“ (Rösner 2007: 92) verweist.

Tab. 1: Schülerinnen und Schüler im achten Schuljahr differenziert nach Schulart 1952-2005 (Grund- und Strukturdaten, mit neuen BL ab 1995)

SchulformVS/HS1RSGYGS2SMB3195278%7%15%--195574%9%16%--196072%11%17%--196566%15%19%--197056%21%23%--197547%24%26%3%-198041%28%27%4%-198538%29%28%5%-199034%29%30%7%-199525%27%31%10%7%200023%26%31%10%10%200524%27%33%10%7%

Quelle: (BMBF 2007: 25)

1) Bis 1965 als Volksschule

2) Gesamtschulen mit Freien Waldorfschulen ab 1975 in der amtlichen Statistik separat aufgeführt

3) Schulen mit mehreren Bildungsgängen (integrierte Klassen für Haupt- und Realschüler/innen)

Darüber hinaus ist die gegenwärtige Verteilung lediglich eine statistisch bedingte Ausprägung, die aufgrund der relationalen Verteilung unweigerlich mit den Geburtenzahlen wie restriktiveren Aufnahmebedingungen von Schülerinnen und Schülern zusammenhängt. So sind die tendenziellen Entwicklungen in den Schülerverteilungsquoten – trotz eines leichten Anstiegs der Geburtenzahlen im Zeitraum zwischen 1985 bis 1990 (vgl. Statistisches Bundesamt 2007: 9) und der folgenden zeitverzögerten Aufnahmeeffekte – für die Hauptschulen weiterhin desaströs. Hierzu stellt Ernst Rösner fest:

„Der Zeitraum 1990 bis 2003 ist durch deutlich steigende Schülerzahlen insgesamt gekennzeichnet. Das hatte zur Folge, dass die anspruchsvollen weiterführenden Schulen zu einer eher restriktiven Aufnahmepraxis neigten und im Zweifel vom Besuch des gewünschten Bildungsganges abrieten. Diese Empfehlung bekam für Eltern besonderes Gewicht durch die begründete Warnung einer vorzeitigen Abschulung […] – eine Praxis, die in den neunziger Jahren in den meisten Bundesländern eine verbreitete Praxis darstellte. Die Folge war eine Abschwächung des Übergangs in Gymnasien und Realschulen […] und in der Folge ein deutlicher Schülerzahlanstieg in den Hauptschulen zwischen dem 5. und 8. Schuljahr […]“ (Rösner 2007: 92f.).

Berücksichtigt man diese Verschiebungen, dann bedeuten selbst diese kurzen ‚Erholungsmomente‘ längst kein Ende im Bedeutungsverlust der Hauptschulen. Vielmehr setzt sich die negative Entwicklung weiter fort. Hinsichtlich der Versorgungspflicht der Bundesländer mit entsprechenden Bildungsangeboten stellen diese Entwicklungen14 darüber hinaus langfristig einen erheblichen Einschnitt dar. Denn insgesamt zeichnet sich etwa für die alten Bundesländer ein leichter, dennoch kontinuierlicher Rückgang der Gesamtschülerzahlen ab (vgl. KMK 2007a: 8, 60). Solchen Trendprognosen liegt jedoch eine antizipierte Verlaufsfunktion zugrunde, in der sich die Abkehr vom Hauptschulbildungsgang als kontinuierlicher Implosionsprozess vollzieht. Auch wenn die prognostische Leistungsfähigkeit unter Verwendung der jeweiligen Berechnungsverfahren kritisch zu hinterfragen ist und zeitversetzte Berechnungen eher einer Unter- denn Überschätzung der Entwicklungsrichtungen entsprechen (vgl. KMK 2005: 97ff.; KMK 2007b: 97ff.), lassen diese Trends für einen relativ kurzen Zeitraum darauf schließen, dass sich die Zahl der Hauptschülerinnen und -schüler in den Jahrgangsstufen sieben bis neun beziehungsweise im zehnten Jahrgang bis zum Jahr 2020 um rund ein Viertel weiter reduzieren wird (vgl. Rösner 2007: 87). Zwar werden sich im gleichen Zeitraum die Schülerzahlen an Real-, Gesamtschulen und Gymnasien, aufgrund demografischer Entwicklungen, ebenfalls reduzieren, jedoch fällt die prognostizierte Entwicklung an keiner Schulform so deutlich und drastisch aus wie an den Hauptschulen (vgl. KMK 2007a: [Teil B] 37ff.). Kritisch zu beurteilen sind jedoch die zugrundeliegenden Berechnungsverfahren selbst, welche auf einem methodischen Vorgehen basieren, in denen die zukünftigen „Übergangsquoten [als, M.V.] Quotienten aus der aktuellen Schülerzahl in einer bestimmten Jahrgangsstufe und der Schülerzahl der vorausgegangenen Jahrgangsstufe im Jahr zuvor“ ermittelt und weitergerechnet werden (vgl. Rösner 2007: 87).

Auf diese Entwicklungen hat die Bildungspolitik mittlerweile reagiert. Denn in vielen Bundesländern können in den vergangenen Jahren zahlreiche Reformanstrengungen beobachtet werden. Eine Übersicht über diese Prozesse ist der folgenden Abbildung 1 zu entnehmen, in der jeweils bezogen auf die einzelnen Bundesländer Reformen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf die Hauptschulbildung abgebildet sind.

Die Reformen und Entwicklungen in den Bundesländern sind äußerst vielfältig. Auffallend sind dabei jedoch drei Entwicklungslinien: erstens die bereits angesprochene Verschiebung von einem drei zu einem zwei Säulen umfassenden Modell. Diesem Modell folgen, neben den bereits bestehenden zweigliedrigen Schulmodellen in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg sieben weitere Bundesländer (Berlin, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein). Trotz oberflächlicher Gemeinsamkeiten in der Aufstellung von Bildungsangeboten variieren die Angebote in ihrer Organisationsform jedoch erheblich15. Die Hauptschule wird/wurde jedoch in diesen Bundesländern weitgehend abgeschafft.

Eine zweite Entwicklung umfasst die schrittweise, teilweise noch als Schulversuch (etwa: Berlin, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen) oder bereits flächendeckende (etwa: Schleswig-Holstein und das Saarland) Einführung von Gemeinschaftsschulen. Doch auch hier gibt es erhebliche Unterschiede in Aufbau und Organisation dieser Schulen wie auch der Lerngruppen und des Unterrichts. In der dritten Gruppe (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen) besteht das dreigliedrige System fort. Zwar wurden hier neue Schulmodelle in das bestehende System integriert, jedoch ohne die Dreigliedrigkeit selbst in Frage zu stellen – so etwa die in Baden-Württemberg eingeführten Werkrealschulen ebenso wie die bayerischen Mittelschulen, die jeweils zur mittleren Reife führen sollen. Beide Schulformen zeichnen sich durch ein berufsorientiertes pädagogisches Konzept aus16.

In Hessen wiederum wird die bestehende dreigliedrige Schulstruktur durch eine Mittelstufenschule ergänzt. Hier erfolgt der Unterricht in den Klassenstufen fünf bis sieben in einer gemeinsamen Aufbaustufe und einer sich daran anschließenden Profilierung in einen praxisorientierten und mittleren Bildungsgang. In den Fächern Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache ist der Unterricht jedoch bereits in Klassenstufe sechs fachleistungsdifferenziert (vgl. Hessen SchulG 23c, Absatz 3). Das niedersächsische Bildungssystem wurde durch die Oberschulen erweitert. Diese fungieren als organisatorisches Vereinigungsprinzip von Haupt- und Realschulen, bei gleichzeitiger Bereitstellung eines gymnasialen Angebots, allerdings ohne eigenständige Oberstufe.

Der Entwicklungstrend ist dabei eindeutig: Die Hauptschule als eigenständige Schulform ist ein Auslaufmodell, jedoch nicht der Hauptschulbildungsgang. In schulstruktureller Hinsicht ist die Hauptschule als eigenständige Schulform lediglich noch in vier Bundesländern vorhanden, während sie in den anderen bereits vollständig abgeschafft, durch alternative Schulmodelle ersetzt wurde oder schrittweise ausläuft. Ob sich langfristig mit den oben genannten Strukturreformen die Probleme der Hauptschulbildung verändern lassen, muss an dieser Stelle offen bleiben.

Der sukzessive Niedergang der Hauptschulen wird in bildungspolitischen Auseinandersetzungen v.a. immer wieder in Verbindung mit dem Schulwahlverhalten der Erziehungsberechtigten gebracht. Doch ist ‚die Freiheit der Schulwahl‘ keineswegs bundesweit einheitlich geregelt und als homogenes Entscheidungskriterium zu verstehen. Vielmehr sind die Übergänge je nach Bundesland höchst unterschiedlich organisiert. Neben dem Elternwillen können die Schulwahlempfehlungen genauso auf Empfehlungen der Grundschule, vor allem aber auf Leistungen in den Kernfächern, Aufnahmeprüfungen, Probeunterricht und Beratungsgesprächen basieren (vgl. Rekus/Hintz/Ladenthin 1998: 95ff.; Rösner 2007: 90, 213).

Darüber hinaus trifft eine solche Einseitigkeit der politischen Betrachtung das Kernproblem der Hauptschulbildung nur unzureichend. Denn die Abkehr von der Hauptschule stellt, wie bereits weiter oben festgestellt, eine Entwicklung dar, die bereits im Kontext der Volksschuloberstufenentwicklung in den 1950er-Jahren zu beobachten war. Die kontinuierliche Zunahme der Schülerzahlen an Realschulen und Gymnasien zuungunsten der Volks- und späteren Hauptschulen zeigt, dass die Nachfrage nach weiterführenden Angeboten der Sekundarstufe I kontinuierlich stieg und sich der Bedarf am Hauptschulabschluss im gleichen Zeitraum erheblich reduzierte – eine Entwicklung, die sich im Übrigen auch in den hohen Präferenzen von Hauptschülern bezüglich eines Realschulabschlusses als Bildungsziel zeigt (vgl. Knigge 2009: 178ff.). So hat sich der Schüleranteil, gemessen in absoluten Schülerzahlen, an dieser Schulform allein in einem Zeitraum von 40 Jahren (1950-1990) mehr als halbiert. Das Gymnasium etablierte sich im gleichen Zeitraum zum bedeutendsten Schulzweig und liegt dabei heute mit über 30% an der ‚Spitze‘ aller Schulformen (vgl. Dedering/Holtappels 2010: 367).

Abb. 2: Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I (ab 1991 mit neuen Bundesländern, in Tsd.)

JahrHSRSGYM (Sek I 5- 10)1IGS (5-10)219602122,4430,7641,7-19652112,5570,9760,7-19702370,2885,81062,1-19752511,71174,11394,8132,519801933,71351,11495,5174,119851332,51049,01109,6158,819901054,2864,61053,0217,519951123,51175,21546,1434,920001103,91263,41605,2471,820051023,81324,71698,7434,12008823,11262,51618,8415,3Veränderungen 1960-2008 in %3−61,2+293+252,2+313,4

Quelle: BMBF (2005) Grund und Strukturdaten S. 56f.

1) ab 2008: Klassenstufen 5 bis 9/10, bis 2007 Klassenstufen 5 bis 10

2) IGS 1975-1980

3) IGS ab 1975

Auch die Bedeutung der Gesamtschulen nahm seit den 1980er-Jahren stetig zu, wobei hier erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern beobachtet werden können (vgl. Holtappels/Rösner 1996: 217ff.). Die Hauptschule hat dabei „längst den Anschluss an die quantitative Entwicklung des weiterführenden Schulwesens verloren“ (Rösner 2007: 75).

Wie in Abbildung 2 dargestellt, stellt die Hauptschule die einzige Schulform dar, die gemessen in absoluten Schülerzahlen seit den 1960er-Jahren massive Verluste hinnehmen musste und über 60% ihrer Schülerschaft verloren hat, während andere Schulformen der Sekundarstufe I teils erhebliche Zuwachsraten aufweisen.

Doch veranschaulichen letztendlich auch diese statistischen Daten nur einen Ausschnitt in der Beschreibung der Entwicklung der Hauptschulen, ohne jedoch die vielfältigen und komplexen Ursachen für den Bedeutungsverlust herauszuarbeiten. Denn Schulen und Schulstandorte bilden ein vielfältiges Kontinuum, in denen sich kollektive Aspekte der Zugehörigkeit mit individuellen Perspektiven von Schülerinnen und Schüler verbinden (vgl. Bourdieu/Champagne 2010: 283). Diesen wechselseitigen Positionsbestimmungen, für die strukturelle wie individuelle Aspekte der Zugehörigkeit eine zentrale Rolle spielen, widmet sich der folgende Abschnitt. Die hier vorgestellten statistischen Daten können dann wie die ‚Spitze eines Eisbergs‘ gelesen werden und bilden die Folgen viel tieferliegender Ursachen und Probleme für die teils erheblichen Verschiebungen in der Akzeptanz der Hauptschulen.

12 Eine der wohl umfangreichsten Studien zu diesem Thema hat Ernst Rösner (2007) vorgelegt. Rösner verweist hierbei insbesondere auf die zeitversetzten Effekte, bezogen auf die tendenziellen Folgewirkungen der mit demografischen Entwicklungen verknüpften Reduktion von Geburtenzahlen, die die schulische Infrastruktur zwangsläufig in ihrer kapazitären Auslastung wie auch im Schulwahlverhalten betreffen (vgl. Rösner 2007: 78).

13 Die Forschungsdaten beziehen hierzu sich auf den achten Jahrgang. Die statistische Reduktion in der Erfassung von Schülerinnen und Schüler in diesem Jahrgang ermöglicht aufgrund der unterschiedlichen Organisation von Übergangswegen in das Sekundarschulwesen (u.a. sechsjährige Grundschule in Berlin sowie Orientierungsstufen in einigen Bundesländern) die Erfassung eines zeitlich relativ stabilen Ausschnittes, in der schulformbezogene Veränderungen und Abwanderungen aufgrund der unterschiedlichen Organisationsformen weitgehend ‚unterbunden‘ sind (vgl. Dedering/Holtappels 2010: 366; Rösner 2007: 91).

14 Die Schüler- und Absolventendaten basieren auf Entwicklungsprognosen des Statistischen Bundesamtes. Zusätzlich wurden Daten zu den einzelnen Schulformen in der Berechnung bis zum Ist-Jahr der Prognose berücksichtigt und in die Auswertung integriert. Die Daten verweisen somit auf Entwicklungen, wobei ein unverändertes Anwahlverhalten unterstellt wird (vgl. KMK 2007b: 13ff.).

15 Auch wenn die Schulmodelle unterschiedliche Bezeichnungen tragen – ob Oberschule (Brandenburg, Bremen, Niedersachsen), Sekundar- oder Stadtteilschule, regionale Schulen (Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern), Realschule plus (Rheinland Pfalz) oder Gemeinschaftsschule (Saarland) – so gleichen sich diese doch in ihrem grundlegenden Aufbau. Der Unterricht in den Klassenstufen fünf bis sechs ist gemeinsam in einer Art Orientierungsstufe organisiert mit einer sich daran anschließenden Differenzierung in abschlussbezogene Klassen des Haupt- oder Realschulbereiches. Doch diese letztendlich äußere Differenzierung ist längst nicht überall gleich, da etwa in den Integrierten Sekundarschulen Berlins kursspezifisch eine äußere Differenzierung möglich, Aufgaben aber auch auf unterschiedlichem Anspruchsniveaustufen in einer Lerngruppe realisiert werden können. Dies obliegt letztendlich dem Verantwortungsbereich der Schulen (vgl. Berlin SchulG §22, Absatz 5). Auch Hamburg verfolgt mit den Stadtteilschulen ein ähnliches Konzept, wobei diese grundlegend die Jahrgänge fünf bis 13 umfassen. Dennoch sind hier Differenzierungen vorgesehen und alle Abschlüsse der Sekundarstufe eins nach entsprechendem Kompetenznachweis möglich (vgl. Hamburg SchulG §15 Absatz 4). Der Unterricht erfolgt überwiegend über innere Differenzierungen, aber auch äußere Differenzierungen sind in einem Fach oder jahrgangsbezogen möglich (vgl. ebd., § 15 Absatz 2).

16 In Baden-Württemberg liegen Haupt- und Werkrealschulen die gleichen Bildungspläne zugrunde, was vor allem die Anschlussfähigkeit und Eröffnung eines Übergangs von der neunten Klasse einer Hauptschule in die zehnte einer Werkrealschule ermöglichen soll. Erstaunlich ist besonders die Differenzierung, die sich anhand der auf die Klassengrößen bezogenen Angebotsvielfalt bezieht, wobei eine Werkrealschule mindestens sechs Schuljahre vorhalten muss, gelingt dies nicht „führen sie die Schulartbezeichnung ‚Hauptschule‘“ (Baden-Württemberg SchulG § 6, Absatz 2).

4 Das Stigma der Hauptschule

In diesem Zusammenhang spielen v.a. das subjektive Wissen und gesellschaftlich produzierte Auffassungen bezogen auf das schlechte Ansehen der Hauptschule eine Rolle und hierbei v.a. die schulformbezogenen Effekte der Zugehörigkeit, die in einer diversifizierten Schulstruktur für die Konstitution sozialer Identitätsformationen und der Definition von Sozialkategorien von Bedeutung sind (vgl. Oakes et al. 1994; Turner et al. 1987: 42ff., Wenzel/Wadzus 2008: 233). Unter theoretischen Gesichtspunkten werden diese schulischen Effekte wie auch die daraus resultierenden Prozesse in der pädagogischen, psychologischen und soziologischen Forschungspraxis v.a. mit dem Begriff des Stigmas in Verbindung gebracht (vgl. Link/Phelan 2001; Mickelson/Williams 2008; Solga 2002), dessen grundlegende Erforschung v.a. dem Soziologen Erving Goffman zu verdanken ist (Goffman 1975). Im Zentrum von Goffmans Studie „Über die Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ steht u.a. die Untersuchung von Funktionsweisen wie auch von Störungsprozessen in Interaktionsbeziehungen. Goffman zeigte dabei nicht nur an eindrücklichen Beispielen, wie Beschädigungsprozesse von Selbstverhältnissen und daraus resultierende Handlungsstrategien beschaffen sind, sondern legte zugleich eine Identitätstheorie vor, die unterschiedliche Bestandteile und Merkmale im Aufbau von Selbstverhältnissen berücksichtigt (vgl. Goffman 1975; 2009).

Mit dem Begriff des Stigmas umschreibt Goffman die Situation eines Individuums, dessen gesellschaftliche Akzeptanz aufgrund körperlicher Deformierungen oder charakterlicher Abweichungen sowohl in sozialer, persönlicher und auch subjektiver Hinsicht von gesellschaftlichen ‚Normerwartungen‘ abweichen und damit unmittelbar die Gefährdung der sozialen Anerkennung wie auch die Potentialität sozialer Ausgrenzungen erhöhen (Goffman 1975). Avishai Margalit geht sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnet Stigmata als „das Kainsmal für die Menschlichkeit der Menschen“ (Margalit 2012: 109). Im Gegensatz zu Goffman sieht Margalit aber nicht bloß die soziale Identität verletzt, sondern ganz zentral den „Aspekt der Verletzung ihres Menschseins“, wobei die Handelnden zwar als menschliche Wesen betrachtet werden, „aber als Menschen mit einem schwerwiegenden Defekt, mithin als Untermenschen“ (ebd., 109).

4.1 Die Konstitution des sozialen Raums im Kontext von Stigmatisierungsprozessen

Sowohl Goffman wie auch Margalit blenden dabei jedoch die Lokalisierung und Position der sozialen Akteure in ihrer wechselseitigen Bezogenheit und damit die sozialen Gewohnheiten und subtilen Präferenzen des Geschmacks und von Werturteilen aus. Eine solche Perspektive auf soziale Verortungsprozesse ist jedoch unerlässlich, um schulformbezogene wie individuelle Merkmale in der Entwicklung von Stigmatisierungsprozessen und ihre Relevanz für die Identitätsentwicklung in institutionellen Kontexten untersuchen zu können (vgl. Knigge 2009; Solga 2010). Der von Pierre Bourdieu (1987; 1998a) empirisch wie theoretisch herausgearbeitete (heuristische) Charakter des sozialen Raumes und die über die Praxen, Geschmackspräferenzen wie Kapitalvolumina im Habitus zum Ausdruck gelangenden Positionen der Akteure in diesem Raum markieren einen zentralen Anknüpfungspunkt bezüglich positioneller Lokalisierungen und diesbezüglicher identitätsrelevanter (Gruppen-)Merkmale. Bourdieus theoretische Arbeiten entfalten sich dabei wie ein wissenschaftstheoretisches Lebenswerk (vgl. Bourdieu 2002), deren kumulative wissenschaftliche Produkte nicht bloß auf der Beschreibung und Identifizierung der verborgenen Mechanismen der Macht (Bourdieu 2005) verharren. Vielmehr gelingt es Bourdieu über die theoretische wie empirische Erschließung struktureller Gegebenheiten wie auch über die Hervorhebung der Konstitution, individuellen Wahrnehmung und Beurteilung gesellschaftlicher Strukturen, jene Mechanismen und Verhältnisse zu identifizieren, deren dispositionelle Resultate sich tief in die Denk- und Handlungsmuster der Lebenspraxen eingeschrieben haben. Diese in den Körpern und Praxen inkorporierten ‚Formationen‘ werden dann als Ergebnisse wie auch als Ausgangspunkte positioneller Verortungen der Akteure im sozialen Raum zugänglich (vgl. Bourdieu 1979; 1987; Bourdieu et al. 2010). Bourdieus theoretischer wie empirischer Forschungsansatz basiert auf den objektiven (sozialen) Relationen und deren ‚Einschreibung‘ in die Praxen (vgl. Bourdieu 1993: 153ff.) sowie in der Begründung einer dispositionellen Philosophie des Handelns (vgl. Bourdieu 1998a: 7), in der sowohl die soziale Umwelt als auch die inkorporierten Strukturen hervorgehoben und in einer theoretisch verdichtenden Perspektive empirisch erforscht werden können (vgl. Bourdieu et al. 2010; Schultheis et al. 2005; Schultheis et al. 2010)17. Die diebsbezügliche Bedeutung der ‚feinen Unterschiede‘ in der alltäglichen Lebensführung (Bourdieu 1987) verweisen zudem auf die fast unmerklichen Grenzen des sozialen Alltags und heben die Regeln hervor, mit denen das Soziale in den Praxen sowie dem damit verbundenen Gesamtgefüge des sozialen Raumes inkorporiert und reproduziert werden (vgl. Baumgart 2008: 199; Bourdieu 1987; Bourdieu et al. 2010; Schultheis et al. 2005). Der gesamte Lebensstil eines Individuums, so Bourdieus zentrale These, wird durch dessen Position, dem Verfügungsumfang von differenten Kapitalformen18 sowie dem relationalen Charakter der Positionierung in einem sozialen Raum wesentlich strukturiert.

Die Bedeutung dieser Theorie ist unter sozialisationstheoretischen Gesichtspunkten erheblich, besteht doch Bourdieus zentrales Interesse in der Erforschung der Bedingungen des Aufwachsens, das heißt, welchen Stil, welchen Geschmack und welche Praxen die Subjekte in ihren Sozialisationskontexten erfahren, aber auch, welche Perspektiven die Handelnden auf ihre soziale Umwelt entwickeln und wie sie dabei das Soziale sukzessive verinnerlichen (vgl. Bourdieu 1987: 171ff.). In ihrer Beharrlichkeit begleiten diese Merkmale des Habitus die Bewegungs- und Interpretationsspielräume der Subjekte unablässig (vgl. Dörre 2009c: 198ff.). Der hierbei durch Bourdieu charakterisierte relationale Bezug zum Sozialen steht jedoch im Kontrast zu einer rein substanziellen theoretischen Erschließung. Bourdieu unterstellt also nicht, dass die in einem Individuum angelegten Dispositionen ein für alle Mal in den biologischen und kulturellen Körpern festgeschrieben sind, sondern er beschreibt den sozialen Raum sowie die Praxen der Handelnden als einen in sich befindlichen permanenten Prozess der Bewegung, in der erst dieser relationale Charakter den Beziehungen wie auch Strukturen und Dynamiken des sozialen Raumes Form, Struktur und Bedeutung verleiht (vgl. Bourdieu 1993: 153ff.). Als (theoretisches) Moment der Verbindung zwischen dem Lebensstil und der Stellung im sozialen Raum fungiert das Habituskonzept als ein komplexes System generativer Praxis. Die klassifizierbaren Formen der Praxis stellen dabei ein System distinkter Zeichen und Merkmale dar, ebenso wie die Erzeugungsprinzipien von Praxen, die so eine „strukturierte Struktur“ formen (Bourdieu 1987: 279), deren lebensweltliche Manifestationen eine theoretische Teilung in Klassenlagen19 erlauben, die sich in den Praxen widerspiegeln. Der Habitus selbst ist dabei weder die vollständige Basis der Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Subjekts noch ein dispositives ‚Gefängnis‘, sondern Kennzeichen einer Lebensweise und ‚inneren Verfasstheit‘ der Subjekte. Lebensweltliche Merkmale, Praxen und Präferenzen ebenso wie ganze Deutungsmuster liegen dabei nicht bloß nebeneinander, sondern sind vielmehr durch einen einheitsstiftenden Stil charakterisiert, dessen immanente Reproduktion die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe konstituiert und kennzeichnet (vgl. Bourdieu 1987: 277ff.)20.