... und das Leben geht einfach weiter - Jule Walter - E-Book

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Jule Walter

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Beschreibung

Es war einer dieser seltenen lauen Sommerabende, den wir auf der Terrasse meiner Eltern verbrachten. Mein Vater erzählte von früher. Das tat er, je älter er wurde, immer häufiger und immer lebhafter. Wir lachten Tränen, denn ja, bei allen schrecklichen Erlebnissen, gab es im Leben meiner Eltern, besonders nach dem Krieg, viel zu lachen. Irgendwann rief ich nach Papier und Stift und fing an mitzuschreiben. Nichts davon sollte verloren gehen. Noch konnte ich meinen Eltern alle Fragen stellen. Und das tat ich. Hier ist das Ergebnis: Es ist die Geschichte der Familie Walter aus Elmshorn im schönen Schleswig-Holstein. Und es ist die Geschichte der Familie Nowak aus Lauenburg in Pommern. Es ist die Geschichte der Unterschiede. Und es ist die Geschichte dieser besonderen Zeit, die beide Familien unaufhaltsam aufeinander zusteuern lässt.

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Inhaltsverzeichnis

1900 bis 1919

Charlotte und Jakob: Elmshorn, Schleswig-Holstein

mit Gustav, Heinrich, Paul, Elisabeth

Anna und Emil: Lauenburg, Pommern

mit Johann, Erich, Gertrud, Frieda

1930 bis 1948

Emma und Heinrich: Elmshorn, Schleswig-Holstein

mit Josef, Grete

Frieda und Franz: Lauenburg, Pommern

mit Maria, Selma, Helga, Hans, Lieselotte

1950 bis 1957

Maria und Josef

Für meine Eltern

DANKE

für euren Mut,

noch einmal in den Keller eurer

dunklen Erinnerungen hinabzusteigen.

DANKE

für die Beantwortung meiner unermüdlichen Fragen.

DANKE

für diese besonderen Abende

des gemeinsamen Erinnerns, des Lachens und Weinens.

Ich liebe euch.

Vorwort

Es war einer dieser seltenen lauen Sommerabende, den wir auf der Terrasse meiner Eltern verbrachten. Mein Vater erzählte von früher. Das tat er, je älter er wurde, immer häufiger und immer lebhafter. Wir lachten Tränen, denn ja, bei allen schrecklichen Erlebnissen, gab es im Leben meiner Eltern, besonders nach dem Krieg, viel zu lachen. Irgendwann rief ich nach Papier und Stift und fing an mitzuschreiben. Nichts davon sollte verloren gehen. Noch konnte ich meinen Eltern alle Fragen stellen. Und das tat ich. Hier ist das Ergebnis:

Es ist die Geschichte der Familie Walter aus Elmshorn, 30 km nördlich von Hamburg im schönen Schleswig-Holstein. Und es ist die Geschichte der Familie Nowak aus Lauenburg in Pommern.

Es ist die Geschichte der Unterschiede.

In Elmshorn wächst um 1900 die Industrie. Durch den kleinen Fluss Krückau, der direkt in die Elbe führt und den Anschluss an die Eisenbahn, kommt es hier zu einem gewissen Wohlstand. Margarinefabrik, Webereien, Gerbereien, Sägemühlen und Schlachtbetriebe sorgen für Arbeitsplätze. Die Menschen hier können sich etwas leisten. Es gibt Lebensmittel, Korbwaren, Kohlenhändler, Fischhändler, Bäcker, Schuster.

In Lauenburg in Pommern geht es beschaulicher zu. Hier leben die Menschen von und mit der Natur. Kartoffel- und Getreidefelder reichen bis zum Horizont. Birkenwäldchen sorgen für Schatten, Blätterrauschen und Pilze. Bis auf einige Bäcker, sind hier zur Hauptsache Bauern ansässig. Die Nähe zum Flüsschen Leba und zur gleichnamigen Stadt an der Ostsee, sorgt nach der anstrengenden Arbeit für Erholung.

Und es ist die Geschichte dieser besonderen Zeit, die beide Familien unaufhaltsam aufeinander zusteuern lässt.

1900 bis 1919

Charlotte und Jakob: Elmshorn, Schl.-Holstein Anna und Emil: Lauenburg, Pommern

1900 - Lauenburg in Pommern

Anna

„Sie kommen“, rief ich über meine Schulter zum Haus hin. Meine Mutter schaute aus dem Küchenfenster: „Dann komm.“ Ich hatte am Gartentor Stellung bezogen, um nach unseren Erntehelfern auszuschauen. Heute war es so weit. Es war erst 05:00 Uhr, doch schon jetzt so warm, dass ich nicht wusste, wie ich den Tag überstehen sollte. Bereits gestern, als wir bei der Hitze vorkochten, zerfloss ich nahezu in unserer Küche. Ich war 17 Jahre alt, trug mein luftigstes Kittelkleid mit nichts darunter. Meine blonden Zöpfe hatte ich mir um den Kopf gesteckt und mit einem bunten Tuch gegen die Sonne geschützt. Barfüßig saß ich nun lässig auf dem Gartenzaun. Mit jeweils einer Forke oder Sense über der Schulter kamen drei junge Burschen auf mich zu. Sie steckten ebenfalls in Arbeitskleidung, zu der ein Hut auf dem Kopf gehörte. Ich hörte sie reden und lachen. Sie waren also guter Dinge, wohl auch wegen der Aussicht auf ihren Lohn, den sie heute Abend bekommen sollten. Unsere Wiese lag unserem Haus gegenüber auf der anderen Straßenseite und ich hatte die Aufgabe, die Jungs gleich dorthin zu schicken. Mein Vater erwartete sie bereits am oberen Ende der Wiese, dort, wo das kleine Birkenwäldchen begann. Ich konnte von meinem Standpunkt aus sehen, wie er seine Sense schärfte. Aus unserem Haus hörte ich meine Mutter rumoren und sich fertig machen.

Die drei Jungs gaben gegen die Sonne ein ulkiges Bild ab. Rechts und links gingen zwei größere, kräftige Gestalten. In der Mitte ein kleiner schlaksiger schmaler Junge. Der gefiel mir gleich am besten, denn er hatte meine Größe und meine Statur. Ich war auch so eine kleine zarte Person, die oft unterschätzt wurde. Dabei waren wir Kleinen zäh und hatten mehr Kraft, als auf den ersten Blick zu erkennen war. Das hatte ich bereits vor Jahren in der Schule bewiesen. Mit mir brauchte sich niemand anzulegen. Wenn ich wollte, bekam ich jeden Jungen über.

Und so lächelte ich auch ihn an, als mir die Drei gegenüberstanden. Ich wusste, meine Freundinnen Magda und Minna hätten die beiden muskulösen größeren Jungs angeschmachtet, doch ich strahlte Emil an. So stellte er sich vor. Die Namen seiner Kollegen vergaß ich sofort wieder. Ich schickte die drei zu meinem Vater auf die Wiese. Dann half ich meiner Mutter mit den Verpflegungskörben, die wir über die Wiese trugen und im Birkenwäldchen in den Schatten stellten. Wir machten uns an die Arbeit. Die Männer mähten in einer Reihe mit der Sense, meine Mutter und ich formten Garben, die wir am Ende des Tages mit unserem Wagen hinüber zur Scheune fahren würden. Ich versuchte, Emil nicht anzustarren, doch wenn ich es tat, trafen sich unsere Blicke. Der Tag war arbeitsreich und anstrengend, gleichzeitig so schön und aufregend. In der Mittagspause musste ich zwar neben meiner Mutter sitzen, doch ich ließ es mir nicht nehmen, Emils Becher zu füllen und ihn zu bedienen. Als wir die Garben immer zu zweit auf den Wagen werfen sollten, fanden Emil und ich uns, wie von einem Magneten angezogen, zusammen. Zwischendurch sangen wir mit der ganzen Bande: „Hejo, spann den Wagen an“ im Kanon.

Mein Leben lang, auch später in der Fremde, würde ich mich an diesen Tag erinnern: Das wusste ich ganz genau. Es war der Tag, an dem ich Emil kennenlernte und von dem an wir unzertrennlich waren.

Im folgenden Jahr kam Emil fast täglich zu uns. Er half Vater, wo er nur konnte. Obwohl er bereits den ganzen Tag auf dem Hof seiner Eltern gearbeitet hatte. Oft aß er mit uns, brachte etwas zu essen mit oder hatte Mutter und mir auf seinem Weg Blumen gepflückt. Wir waren selten allein miteinander, doch ich vertraute seinen kleinen Gesten, wenn er mich um die Taille fasste, um mich vom Wagen zu heben oder meine Hand streifte, wenn ich etwas festhalten sollte. Es waren diese kleinen Berührungen, die wie Blitze durch meinen Körper zuckten und mich wissen ließen: Ich war die Seine.

1902 – Elmshorn in Schleswig-Holstein

Gustav

Es war der 18. Oktober 1902. Ich marschierte durch meine Stadt zur Arbeit. Die Sonne ging gerade auf. Die Stadt war bereits wach. Durch den Eisenbahnanschluss und unsere Krückau war Elmshorn im Begriff eine Industriestadt zu werden. Wir wuchsen schnell. Zahlreiche Firmen versetzten Elmshorn täglich in wuselige Unruhe und Aufregung. Hier lebten zufriedene Menschen, die ihr Auskommen hatten. Hier wurden sie gebraucht: Handwerker, Maschinisten, Kontoristen, Lagerarbeiter, Schiffsleute. Durch die Landwirtschaft um uns herum und die damit verbundene Tierhaltung fielen seit vielen Jahren reichlich Rinderhäute an, die in zahlreichen Lederfabriken und weiter in der Schuhverarbeitung ihre Verwendung fanden. Ich selbst war einer von ihnen. Gustav Pohlmann, 43 Jahre alt, verheiratet mit Auguste Pohlmann, Vater von drei Kindern: Meta, Hedwig und Fritz. Ein Mann in den besten Jahren, Gerber und Werksmeister bei Julius Peters. Zu Hause beschäftigten wir eine sogenannte Köksch, eine Küchenhilfe, und ich leistete mir die Freude meinen Sonnenschein, Meta, auf die städtische Höhere Mädchenschule zu schicken. Meta war mein ganzer Stolz. Ihren Wunsch nach Bildung unterstützte ich nach Kräften, auch gegen den Willen meiner Frau. Nächsten Monat würde Meta 18 Jahre alt werden. Ich hatte für diesen besonderen Tag um ihren Verbleib an der Schule ersucht und die Zusage erhalten. Voller Vorfreude auf diesen Tag bekam mein Gang noch mehr Schwung, grüßte ich freudig die Menschen, die mir begegneten. Ich ahnte nicht, dass mir Metas Freude zum Verhängnis werden sollte.

Meta

Es war einer dieser besonderen Tage. Ein Tag, den ich nie mehr vergessen würde. Das wusste ich bereits jetzt. Natürlich hatte es in den fast 18 Jahren meines Lebens bereits Tage gegeben, die ich nie wieder vergessen würde. Zum Beispiel, als mein kleiner Bruder Fritz als Dreijähriger den Weihnachtsbaum erklimmen wollte und mitsamt Baum, Schmuck und Kerzen Kapeister ging. Von meiner Mutter setzte es eine Tracht Prügel für Fritz und eine Ohrfeige für mich, weil ich, als Älteste, nicht genug aufgepasst hatte. Dabei hatte meine Mutter selbst mich in die Küche beordert, um das Essen aufzutragen. Unsere Köksch hatte nämlich am Heiligabend frei bekommen. Mein Vater versuchte zu retten, was zu retten war, doch das Weihnachtsfest war damit quasi beendet, bevor es begonnen hatte.

Heute war nun auch so ein Tag. Nicht das etwas Schlimmes passieren würde. Im Gegenteil. Josef hatte mir einen Heiratsantrag gemacht und ich hatte begeistert „Ja“ gesagt. Ich bin ihm um den Hals gefallen und zum ersten Mal hatten wir uns richtig geküsst. Lange und ausgiebig. Ich war begeistert. Der Erste, der es wissen sollte, war mein Vater. Er war immer der Erste, dem ich etwas erzählte, mit dem ich Geheimnisse teilen konnte. So war ich nun auf dem Weg zur Gerberei J. Peters, um meinem Vater einen Besuch abzustatten. Es war ein wunderschöner Oktobertag. Schon frisch, doch die Sonne ließ sich noch einmal blicken, als wollte sie uns den Abschied vom Herbst versüßen. Es war fast Mittag. Im Werk grüßte ich Vaters Kollegen, die mich kannten und mich daher nicht aufhielten. Im Überschwang riss ich die Tür zu seinem Büro auf, als mich der Schlag traf, der mein Leben für immer veränderte.

Julius Peters beschleunigte seine Schritte. Was für ein Desaster. Er musste schnell handeln, sonst würde sein Geschäft ernsthaften Schaden nehmen. Warum konnte er auch nicht strenger sein. Er hätte von Anfang an seinem Werksmeister, Gustav Pohlmann, verbieten müssen, dass seine Tochter ihn auf dem Werksgelände besuchte. Verdammt. Julius Vater hatte ihm so oft prophezeit, dass, wenn er das Geschäft übernehmen und nicht an seiner Durchsetzungskraft arbeiten würde, ein Unglück geschehen würde. Und genau das war jetzt passiert. Es gab nur eine Frau, die ihn retten konnte: Auguste Pohlmann, Witwe seines verunglückten Werksmeisters.

Julius betätigte den Türklopfer. Ein Mädchen mit Schürze und Haube öffnete.

„Julius Peters. Ich muss Frau Pohlmann sprechen.“

„Frau Pohlmann ist in Trauer. Ich darf niemanden vorlassen.“ Das Mädchen zeigte Angst, bekam hektische Flecken am Hals, hatte jedoch noch mehr Angst vor ihrer Herrin als vor dem Mann, der dort vor der Tür stand.

„Es geht um das Ansehen des Herrn Pohlmann und viel Geld.“ Vielleicht war es ein Fehler, schoss es Julius durch den Kopf, bereits hier von Geld zu sprechen, doch er wusste, dass Frau Pohlmann, als Witwe mit drei Kindern, das Wasser bis zum Hals stand. „Einen Moment bitte“, lehnte das Mädchen die Tür wieder an und Julius hörte ihre Schritte über den Flur laufen. Er musste nicht lange warten.

„Frau Pohlmann, liebe Auguste. Es bricht mir das Herz, sie in dieser schweren Stunde zu behelligen.“ Behelligen, fiel es ihm auf, war hier das richtige Wort. Die gute Stube mit dem schweren Schrank aus dunklem Eichenholz war abgedunkelt. Auguste Pohlmann saß, ebenfalls in schwarz gehüllt, in einem Sessel unter einer Stehlampe, deren Schirm von einem schwarzen Spitzentuch verhüllt wurde.

„Herr Peters, was führt sie zu mir?“

„Haben Sie die Todesanzeige schon aufgegeben?“

Ihr Blick fuhr hoch und er erschrak, als er merkte, dass er viel zu direkt begonnen hatte.

„Entschuldigung“, fuhr er sogleich fort, „die Angelegenheit ist delikat. Deshalb gehen heute Morgen die Pferde mit mir durch.“

„Der Tod meines Mannes delikat? Erklären sie sich.“ Auguste hatte ihre müden, Augenbrauen hochgezogen.

„Verehrte Auguste. Wenn die Behörden erfahren, dass es in meinem Werk einen Unfall gegeben hat, wird mit Sicherheit eine langwierige Untersuchung begonnen. Wahrscheinlich wird das Werk dafür für einige Zeit geschlossen. Es wird neue Sicherheitsbestimmungen geben, die ich vor Wiedereröffnung umsetzen müsste. Das alles wäre sehr teuer und der Ruf unserer Gerberei steht auf dem Spiel.“

Auguste wurde unruhig. Das Beruhigungsmittel, das Dr. Goldberg ihr verabreicht hatte, verlor allmählich seine Wirkung. „Herr Peters“, sagte sie daher etwas zu laut, „mein Mann ist tot. Der Ernährer dieser Familie ist tot. Der Vater meiner Kinder ist tot. Und sie kommen mir mit ihrem guten Ruf? Bei aller Liebe …“

„Ich weiß, liebe Frau Pohlmann. Das ist doch der wahre Grund meines Besuches.“

Auguste verstand nur Bahnhof. Was wollte dieser Mensch von ihr? Er sollte gehen. Sie brauchte Ruhe, um darüber nachzudenken, wie sie ihre Kinder ernähren sollte.

„Ich fühle mich nicht sehr gut, wie sie sich vorstellen können. Sie sollten jetzt gehen“, sagte sie daher mit Nachdruck.

„Ich mache ihnen einen Vorschlag.“ Ignorierte dieser Peters sie einfach? In ihrem Haus? Das war dann doch die Höhe. Solange es noch ihr Haus war, hatte sie ja wohl jetzt das Sagen hier. Sie wollte aufspringen und ihm die Tür weisen, doch seine Hand gebot ihr Einhalt.

„Bitte. Hören sie mich an. Dann gehe ich sofort.“ Auguste ließ sich in den Sessel zurückfallen. Kraft für großen Widerstand hatte sie eh nicht.

„Ich mach es kurz.“ begann Julius Peters um seinen guten Ruf zu kämpfen. „Ich kann keinen Unfall in meinem Werk gebrauchen. Sie benötigen Geld, um ihre Kinder durchzubringen, bis sie eine Lösung gefunden haben. Ich biete ihnen Folgendes an: Ich sorge dafür, dass sie in diesem Haus bleiben können. Ich zahle ihnen für die nächsten, sagen wir fünf Jahre, jährlich 500 Mark. Bis dahin ist ihr Sohn in Ausbildung, die Mädchen fast verheiratet. Sie kommen über die Runden und ich behalte mein Werk. Dafür wird in der Todesanzeige für unseren lieben Gustav nichts von einem Unfall stehen. Was sagen sie?“

Augustes Augen wanderten unruhig durchs Zimmer. Keine Sorgen, das Haus behalten, keinen Hunger, sie würde nicht putzen müssen für andere Leute.

„Überlegen Sie es sich. Ich komme morgen wieder. Danke, dass sie mich angehört haben. Guten Tag.“ Julius Peters war zufrieden mit seinem Auftritt. Er war zu Auguste Peters durchgedrungen und sein Angebot losgeworden. Er verstand sie als vernünftige Frau und verantwortungsbewusste Mutter, die bei allem Kummer wusste, wie sie zu handeln hatte. Er hatte bereits den Griff der Stubentür in der Hand, als sie nach ihm rief. Jakob hielt inne. Sollte sie sofort zuschlagen und sein Angebot annehmen?

„Herr Peters, was genau ist denn eigentlich mit Gustav passiert?“

„Haben sie denn noch nicht mit ihrer Tochter gesprochen?“

„Wie bitte?“

„Na. Sie ist die Einzige, die weiß, was passiert ist.“

„Ich verstehe nicht.“

„Fragen sie sie.“

„Wen?“

„Meta.“

Meta

Endlich. Mutter ließ mich rufen. Sie stand in der guten Stube, aufrecht und sehr gefasst, wie mir schien. Mir liefen die Tränen und ich wollte mich in ihre tröstenden Arme werfen. Ich klammerte mich an ihren Körper, Trost erwartend, doch sie rührte sich nicht. Strich mir nicht wie sonst über mein Haar. Ihre Arme hingen wie leblos an ihrem

Körper und umarmten mich nicht. Ich ließ sie los und trat zurück.

„Was ist?“

„Was hast du mir über den Tod deines Vaters zu berichten?“

„Wie bitte?“

„Herr Peters meinte, du wärest die Einzige, die den genauen Hergang wüsste.“

In meinem Kopf rauschte es. Ja, ich wusste genau, was passiert war, aber sollte ich das auch sagen? Oder war es jetzt, wo Vater tot war, einerlei?

„Meta!“ Mutters Ton drängte.

„Ich war im Werk. Gestern.“

„Du warst dort? Wer hat dich da reingelassen?“

„Ich war oft dort. Vaters Kollegen kennen mich.“

„Wie bitte? Was hattest du dort zu suchen?“

Ich redete mich um Kopf und Kragen. Ich war immer Vaters Liebling. Mutter und meine jüngere Schwester Hedwig neideten es mir seit jeher. Und nun? Doch um der Wahrheit Willen musste ich fortfahren.

„Ich durfte nur bis zu Vaters Büro. Manchmal ging ich nach der Schule zu ihm, um von einer guten Note zu berichten.“

„Aha. Und gestern?“

„Jakob hat mir einen Antrag gemacht und ich habe Ja gesagt. Das wollte ich Vater erzählen.“

„Oh. Und dann?“

„Ich kam in sein Büro. Er stand an seinem Schreibtisch und hatte Else im Arm.“

„Was??? Welche Else?“

„Ein Mädchen aus meiner Volksschulklasse.“

Meine Mutter war blass geworden. Sie setzte sich stöhnend in ihren Sessel.

„Erzähl weiter.“

„Ich war geschockt. Lief wieder hinaus. Vater rief nach mir. Dann hörte ich einen Knall und dann schrie Else. Ich lief zurück. Vater wollte mir scheinbar nach, ist gestürzt und mit dem Kopf auf seinen Schreibtisch geschlagen. Er lag auf dem Boden und rührte sich nicht.“

Ich schluchzte auf. Sah die Szene vor mir. Nun würde sie mich aber in die Arme nehmen, glaubte ich ganz fest. Sie würde mein Elend erkennen, meine Not. Meinen ganzen Kummer verstehen, der ihrem so ähnlich sein musste. In Mutters Kopf konnte ich die Gedanken rasen sehen. Ihre Augen wanderten unruhig hin und her. Ich glaubte aus ihrem Gehirn ein Knistern zu vernehmen. Endlich sah sie auf, betrachtete mich lange, bevor sie sprach:

„Dann ist es deine Schuld.“

„Aber Mutter.“ Mir wurde schwindelig. Was meinte sie?

„Wenn du dort nicht aufgetaucht wärst, wäre dein Vater noch am Leben, oder?“

Ihr Blick ließ keinen Widerspruch zu.

„Mein Ehemann tot. Euer Vater tot. Unser aller Ernährer tot. Und alles deine Schuld.“

Mir drehte sich der Magen um. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Doch dann kam die Wut. Ich sollte schuld sein, am Tod meines geliebten Vaters?

„Und Else? Und Vater?“

Die Ohrfeige meiner Mutter traf mich unerwartet.

„Wir machen es wie folgt“, sprach sie plötzlich ganz sachlich weiter.

„Du verlässt die Schule. Das kann ich mir nun nicht mehr leisten. War mir sowieso immer schleierhaft, warum dein Vater dir das erlaubt hat.“

„Aber ich will doch Ärztin werden.“

„Ich bin noch nicht fertig.“, sprach sie laut weiter,

„Du heiratest Jakob möglichst schnell und verlässt dann das Haus. Solange du noch hier bist, gehst du mir aus dem Weg. Ich will dich nicht mehr sehen. Du hast unser aller Leben zerstört.“

„Aber Mutter. Bitte.“ Ich schluchzte nun unkontrolliert. Was meinte sie? Sollte ich nicht nur meinen Vater verloren haben, sondern auch meine Mutter? Meine Geschwister? Mein Zuhause?

„Du hast mich gehört. Geh und regele deine Angelegenheiten.“

Ich sank auf die Knie und schlang meine Arme um sie.

„Nein Mutter, bitte. Tu das nicht.“

Meine Tränen hinterließen nasse Flecken auf ihrem Rock. Sie schüttelte mich ab wie ein lästiges Insekt und trat beiseite.

„Du hast mich gehört. Geh mir aus den Augen.“

Wie benommen schlich ich zurück in mein Zimmer, dass ich mir mit meiner Schwester Hedwig teilte. Sie saß auf ihrem Bett und sah mich an.

„Hedwig“, rief ich und wollte mich zu ihr aufs Bett werfen. Suchte Trost. Eine Umarmung, Mitleid.

„Ich habe gelauscht. Du hast Vater umgebracht. Verschwinde, sag ich dir.“ Sie nahm ihr Bettzeug und verschwand im Zimmer unseres Bruders Fritz.

Von dieser Stunde an war ich aussätzig. Alle mieden mich. Niemand sprach mit mir. Trost fand ich einzig und allein bei Jakob, der mich Abend für Abend abholte und lange Spaziergänge mit mir unternahm. Auf der einen oder anderen Parkbank küssten wir uns und ich klammerte mich an ihn wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring. Jakob war ab nun meine Welt, meine Familie. Er war es auch, der die rettende Idee hatte.

„Du ziehst nach der Hochzeit zu meinen Eltern nach Schönwalde. Ich suche uns inzwischen eine Wohnung und Arbeit für dich. Wir schaffen das schon.“

„Aber dann sehen wir uns ja nur am Wochenende.“

„Wahrscheinlich nicht jedes Wochenende. Das Geld für die Fahrkarte können wir gut sparen. Das brauchen wir sicher noch.“

„Nein. Ich halte es nicht aus ohne dich.“

„Meta! Du hältst es nicht länger bei euch zu Hause aus. Meine Eltern sind in Ordnung. Ich werde meinem Bruder Bruno schreiben. Er soll mein Trauzeuge sein. Nach der Hochzeit werde ich bei Meister Schulz um eine Lohnerhöhung bitten. Das wird schon.“

„Gut, dann machen wir es so.“ Ich schmiegte mich an ihn. Er drückte mich fest an sich. Ich hatte nur noch ihn.

Es war der Tag des Abschiednehmens. Abschied von meinem geliebten Vater, für dessen Tod ich die Schuld bekam. Nur um den Ruf der Familie zu wahren, durfte ich mit zur Beerdigung. Zu gern hätte meine Mutter mich auch davon ausgeschlossen. Es war Mittwoch, der 22. Oktober 1902. Es hatte in der Nacht den ersten Frost gegeben. Nun, um 16:00 Uhr, stand eine klare Wintersonne am Himmel. Als hätte mein Vater den Himmel erhellt, um mir zu sagen: „Es ist alles gut, Meta. Es ist nicht deine Schuld.“ Inzwischen wusste ich jedoch, dass es sehr wohl meine Schuld war. Es war nicht die Tatsache, dass ich in die Fabrik und sein Büro marschiert bin. Das hatte ich früher schon öfter gemacht. Es war die Tatsache, dass ich die Situation, in der ich ihn und Else vorgefunden hatte, diese unsägliche Umarmung, dass ich diese Situation falsch gedeutet hatte. Wie hatte ich meinem Vater nur einen Hauch von Untreue zutrauen können? Zumal jeder hätte das Büro betreten können?

Else war Jakob und mir auf einem unserer langen Abendspaziergänge begegnet. Als wir uns erkannten, erschrak ich und Wut kochte in mir hoch, während sie sofort in Tränen ausbrach, auf mich zustürzte und um Vergebung bat. „Vergebung? Wofür?“, funkelte ich sie an. Sie trat einen Schritt zurück und strich sich mit beiden Händen über ihren Bauch, der sich leicht zu runden begann. Mir wich alle Farbe aus dem Gesicht. „Ist das?“, keuchte ich, die Hand vor den Mund schlagend. Else erkannte meinen Gedanken. Sie riss die Augen auf und rief: „Es ist von Erwin. Erwin Meier.“ Nun riss ich die Augen auf. „Ich war im Büro deines Vaters“, fuhr Else fort, „um ihm von der Schwangerschaft zu erzählen. Ich war in der Verpackung eingesetzt und konnte fortan die schweren Säcke und Kisten nicht mehr anheben. Außerdem hatte Erwin sich bis zu dem Zeitpunkt geweigert, das Kind anzuerkennen und meine Eltern wollten mich rauswerfen.“ Das Gefühl kannte ich. Wie verzweifelt musste sie gewesen sein. „Dein Vater hörte mich an. Er versprach, mir leichtere Arbeit zu geben, damit ich im Betrieb bleiben konnte und er versprach auch, mir zu helfen, bis ich nach der Geburt des Kindes wieder arbeiten kann. Ich war ihm so dankbar, dass ich ihm schluchzend um den Hals gefallen bin. Da standest du dann in der Tür.“ Else und ich sahen uns an, dann umarmten wir uns und weinten bitterlich mitten auf der Straße. „Es tut mir leid“, schluchzten wir beide immer wieder.

Als unsere Familie an diesem Tag das Haus verließ, zischte meine Mutter mir zu: „Du sprichst kein Wort, zu niemandem. Verstanden?“ Ich nickte. Was sollte ich auch sagen? Ich hätte ohnehin nicht sprechen können, mit niemandem. Denn von dem Moment an, da wir das Haus verließen, weinte ich unablässig, bis wir zurück waren. Die Sonne half mir, nicht zusammenzubrechen. Als sie in der Friedhofskapelle durch die bunten Fenster herein und mir direkt ins Gesicht schien, schloss ich die Augen und fühlte Vaters Hand an meiner Wange. „Sei nicht traurig, Meta-Maus. Es ist alles gut. Es ist nicht deine Schuld. Es war ein Unfall“, hörte ich ihn leise flüstern. Die Beerdigung erlebte ich wie in Trance. Jakob hatte nicht frei bekommen und so wandelte ich wie betäubt durch die Stunden des Abschieds. Ich hätte hinterher nicht sagen können, wer mir die Hand gedrückt und sein Beileid bekundet hatte. Nur mein Körper war anwesend, mein Geist war vereint mit dem meines Vaters, der mich ermutigte weiterzumachen, meinen Weg zu gehen. Kaum waren wir wieder zu Hause, wurde ich in mein Zimmer geschickt und da wartete ich wie jeden Tag auf Jakob. Noch vor wenigen Tagen war ich die glücklichste Frau auf dieser Erde gewesen und jetzt? Alles dahin. Obwohl. Alles dahin? Jakobs Antrag war die einzige Freude, vor allem aber der einzige Weg aus meiner Situation. Meine Rettung.

Jakob holte mich ab. Sobald ich mein Elternhaus verließ, konnte ich durchatmen. Ich schnappte förmlich nach Luft, als wir aus dem Haus traten.

„So schlimm?“, fragte Jakob und reichte mir seinen Arm.

„Schlimmer“ hakte ich mich bei ihm unter.

„Bitte, nehmen sie Platz.“ Der Standesbeamte, Friedrich Petersen, deutete auf zwei Stühle vor seinem Schreibtisch.

Wir setzten uns.

„Haben sie alle Unterlagen dabei?“

„Ja, wir haben alles besorgt“, reichte Jakob die

kleine Mappe mit den gewünschten Urkunden über den Schreibtisch.

Herr Petersen prüfte die Vollständigkeit, dann nahm er seine Brille ab und legte sie langsam auf den Papierstapel vor sich.

„So, sie wollen also heiraten“, lächelte er sanft.

„Genau“ antwortete Jakob.

„Sie auch?“, fragte Herr Petersen und sah mich an.

„Ja, ich auch“, bestätigte ich fest. Das ist meine Rettung dachte ich. Was sollte ich sonst tun? Natürlich, Jakob hatte mich bereits vor dem Tod meines Vaters gefragt, ob ich seine Frau werden wollte. Doch nun eilte es mehr als erwartet und meiner großen Freude und Aufregung über meine

Verlobung hatte sich ein riesiger Schatten bemächtigt. Ob ich je wieder würde lachen können?

„Wer sind ihre Trauzeugen?“

Jakob sprach für sich: „Mein Bruder, Bruno Walter, aus Schönwalde. Geburtsdatum und Adresse habe ich ihnen aufgeschrieben.“

„Und bei Ihnen?“

Sein Blick ruhte nun auf mir. „Meine Trauzeugin ist Erna Fröhlich. Geburtsdatum und Adresse sind ebenfalls in unseren Unterlagen vermerkt.“

„Gut, dann haben wir alles zusammen. Wir sehen uns dann zur Trauung am Freitag, den 12. Dezember um 11:00 Uhr hier im Standesamt. 12.12., da haben sie sich ein gutes Datum ausgesucht. Mit der Heiratsurkunde müssen sie, Fräulein Pohlmann, dann ins Rathaus gehen, um ihre Ausweispapiere neu ausstellen zu lassen.“

„Ich möchte noch etwas ändern lassen“, sagte ich etwas zu laut.

Herr Petersen zog die Augenbrauen hoch. Jakob sah mich überrascht an. Ich richtete mich auf und versuchte möglichst entschlossen zu wirken.

„Ich möchte, dass mein zweiter Vorname künftig mein alleiniger Vorname wird. Geht das?“

„Mmh. Ihr zweiter Vorname ...“ Herr Petersen raschelte durch unsere Unterlagen.

„Charlotte“, betonte ich.

„Das ist kein Problem. Ich vermerke es gleich hier in den Unterlagen, dann gerät es bei der Umschreibung ihres Ausweises nicht in Vergessenheit.

Fräulein Pohlmann, Herr Walter. Bis zum 12.12.“ Wir erhoben uns, gaben uns die Hand. Ich fühlte mich so erwachsen.

1902 – Lauenburg in Pommern

Anna

„Asche zu Asche. Staub zu Staub.“ Unser Pastor waltete seines Amtes. Wieder einmal. Vor zwei Jahren im November, mussten wir Emils Mutter beerdigen. Bereits zu Weihnachten saß er bei uns am Tisch und bot mir im Auftrag seines Vaters eine Stelle an. So wohnte ich nun bereits ein Jahr auf dem Neubauer Hof und übernahm die Arbeiten der verstorbenen Mutter. Zum Glück hatte ich zu Hause früh das Kochen und Haushalten gelernt, sodass ich mich mühelos einfügte. Das ständige Zusammensein mit Emil machte mich glücklich. Sein Vater war verträglich, wenn auch nach dem Tod seiner Frau still geworden. Nun lag er neben ihr im Grab.

Nach unserer Rückkehr vom Friedhof fand auf unserem Hof der Leichenschmaus statt. Ich hatte die letzten zwei Tage gebacken, gekocht und heute früh alles auf dem Wohnzimmertisch gestapelt. Nun lief ich mit der Kaffeekanne vom Pastor zu den Nachbarn, von meinen Eltern zu unseren Freunden und schenkte nach. Nie ließ ich Emil aus den Augen, der bei aller Trauer einen schelmischen Glanz in den Augen hatte. „Nun, Emil“, begann unser Bürgermeister. „Bei aller Trauer, mein Lieber. Wie willst du es mit der Zukunft halten?“ Da sah ich an Emils Blick, dass der Moment, auf den er scheinbar gewartet hatte, gekommen war. Er erhob sich, winkte mich zu sich und legte den Arm um mich. Dann sprach er: „Ihr Lieben. Danke, dass ihr heute alle gekommen seid. Wie geht’s nun weiter? Das fragte ich mich auch. Für mich gab es und gibt es auf diese Frage nur eine Antwort: Anna!“ Er löste sich von mir, kniete vor aller Augen nieder, öffnete seine Faust und auf seiner Hand lag ein schmaler Goldring. „Anna. Ohne dich geht in meinem Leben nichts mehr. Nicht auf dem Hof und nicht in meiner freien Zeit. Willst du mich heiraten?“ Ich schlug mir vor Überraschung die Hand vor den Mund. Mit aufgerissenen Augen sah ich zu meinen Eltern hinüber. Emils Blick folgte meinem. „Natürlich nur, wenn deine Eltern einverstanden sind.“, nickte er meinem Vater zu. Meine Eltern sahen sich kurz an. Mein Vater erhob sich und sagte: „Emil, du bist für uns wie ein Sohn. Wir sind einverstanden.“ Ich sah wieder zu Emil, der immer noch vor mir kniete. „Du musst noch antworten“, flüsterte er. „Ich will“, flüsterte ich unter Tränen. Da steckte er mir den Ring an, drückte und küsste mich. Ein lächelndes Raunen ging durch den Raum. „Nun, dann ist das ja geklärt“, rief der Bürgermeister. „Darauf noch einen Schnaps“, forderte Emil.

So kam es, dass wir zwei Wochen nach der Beerdigung von Emils Vater in derselben Stube unsere Hochzeit feierten. Ich im Brautkleid meiner Mutter und Emil in seinem Konfirmationsanzug. Unsere Sau, die wir übers Jahr gemästet hatten, wurde frühzeitig von Schlachter Hackenbarth geschlachtet und ein Großteil ihres Fleisches wurde zum Festschmaus verarbeitet. Es war Freitag, der 10. Oktober 1902 und wir feierten ausgiebig an diesem traumhaft schönen, goldenen Oktobertag. Bis zu diesem Tag hatten Emil und ich weiterhin jeder in seiner Kammer geschlafen. Nebenbei hatte ich das Elternschlafzimmer neu dekoriert, die Betten frisch bezogen. Die Kleider der Eltern waren auf dem Speicher gelandet und unsere Kleider hatte ich in den großen Kleiderschrank sortiert. Nun war es unser Schlafzimmer, in dem wir von Anfang an, zärtliche Nächte verbrachten. Ich war jetzt Anna Neubauer, Ehefrau und Hofbesitzerin und wie sich bald herausstellte: werdende Mutter.

1902 – Elmshorn in Schleswig-Holstein

Meta

„So, Herr Walter, dann bitte ich sie hier unten links mit ihrem vollen Vor- und Zunamen zu unterschreiben.“ Der Standesbeamte, Friedrich Petersen, legte die Mappe mit der Heiratsurkunde vor Jakob auf den Platz und deutete auf den vor uns liegenden, edel aussehenden Füllfederhalter. Irrte ich mich oder zwinkerte Herr Petersen mir zu? Danach nahm er die Urkunde wieder an sich und sah mich an. „Für Sie, Frau Walter“, betonte er, „habe ich eine Überraschung. Ein kleines Hochzeitsgeschenk der Stadt Elmshorn. Ich habe mir erlaubt, ihrem Wunsche entsprechend, bereits vorab ihre neuen Ausweispapiere ausstellen zu lassen, sodass sie bitte einmal hier, in ihrem neuen Ausweis und danach unten rechts auf der Heiratsurkunde mit ihrem jetzigen Namen, Charlotte Walter, unterschreiben.“ Er strahlte mich an. Ich stutze, sah sprachlos auf den Standesbeamten, dann auf Jakob. Dann strahlte ich auch.

Es war der 12. Dezember 1902 und ab heute würde ich frei sein. So sehr die Schuld am Tod meines Vaters meine Seele erstarren ließ, so sehr war die Trauer über den Verlust von Mutter und Geschwistern einer unbändigen Wut gewichen. Und wenn es meiner Mutter gerade recht kam, einen Esser weniger am Tisch zu haben, dann hieß es für mich, dass sie mich nie geliebt haben kann. Dann muss sie seit jeher eifersüchtig auf die Liebe meines Vaters zu mir gewesen sein. Ich wollte sie niemals wiedersehen. Ich unterschrieb voller Freude und konzentriert, mit aller Sorgfalt und Ausdrücklichkeit mit Charlotte Walter, denn die war ich ab heute. Und ob Jakob sich im Laufe eines hoffentlich langen Lebens als meine ewig große Liebe herausstellen würde: Er war in jedem Fall mein Retter, mein bester Freund. Denn auch, wenn nach seinem Heiratsantrag von einer sofortigen Hochzeit nicht die Rede war, zögerte er nicht, mich aus meinem unerträglichen Zuhause zu retten. Ich hätte ohne ihn nicht gewusst, wohin ich hätte gehen sollen. So war ich Jakob, Liebe hin, Leidenschaft her, dankbar für seine Ritterlichkeit bis an mein Lebensende. Daran würde sich nie etwas ändern. Das wusste ich ganz genau.

Es war, als hätte sich durch meine Unterschrift, durch meinen neuen Namen, ein Schleier erhoben. Zum ersten Mal an diesem Tag sah ich die Welt mit klarem Blick. Die Ansprache von Herrn Petersen hatte ich wie in Trance erlebt. Wie schick sich Erna und Jakobs Bruder, Bruno, gemacht hatten. Wie stattlich Jakob in seinem dunklen Anzug aussah. Was für ein wunderschöner, sonniger Wintertag unser Hochzeitstag war. Das offenbarte sich mir erst jetzt. „Der Ring“, rief Bruno. Ich schaute beschämt zu Boden. Für einen oder gar zwei Ringe hatten wir nun wirklich kein Geld. Daher war ich mir sicher, dass Jakob keinen Ring für mich hatte, und das hatte er auch nicht. Doch Bruno zog ein kleines Kästchen aus der Innentasche seiner Anzugjacke und reichte es Jakob. Der zog die Augenbrauen hoch, stutzte kurz, straffte dann die Schultern, sah mich an und öffnete voller Stolz das Kästchen. Ein schmaler, schlichter, goldener Ring kam zum Vorschein. Ich staunte. Jakob nahm den Ring heraus und streifte ihn mir an den Ringfinger meiner rechten Hand. Der Ring war einen kleinen Tick zu groß, doch das störte mich nicht. Ich umarmte ihn und wir beide bedankten uns bei Bruno. „Er hat unserer Großmutter gehört und Mutter hat ihn mir heute Morgen mitgegeben“, erklärte er. „Ich wünsche euch alles Glück dieser Erde“, drückte Erna mich an sich. Bruno drückte mich auch und raunte: „Willkommen in unserer Familie.“ „Danke. Hoffentlich sehen deine Eltern das auch so“, sagte ich. „Sie werden dich lieben, so wie ich“, nahm Jakob mich fest in die Arme und küsste mich. Tränen standen in seinen Augen. „Egal was kommt. Von nun an gemeinsam durch dick und dünn“, sagte er feierlich. „Darauf müssen wir trinken“, rief Erna, „kommt mit zu mir.“

Während der Trauung hatte es begonnen zu schneien. Erna und ich traten mit „Ohhhh“ und „Schau nur, wie schön“, vor die Tür. Die Männer schmunzelten. Zu Fuß gingen wir durch die Schneeflocken in die Peterstraße. Erna wohnte in der Dachkammer von Witwe Paulsen, die heute eine Ausnahme machte und Herrenbesuch zuließ. Sie erwartete unsere kleine Gesellschaft im Flur und gratulierte herzlich. Ihr Hochzeitsgeschenk war eine Delikatesse. Ich trug den kleinen Teller mit vier Zimtsternen nach oben in Ernas Zimmer. Erna war zwei Jahre älter als ich und lebte hier allein. Ihre Eltern waren früh verstorben und hatten ihr viel Geld vererbt, das bislang ihr Onkel aus Hamburg verwaltete. Das wollte er weiterhin so halten, bis Erna heiraten würde. Doch Erna hatte früh erkannt, dass sie Lehrerin werden wollte und dass das Geld ihrer Eltern es ihr auch ermöglichte.

So musste ihr Onkel Geld für das Zimmer und den Besuch des Lyceum herausrücken. Sobald sie ihre erste Anstellung bekam, durfte sie selbst über das Geld verfügen. Ernas Behausung bestand aus einem Zimmer mit einer Kochecke, einem Esstisch und zwei Stühlen. In der Dachschräge stand ihr Bett. Hier hatte ich mir heute früh Ernas Kostüm angezogen. In dem Koffer, den ich von zu Hause mitgenommen hatte, waren die Sommersachen aus diesem Jahr, und die zu klein gewordenen Wintersachen vom letzten Jahr. Ich hätte normalerweise nach meinem Geburtstag im September neue Wintersachen bekommen sollen, wenn nicht alles anders gekommen wäre. „Das Brautpaar nimmt am Tisch Platz“, wies Erna uns an. „Bruno und ich sitzen auf dem Bett.“ Sie errötete leicht bei ihren Worten. Die Männer sahen sich an. Bruno schüttelte den Kopf. „Die Damen sitzen am Tisch, die Herren auf dem Bett.“ Jakob nickte. Und so wurde es gemacht. Jakob und ich bekamen von der herrlich duftenden Gemüsesuppe, die Erna gestern gekocht hatte, jeweils einen der beiden tiefen Teller. Bruno und Erna tranken die Suppe aus zwei Kaffeetassen. Sie tat gut, wärmte von innen und der kleine Herd sorgte für warme Glieder. Nach der Suppe gab es für jeden eine Schnitte Brot. Erna hatte, woher auch immer, etwas gute Butter bekommen, die sie dünn auf jede Schnitte strich. Bevor wir jedoch herzhaft zubeißen konnten, hob Jakob die Hand. „Kommen wir nun zum Hochzeitsgeschenk meines Chefs“, rief er feierlich aus und zog aus seiner Manteltasche ein kleines Päckchen. Er legte es auf den Tisch und faltete das Papier so langsam wie möglich auseinander. Zum Vorschein kamen zwei Scheiben Schinken. Wir sahen uns an. „Donnerknispel“, entfuhr es Bruno, „dein Chef lässt sich nicht lumpen.“ Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Wir schnitten die Schinkenscheiben durch, konnten so je eine halbe Scheibe Brot damit belegen. Dann sahen wir uns an, klappten die Stullen zusammen und unter lautem Lachen begannen wir zu speisen. „Nun bin ich dran“, räusperte sich Bruno. Er zog aus der Innentasche seines Jacketts eine kleine Metallflasche. „Ist das Vaters Flachmann?“, zog Jakob die Augenbrauen hoch. „Hat er mir für heute geliehen“, zuckte Bruno die Schultern. „Und er weiß davon?“, fragte Jakob. „Bekommt er doch zurück“, rollte Bruno mit den Augen. „Was ist darin?“, fragten Erna und ich wie aus einem Munde. „Nicht lang schnacken, Kopp in Nacken“, reichte Bruno mir zuerst die kleine Flasche. „Nur einen Schluck“, warnte mich Jakob. Ich nippte an der klaren Flüssigkeit und holte tief Luft. Puh, das war scharf. Doch, bevor ich mich beschweren konnte, durchströmte mich eine heiße Welle vom Hals bis tief in meinen Bauch. Was für eine Wohltat. „Großartig“ japste ich. Wir lachten. Erna bekam einen kurzen Hustenanfall. Wir lachten wieder. Die Männer verzogen keine Miene, hatten den Geelen Köm, wie Bruno erklärte, schon öfter getrunken. „Ein Genuss“, schwärmten wir nun alle nach dem zweiten Schluck. Bruno steckte den Flachmann wieder ein. „Den Rest benötigen wir noch für die Fahrt“, meinte er. „Kommen wir nun zu meinem Geschenk“, sagte Erna. „Dein Geschenk?“ Ich hörte wohl nicht richtig. „Du hast schon so viel für uns getan, wofür wir dir von Herzen dankbar sind.“

„Genau!“, pflichtete Jakob mir bei. „Trotzdem“. Erna stand auf und begann in der Kochecke zu werkeln. Sie deckte zwei Becher und die beiden, inzwischen abgespülten Kaffeetassen, auf und stellte dann eine kleine Metallkanne auf den Tisch, aus der es herrlich duftete. Wir schnupperten und schlossen die Augen. „Feinster Bohnenkaffee, nicht mit Natron verlängert.“, dozierte Erna, „Der wird euch Energie für die Fahrt geben“. Wir applaudierten. Jeder bekam zu dem starken Gebräu einen Zimtstern von Frau Paulsen. „Was für ein Festessen.“ Jakob schloss genießerisch die Augen. „Ja“, betonte Bruno, „Liebe geht durch den Magen.“

„Unser Zug geht bald.“ Mit diesen Worten läutete Bruno das Ende unserer kleinen Feier ein. „Dann werde ich mich kurz umziehen.“ Die Männer wollten sich erheben und das Zimmer verlassen. „Das brauchst du nicht. Behalte das Kostüm an. Es ist dein Hochzeitskleid. Ihr feiert doch heute Abend noch weiter. Du gibst es mir zurück, wenn wir uns wiedersehen. So ewig kann es doch nicht dauern, bis Jakob eine Wohnung für euch gefunden hat.“ Wir umarmten uns herzlich, bedankten uns und marschierten Richtung Bahnhof. Jakob trug seinen Koffer, Bruno trug meinen Koffer, ich trug meine Handtasche. Der Zug war pünktlich und wir freuten uns von dem kalten Bahnsteig ins warme Abteil einsteigen zu können. Dort richteten wir uns ein, denn es lag eine lange Fahrt vor uns. Wir würden als erstes nach Kiel fahren müssen, um von dort nach Eutin zurückzufahren. Dort würde uns Jakob und Brunos Bruder, Ernst, abholen. Die Männer begannen sich zu unterhalten und ich lehnte mich in meinem Sitz zurück. Ich sah den Schneeflocken zu, wie sie vor unserem Abteilfenster tanzten. Ich würde vorerst bei Jakobs Familie in Schönwalde bleiben, bis Jakob eine Wohnung in Elmshorn für uns gefunden hatte. So hoffte ich, dass in der Familie Walter alle so freundlich waren wie Bruno. Jakob hatte wie alle Schlachter bislang für Kost und Logis und einem Taschengeld bei seinem Arbeitgeber, Schlachter Schulz, in der Königstraße, gearbeitet. Dieser hatte zugesagt, den Lohn zu erhöhen, wenn Jakob versprach in der Nähe zu wohnen, damit er immer pünktlich morgens um sechs Uhr zur Arbeit erscheinen konnte. Ich hoffte auf zwei Zimmer, wenn wir sie uns irgendwie leisten konnten. Jakob nahm meine Hand, ich zuckte zusammen. Ich war eingeschlafen. „Wir sind gleich in Kiel und müssen umsteigen“, flüsterte Jakob mir zu. Ich nickte und richtete mich auf. „Wir haben auch etwas geschlafen“, gestand Bruno, „es wird noch ein langer Tag.“ In Kiel hatten wir zwanzig Minuten Aufenthalt, die ich nutzte, um die Toilette aufzusuchen. Als ich zurückkam, hatten Bruno und Jakob drei Becher heißen Tee besorgt, den wir mit in den Zug nahmen, der uns nach Eutin bringen sollte. Auf meinem Platz schloss ich genüsslich die Hände um den heißen Becher. Kaum ruckte der Zug an, zog Bruno den Flachmann aus der Tasche und teilte den restlichen Köm auf unsere Becher auf. „Davon sollte man immer eine kleine Flasche im Haus haben“, sagte ich. Und, während die Männer zustimmend nickten, nahm ich mir vor, immer dafür zu sorgen, egal, wie wenig Geld wir auch haben würden. Den Rest der Fahrt verbrachten wir fröhlich plaudernd und singend, denn Jakob und Bruno brachten mir bei, was am Abend, während unserer Hochzeitsfeier, im Hause Walter unter Garantie gesungen werden würde. „Prost, Prost, Prost nu geiht dat wedder los. Wenn se all een hebbt will ick uk ein hebben, dat ick just keen mag, kann ick uk nich seggen.