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Biografien kann man an- und ausziehen, sich umhängen oder sich daran aufhängen, zumindest literarisch. Meist ist es umgekehrt. Biografien schreiben fest: Afghanischer Flüchtling. Österreichische Sozialhilfeempfängerin. Aber wie lange bleibt der Flüchtling ein Flüchtling? Und warum bleiben der Sozialhilfeempfängerin so viele Türen verschlossen? Nadine Kegele sucht die Leerstellen und Zwischentöne und changiert zwischen Lossagung und Neuschreibung. Sie zerteilt Lebensläufe in ihre Bausteine, baut Collagen aus Wörtern und Bildern – und geht dabei weit über die Genregrenzen hinaus. Nadine Kegele hört nicht nur den Stimmen genau zu, die sich ihr anvertrauen, sie schaut auch jedem Wort genau auf die Finger. Sie befragt seine vorder- und tiefgründige Bedeutung und erkennt Sprache als hochpolitisches Instrument. Jede Erzählung schärft den Blick auf die Gesellschaft und zeugt von einer großen Lust am Finden und Erfinden. "Wirf Flugzettel ab wie in dem Märchen vom Krieg, wirf sie in dampfende Küchen, in Krabbelstuben, in die Dauerwellen unter den Trockenhauben der Frisiersalons."
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Seitenzahl: 117
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Nadine Kegele
Heimat ist da, wo man gut behandelt wird.
Irmgard Keun, Nach Mitternacht
Das Andere ist das, was ich gefangen halte.
Anita Pichler, Beider Augen Blick
1. SCHWEINEBRATENFREIHEIT
2. KOPFWEH AUS KUWAIT
Zet wie Zubaidi
I wie Identität
E wie Essen
eM wie Müll
Pe wie Pass
eR wie Rosen
Ka wie Kinder
Ha wie Hand
Au wie Auto
Pe wie Polizei
Ha wie Hälfte-Hälfte
Ge wie Geschenk
3. SYRIEN IST HEIMLICH IN POLEN VERLIEBT
4. SCHMETTERLING UND HOLZ
Schmetterling
Holz
5. HERRSCHAFTSPRAXEN
6. FLÜGEL, DIE MIR WUCHSEN, WEIL ICH FIEL
7. WOLFEN
Die Haustiere
Das Mädchen
Die Polizeipferde
Der Beschützer
Das Verbot
8. REGENTSCHAFT
9. ALBIN
Danke
Ich.
Du.
Ich habe braune Augen und schwarze Haare.
Du bist mittelgroß.
Ich hatte 89 Kilo, im Fitnesscenter, jetzt habe ich 100.
Du gehst früh schlafen.
Um neun oder zehn.
Du stehst früh auf.
Um sechs oder sieben.
Du wohnst mit einem Kollegen in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Zimmer, Bad, Stockbett.
Ich war seit vier Jahren nicht mehr daheim.
Du kommst aus Kuwait.
Kuwait hat nicht viel Grün. Gärtner machen die Stadt grün.
Aber außerhalb der Stadt ist Wüste.
Nur wenn es regnet, kommen dort Blumen. Gelbe, weiße. Zwei, drei Monate. Und viele Tiere gibt es in Kuwait.
Möwen. Robben. Und Zubaidi.
Was ist das?
Ein kleiner weißer Fisch. Man isst ihn mit Reis.
Du magst Reis.
Du erzählst von Kuwait.
Zuerst war Kuwait nicht rich. Dann hat Kuwait nach Öl gebohrt und wurde rich und ein office hat die Einwohner gezählt. Viele Personen sind sich aufschreiben gegangen.
Die Kuwaiti haben eine ID bekommen.
Das ist ein Identitätsdokument, vergleichbar mit einem Pass.
Mit der ID bekommt man Schule, Versicherung, Arbeit.
Du bist kein Kuwaiter.
Ich bin Bidun.
Du giltst als staatenlos.
Die alten Bidun sind oft nach Saudi-Arabien und in den Irak gegangen, wegen dem Essen für ihre Tiere. Schafe, Kamele. Vor der ID waren Grenzen nicht wichtig. Dann sind auch die Bidun zum office gegangen. Die Bidun konnten nicht schreiben. Und das office hat gefragt: »Aus welchem Land kommst du?« Mein Großvater hat gesagt: »Aus Kuwait. Ich bin 50 Jahre hier. Mein Vater, mein Großvater waren schon hier.« Das office hat gesagt: »Nein, du bist nicht Kuwaiti. Geh weg! Nach Saudi-Arabien oder in den Irak!«
Deine Familie hatte nie Papiere.
Manche Bidun hatten Papiere, weil Kuwait hat Männer für die Armee gebraucht. Aber diese Papiere waren wie die Weiße Karte hier in Österreich.
Sie berechtigt zum Aufenthalt während eines laufenden Asylverfahrens.
1985 war ein Anschlag auf den Scheich. Er ist nicht gestorben, aber viele Bidun von der Armee wurden tot.
Als kleiner Junge hast du das im Fernsehen gesehen.
Ich war traurig. Alle Bidun waren traurig. Niemand wollte mehr eine ID. Nur noch Essen und ruhig sein.
1990 war Krieg.
Du warst zehn.
Mein Onkel und Vater haben clean for city gemacht, Müll sammeln für die Stadt, mit einem Auto, orange wie hier. An einem Tag haben sie die irakische Armee kommen sehen und sind gerannt.
Zwei Kollegen wurden gefangen. Und Saddam hat Bomben auf die Ölfelder geworfen. Die Luft war schwarz.
Du hast nichts mehr gesehen.
Nichts! Überall Öl. Und die Tiere vom Meer tot. Kuwait hat mit USA einen contract gemacht und alle Länder hatten ein meeting. 1991 war der Krieg fertig. Wir sind mit der Kuwait-Flagge auf die Straße. Alle waren glücklich. Geflüchtete Kuwaiter sind aus Saudi-Arabien zurückgekommen.
Aber Kuwait hat gesagt: »Die Bidun haben dem Irak geholfen!« Viele Bidun wurden getötet. Und viele sind geflüchtet. Nach England, Kanada, Australien, Saudi-Arabien, Irak. Nach Österreich nicht.
Später hat der Boss vom office für Bidun einen contract mit dem Boss einer Insel gemacht, in Afrika, Komoren. »Gib du mir passports für deinen Staat und ich baue Häuser für dich.« Zu uns Bidun hat das office gesagt: »Du willst Papiere? Nimm dieses passport und du kriegst Aufenthalt, Versicherung und Schule für deine Kinder.« Hättest du den Pass genommen, der für fünf Jahre ausgestellt war, hättest du Kuwait nach fünf Jahren verlassen müssen.
Wir haben ein family meeting gemacht. Wir haben gesagt: »Das machen wir nicht.« Mein Land ist doch Kuwait! Du warst frisch verheiratet.
2014 haben wir eine Demonstration gemacht.
Ihr hattet Fotos vom Präsidenten, vom Scheich, eine Flagge von Kuwait.
Unsere Kinder haben der Polizei Rosen gegeben. Aber – Dann?
Gas, guns und Gummigeschosse. Die Polizei ist mit dem Auto über Menschen gefahren. Fünf Polizisten haben einen Bidun geschlagen. Kinder und Frauen auch. Greif! Hier?
Spürst du? Drei Wunden auf meinem Kopf.
Drei Narben unter deinen Haaren.
Die Polizei ist später nach Hause zu den Bidun. Sie hat Leute eingesperrt, für zehn oder mehr Jahre.
Ohne anzuklopfen ist die Polizei in euer Haus. Sie hatte deinen Namen und ein Foto von dir.
Mein Vater hat gesagt: »Er ist nicht hier.«
Du bist aufs Hausdach geklettert.
Ich bin gerannt.
Ohne Verabschiedung.
Meine Kinder sind jetzt dreizehn, elf und acht.
Als du gerannt bist, waren sie neun, sieben und vier.
Als du klein warst.
Hat ein Kuwaiti meinem Vater ein Haus gelassen. Er hat gesagt: »Wenn ich tot bin, bleibt diese Familie da drin!« Drei Zimmer, eine Toilette, eine Küche. So groß wie Wohnzimmer und Küche bei dir. Für Bruder, Mutter, Vater, Frau, drei Kinder, mich.
Du hast neben einer großen Moschee gewohnt, und neben dem Elektrizitätswerk für die ganze Stadt.
Die Kabel sind im Boden, nicht in der Luft.
Und neben eurem Haus ist ein Kindergarten, eine Schule, ein Krankenhaus.
Wir haben nicht gehen dürfen.
Einmal bist du gegangen.
Mit meinem Bruder. Wegen meinem Zahn.
Obwohl ihr nicht versichert wart.
Ein Arzt hat gesagt: »Spülen, dann ausspucken.« Ein anderer Arzt hat gesagt: »Aber das sind Bidun!« Der gute Arzt hat gesagt: »Das sind Kinder.«
In Österreich bist du als Erstes in eine Zahnpraxis gegangen.
Drei Zähne hat die Ärztin gerissen. Eine Stunde für einen Zahn. Davor hatte ich zwanzig Jahre lang diesen Schmerz. Zwanzig Jahre Kopfweh.
Danach bist du nicht mehr zu einem Arzt oder einer Ärztin. Fieber oder krank, egal. Ich möchte Österreich nicht viel Geld kosten.
Du hast noch eine Erinnerung.
Ich bin neun Jahre alt.
Du spielst im Hof.
Ich spiele mit einer Katze.
Im Hof ist ein Baum und ein Zaun zum Nachbarn.
Der Zaun ist aus Eisen.
Das Eisen hat Spitzen. Dein Kleid ist weiß.
Das ist das Kleid der Kuwaiti.
Die Katze.
Geht durch den Zaun zum Nachbarhaus.
Du willst über den Zaun klettern, der Katze nach.
Ich bleibe hängen.
An einer Eisenspitze.
Mein Kleid ist kaputt und rot.
Dein Nachbar ruft die Rettung.
Der Fahrer sagt: »Ihn nehme ich nicht mit, er ist Bidun!« Mein Nachbar sagt: »Du nimmst ihn mit, mit meiner ID, und sagst den Namen meines Sohnes!«
Dein Vater, dein Nachbar, sein Sohn sind ins Krankenhaus gekommen.
Mit Blumen. Sie haben gesagt: »Sag nie, nie deinen richtigen Namen!« Aber ich habe ihn gesagt.
Ein Versehen.
Der Arzt hat gefragt: »Was für ein Name? Was sagst du da?« Ich habe gesagt: »Ach nein, falsch …«
Zwei oder drei Monate bist du im Krankenhaus gelegen.
Die Hand war kaputt. Dreimal aufgeschnitten und zusammengenäht. Der Arzt war aus Japan, viele Krankenschwestern waren aus Indien. Das Krankenhaus heißt Mubarak Al-Kabeer Hospital.
Im Internet lese ich: Alle in Kuwait lebenden Nationalitäten könnten in dieses Krankenhaus gehen. Alle Patienten sollen ihr Identitätsdokument mitbringen.
Der Arzt sagt: »Mach Urlaub!«
Eine weitere Erinnerung.
Ich bin eine Woche lang daheim.
Bevor dein Vater dich ins Krankenhaus zurückbringt, fährt er mit dir zum Markt.
Schokolade und so.
Er parkt euer Auto, streift dabei ein anderes.
Nur ein touch, nur leicht, nicht viel! Aber der Mann vom Auto sagt: »Gib mir deine license!« Mein Vater sagt: »Ich habe keine, ich bin Bidun.« Der Mann sagt: »Ihr Bidun seid schlecht!« Das weiß ich immer noch.
Das wirst du nie vergessen.
Das werde ich nie vergessen. Nach dem Krieg wurden immer mehr Personen so. Die Nase hier oben und kein Herz.
Im Ramadan seid ihr Kinder nachts auf die Straße gegangen.
In Saudi-Arabien hat der Islam ein Haus für Gott, Mekka. Wir haben an das Tor der Nachbarn geklopft und gesagt: »Ich wünsche dir, dass dein Sohn nach Mekka gehen kann, gib mir Schokolade!«
Nach dem Ramadan hatten Kuwaiti-Kinder neue Sachen. Bidun-Kinder hatten das nicht. Nicht neue Sachen, nicht neue Kleidung, nicht viel Geld. Keine Schule, kein Krankenhaus. Nur viele Probleme.
Aber einmal hatte deine Mutter Geld.
Wir sind zum Markt gefahren.
Du hast etwas gesehen, das du haben wolltest, unbedingt. Eine kleine Uniform von der Polizei, für Kinder!
Immer wenn hoher Besuch zum Scheich gekommen ist, hast du die uniformierten Männer auf dem roten Teppich im Fernsehen gesehen.
Braun, mit einem Streifen, einer Kappe. Ich habe zu meiner Mutter gesagt: »Ich brauche das!«
Was hat deine Mutter gesagt?
Sie hat gesagt: »Nimm lieber etwas anderes.« Die Personen um uns herum haben gefragt: »Warum gibst du deinem Kind das nicht?« Meine Mutter hat gesagt: »Die Uniform ist nicht für uns. Wir haben keine ID.«
Du hattest viele Freunde. Ihr habt Fußball gespielt.
Oder ein Spiel mit einer Flasche. Mit Sand, mit einem Tennisball, und wenn shoot, dann ist man tot. Heute haben Kinder viele elektronische Spiele. Wir haben viele alte Spiele gehabt.
Und du warst am Meer.
Zwei, drei Mal, mit meinem Onkel. Er hat nicht viele Ausflüge mit mir gemacht. Er hat viel gearbeitet. Er hat mich sehr geliebt.
Du warst schwimmen im Meer.
Zuerst konnte ich nicht gut schwimmen, heute schwimme ich gut.
Du hast es gelernt.
Immer ein bisschen.
Mit 13 hast du Autos gewaschen.
Viele Bidun-Kinder waschen Autos.
Du hattest Kübel, Schwamm, Reinigungsmittel, Wasser von der Straße.
Ich habe gesehen, da ist jemand, der hat Geld.
Du bist hingegangen.
Ich habe gefragt: »Brauchst du jemanden zum Waschen?« Er hat gesagt: »Ja.« Große Autos, kleine. Zwei Tage – ein Dinar. Ich war mit einem Freund.
Ihr habt zusammengearbeitet.
Wenn ich müde war, habe ich zu ihm gesagt: »Kannst du? Machen wir halb-halb.« Wenn er müde war, habe ich. Hälfte-Hälfte.
Mit 18 habe ich auf Baustellen gearbeitet. Mit Personen aus Indien und Ägypten.
Illegal.
Auch zum Arbeiten haben wir kein Papier bekommen. Illegalisiert.
Ich hatte nicht jeden Tag Arbeit. Fünf Tage oder zehn, dann musste ich wieder suchen.
Arbeiten deine Kinder auch schon?
Nein. Mein Bruder und Vater geben ihnen ein bisschen Geld.
Am Anfang musste ich alles kennenlernen. Ich gehe oft spazieren. Heute kenne ich alles.
Wenn irgendwo ein Stück Tomate liegt, das aus einem Sandwich gefallen ist, hebst du es auf und wirfst es in den nächsten Mistkübel.
Niemand darf ausrutschen. Das ist das System im Islam, alle helfen und schauen: Was ist nicht gut für andere Personen?
Als du neu warst in der Stadt, hast du eine alte Frau gesehen, die schwer zu tragen hatte.
Ein Karton. Ich habe gesagt: »Excuse me, do you need help?« Sie hat gesagt: »You want money?« Ich habe gesagt: »No, I want to help.«
Du hast den Karton zum nächsten Taxi getragen.
Die Frau hat gesagt: »Thank you very much!« Ich habe gesagt: »You’re welcome.«
Und zweimal hast du Kindern vielleicht das Leben gerettet. In einem Bus. Kinder und eine Mutter mit viel langem Holz. Der Bus hat gebremst.
Das lange Holz ist auf die Kinder zu.
Aber ich habe ganz schnell das lange Holz, so, siehst du. Aufgefangen. Am Vormittag gehst du arbeiten, am Nachmittag gehst du in einen Deutschkurs.
Ich habe sofort eine Schule gesucht. Ein Kollege hat geholfen.
Bei der Suche, bei der Anmeldung.
Ein Jahr und zehn Monate bin ich hier! Und ein Jahr und fünf Monate gehe ich in den Kurs.
Du gehst zum ersten Mal im Leben in die Schule.
Ich kann zum ersten Mal im Leben in die Schule gehen!
Als Kind wärst du gern in die Schule gegangen.
Ich bin vor der Schule gestanden. Es war so heiß! Aber ich habe die Mädchen und Jungen in der Schule gesehen …
Auch deine Kinder dürfen nicht in die Schule gehen.
Manchmal kommt jemand und lernt mit ihnen, aber nicht oft. Schreiben. Lesen. Ich kann auch ein bisschen Arabisch lesen.
Das hast du mit 18 von einem Ägypter gelernt.
Von einem Bauarbeiterkollegen. Arabisch schreiben kann ich nicht. Aber ich kann ein bisschen Englisch schreiben. Das hast du mit neun von einem Kuwaiter gelernt.
Am Anfang von Österreich habe ich keine deutsche Sprache gehabt. Zuerst habe ich das Alphabet gelernt. Jetzt habe ich die A1-Prüfung geschafft.
Beim ersten Mal!
Ich sage: Vielen Dank an die Schule für alles, was ich lernen darf! Ich sage: Vielen Dank an alle Menschen, die mir helfen!
Du hilfst auch viel.
Ich mag helfen.
Du arbeitest in einem Tagesheim. Du betreust Menschen.
Ich bekomme kein Geld.
Du arbeitest ehrenamtlich.
Ich arbeite freiwillig. Ich wasche Kleidung und Gesicht und Geschirr. Manchmal koche ich. Ich bin auch Koch. Alle mögen mein Essen. Reis und Huhn. Fleisch und Grill. Du magst deine Kollegen, deine Kolleginnen, deinen Chef. Manchmal sagt er: »Bist du müde? Geh doch nach Hause.« Ich sage: »Ich arbeite!«
Du arbeitest gern.
Ich sitze nicht gern in der Wohnung.
Du hast viel Zeit.
Ich kann arbeiten! Ich will arbeiten! Österreich gibt mir Papiere, Schule und Arzt. Die Caritas hilft mir. Viele gute Menschen sind hier. Ich möchte auch etwas geben. Das ist mein Geschenk für Österreich.