Und Gott schuf die Angst - Burkhard Hofmann - E-Book

Und Gott schuf die Angst E-Book

Burkhard Hofmann

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Religiöse Prägung, überkommene Familien- und Frauenbilder und ein unsicherer Umgang mit der Sexualität dominieren die Lebenserzählungen aller muslimischer Patienten, die Burkhard Hofmann aufsuchen. Zweifel sind in ihrer Kultur und Religion nicht vorgesehen. Bei fast allen führt das zu ausgeprägten Symptomen von Angst, bei vielen zu einer aggressiven Ambivalenz gegenüber der westlichen Kultur. Hofmann zeichnet ein Psychogramm der arabischen Seele, voller Verständnis für die Leiden seiner Patienten, aber mit wachem Blick auf deren kulturelle Wurzeln und einem klaren Bewusstsein für die Freiheiten des einzelnen Menschen in einer aufgeklärten, westlichen Gesellschaft. Ein bedeutsamer Beitrag zur aufgeheizten Debatte um den Kampf der Kulturen. "Die Spannung zwischen religiösen Überlegenheitswünschen und hilfsbedürftiger Unterlegenheit ist für jeden Flüchtling schwer auszuhalten. Er muss sich aber für Letzteres entscheiden, weil er sich sonst nicht helfen lassen kann. Das Erleben der Defizite ist für die stolzen Menschen am Golf kaum zu ertragen. So wundert es nicht, wie sehr die augenfälligen Mängel im öffentlichen Leben in der Verantwortung der westlichen Großmächte gesehen werden. Der reine Opferstatus, den man sich aber dadurch zuweist, proklamiert letztlich eine unwürdige Ohnmachtshaltung, die der Situation nicht gerecht wird und den Einzelnen in politische Apathie und Bequemlichkeit versetzt."

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 404

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Burkhard Hofmann

Und Gott schuf die Angst

Ein Psychogramm der arabischen Seele

Knaur e-books

Über dieses Buch

Religiöse Prägung, überkommene Familien- und Frauenbilder und ein unsicherer Umgang mit der Sexualität dominieren die Lebenserzählungen aller muslimischer Patienten, die Burkhard Hofmann aufsuchen. Zweifel sind in ihrer Kultur und Religion nicht vorgesehen. Bei fast allen führt das zu ausgeprägten Symptomen von Angst, bei vielen zu einer aggressiven Ambivalenz gegenüber der westlichen Kultur.

Hofmann zeichnet ein Psychogramm der arabischen Seele, voller Verständnis für die Leiden seiner Patienten, aber mit wachem Blick auf deren kulturelle Wurzeln und einem klaren Bewusstsein für die Freiheiten des einzelnen Menschen in einer aufgeklärten, westlichen Gesellschaft. Ein bedeutsamer Beitrag zur aufgeheizten Debatte um den Kampf der Kulturen.

»Die Spannung zwischen religiösen Überlegenheitswünschen und hilfsbedürftiger Unterlegenheit ist für jeden Flüchtling schwer auszuhalten. Er muss sich aber für Letzteres entscheiden, weil er sich sonst nicht helfen lassen kann. Das Erleben der Defizite ist für die stolzen Menschen am Golf kaum zu ertragen. So wundert es nicht, wie sehr die augenfälligen Mängel im öffentlichen Leben in der Verantwortung der westlichen Großmächte gesehen werden. Der reine Opferstatus, den man sich aber dadurch zuweist, proklamiert letztlich eine unwürdige Ohnmachtshaltung, die der Situation nicht gerecht wird und den Einzelnen in politische Apathie und Bequemlichkeit versetzt.«

Inhaltsübersicht

WidmungMutterseelenallein in ArabienDie Harmonie der arabischen SeeleUnter dem Vergrößerungsglas1. Das vergiftete Paradies – vom Verbot der LoslösungDie Mutter als SchicksalZentralpunkt FamilieDas große EineHala oder die Suche nach Halt ohne Fesseln2. Das Nanny-Syndrom – oder die unsichtbaren ElternOutgesourcte MütterFerne VäterDie verlorene KindheitAmeera oder die vertrockneten Tränen3. Die Kälte Allahs – wie Religion Strukturen ersetztVermummte MütterDie Übermacht der StrukturDie Rolle des VatersHändler, Krieger und NomadenOmar oder die Eintrittskarte ins ParadiesUthman oder die unerträgliche Wut4. Der zugedröhnte Narziss – Angst und NarkotikaDie Suche nach dem verlorenen ParadiesReligion – der ideale ErsatzZwischen Betäubung und ErnüchterungNasser oder die Flucht vor den Gefühlen5. In der Hand Allahs – eine Gesellschaft ohne jeden ZweifelRaum für die WahrheitssucheGlaube und ZweifelWenn Allah es willDima oder der lange Weg zum ZweifelZain oder die Flut der Zweifel6. Tabuzone Körper – Sex im Reich von Tausendundeiner NachtDer Riss durch die GesellschaftDas Bündel auf der StraßeTabu und Kontrolle»It’s all hush-hush«Abdullah oder die doppelte NamenlosigkeitKhalid oder die Agonie des Vaters7. Patchwork auf Arabisch – die Fallgruben der PolygamieGrundlage für SeelennöteDas Leid der KinderLulwa und Issa oder der lange Schatten der VäterMariam und Khalifa oder die Erstarrung der GefühleNour oder die Suche nach dem Vater8. Das Reich der Fassaden – mit Gebeten gegen DepressionenDie Matrix des SelbstDie verdrängte SchamDie verwöhnte GenerationPillen und GebeteYasmin oder die perfekte PrinzessinMohammed S. oder Weg der Anpassung9. Aus einer anderen Zeit – die BeduininTraurige Augen»Too much pain«10. Der distanzlose Gott – Macht und Ohnmacht der GlaubensgewissheitDer Einzelne und die UmmaDer eine Gott und die kopernikanische WendeDarwin in ArabienDer Koran und die Leugnung des UnbewusstenBlick in die arabische SeeleWie umgehen mit dem Fremden?Dank
[home]

Für Mohamed und alle, die ihm folgten.

Und natürlich für

Elias, Florentine und Maximilian.

Mögen sie genauso in Frieden und Hoffnung

leben wie unsere Generation.

[home]

Mutterseelenallein in Arabien

Bist du meschugge?!« rief Großvater Richard immer, wenn wir wieder etwas Idiotisches gewagt hatten und zum Beispiel auf hohe, dünne Birnbaumäste geklettert waren. Meine Knochen sind wie der Rest bis heute – Alhamdulillah! – heil geblieben.

An seine Worte musste ich denken, als ich zum ersten Mal im Flugzeug in die Golfregion unterwegs war. Inzwischen füllen die arabischen Stempel der Einreisebehörden viele Seiten meines Reisepasses. Die Warnung kam mir zwischenzeitlich immer wieder einmal hoch, wenn ich mich wegen meiner eigenen Borniertheit oder der meines Gegenübers wieder einmal mit einem Patienten festgefahren hatte.

Meine erste Patientin vom Golf, der ich in Hamburg für nur wenige Sitzungen begegnet war, hatte mir Mut gemacht und mich mit der Zusage eingeladen, dass acht bis zehn Patienten auf mich warten würden, wenn ich dies wünschte. So machte ich mich auf den Weg, aus Abenteuerlust, aus dem Wunsch heraus, der täglichen Routine und dem tristen Grau des Hamburger Winters zu entrinnen, aus Neugierde und mit der Ahnung, dass »nichts ohn’ eignen Wahn« gelingt.

Ich bin seit über 25 Jahren ärztlicher Psychotherapeut in eigener Praxis in Hamburg-Harvestehude, und es werden bald vierzig Jahre sein, seit ich meinem ersten Patienten gegenübersaß und mit ihm redete und auch ein wenig rang. Seitdem habe ich nicht aufgehört zuzuhören, zu fragen und zu antworten.

Nach dem Staatsexamen hatten mich zehn Jahre Wanderschaft durch Kliniken nach zuerst internistischen Anfängen über eine längere Orthopädie- und Psychiatriezeit immer mehr in Richtung »sprechende Medizin« getrieben. Ich fand die seelischen Rätsel eines Patienten einfach immer interessanter als die zugegebenermaßen auch manchmal spannenden Laborwerte. Zudem schien mir die Psychotherapie ein tröstlicher Ersatz für das aufgegebene Musikstudium zu sein. Um die dreißig herum hatte ich mich dadurch ohne Gram endgültig von der Perspektive einer professionellen Musikerlaufbahn als Geiger verabschieden können, nachdem ich so lange Zeit zwischen Musik und Medizin hin- und hergerissen gewesen war.

In einer guten Therapiesitzung fand ich im Dialog der Stimmen und Motive Anklänge an die Kammermusik wieder. Jeder hat seine Melodie und muss diese vertreten, aber nur wenn wir uns aufeinander einstimmen und zusammenspielen, wird das Ganze mehr als nur die Summe der Einzelteile.

Psychotherapeut ist bis heute mein Traumberuf. Ich kann mir auf professioneller Ebene nichts Beglückenderes als diese Tätigkeit vorstellen. Die Faszination der kontaktvollen Begegnung, der Macht des treffenden Wortes, des berührenden Dialogs ist für mich nie verblasst.

Die Harmonie der arabischen Seele

Umso größer war die Herausforderung, mich auf die so andere Harmonik der arabischen Seelen einzulassen. Nicht nur haben Geigen im Leben der meisten Patienten dort stumm zu bleiben, weil sie weltliche Gefühle aufrühren könnten, auch der Kontakt, das schwingungsvolle Miteinander, das über alternierende Monologe hinausgeht, wird oft gar nicht angestrebt. So war der Ausgangspunkt der Sitzungen für mich häufig ein Gefühl von Isolation, moi tout seul, eben mutterseelenallein.

Und so knüpften diese Erfahrungen auch an meine eigenen Anfänge, an meine Kindheit an. Vielleicht bin ich, wie nicht wenige meiner Kollegen, die ebenfalls als Kind versuchten, die Eltern zu heilen, deshalb Therapeut geworden, weil auch mein erster »Fall« – wie immer die Mutter – ein Therapieversager war. Umgeben von Frauen – Mutter, Großmutter, zwei Schwestern, zwei Nannys und einer Schar Sprechstundenhilfen –, hatte ich, zumindest was den Umgang mit weiblichen Befindlichkeiten angeht, ein frühes Training. Die Exposition an männliche Probleme erledigten mein ADHS-verdächtiger Bruder und mein kriegstraumatisierter Vater.

Als Sohn dieses konservativen Katholiken war ich ein wenig auf die religiös geprägte Welt Arabiens vorbereitet. Die erneute Auseinandersetzung mit der Gottesfrage war für mich alles andere als leidenschaftslos. So wurde ich gelegentlich gefragt, ob ich denn an Gott glaube. Die Furcht, dass ich ein westlicher Atheist sein könnte, stand meinem Gegenüber dabei schon ins Gesicht geschrieben. Ich konnte schlecht antworten, dass ich ein kryptokatholischer Agnostiker bin. So gab ich kund, dass ich Zweifel an der Nichtexistenz Gottes habe. Damit war man zufrieden.

In vielen Begegnungen traf ich auf die alle positiven Erwartungen übertreffende Gastfreundschaft, die Exotik Arabiens, die warmen, magischen Nächte mit den Lichtern der Basare, in denen das Raunen von Scheherazade noch nicht verstummt zu sein scheint, und auf die Not der hilfesuchenden Menschen im Therapieraum. Von diesen und was sie mich gelehrt haben, möchte ich hier erzählen, vom Anderssein, vom anderen Fühlen und vom anderen Denken.

Mit diesem Anderssein stehen sich auch die beiden Teile des arabischen Bürgertums in gegenseitiger Unvereinbarkeit gegenüber. Ein tiefer Riss, der auch vor den Familien nicht haltmacht, durchzieht die arabische Gesellschaft. Die entzweiten Teile driften auseinander und setzen den gesellschaftlichen Zusammenhalt neben den schon vorhandenen unerträglichen sozialen und politischen Spannungen einer weiteren Zerreißprobe aus.

Auf der einen Seite die säkularen Bürger, deren westlich orientierte Lebensweise sich nur unwesentlich von der unsrigen unterscheidet. Das Verhältnis zu religiöser Bindung ist nicht so aufgelockert wie bei uns, nur wenige distanzieren sich bewusst und öffentlich von ihrem Glauben. Der größte Teil dieser Verwestlichten gibt sich gerne als dem Islam zugehörig zu erkennen. Für sie ist er integrativer Teil ihrer Identität als »Kulturmuslim«. Dennoch bleibt die Haltung Andersdenkenden gegenüber meist offen und offenherzig. Die Religion wird oft nicht mehr aktiv gelebt. So wird den fünf täglichen Gebeten häufig nur rudimentär nachgegangen. Die Mentalität ändert sich aber ebenso wenig wie bei einem Katholiken, der nicht mehr regelmäßig seiner sonntäglichen Pflicht zum Besuch der Messe nachkommt.

Der andere mit der Religion auf fundamentale Weise verbundene Teil gewinnt seit dem Jahr 1979, dem Jahr der Islamischen Revolution unter Führung von Ajatollah Khomeini mit der Ausrufung der Islamischen Republik Iran, immer mehr an Kraft und Bedeutung. Seit dieser Zeitenwende durchzieht der Weckruf zur Teilnahme an einem am Islam orientierten Leben die arabische Welt. Wie ein Schwamm, der Wasser aufsaugt, füllen sich viele Gemüter mit diesem identitätsstiftenden Stoff. Endlich ist man nicht mehr nur die billige Kopie von etwas westlich Fremdem, sondern kann auf etwas Ureigenes verweisen. Zudem stellt die arabische Welt mit den heiligen Städten Mekka und Medina das spirituelle Zentrum dieser Weltreligion. Und das verleiht Status und Würde. Schließlich sind die Araber durch ihre Muttersprache auch im Besitz der Sprache der Offenbarungen des Korans. Nur im Arabischen hat das durch den Propheten vermittelte Wort ungebrochene Gültigkeit und entfaltet die von jedem Gläubigen berichtete überirdische Schönheit seiner Verse. Zu schön sind sie, um menschlichen Ursprungs zu sein. Das Leben ist bei diesem Teil der Bevölkerung geprägt vom Glauben, die Trennung von Kirche und Staat gilt ihnen als ein widersinniger Gedanke, vergleichbar sind sie nur mit fundamentalistischen christlichen Sekten oder einem ultraorthodoxen Judentum. Beide Strömungen haben im Westen glücklicherweise eine lediglich marginale Bedeutung. Ganz anders in Arabien, wo diese Haltung in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und prägende Kraft gewonnen hat.

Bei meiner Arbeit am Golf von Persien war ich mit beiden Teilen der Gesellschaft konfrontiert. Unterschied sich die Arbeit mit den weniger religiös Geprägten kaum von der in Hamburg, verlangten die streng muslimischen Patienten – und dies war der größere Teil – mir einiges an innerer Einstellungsarbeit ab.

Jetzt, nach zehn Jahren, bin ich froh, dass ich mich auf die damalige Einladung eingelassen habe. Ich habe Freundschaften geschlossen, die sicherlich meine Berufstätigkeit am Golf überdauern werden. Egal, aus welchem der beiden Lager stammend, die Großzügigkeit und kommunikative Lebensfreude hat mich für die Araber positiv eingenommen. Ich durfte diese Haltung, die uns im Westen nicht selten fehlt, so oft genießen, dass ich dieses Wohlwollen nie vergessen werde.

Diese Kultur des Zusammenseins ist für mich eine Bereicherung. In Sachen Mentalität können wir uns davon ein paar Scheiben abschneiden. Inwieweit jedoch die Lebensweise der dem Glauben fundamental Verbundenen mit der unsrigen kompatibel ist, bildet den Gegenstand, mit dem sich dieses Buch auseinandersetzt.

Unter dem Vergrößerungsglas

Meine Beobachtungen und Fallgeschichten möchte ich nicht als eine wissenschaftlich präzise Abbildung der Wirklichkeit verstanden wissen, eher als Ansammlung von Fallgeschichten, die aber für sich schon ein Schlaglicht auf die Verfasstheit der arabischen Seelen werfen. Selbstverständlich lassen sich alle beschriebenen Phänomene auch im Westen beobachten. Es ist nicht der Einzelfall, der imponiert, sondern die Uniformität der Erscheinungen in ihrer Quantität. Solch eine Gleichförmigkeit der Symptomatik ist mir in Hamburg oder während meiner Tätigkeit in New York nicht begegnet. So habe ich versucht, das Material nach phänomenologischen Kriterien in eine nachvollziehbare Ordnung, in eine Kapitelstruktur, zu bringen.

Es ist dabei unvermeidlich, dass der Zuteilung der Fallgeschichten zu den Kapiteln dieses Buches eine gewisse Willkür anhaftet. Wie im gesamten Leben auch, ist gerade im Seelischen alles mit allem verbunden. So beugen sich die Erscheinungen der Psyche nur ungern den Schubladen unserer Betrachtungskriterien. Diese Schubladen sind aber nötig, um zu diskutierbaren Aussagen zu kommen.

Wie auch bei uns im Westen zeigen sich bei den seelisch Angeschlagenen wie unter einem Vergrößerungsglas die Probleme und Konflikte der Gesellschaft, sodass eine Betrachtung dieser Befindlichkeiten mehr als lohnt. Eine belastbare statistische Erhebung, die sicherlich von Interesse wäre, brauchte eine ungleich größere Stichprobe mit all dem damit verbundenen Aufwand. So sehe ich meine »case reports« und die dabei gewonnenen Erkenntnisse als Ausgangspunkt für eine vertiefte Diskussion und Auseinandersetzung über das Zusammenleben von Menschen verschiedenster Mentalitäten in einer globalisierten Welt.

Zur Wahrung der Anonymität meiner Patienten, die sämtlich dem Niederschreiben ihrer Fallgeschichten nicht nur zugestimmt haben, sondern davon sogar sehr angetan waren, habe ich sowohl Ort als auch Namen geändert. Die Veränderung des Ortes ist für meine Aussagen unerheblich, sind doch die Symptomatik und Problematik in der ganzen Golfregion ähnlich und allenfalls bei den Saudis noch akzentuierter. Auch wenn die Golfanrainer, von dem alle vereinenden strammen Antisemitismus einmal abgesehen, in innigster Feindschaft verbunden, ihre Unterschiede betonen, wirkten ihre Probleme auf mich doch sehr vergleichbar. Außer zu einem Omani hatte ich zu allen Nationalitäten des Golf-Kooperationsrats (GCC-Gulf Cooperation Council) Kontakt. Strukturell gibt es keine Unterschiede. Die Verbundenheit über Sprache und Kultur lässt eine solche Gleichförmigkeit auch erwarten.

Wenn in den Schilderungen die Strenge des Urteils über meinen empathischen Blick zu obsiegen scheint, ist dieser Eindruck falsch. Sehr wohl war mir jeder Patient oder jede Patientin immer ein lebendiges Gegenüber, das meine Antwort als Mitmensch herausforderte. Auch in Hamburg bin ich nicht selten sprach- und antwortlos. In Arabien fühlte ich mich darüber hinaus häufig ohne seelischen Kompass. Mir fehlte schlicht die kulturelle Eichung. Durch beharrliches Hinterhergehen und phänomenologische Befragung wiesen mir die Patienten dann aber selbst die therapeutische Richtung. Ihnen gebührt für das mir dabei entgegengebrachte Vertrauen bis heute mein Dank.

Für die therapeutisch Interessierten: Ich fliege mehrfach im Jahr für ca. zehn Tage dorthin, arbeite mit den Patienten jeden oder jeden zweiten Tag. Wenn nötig, mache ich von Hamburg aus zwischenzeitlich Telefon- oder Skype-Sitzungen. Das funktioniert erstaunlich gut. Insgesamt entsteht dabei in zwei Jahren ein einer Langzeittherapie vergleichbarer Sitzungsumfang (50 bis 80 Sitzungen). Genug Stunden für die Entfaltung der Lebenserzählung jedes Einzelnen. Als Therapeut, unser Beruf besteht ja vor allem aus Zuhören, sammeln sich so viele Geschichten, vollendete und unvollendete, zu einem großen Erinnerungsberg in einem an. Man wird Zaungast und Zeuge von so viel Leben. Durch dieses Buch kann ich wenigstens die arabischen Erzählungen von diesem Berg wieder abtragen.

[home]

1. Das vergiftete Paradies – vom Verbot der Loslösung

Vom Propheten Mohammed ist in einem Hadith folgender Ausspruch überliefert: »Das Paradies liegt zu Füßen der Mutter.« Wie aus diesem oft zitierten Spruch Mohammeds herauszulesen, ist es dem Gläubigen verboten, sich loszulösen, es ist ihm verwehrt, Abhängigkeit und Bindung aufzulösen. Wie ein roter Faden zieht sich dies durch die gesamte arabisch-muslimische Kultur. Und es beginnt bei der Mutter. Sie wird unendlich respektiert, verehrt und gefürchtet, ein Loskommen ist unmöglich. Dieses Festkleben ist das Paradigma der gesamten Kultur.

Hadithe sind die überlieferten Erzählungen über das Leben und die Aussagen des Propheten Mohammed. Sie dienen der Interpretation und praktischen Auslegung des Korans. Insofern haben die Hadithe große normative Kraft für das konkrete Miteinander der Menschen auf allen Beziehungsebenen, sie bilden eine Art islamischen Katechismus. Diese Handlungsanweisungen sind für einen großen Teil der Muslime sehr viel mehr gelebter Glauben und Alltagsweisheit als der Koran selbst.

Dieser Hadith ist erst einmal durchaus wörtlich zu nehmen, im Sinne einer Herrschaftsbeschreibung, die besonders für Männer, die ja nicht selbst Mutter werden können, eine grundsätzliche Ohnmachtserfahrung bereithält. Den Mädchen und Frauen steht der Weg der Identifikation mit der Mutter frei. Indem sie sich ihr anverwandeln und selbst die Perspektive der Mutterschaft verinnerlichen, eröffnet sich ihnen ein Weg zu eigener Machtübernahme.

Die Mutter als Schicksal

In der muslimischen Kultur bedeutet der Ausspruch aber neben der auch für uns geltenden Kindheitserfahrung der völligen Auslieferung an die Person der Mutter – schon Freud merkte an, dass die Mütter unser Schicksal sind – noch viel mehr. Steht im Westen die Mutter als schicksalgebärender Ausgangspunkt des Lebens an dessen Anfang, so steht sie im Islam auch an dessen Ende. Nachdem Allah, so geht eine Erzählung, über dich gerichtet und deiner Seele aufgrund deines gottgefälligen Lebens Zutritt zum Himmel gewährt hat, steht dort noch die Mutter. Sagt sie Nein, ist Allahs Urteil hinfällig, und du gehst in die Hölle. Man ist ihr also selbst post mortem ausgeliefert, kommt nie von ihr los, bleibt ein ganzes Leben unter ihrem Einfluss.

Auch in den Therapien mit meinen westlichen Patienten in Hamburg bleibt das Bild der Mutter über lange Zeit unantastbar. Die Patienten halten an der Idealisierung wie an einem letzten, Sicherheit versprechenden Strohhalm fest. Nicht selten steht dabei das Maß der Idealisierung in einem direkten Zusammenhang mit dem Wunsch nach Schutz. Dieses Schutzbedürfnis ist naturgemäß dann besonders groß, wenn die Kindheit durch Traumata oder eine kumulative Traumatisierung wie zum Beispiel bei einer chronischen Vernachlässigung geprägt war. Viele sich wiederholende, durch fehlende Empathie gezeichnete Kontakterfahrungen mit den Eltern haben wie bei der chinesischen Wasserfolter einen mindestens so traumatisierenden Effekt wie ein erschütterndes, großes Ereignis. Ein einziger Tropfen richtet nichts an. Aber die sich anhäufende Menge kleiner, wiederholter Verletzungen kann ebenfalls seelische Narben hinterlassen, die das weitere Leben nachhaltig bestimmen.

Als Therapeut hat man mit Idealisierungen vorsichtig umzugehen, gefährdet doch ein zu frühes Zerstören die noch nicht belastbare therapeutische Beziehung. Die Idealisierung meiner eigenen Person bleibt ebenso erst einmal unangetastet und wird von mir als Wunsch nach eben solchem Schutz vor inneren und äußeren Gefahren verstanden.

Um ohne Angst durchs Leben gehen zu können, sind wir darauf angewiesen, realistische Bilder beider Elternteile in uns zu haben. Diese Bilder – »Imagines« – sind Voraussetzung für ein realistisches Selbstbild. Ohne dieses Selbstbild bleibt der Abgleich mit der Wirklichkeit schwierig und schmerzhaft, denn ein falsches Selbstbild sorgt zum Beispiel durch eine überzogene Anspruchshaltung aufgrund einer grandiosen Selbstüberschätzung für häufige Frustrationen und ein allfälliges Scheitern. Nur ein realitätsbezogenes Selbstbild geleitet uns elegant durchs Leben, ohne dass wir allzu häufig schmerzhaft anstoßen. Eine Patientin in Hamburg formulierte es einmal so: »Man muss wissen, in welcher Höhe des Regals des Lebens man zugreifen muss.«

Das Selbstbild braucht als Ausgangspunkt das wirklichkeitsnahe, erwachsene Begreifen der Persönlichkeiten der Eltern. Nur dann tragen uns diese Bilder der Eltern ohne die Furcht, dass sie unter dem Druck der Wirklichkeit zusammenbrechen, durchs Leben. Einer der Gründe, warum viele in Arabien das familiäre Umfeld nie verlassen, ist die Furcht vor diesem Zusammenbruch durch die Konfrontation mit dem Leben draußen, das dann auch Vergleiche zuließe.

Die Bearbeitung des Vaterbildes geschieht therapeutisch häufig vor der Auseinandersetzung mit der Mutter. Sie fällt in der Regel viel leichter, da der Vater ferner empfunden wird und als nicht so schicksalsentscheidend. Ich war überrascht, wie groß der Anteil meiner Patienten in Arabien war, der ein extrem negatives Bild des Vaters hatte. An ihm blieb selten etwas Gutes hängen. Die Väter sind sehr oft abwesend und/oder emotional kaum verfügbar. Keine Kraft ist da, die das Kind von der Bindung an die Mutter weglockt und in die Welt führt. So bleiben die Kinder präödipal, das heißt am Übergang ins Vorschulalter, in ihrer Entwicklung stecken: fixiert auf das Bild, das die Mutter von ihnen hat, und nicht verpflichtet auf das, was sie in der Welt wirklich darstellen. Nur die narzisstisch geprägten Männer unter meinen Patienten hielten auf ihre Väter, vielleicht, weil sie den Vertreter ihres Geschlechts nicht zu sehr beschädigen wollten.

Ganz anders die Arbeit am Bild der Mutter. Selbst angesichts ganz offensichtlicher Mängel bei der Aufzucht der Kinder werden solche Mängel erst einmal verleugnet, heruntergespielt, und es wird abwiegelnd Verständnis gezeigt. Die Mutter ist sakrosankt. In vielen Situationen wurde mir zu verstehen gegeben, ich würde verbotenes Terrain betreten, wenn ich nach der Mutter und den Empfindungen ihr gegenüber fragte, insbesondere dann, wenn ich mich nicht mit Floskeln abspeisen ließ. Manchmal wurde ich angesehen, als hätte ich ein unsittliches Ansinnen geäußert. So musste ich lernen, weit behutsamer vorzugehen als in Hamburg. Erst wenn ich »genügend Meilen« mit dem Patienten zurückgelegt hatte, ging ich dieses Thema an, wenn es therapeutisch notwendig war.

Die dabei ausgelösten Schuldgefühle waren mir schon aus meinen Erfahrungen in Hamburg bekannt, hier in Arabien aber hatten sie die Stärke eines Tsunamis. Wenn es um die Lebensbegründerin geht, hört aller Spaß auf. So rückten diese Schuldgefühle erst einmal in das Zentrum unserer Auseinandersetzung. Nach einer Weile konnte mein Gegenüber dann auf Fragen antworten wie, welche Empfindungen wohl gegenüber der Mutter ohne Schuldgefühle herrschen würden. Es dauerte lang, bis ich deutlich machen konnte, dass Schuld auch eine Art Deckel sein kann, unter dem sich womöglich das Eigentliche verbirgt. Ein Beziehungskleber, der das, was längst entzweit ist, im Negativen wieder zusammenfügt, um die Illusion einer bestehenden unverbrüchlichen Beziehung wieder aufzubauen. Wie sich zeigt, leben viele der arabischen Patienten in dem Dilemma, schon lang diese Unverbrüchlichkeit verloren zu haben, ohne dies zu wissen oder wissen zu dürfen. Zu stark ist der innere Zensor, der verbietet, sich dies einzugestehen. Denn dahinter begänne eine Einsamkeit, so die Befürchtung, die nicht auszuhalten wäre. Deshalb muss vorher eine tragfähige therapeutische Beziehung entstanden sein, die diese Verlassenheit aufzufangen vermag. Es ist erstaunlich, wie danach das Vaterbild noch einmal hervortritt und Korrekturen zum Positiven erfahren kann. Die Aneignung positiver väterlicher Persönlichkeitsanteile hilft bei der Lösung von der Mutterfigur. All diese Prozesse des Autonomie-Abhängigkeits-Konflikts verlaufen in Arabien sehr viel langsamer und unterschwelliger, auch weil die umgebende Kultur die Autonomiebildung nicht als Ideal vertritt.

Auch ohne den zitierten Hadith ist die Verpflichtung zu ewiger Treue gegenüber der Familie und der dort tradierten Kultur allmächtig. Die weitverbreitete Neigung, den Nachwuchs zu verwöhnen, hilft ebenso wenig. Diese festigt die Bindung, selbst wenn sie unpersönlich bleibt. Wie im zweiten Kapitel beschrieben, ist es mehr eine Bindung an eine Instanz als an eine Person. Von dieser würde eine Lösung leichter fallen, da sich ein eigenes Selbst in der Auseinandersetzung mit ihr bilden könnte.

Zentralpunkt Familie

Die Vorgaben der Kultur, vermittelt durch den Koran, bestimmen die Regeln des familiären Zusammenlebens im Sinne des Separationsverbotes. Eine kurze Episode mag dies illustrieren: Ahmed H. hatte eine Kindheit voller väterlicher Grausamkeiten hinter sich gebracht. Die Mutter wurde vom Vater wegen unbegründeter Eifersucht regelmäßig körperlich misshandelt. Schon als kleiner Junge wurde er mit seinen jüngeren Schwestern Zeuge dieser seelischen und körperlichen Gewalt. Auch durch den Einfluss der Therapie konnte er, als der hochbetagte Vater die ebenso hochbetagte Mutter mit dem Gehstock wieder einmal grausig zugerichtet hatte, nicht mehr an sich halten. Nach sechzig Jahren Selbstkontrolle explodierte er, und all die ungesagten Sätze brachen sich Bahn. Dies geschah unter den Augen der Mutter und der herbeigeeilten Schwester. Dass er keine Minute seiner Gegenwart als Kind genossen habe, rief er, dass er nur noch ein Ende dieses Martyriums herbeigesehnt habe und dass er nur wünschte, dass der Vater zurück zu den Verwandten nach Persien zöge.

Ahmed fühlte sich danach erst einmal erleichtert. Hatte er doch all diese Sätze in sich behalten müssen, um ein »guter Junge« zu sein. Schon während er den Vater anschrie, bat die Mutter ihn flehentlich, von ihm abzulassen. Anschließend brach ein Sturm der Entrüstung und Beschämung los. Allen voran vonseiten der Mutter, gefolgt vom Onkel und der restlichen Verwandtschaft, wurde Ahmed vorgehalten, er verhalte sich ungebührlich, habe dem Vater keinen Respekt gezollt und solle sich dringend entschuldigen. Die Taten des Vaters waren gar kein Thema mehr. Im Kern wurde ihm vorgeworfen, gegen die Gesetze des Islams verstoßen zu haben. In Sure 17 Al-Isra (Die Nachtreise) stehe doch, dass man gegen die Eltern, besonders wenn sie alt geworden seien, noch nicht einmal den Seufzer »Uff« vorbringen solle. Dieser Seufzer sei gewählt, weil das »f« die kleinste aller möglichen lautlichen Anstrengungen darstelle, so klar sei der Koran darin, selbst diese kleine Äußerung zu unterbinden. Für Äußerungen von Wut oder gar Lösungswut ist hier kein Platz. Ob der Koran in diesem Fall wirklich korrekt verstanden wird, kann ich nicht ermessen, es scheint mir aber unerheblich, entscheidend ist die vorherrschende Interpretation, die eben eine Separation erschwert oder gar unmöglich macht.

Von den Eltern über die Familie zieht sich der rote Faden bis hin zum Staat und zur Religion: Der mangelnde Wunsch nach Auseinandersetzung ist frappierend, bis man versteht, dass der Akt der Auseinandersetzung an sich das Problem ist. Für eine Betrachtung meiner selbst und meiner Situation muss ich mich von mir selbst loslösen, mich wie von außen betrachten können. Dies gelingt nicht. Es wäre ein Akt der Freiheit. Dann könnte ich auch alles andere so betrachten. Dabei könnten aber Distanz und Entfremdung entstehen. Beides ist innerlich mit Strafe bewehrt. Der Patient muss also den Lösungsimpuls abwehren und in ein Symptom verwandeln, in dem der ursprüngliche Konflikt verkapselt wird: die Angst. Durch die Beschäftigung mit diesem Symptom wie mit einer Krankheit verschwindet der Ursprungskonflikt im Unbewussten.

Ein großer Teil meiner Arbeit mit arabischen Patienten war dem Weg der Metamorphose des vorherrschenden Symptoms, der Angst und ihren Abwehrformen, zurück zum Ursprungskonflikt gewidmet. Auch dieses Buch widmet sich in großen Teilen den verschiedenen Aspekten, diesem Urproblem.

Jeder Mensch muss sich ihm auf seinem Lebensweg stellen und am Ende hoffentlich als integriertes Ganzes dabei herauskommen. Wir sind, und das ist eine existenzielle Unausweichlichkeit, ausgespannt zwischen Abhängigkeit und Autonomie. Zwischen diesen beiden Polen versuchen wir unseren Platz zu finden und dort zurechtzukommen.

Wir beginnen als Säuglinge in völliger Abhängigkeit und kämpfen uns über die Jahre der Kindheit und Jugend hinein in eine soziale und emotionale Selbstbestimmung und Autonomie. Positiv erlebte Abhängigkeits- und Beziehungserfahrungen helfen uns nach erlangter Autonomie, dass wir uns im Erwachsenenleben wieder hineinbegeben in eine Art kontrollierte Abhängigkeit eigener Wahl, die partnerschaftliche Beziehung. Diese Beziehung ist der Testfall. Hier entscheidet sich, ob ich durch meine Jahre des Unabhängigwerdens wirkliche Autonomie erlangen konnte oder ob ich im Sinne einer Pseudoautonomie beziehungs- und bindungsunfähig geblieben bin. Im Alleinsein Autonomie zu bewahren ist kein Kunststück. Erst die Beziehung mit all den damit verbundenen Anforderungen und Fremdbestimmungen entscheidet, ob mein Gefühl von Unabhängigkeit und Selbst druckfest geworden ist und so nicht mehr nach ständiger Selbstvergewisserung durch einen Ausbruch aus der Beziehung verlangt, um der Fremdbestimmung zu entgehen. Ein ausreichend ausgebildetes Autonomiegefühl erträgt ein erstaunlich hohes Maß an Fremdbestimmung. Diese entsteht zum Beispiel durch die Hingabe an die Kindererziehung ganz unweigerlich für jeden engagierten Elternteil, natürlich auch dann, wenn man die Kinder voller Absicht in die Welt gesetzt hat.

Im Westen sind Separation, Individuation, Unabhängigkeit ein selbstverständlicher Teil des kulturellen Curriculums, das wir in unserer Erziehung durchlaufen. Für viele Eltern gilt es als Ideal, am Ende der Erziehung unabhängige Menschen auf den Weg gebracht zu haben. Im besten Fall kehren die Kinder dann regelmäßig zurück, um die Beziehung zu den Eltern zu pflegen und ihre erinnerte Abhängigkeit in erlangter Autonomie zu genießen.

Die Verhältnisse in Arabien, insbesondere bei den orientalisch geprägten Familien, sind andere. Ist die Welt im Westen gleichsam zweipolig, fehlt im Osten der Pol der Unabhängigkeit; das Erleben bleibt monopolar und wie in Kreisen um den Zentralpunkt der Familie angeordnet. Jede Entfernung von diesem Zentralpunkt in ein wirklich Eigenes ist von starken kulturellen und emotionalen Spannungen geprägt, die sich im Kardinalsymptom der Angst zeigen. Diese Angst tauchte in fast jeder Sitzung auf, ist aber auch in der Außenwelt spürbar, dürftig beherrscht vom strengen Reglement der sozialen Regeln.

Die Fixierung auf die Familie wird zum einen als wohlig, als wohltuende Geborgenheit erlebt, zum anderen aber auch als langweilige Last. Es wird unendlich viel Energie und Zeit darauf verwendet, die Familie zusammenzuhalten. Das Erscheinen beim freitäglichen Mittagessen ist absolute Pflicht für die Familienmitglieder, sei es bei den Eltern, den Schwiegereltern oder den Großeltern. Stirbt der letzte Vertreter der älteren Generation, übernimmt der oder die Älteste unter den Geschwistern die Rolle des Gastgebers. Die westliche Isolation hat Arabien (noch) nicht erreicht. Das ist eine große kulturelle Leistung mit einem enormen Preis. Das Sich-Entfernen von der Herde ist unerwünscht und mit erheblichen Schuldgefühlen verbunden.

Das große Eine

So durchzieht das Separationsverbot die arabische Kultur wie ein roter Faden. Es beginnt mit so banalen Dingen wie Kartenlesen. Dies wird in der Schule nicht gelehrt. Wie oft habe ich die hilflosen Blicke bei Rückgabe eines Stadtplans erlebt, wenn ich zum Beispiel einen Treffpunkt in Hamburg markieren wollte. Sie konnten die Karte trotz englischer Version nicht lesen, sie schauten mich an, als hätte ich ihnen ein Buch auf Chinesisch gereicht. Sie wollten aber auch nicht lernen, sie zu lesen, sondern nahmen sich aus Angst, verloren zu gehen, selbst für kürzeste Strecken ein Taxi. So wird aus Unfähigkeit Angst. Eine Landkarte erlaubt mir, mich auch in unbekanntem Terrain zu bewegen, von anderen unabhängig zu sein. Und so steht diese Unfähigkeit für mich metaphorisch für viele Schwierigkeiten. Man bewegt sich eben nur in bekanntem Gelände. Es fehlt der Drang, Grenzen zu überschreiten. Dies ist auch gar keine kulturell vermittelte Intention. Man bleibt für die kleinen Shopping-Spaziergänge in unmittelbarer Umgebung des Hotels in Hamburg. Entdeckungsfreude habe ich selten gespürt.

Auch die seltsame, doch nahezu zwangsläufige arabische Scheinheiligkeit zählt für mich zu den Phänomenen des Separationsverbotes. Jedes Leben braucht nicht nur die meditative Versenkung, sondern auch Rausch und Ekstase. Da »sex and drugs and rock ’n’ roll« aber im Bemühen um Idealität aus dem Kanon der arabischen Kultur vollständig verbannt sind, müssen sie im Untergrund ein Lügendasein fristen. Auch in Arabien gilt die Weisheit des Karnevalsliedes, dass wir »alle kleine Sünderlein« sind. Um aber die Regeln der Kultur unangetastet zu lassen, wird diese Weisheit verleugnet, und jeder tut so, als würde sein Verhalten diese auch gar nicht infrage stellen; das Auseinanderklaffen von realem Tun und kulturellem Anspruch wird nicht thematisiert. Der sturzbetrunkene Gläubige mit jenem Abdruck des Gebetssteines auf der Stirn, der sich nur durch unzählige Berührungen beim Verbeugen im Gebet einstellt und der wie ein Orden getragen wird, bemerkt seinen Widerspruch ebenso wenig wie der verheiratete Saudi, der in den Bars von Bahrain auf Frauenfang geht. Die Bigotterie kennt keine Grenzen, muss doch das Bezogensein auf die kulturelle Mitte und ihre Regeln, den Islam, widerspruchsfrei gewährleistet sein, auch wenn das eigene Verhalten dem Hohn spricht. Meine innere Reaktion war anfänglich Empörung über ein so offensichtliches sich rundum Zulügen. Ich musste lernen, dies milder zu betrachten, da der Gläubige gar keine andere Möglichkeit hat, als durch den Extraraum des Geheimnisses und der Lüge doch noch ein bisschen Leben zu ergattern. Diese verzweifelte Suche nach Leben fand dann letztlich meine Sympathie.

Auch in Gesprächen kann man die Grenze spüren, die nicht überschritten werden soll. Meiner Lust zu debattieren wurde mehr als einmal Einhalt geboten. »Doktor, fragen Sie nicht zu tief, es könnte keine Antwort geben«, lautete häufig die Ansage. Mit anderen Worten: Man möge doch bitte eigene Konflikte nicht anstacheln, sondern ruhen lassen, sodass die Überzeugungen und Verhältnisse bitte unverändert bleiben. Manchmal kam mir das Ganze zunächst nur wie eine Denkfaulheit vor, es war aber vielmehr Angst als Trägheit des Denkens.

Die unzureichende Autonomiebildung durchzieht alle Lebensbereiche. Im Westen ist die fehlende Reiseerlaubnis für die weiblichen Mitglieder der Familie ohne entsprechende männliche Begleitung noch am bekanntesten. Dieses religiöse Verdikt, das weibliche Unabhängigkeit primär unter das männliche Wohlwollen stellt, ist eine nach wie vor weitverbreitete Praxis. Die Begleitung erstreckt sich schnell auf kleinere und größere Gruppen. Und noch immer unterstützt der Staat eine solche Geldverschwendung und bezahlt häufig bei medizinischen Maßnahmen im Ausland auch die Kosten des Aufenthaltes der Angehörigen.

Auch sozial gruppiert sich das Gemeinwesen gleich Kreisen um den Mittelpunkt des Feudalherrschers. Die zunehmende Nähe zu diesem Zentrum definiert Status und Reichtum. Entsprechend eingeschränkt ist die politische Kultur. Der zweite Pol der Opposition existiert entweder nur rudimentär oder wird systemkompatibel in einer scheindemokratischen Simulation zur Beruhigung der Massen und des Westens angeboten.

Besonders im Glauben manifestiert sich das Ideal des einen, unverrückbaren Mittelpunkts, um den sich die Gläubigen scharen. Sie suchen in der Umma, der Gemeinschaft der Glaubenden, das große, ferne Eine. Diese Suche soll durch keine Einflüsse von außen oder innen gestört werden. Die Auslegung darf in extenso diskutiert werden, aber nie die Gültigkeit des Ganzen, in dessen Zentrum der Glaube an die göttliche Herkunft des heiligen Textes steht. Zweifel daran würden das ganze Glaubensgebilde aushebeln. So ist es absolut sinnfällig, dass zu den heiligen Stätten nur Gläubige zugelassen werden. Steht doch im Mittelpunkt der muslimischen Welt in Mekka dieser eine schwarze Quader, die Kaaba, um die herum sich rituell und symbolhaft alles dreht. Symbol für eine ganze Kultur, die planetenhaft von diesem magischen Zentrum angezogen wird. Jeder, der dort in Mekka war, berichtet von der Unwiderstehlichkeit der Erfahrung, von diesem einen Großen magisch angezogen und aufgehoben zu sein. Mir ist noch kein gläubiger Muslim begegnet, der nicht davon berichtet hätte. Es ist der Ort der Selbstvergewisserung einer Kultur ob der absoluten Gültigkeit des eigenen Glaubenssystems. Diese wird den Frommen dort zweifelsohne leibhaftig vermittelt.

Hala oder die Suche nach Halt ohne Fesseln

Hala hatte wie die meisten Frauen am Golf früh geheiratet. In kurzen Abständen gebar sie erst drei Söhne, dann eine Tochter, die zu Therapiebeginn noch in die Oberstufe des Gymnasiums ging. Der älteste Sohn war 27 Jahre alt. Der Ehemann arbeitete für lange Zeit im Geschäft seines eigenen Vaters. Dieser starb überraschend früh. Seitdem – dies war jetzt fünfzehn Jahre her – hatte der Ehemann zuerst wenig, dann gar kein Geld mehr verdient. Er wurde immer dicker und fauler. Er legte sich im Wortsinn immer mehr ab. Nach dem Gebet zur Morgendämmerung, Fadschr, begab er sich wieder lange ins Bett, um dann irgendwann nach dem Gebet zur Mittagszeit, Zuhr, seinen ersten Kaffee zu trinken. Dann wieder der Gang in die Moschee zum Nachmittag, Asr. Gebete dort zählen sozusagen doppelt auf dem Ich-will-in-den-Himmel-kommen-Konto.

Durch den geschickten An- und Verkauf von Immobilien gelang es Hala, die Familie nach dem Ausfall des Mannes als Ernährer auf gutem Niveau durchzubringen. Zähigkeit und Beharrlichkeit waren ihr Schlüssel zum Erfolg. Dies war übrigens auch im weiteren Verlauf der Therapie der Fall.

Nebenbei erarbeitete sich die Patientin einen guten Ruf als Koranlehrerin für Mädchen. Dies verlieh ihr in der Gesellschaft ein hohes Ansehen, zumal ihr Bruder als hochgeschätzter Imam eine Figur des öffentlichen Lebens war. Im Gegensatz dazu erlebte sie ihre häusliche Situation als schäbig und entwürdigend. Der Mann war kein Mann, weil er kein Geld nach Hause brachte. Hala machte schon beim ersten Hereintreten ins Therapiezimmer trotz ihrer kleinen Statur einen resoluten, wirkmächtigen Eindruck.

Es ist jetzt über drei Jahre her, dass sie zu mir gekommen war, um Hilfe bei dem Psychotherapeuten aus Hamburg zu suchen. Von Anfang an hatte unsere therapeutische Beziehung etwas Konspiratives. Sie suchte mit mir ganz bewusst eine Person außerhalb ihres gesellschaftlichen Umfeldes auf. Nur dieser Person konnte sie Vertrauen schenken. Vielleicht wusste sie, dass man sich im Leben gelegentlich auf den Scheitan, den Satan, einlassen muss, wenn man vorankommen will. Da ihre Situation vollkommen festgefahren war, brauchte sie den Teufel, um wieder herauszukommen. Teufeln anderer Länder haftet der Ruch des Wissens an, nicht aber der der Sünde, und so fiel die Wahl wohl auf mich. Sie war damals in einem präpsychotisch erscheinenden Zustand. Ihre Symptome hatten eine beängstigend wahnhafte Anmutung. Sie sah die Wände der Zimmer auf sich zukommen, die Decke senkte sich bedrohlich ab, die Luft blieb ihr weg. Zudem hatte sie eine panische Furcht vor Lichtschaltern entwickelt. Immerzu wollte sie das Licht angeschaltet haben, fürchtete sich aber gleichzeitig vor der Helligkeit. »Mehr Symbolisierung vom Kampf zwischen Bewusstheit und Verdrängung geht ja kaum«, dachte ich in einer dieser ersten Sitzungen. Ich blieb lange Zeit unsicher, ob die geschilderten Bilder Ausdruck eines drohenden Ich-Untergangs mit der dazugehörigen Panik – wenig ängstigt den Menschen mehr als das drohende Verschwinden des eigenen Ichs – im Sinne einer wahnhafte Vorstellungen produzierenden Psychose waren oder ein bildhaftes Erleben von einer das Ich überfordernden Panik auf dem Boden eines bewussten oder unbewussten Konflikts darstellten. Unter altgedienten Therapeuten ist man sich durchweg einig, dass man aufrichtigerweise die Diagnose erst am Ende einer Therapie stellt, auch wenn wir so tun, als wenn wir sie gleich am Anfang wüssten.

Ähnlich verhielt es sich für mich mit der unsicheren Einordnung ihrer zwanghaften Befolgung religiöser Regeln, insbesondere der vorgeschriebenen Gebetszeiten. Eine Abweichung von wenigen Minuten löste sofort Panik aus. Zudem stieß sie während der Sitzungen Anrufungen Allahs in einer Menge aus, die schwer zu ertragen war. Dazu das stets wiederholte »al-miskin ana« – »Oh, ich Arme« – der Selbstbemitleidung. War dies der Ausdruck einer Zwangsstörung oder die nicht seltene Abwehr einer Psychose durch Zwangssymptome? Auch für strenge islamische Verhältnisse war dies ein bisschen zu viel des Guten. Dennoch blieb von Anfang an etwas an ihrer Erscheinung und den geschilderten Symptomen nachvollziehbar, begreifbar, nichtpsychotisch. Sie ließ mich nicht kalt, wie es mir sonst bei Psychotikern ergeht, sondern ich konnte eine gewisse Empathie für ihre Leiden empfinden.

Der Mann war in den ersten Gesprächen noch dabei, dann wurde es ihm langweilig. Ich sollte seine Frau einfach von diesen seltsamen Wahrnehmungen und der damit verbundenen Panik befreien. »Doktor, mach deinen Job, aber lass mich ansonsten in Ruhe!«, war seine generelle Haltung. Und ansonsten: Es gehe doch alles nur ums Geld.

Nachdem er sich aus den Sitzungen verabschiedet hatte, wurde die Atmosphäre zwischen Hala und mir deutlich angenehmer. Sie schien sich etwas zu entspannen und gab wichtige Teile der Vorgeschichte preis. Bereits ein Jahr zuvor hatte sie sich schon einmal von ihrem Mann getrennt, und die Scheidung war ausgesprochen worden. Für vier Monate habe sie sich so glücklich gefühlt wie seit Jahrzehnten nicht. Alles war bestens, und vielleicht sei sie genau deshalb vom einen auf den anderen Tag von einer totalen Panik durchgeschüttelt worden. Sie habe sich in der Hölle wiedergefunden, erschüttert von Zweifeln, das Falsche getan zu haben, einen schrecklichen Fehler und eine Sünde begangen zu haben, indem sie ihren Ehemann verlassen hatte. Ihre Schuldgefühle seien immer größer geworden. So sei sie zum Ehemann zurückgekrochen und habe um Vergebung gebeten. Dieser habe sie auch aufgenommen, aber es sei nicht wieder so geworden wie vorher. Er kämpfe um seine Würde, aber sie wolle ihm gar nicht die Frau sein. Sie könne nur nicht alleine leben. Sie fürchte sich vor ihm, sie sei doch sonst eine so mutige und starke Frau. Nichts sei davon übrig geblieben. Sie könne schon kaum ertragen, ihn durchs Haus laufen zu hören. Sie käme ihren ehelichen Pflichten nach, sei aber gar nicht wirklich dabei, geschweige denn, dass sie irgendeine Freude dabei empfinde. Eigentlich ekele sie sich vor diesem Nichtmann, wisse aber jetzt weder ein noch aus. Sooft es gehe, wende sie sich von ihm ab. Sie empfinde sich wie eine Mietfrau, die für den Beischlaf nicht bezahlt würde. Viele Stunden weine sie, traurig über das eigene Leben.

Als Siebzehnjährige habe sie einmal spüren dürfen, wie es sei, geliebt zu werden. Nasser, den sie nur noch »meine Medizin« nannte, sei dann, nachdem sie ihn ihres jungen Alters wegen zurückgewiesen hatte, wie sie eine arrangierte Ehe eingegangen, und ihre Wege hätten sich getrennt. Nicht getrennt hätten sie sich in einem toten Winkel ihrer Herzen von dem Gefühl füreinander. Er lebe jetzt als erfolgreicher Geschäftsmann in einem anderen Staat am Golf. Und warte immer noch auf sie.

Ihre Eltern hätten eine schlechte Ehe voller Streit geführt. Die Mutter habe alles unter ihre Macht zwingen wollen. Leider sei der Vater früh verstorben. Er habe sie dazu erzogen, stark zu sein und zu beten. Als er starb, habe sie, wie von ihm geboten, keine Träne vergossen. Die Mutter sei immer neidisch auf ihre Beziehung zum Vater gewesen. Über die Jahre habe sich in ihr eine immer größere Wut auf sie aufgebaut. Wenn Hala ungehorsam gewesen sei, habe die Mutter sie häufig geschlagen und gekniffen. Mit sieben Jahren habe sie der Mutter einen Brief geschrieben, in dem sie ihr schrieb, dass sie sterben wolle, und sie habe ihr Lebewohl gesagt. Wo immer sie im Haushalt als Älteste geholfen habe, habe es die Mutter nicht anerkannt. Irgendwann habe die Mutter ihr gesagt, dass sie schon bei ihrer Geburt gedacht habe: »Vielleicht wird sie in ein paar Tagen sterben.« So dünn und krank sei sie gewesen.

Seit Anbeginn fühle sie diesen Hass, dieses Nicht-da-Sein-Dürfen. Mit zwölf habe sie beschlossen, für zwei Jahre nicht mehr mit ihrer Mutter zu reden. Der Koran lehre aber, dass, selbst wenn die Mutter eine schlechte sei, man nicht schlecht über sie reden solle.

Auch später, als sie ihre Kinder geboren habe, sei sie abwesend gewesen, obwohl dies völlig unüblich sei. Nach der Heirat habe sie nicht zur Mutter zurückkehren können, obwohl sich ihr Mann wie ein Pharao benommen habe. So habe sie es bei ihm aushalten müssen. Sie sei erzogen worden, sich selbst zu vergessen. Bis heute fürchte sie sich vor ihr. Jetzt habe die Mutter Uteruskrebs und nicht mehr lang zu leben.

Vor mir gewann das Persönlichkeitsbild von Hala mehr und mehr an Kontur, eine nicht in allen Teilen gemütliche Person, vermutlich symbiotisch gebunden an die Figur einer »toten Mutter«, die auch sadistische Züge aufwies. Mit dem Ehemann hatte sich wohl eine Mutterübertragung etabliert, das heißt, in ihrer Seele wurde er zunehmend zu einem Wiedergänger der Mutter mit all den damit verbundenen unverarbeiteten Gefühlen. Mit dem Vater hatte sie in ihrer Erinnerung eine sehr innige Beziehung, die ihr von der Mutter geneidet wurde. Jetzt habe sie bei der »Medizin« ein ähnlich wunderbares Gefühl, fast so als habe sie schon mit dem Vater eine Affäre gehabt. So teilte sich die Welt in Böse und Gut. Der Mann trug ausbeuterische Züge, wie die weitere Geschichte noch bestätigen sollte. Durch all die biografischen Belastungen hatte Hala ein insgesamt negatives Bild ihrer selbst, unfähig, sich aus ihrer Symbiose zu lösen, ohne auf die verinnerlichte Negativität der frühen Mutterbeziehung zurückzufallen. Ihre Schuldgefühle waren Ausdruck dieser Unfähigkeit, sich vollständig zu lösen. Die erste Scheidung erfüllte die manchmal von Patienten vollzogene Tatsache der Flucht in die Gesundheit (»flight into health«), die aber nicht durchgehalten werden kann, weil die Patienten mit den dabei verdrängten Gefühlen früher oder später konfrontiert werden. So kann man die Rückkehr zum ungeliebten Ehemann auch als Selbstbestrafung verstehen.

Hala suchte nach Halt ohne Fesselung. Vielleicht würde es mir gelingen, ihr diesen für eine Weile zu bieten, sodass sie die nötigen Reifungsschritte hinter sich bringen und an alte Stärke anknüpfen konnte.

In der therapeutischen Auseinandersetzung dauerte es lang, bis sie eine Sprache für ihre inneren Prozesse fand. Die psychotisch anmutenden Symptome des Anfangs wurden ihr und mir als Dramatisierungen ihrer Angst verständlich und verschwanden daraufhin erfreulicherweise, sodass ich zu keiner medikamentösen Therapie wie bei einem manifesten Wahn als Ausdruck einer schweren seelischen Erkrankung greifen musste. Je mehr aber die Bildhaftigkeit des Erlebens verschwand, umso mehr empfand Hala Angst und Depression.

Für eine Weile brauchte ich für den therapeutischen Prozess ein wenig Rückenwind. Ich wollte an der Psychodynamik arbeiten und nicht in jeder Sitzung die überwältigende Angst als unverständliches Symptom thematisieren. Ich verschrieb ihr deshalb ein mildes Antidepressivum mit angstlösendem Charakter. Sie sprach gut darauf an, was uns die nötige Ruhe für die Arbeit verschaffte.

Aufgrund der Lebermetastasen ihres Krebsleidens sah Halas Mutter inzwischen quittengelb aus. Auf den »letzten Metern« begannen Hala und ihre Mutter das zu tun, was ihnen ein Leben lang nicht gelungen war. Sie redeten miteinander. Die Mutter wurde dadurch nicht zu einer liebevollen Instanz, aber viel weniger dämonisiert. Hala verstand, wie sehr die Mutter selbst unter der grausamen Großmutter gelitten haben musste. Das Gefühl der Isolation, der Unverbundenheit – der Urgrund aller Angst – wurde in ihrer Familie durch die Generationen gereicht. Sie sagte, sie wisse jetzt, dass genau diese Unverbundenheit die Beziehung zu ihrem Ehemann bestimme.

Hala konnte ihrer Mutter aus erwachseneren Ich-Anteilen heraus begegnen und gewann Abstand zu ihrer Lebensbegründerin. Dieses Stück Separation bei einem gewissen Maß an Nähe wurde als sehr wohltuend empfunden. Gleichzeitig verlor sich die große Negativität von Halas Selbstbild. »Ich bin ein gutes Mädchen«, sagte sie mir nach einem Besuch der Mutter im Hospital. Sie hatte das Gefühl, die Mutter durch ihren Besuch glücklich gemacht zu haben, ein Gefühl, für das sie sich eine Kindheit lang »abgewirtschaftet« hatte. Am Ende – und das strafte den Anfang der dunklen Kindheitswürde Halas hier nicht Lügen – wurde ihre Liebe als Tochter angenommen, und dann verstarb die Mutter. Hala war in der Lage zu weinen, zu weinen über den Verlust der Mutter und die nicht gemachten Erfahrungen einer liebevollen Mutter-Tochter-Beziehung. Sie weinte über die vielen als verloren empfundenen Jahre ihres bisherigen Lebens. Da sie selbst Mutter war, hatte sie eine Ahnung davon, was ihr entgangen war. In der Trauer konnte sie einen Teil dieses Entgangenen dann doch noch in sich aufnehmen. Im Idealfall ist Trauer eine Art späte Zuwendung, der aus dem Verlorenen, Sich-Entfernenden durch das Vor-die-Seele-Stellen des Verlustes eine Aneignung, eine Bereicherung macht, so bei Hala. Trauer ist ein Prozess in der Nähe, dadurch kommt der Schmerz zustande.

Danach gestattete sie sich, den Kontakt zu ihrer »Medizin« zu intensivieren. Das war neben mir ihre beste Waffe gegen die Angst. Die Entfremdung zu ihrem Ehemann wuchs immer weiter. Dieser tat nach wie vor nichts, außer die vorhandenen finanziellen Ressourcen zu verbrauchen. Sie konnte verstehen, wie die gleichgültige Haltung der Mutter ihr gegenüber einen Wiedergänger in dem trägen, dabei nach außen sehr freundlichen Ehemann fand. Weder fühlte sie sich wahrgenommen oder anerkannt, geschweige denn ausreichend genährt (auch finanziell). Das Verstehen dieser Situation als Übertragungsphänomen blieb ihr erst einmal fremd. Da finanzielle Zuwendung – wie häufig im Westen auch – das zentrale Symbol für Zuwendung ist, konnte Hala das Gefühl des Ausgebeutetwerdens immer weniger verdrängen. Der Ehemann bewegte sich während der Therapiezeit keinen Zentimeter vorwärts, genehmigte sich jedes halbe Jahr ein neues Smartphone und einen neuen Leasingwagen. Er schien Privatschulden anzuhäufen. Das einst lukrative Geschäft als Industrie-Ausstellungsorganisator hatte er an Inder verkauft. Er war nur noch der Namensgeber, um den Einheimischen ein bodenständiges Unternehmen zu suggerieren.

Da ich inzwischen wieder in Hamburg war, mussten wir über Skype-Sitzungen fortfahren. Die Szene war immer die gleiche: auf irgendeinem gottverlassenen nächtlichen Parkplatz eines Supermarktes hatte sie endlich die Ruhe und Vertraulichkeit, mit mir zu sprechen. Übrigens ein Procedere, das sie mit vielen meiner arabischen Patienten teilt. Trotz des Fehlens meiner leibhaftigen Gegenwart und der miesen Übertragungsqualität des elektronischen Mediums vermittelte sich Hala genügend Unterstützung, um ihre Angststörung, inklusive der realen Angst, ihre »Medizin« zu verlieren, einigermaßen in Schach zu halten. Dies gelang umso besser, nachdem sie verstanden hatte, dass in ihr ein kleines Mädchen voller Wut, Angst und Tränen danach schrie, zur Kenntnis genommen zu werden. Ich gab ihr zu verstehen, dass sie, die große, erwachsene Hala, dieses kleine Mädchen bei der Hand nehmen und ins Erwachsensein führen müsse. Einen Pfadfinder für diese Unternehmung habe sie ja bereits.

Sie erzählte einen Traum, in dem ihre Mutter mit ihr glücklich und zufrieden gewesen war. Sie erlebte den Traum als Segnung und wohlwollendes Gutheißen. Danach schien sie sich das Alleinsein wieder zumuten zu können, ohne die Furcht zu haben, dass es wieder zu einem Zusammenbruch ihres Selbstwertgefühls kommen würde. Sie ließ ihre Ambivalenz bezüglich ihrer Ehesituation hinter sich, gestand sich ein, dass sie nicht an einer Fortführung dieser Ehe interessiert war, und reichte erneut die Scheidung ein. Der Ehemann, der befürchtete, sein Wirtstier zu verlieren, leistete über seinen Anwalt erbitterten Widerstand. Es waren nach wie vor sehr traurige, mit Tränen gefüllte Tage. Zum Trost gestattete sie sich sogar die Sünde des Musikhörens, auch wenn der Koran ihr dies eigentlich verbot. Auch gläubige Araber bedürfen gelegentlich des »Brandys der Verdammten«, der Musik. Sie durfte mit meiner ärztlichen Erlaubnis auf Allahs Gnade hoffen.

Der Rosenkrieg hatte begonnen. Der Richter verweigerte ihr die Scheidung – der Ehemann war gut verdrahtet. Er beanspruchte das ihr gehörende Haus und eine halbe Million Dollar, erst dann würde er zustimmen. Bei Einvernehmen würde der Richter zustimmen. Er vertrat deutlich die Interessen des Ehemanns und einer Männergesellschaft, die von der Freiheit der Frauen nichts wissen will.