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Marlene Sørensen

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Beschreibung

Was macht den Wert und Erfolg eines Lebens aus? Wie bleiben wir ein Liebespaar, wenn wir als Team funktionieren? Welcher Sinn und wie viel Unsinn steckt in Selbstoptimierung? Warum bin ich die ganze Zeit rasend, aber gleichzeitig entsetzlich müde? Und was sollen plötzlich all diese Fragen? Mit vierzig – so dachten wir früher – wäre im Leben alles geregelt. Stattdessen wirft dieses Alter ganz neue Themen auf. Marlene Sørensen schreibt darüber, was uns Frauen in der zweiten Lebenshälfte beschäftigt und wie es weitergehen kann: klug, humorvoll, nachdenklich. Nach der Lektüre ihrer wundervoll ehrlichen Texte über Mutterschaft und Falten, Sex und niemals endenden E-Mail-Verkehr, vermeintlich perfekte Jeans und Solidarität unter Frauen haben wir vielleicht nicht alle Antworten, können uns aber sicher sein: Es geht nicht nur mir so.

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Seitenzahl: 286

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Marlene Sørensen

Und jetzt?

Fragen an das Leben mit 40. Antworten für immer

 

 

 

Über dieses Buch

Ist es zu spät, neu anzufangen? Was macht das Leben gut? Mutterschaft – wer bestimmt, was das bedeutet? Wo ist die Liebe? Was war noch mal mit Sex? Brauche ich eine Therapie oder nur einen Spaziergang? Bin ich zu alt für Hüftjeans? Was geschieht mit meinem Gesicht? Und ist hier noch jemand so müde? Mit vierzig – so dachten wir früher – wäre im Leben alles geregelt. Stattdessen wirft dieses Alter ganz neue Fragen auf. Und birgt gleichzeitig viele Möglichkeiten. Marlene Sørensen schreibt darüber, was uns Frauen in der zweiten Lebenshälfte beschäftigt und wie es weitergehen kann: klug, humorvoll, nachdenklich. Nach der Lektüre ihrer wundervollen Texte über Schönheit, Freundschaft, Alltag und Lebensträume haben wir vielleicht noch nicht alle Antworten, aber verspüren die große Erleichterung zu wissen: Es geht nicht nur mir so. Und: Das wird schon – vor allem ohne Hüftjeans. 

Vita

Marlene Sørensen, Jahrgang 1979, ist freie Journalistin und Autorin. Ihre Texte sind u. a. erschienen in Berliner Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Myself, Glamour, auf Ohhhmhhh.de und ZEIT ONLINE. 2013 gehörte sie zum Gründungsteam der deutschen Harper’s Bazaar, seit 2016 ist sie Co-Textchefin des Magazins wie auch Modeautorin und Kolumnistin. Für den Callwey Verlag hat sie bereits zwei Bücher geschrieben und fotografiert, den Bestseller Stilvoll – Inspiration von Frauen, die Mode lieben und den Nachfolger Woher hat sie das? Modelieblinge für jeden Anlass.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

nach einem Entwurf von James Castle

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01198-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Einleitung

Was erwartet mich?

Sind wir schon da?

Geht das noch besser?

Haben Sie meine E-Mail erhalten?

Wie vergeht die Furcht?

Bleibst du noch?

Zusammensein

Alleinsein

Wer hat dich eigentlich gefragt?

Wie steht’s um uns?

Vermutlich unlösbare Fragen

Ist das normal?

Wie geht es weiter?

Die perfekte Jeans – na und?

Hat sie oder hat sie nicht?

Wie wollen wir alt werden?

Worauf will ich zurückblicken?

Dank

Literatur- und Quellenverzeichnis

Einleitung

Für alle, die mittendrin sind

«We turn not older with years but newer every day.»

Emily Dickinson

Einleitung

Im Herbst 2021 flog ich mit drei meiner ältesten Freundinnen – die, die ich am längsten kenne, aber auch: die ältesten – für ein langes Wochenende ans Meer. Auf die Idee für diese Reise waren wir auf der Geburtstagsparty zum Vierzigsten von einer von ihnen gekommen, auf der wir bis morgens tanzten, was sich nicht mehr so oft ergibt wie früher und erst recht nicht in dieser Konstellation: Wir kennen einander seit fast dreißig Jahren, sehen uns aber nur selten, da wir über drei Länder verstreut leben. Die Gin-Tonic-Laune, in der wir den Plan zu «nur wir vier» gefasst hatten, hielt länger an als der Kater am Morgen danach. Während wir die Reise einige Jahre zuvor entweder sofort als Schnapsidee abgetan oder auf später vertagt hätten – später, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind; später, wenn der Alltag nicht so eng getaktet ist; später, wenn die Urlaubstage verfügbarer sind –, fing ich im Anschluss an die Party sofort an, nach freien Wochenenden und Flügen zu suchen. Ich war plötzlich sehr in Eile, nicht «irgendwann mal» zusammen zu verreisen, sondern jetzt. Zum Zeitpunkt der Party war meine Freundin S. bereits 41; sie hatte die Feier des runden Geburtstags vom Vorjahr nachgeholt – die Pandemie.

Die Pandemie hatte die Zeit sowohl ausgebremst als auch beschleunigt. Einerseits häuften sich mit jedem weiteren Lockdown die Murmeltiertage – und ich sah zwar zunehmend so zerzaust aus wie Bill Murray, der in Und täglich grüßt das Murmeltier bekanntermaßen gestraft ist, die gleichen 24 Stunden immer wieder zu erleben, würde aber, das wurde bald klar, keine Murray-gleiche Läuterung erleben. Im Verlauf des Films lernt er unter anderem, Klavier zu spielen und Eisskulpturen zu schnitzen. Ich dagegen würde nicht das Wohnzimmer streichen, eine Sauerteigkultur ansetzen oder Marcel Prousts siebenteiligen Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit lesen, da ich reichlich damit zu tun hatte, im Homeoffice und bei unregelmäßiger Kinderbetreuung von Tag zu Tag zu kommen. Andererseits tickte die Uhr weiter. Die Pandemie, es wird niemanden überraschen, hat die Alterung der Menschen rasant vorangetrieben. An der Stelle meiner Freundin wäre ich auch noch mal vierzig geworden.

Diese Zeit ließ sich nicht zurückgewinnen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich etwas Fundamentales aus ihr gelernt hatte, außer dass man sich an fast alles gewöhnt, ich zum Beispiel daran, mich sechs Monate lang morgens im Halbdunkeln an- und abends wieder auszuziehen, weil ich keine Energie übrig hatte, eine Glühbirne im Schlafzimmer auszuwechseln.[*]

Wie könnte ein anderes Danach aussehen? Was würde ich aus dem Davor behalten wollen? Ich wusste nur, was mir fehlte: die Leichtigkeit. Ein Wochenende, das ich mir unter normalen Umständen wieder ausgeredet hätte, klang danach. Meine Freundinnen hatten ähnliche Gedanken, denn wir fanden die Zeit zum Zusammensein. Warum warten? Und worauf? Nächstes Jahr? Wer weiß, wie das werden würde.

Am zweiten Tag auf der Insel hielten wir auf einem Parkplatz, um Scheibenwischerflüssigkeit nachzufüllen. Besser gesagt: Wasser, das wir aus einer halb leeren Trinkflasche hoffentlich in die richtige Öffnung gossen. Neben uns parkte ein um einiges weniger verstaubter Wagen, auf der Beifahrerseite eine Frau, die uns zusah. Als wir wieder eingestiegen waren, sagte S.: «Kamt ihr euch auch gerade vor wie Teenager, die zum ersten Mal mit dem Auto unterwegs sind und von einer Erwachsenen beobachtet werden?»

Die Frau mag gar nicht viel älter gewesen sein als wir, aber alles an ihrer Erscheinung – der SUV, das gepflegte Auftreten, die vom Küstenwind unbeeindruckte Frisur – wirkte erwachsener, als wir uns erschienen, mit sandigen Füßen und Spice Girls im Autoradio. Als wir weiterfuhren, dachte ich darüber nach, warum sich vier Frauen um die vierzig wie Jugendliche fühlten, obwohl wir längst nicht mehr in Schullandheimen die Ferien verbringen, sondern in Hotels mit Pool. In einem Feriencamp auf dem dänischen Land hatten wir uns kennengelernt, wo ich nicht nur die Muttersprache meiner Mama lernte, sondern über vier Sommer hinweg Wissenswertes über Marlboro Lights und Engtanz erfuhr. Formende Jahre. Neben Dänisch lernte ich dort Englisch; und das Selbstvertrauen, Jahre später allein nach England zum Studieren zu gehen, nahm ich aus diesen Sommern auch mit. Es ist ein genialer Trick der Zeit, dass sie in prägenden Momenten stehen bleibt. So muss man sich nie von ihnen verabschieden, auch wenn neue Erinnerungen dazukommen. Für mich werden diese Frauen auf ewig ausgefranste Denim-Shorts tragen und in Zitronenwasser getränkte Haare. Was hatten wir damals im Kopf, außer den Nonsens zu glauben, dass die Säure unsere Strähnen in der Sonne blondieren würde? Sicher verschwendeten wir nicht auch nur einen Gedanken daran, wie das Leben mit vierzig sein würde.

Ich hatte nicht mal an dem großen Geburtstag einen Plan von diesem Alter. Mir gefiel allerdings die Vorstellung, dass mit dem Vierzigsten die Fragen aufhören würden, wie es mir damit ginge, oftmals mit einem pietätvollen Unterton gestellt, sodass ich selbst anfing, mich zu fürchten. Dabei hatte ich keine Angst. Ich war eher unschlüssig. Jedes Jahrzehnt davor war durch bestimmte Ziele und Wünsche definiert gewesen, wie die Ausbildung abzuschließen oder Mutter zu werden.

Und jetzt?

Würde nicht mehr viel passieren. Jedenfalls nicht viel Gutes, wie mir schien, als ich auf der Suche nach Anhaltspunkten, was auf mich zukommen würde, anfing zu lesen.

 

In Deutschland erleben Menschen durchschnittlich mit 44 ihr großes Krisenjahr.

Hat man das überdurchschnittlich krisenfrei hinter sich gebracht, wartet, so ein europäischer Vergleich, mit 47 die nächste Gelegenheit für das unglücklichste Alter.

Was man zu dem Zeitpunkt womöglich schon erledigt hat: die Scheidung, denn die meisten Ehen werden nach dem 45. Lebensjahr geschieden.

Wovon Frauen am wenigsten profitieren, denn: Ab dreißig sinkt ihr Einkommen stetig, vor allem durch die Mutterschaft, sodass sie sich spätestens in mittleren Jahren in ökonomische Abhängigkeit begeben haben, da sie ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig erwirtschaften können.[*]

Und das alles erlebt man in mehr oder minder angespannter Verfassung, da man physisch eine so massive Wandlung durchlebt wie zuletzt als Teenager. Fühlten wir uns auf dem Parkplatz deshalb wie Jugendliche? Möglich ist es. Ich wusste zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht, dass mein Körper bereits an der Startlinie einer hormonellen Rallye stand.

Nach der Lektüre von Studien und Statistiken blieb das Gefühl von: Ganz lieben Dank für die guten Jahre, das war’s jetzt.

Hatte meine Freundin J. recht mit ihrem Bild von der Wippe, das sie einmal für dieses Alter verwendete? Auf der einen Seite ist die Jugend, in der alles aufwärtsgeht. Mit vierzig steht man auf dem Scheitelpunkt. Danach kann es nur noch abwärtsgehen.

Eine Annahme, so las ich weiter, die zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann. Was wir über das Alter denken, wirkt sich darauf aus, wie wir altern. Zu diesem Ergebnis kommt Yale-Professorin der Psychologie Dr. Becca Levy in ihrem Buch Breaking the Age Code. Ihren Untersuchungen zufolge leben Menschen, die Gutes erwarten, bis zu siebeneinhalb Jahre länger als die, die mit dem Schlimmsten rechnen. Die Vorstellung, dass man etwa im Alter zu Weisheit gelangt, wirkte sich positiv auf das Gedächtnis wie auch auf die Balance und die tatsächliche Schrittgeschwindigkeit aus. Die Erwartung von zunehmender Tatterigkeit führte dagegen dazu, körperliche Aufgaben schlechter ausführen zu können. Eine bejahende Einstellung resultiert nicht notwendig in einem positiven Alterungsprozess, gegen körperlichen Verfall kommen gut gemeinte Glaubenssätze kaum an, doch laut Dr. Levy sind Menschen, die davon ausgehen, dass es später nicht nur schlecht wird, besser gewappnet, denn sie ernähren sich gesünder, investieren Zeit in Fitness und sorgen sich um ihre medizinische Versorgung.

Auftrieb statt Absturz – eine Erwartung, die das prophezeite Stimmungstief der mittleren Jahre lichten kann. Das würde bestätigen, was die Zufriedenheitsforschung – ja, es gibt sie wirklich – als U-Kurve-Effekt beschreibt: In der Jugend legt man voller Elan los, um in der Halbzeit zu realisieren, dass nicht alle Lebensträume in Erfüllung gehen, woraus man genug Erkenntnis gewinnt, um danach mit der erwarteten Weisheit einen Aufschwung zu erleben. Das bessere Bild für dieses Alter als das von der Wippe ist demnach das von einer Schaukel.

In beiden Bildern ist diese Zeit eine der Wende. In den allermeisten Erzählungen dagegen eher eine des Zusammenbruchs. Mit jedem Artikel, in dem es um die «fragile Altersklasse» ging, die vor lauter Panik, zurückgelassen zu werden, in einen peinlichen Jugendwahn verfällt; in dem über «Frauen eines gewissen Alters» und ihre Verzweiflung geschrieben wurde; in dem es um die wunderlichen Vierziger ging, wuchs meine Langeweile. Nicht mit meinem Alter, sondern mit den Pauschalannahmen darüber. Zerbrechlich, hilflos, trübsinnig – so sah ich die Frauen um mich herum nicht. Das entsprach auch nicht dem, wie ich diese Zeit empfand, als kompliziert, aber furchtloser.

Zugegeben: Das, was ich heute unter einem ausschweifenden Abend verstehe, hätte ich früher entsetzlich langweilig gefunden. Man trifft sich um 19 Uhr, und um 23 Uhr liegt man im Bett. Auf einem dieser Abende saß ich vor einiger Zeit mit zwei Freundinnen draußen im Restaurant, als zwei Jungs an unseren Tisch traten, um Zigaretten zu schnorren. «Seid ihr dafür nicht zu jung?», sagte ich – und bereute es sofort, als sie mit hochroten Köpfen abzogen. Nach dem Essen fuhren eine der Freundinnen und ich angenehm beduselt und in wohl nicht ganz geraden Linien auf unseren mit Kindersitzen ausgestatteten Fahrrädern halb aus der Puste und kichernd einen Berg hoch, als zwei jüngere, leider gut aussehende Typen entspannt an uns vorbeiradelten: «Na, Ladys, heute Abend kinderfrei?»

Was lernt man daraus? Das Karma holt einen am Ende immer ein. Erstens. Zweitens: Andere mögen mich belächeln, aber ich habe kaum noch ein Problem damit, mich zum Esel zu machen. Wie oft habe ich in der Vergangenheit darüber nachgedacht, ob ich uncool rüberkam, mich peinlich benahm, zu dämlich fragte? Zu oft, um es heute noch zu wollen. Außerdem hat sich längst gezeigt, dass es in Gesellschaft anderer Esel sehr viel lustiger ist als in einer Runde von Showponys.

Es kommt mir seltener darauf an, wie ich dastehe. Mich interessiert vielmehr, wo ich stehe. Ankündigungen der Art, dass vierzig das neue dreißig ist, machen mich daher misstrauisch. Die Menschen werden heute älter, also verschiebt sich der Lebensmittelpunkt nach hinten. So betrachtet ist nachvollziehbar, warum vierzig nicht mehr so gesehen wird wie einst.[*] Man kann sich daher darüber streiten, wann das mittlere Alter beginnt. Ist vierzig zu früh? Wäre fünfzig angemessener? Und wer bestimmt das? Für mich ist entscheidend, dass sich meine Anliegen veränderten. Es sind andere als die einer Jugendlichen oder auch die einer Pensionistin. Selbst wenn man «vierzig ist das neue dreißig» nicht unter dem biologischen Aspekt sieht, sondern es als Gegenansage zu Stereotypen über das Altern versteht: Ich möchte nicht noch einmal dreißig sein. War ich schon. War auch nicht schlecht. Muss ich trotzdem nicht wiederholen, denn eine Überarbeitung ist nur nötig, um etwas umzuschreiben. Ich möchte lieber vierzig sein und darüber etwas herausfinden.

Zum Beispiel, wie es mir noch besser gelingt, nach einem Abend nicht komplette Unterhaltungen zur Analyse zurückzuspulen. Was mir schon mal leichter fällt, seit es zuletzt kaum Gelegenheiten für Veranstaltungen mit Small Talk gab – im Grunde nur ein anderes Wort dafür, so zu tun, als wären wir nicht alle gleich albern. Small Talk ist nichts, was ich aus dem Davor vermisse und im Danach viel brauchen möchte.

Die Gespräche an dem Insel-Wochenende drehten sich um die Alzheimererkrankung des Vaters einer Freundin, die ihre Mutter bereits verloren hatte, und ihre Überlegungen, ob sie ihn zu sich nach Hause holen oder wie sie damit umgehen solle, wenn er anders betreut wohne. Mit der zweiten Freundin beratschlagten wir, ob sie für einen Job in ein anderes Land ziehen solle, samt Familie, sie versuchte schließlich seit fünf Jahren, den Absprung aus ihrer Firma zu schaffen, war sich aber unsicher, ob sie es für diese neue Stelle wagen sollte. Die dritte überlegte, wie sie sich selbstständig machen könne und ob es dafür nicht zu spät sei. Ich berichtete von den Ängsten um meinen Sohn. Wir redeten über Mutterschaft und die Herausforderungen daran. Dann lachten wir über die Kinder, diskutierten unsere Beziehungen, gingen nackt baden, bestellten Desserts zum Teilen, Wein zum Mittagessen, und als wir am Ende auseinandergingen, stand ich mit Tränen in den Augen am Flughafen: vor Freude, dass ich mir die Zeit für diese Reise genommen hatte, für die eigentlich keine Zeit gewesen war, und aus Achtung vor den Frauen, deren Entstehung ich miterleben darf. Die genug Kraft finden, andere zu halten, und die in ihrer eigenen Verletzbarkeit zu Ehrlichkeit finden. Die Leichtigkeit dankbarer annehmen und Schwere tiefer fühlen. Die nicht in allem einer Meinung sind, einander aber weiter Fragen stellen. Wie geht es dir? Wovon träumst du? Wovor hast du Angst? Manches in diesem Alter wird von Ängsten begleitet: die Verantwortung, die Fallhöhe der Entscheidungen, die Abschiede. Fast alles daran ist einfacher zu tragen, wenn es geteilt wird. In Gesellschaft dieser Frauen macht mich die vierzig nicht betroffen, sondern hoffnungsvoll.

Zu meinem eigenen runden Geburtstag hatte ich eine Liste von Fragen an dieses Alter aufgeschrieben, aus der schließlich die Idee zu diesem Buch wurde. Eine Frage, die dort nicht auftauchte und die ich mir erst später stellte, als ich schon mittendrin war in den Vierzigern: Warum werden wir spätestens ab diesem Alter nicht mehr gefragt, was wir noch werden wollen?

«Ich bin in einem Teil meines Lebens angekommen, in dem sich die Wahrnehmung meiner Weiblichkeit stark verändert hat», hat die Schriftstellerin Rachel Cusk über das mittlere Alter gesagt. «Wir Frauen stecken über Jahre fest in einer relativ klar strukturierten biologischen Phase voller Erwartungen, aber wie es danach weitergeht, muss man selbst herausfinden. […] Es scheint fast so, als ob sich im Leben eine kleine Tür findet, durch die jede Frau ab einem gewissen Alter hindurchmuss. Dahinter herrscht Wildwuchs, es gibt keinen Kompass, keine Strukturen.»

Geschichten von Aufbruch sind Geschichten von Jugend. Doch die interessanteren Erzählungen, und da mag ich voreingenommen sein, höre ich von mittelalten Frauen, die schon einiges erlebt haben und darüber berichten können.[*]Ihre Bildungsromane interessieren mich. Ihre Stürme und ihr Drängen in eine neue Lebensphase. Ihre Wege, wenn sie die Tür öffnen, wie Rachel Cusk sagt, womit sie vielleicht das beste Bild für diese Zeit gefunden hat.

Von ihnen handelt dieses Buch.

Es ist nicht nur für Frauen. Es ist ebenfalls nicht ausschließlich für Menschen, die Wein trinken, wie man anhand des Buchumschlags annehmen könnte. Die Idee zu dem Design hatte mein Mann. Wofür ich ihm dankbar bin, denn er hätte ja auch auf die Idee kommen können, ein Buch, das seine Frau über das Älterwerden schreibt, mit einer Tasse Kamillentee zu illustrieren. Auch Tee wird jedoch eine Rolle spielen. Das nur zur Warnung. Es ist nicht mal ein Buch nur für Vierzigjährige. Aber es geht vor allem um Frauen in diesem Alter. Es ist mein Versuch, für eine Weile an den Ort zurückzukehren, an dem meine Freundinnen und ich eines Abends am Pool saßen und die Füße im Wasser baumeln ließen. Früher wären wir trotz «Badeverbot ab 20 Uhr» reingesprungen. Heute tauchen wir in die Tiefe unserer Leben ein. So ändern sich die Zeiten. Ein Glück.

Was erwartet mich?

Über Nostalgie, Reisen mit eigenem Kopfkissen und gute Beleuchtung

Du wirst Listen schreiben.

 

Wenn es nicht auf einer Liste steht, wirst du es augenblicklich vergessen.

 

Eines Tages, ohne dass du dich daran erinnern kannst, wie es dazu kommen konnte, wirst du anfangen, Gummibänder in einem leeren Gewürzgurkenglas zu sammeln. Das Glas wird in der gleichen Schublade stehen wie in der Küche deiner Mutter: stets griffbereit, denn wer weiß, wie oft du spontan ein Gummiband brauchen wirst?

 

Oft.

 

Wenn dir das Glas runterfällt, wirst du «Hoppala!» sagen und es nicht ironisch meinen.

 

Dir wird abhandenkommen, Ironie besonders interessant zu finden.

 

Nach all den Jahren, in denen du abgewartet hast, ob Nora Ephron mit der Feststellung aus ihrer berühmten Essaysammlung Der Hals lügt nie, dass sich Frauen mit fortschreitendem Alter wegen ihrer faltigen Hälse grämen, recht behalten sollte, wird sich zeigen: nicht alle Frauen (bis jetzt). Zutreffend ist jedoch, dass sich der Hals mit spätestens 43 Jahren verändert: von etwas, über das du dir nie Gedanken gemacht hast, zu etwas, bei dem du an Nora Ephron denken wirst und daran, wie viele Künstler*innen, die dir etwas bedeuten, nicht mehr da sind.

 

Richtig lag Ephron auch mit dieser Feststellung: «Schreib alles auf.»

 

Es wird dich schockieren, dass sie bereits seit zehn Jahren tot ist, wenn du diese Zeilen schreibst.

 

Du wirst überzeugt sein, dass die Achtzigerjahre maximal zwanzig Jahre her sind.

 

Obwohl du dir inzwischen merken wirst, dass Der Pate II der maßgeblich beste Film der Trilogie ist und nicht Der Pate III, wie du jahrelang dachtest, hast du bislang keinen der Filme gesehen.

 

Dafür zigmal Harry und Sally.

 

Du wirst weiterhin bei jedem Anschauen deine Meinung ändern, welche Szene in Harry und Sally die beste ist: das Museums-Date. Nein! Die Pictionary-Szene. Nein! Die Diskussion über den Couchtisch. Nein …

 

Du wirst, sollte jemand den Film unwahrscheinlicherweise noch nicht gesehen haben, dazu raten, das auf der Stelle nachzuholen. So wie du häufig Dinge von früher empfiehlst.

 

Du wirst laut lachen, wenn du liest, dass Liam Gallagher, Held deiner jüngeren Jahre, sich weigert, eine Hüft-OP vornehmen zu lassen, und stattdessen lieber die Schmerzen seiner Arthritis erträgt, weil das endgültig der letzte Beweis ist, falls du noch einen brauchtest, dass Coolness überbewertet ist.

 

Falls man noch cool sagt.

 

Vermutlich nicht.

 

Wenn auf deinem zwanzigjährigen Abi-Treffen jemand zu dir sagt: «Du hast dich verändert», wirst du denken: «Danke.»

 

Du wirst weiterhin einen Festnetzanschluss haben.

 

Du rufst lieber an, als eine Nachricht zu schreiben. Es wird selten jemand drangehen. Du wirst viel Zeit damit verbringen, auf Mailboxen zu sprechen.

 

Die Nummern deines Dermatologen, deiner Frauenärztin und deiner Therapeutin wirst du unter Favoriten speichern.

 

Themen, von denen du dachtest, dass du längst damit durch seist, kommen plötzlich wieder auf, und du wirst feststellen, dass es ein Kraftakt ist, sie anzupacken, aber dennoch weniger anstrengend, als so weiterzumachen wie bisher.

 

Du wirst dein eigenes Können nicht anzweifeln. Also, nicht mehr ständig.

 

Kann man seine Ambitionen verfolgen, ohne auszubrennen? Darüber wirst du viel nachdenken.

 

Menschen, die in Nachrichten alles kleinschreiben und Interpunktion ignorieren, werden in dir einen unangenehm pedantischen Erklärungsbedarf wecken.

 

Du wirst Urlaube sechs Monate im Voraus planen.

 

Und mit deinem eigenen Kopfkissen verreisen.

 

An Orte für ihre schöne Architektur.

 

Du wirst es bei der Buchung als unhöflich empfinden, wie weit du bei deinem Geburtsjahr inzwischen nach unten scrollen musst.

 

Bei der Verlängerung deines Reisepasses wirst du darauf bestehen, dass du 1,70 Meter groß bist und nicht 1,68 Meter.

 

Deine Unterschrift findest du zwar immer noch nicht erwachsen, aber du wirst einsehen, dass du sie nicht mehr ändern wirst.

 

Du wirst die Weisheiten deiner Großmutter und Mutter mehr zu schätzen wissen. Weisheiten wie: Das Glas Wein, das man beim Kochen trinkt, zählt als Zutat.

 

Du wirst alt genug sein, um mit dem Begriff Manchesterhose etwas anfangen zu können.

 

Und einen Widerwillen gegenüber jeglicher Kleidung entwickeln, die zwackt, quetscht oder beim Hinknien deinen halben Hintern entblößt. Wobei du deinen Po für ansehnlicher halten wirst denn je. Jedenfalls nicht mehr für einen Grund, dich zu schämen.

 

«Kompetent» wirst du für eine erstrebenswerte Beschreibung deines Kleidungsstils halten.

 

Gleichzeitig wirst du eine neue Lust am Experimentieren entdecken. Glitzerlidschatten, Fake Nails, kurze Röcke – ja, bitte. Die Leute mögen denken, dass du damit etwas beweisen willst. Du hast dagegen verstanden, dass «altersgerecht» in Wahrheit bedeutet, endlich das Selbstbewusstsein zu haben, genau das zu tragen, was du möchtest.

 

Du wirst nicht nur älter als der Nachwuchsstar in deiner Lieblingsfußballmannschaft sein, sondern älter als seine Mutter.

 

Wenn du mit deinem Partner im Frühling an einem Tulpenbeet vorbeigehst und er sagt: «Schau nur, wie groß die Blüten sind», wirst du nicht «Langweiler!» denken, sondern ein Foto von den wundervollen Tulpen machen – und es deiner Mutter schicken.

 

Du wirst schlicht nicht begreifen, was die 64,8 GB «sonstige Daten» sind, die auf deinem Rechner die Festplatte belegen. Angeblich belegen, denn wo sind sie? Wo?

 

In deinem Leben wird einiges verlässlicher werden. Zum Beispiel wirst du mit Verlass jeden Tag, wenn dein Computer «Update verfügbar» meldet, auf «morgen erinnern» klicken.

 

Es wird dich nerven, dass du als Merkmal deines Alters ein Unverständnis für Technologie aufzählst, denn das lässt dich älter klingen, als du dich fühlst.

 

Du wirst dein Alter jedoch als Ausrede verwenden, um dich nicht mit Dingen beschäftigen zu müssen, die dich schlicht nicht interessieren. Wie TikTok.

 

Die Jungen werden dich brauchen. Und die Alten. Du wirst nicht immer wissen, wo du die Stärke finden sollst, diese Verantwortung zu übernehmen, da du denkst, dass du doch kaum die Verantwortung für dich selbst übernehmen kannst. Du wirst es dennoch tun. Denn so alt bist du nun wirklich.

 

Du wirst nicht aus jedem Fehler lernen. Du wirst sie nur vielleicht nicht mehr so oft machen. Dafür andere.

 

Du wirst regelmäßig und mit Sorge deine Brüste abtasten, weil es um dich herum zu viele gibt, die krank werden.

 

Deine Brüste – nun ja. Sie werden anders aussehen.

 

Sex – nun ja. Er wird anders sein. Vor allem besser.

 

Einiges wird mehr werden: die Lagen, die du im Winter tragen musst, damit dir nicht kalt wird. Die Tage, die es dauert, bis du einen Kater verkraftet hast. Die Pillen, die du schluckst. Und einiges weniger: Geduld. Kollagen. Körperliche Grundspannung.

 

Du wirst Einsamkeit begreifen. Die Einsamkeit deiner Eltern, wenn sie von einem weiteren, ihnen nahestehenden Menschen berichten, der nun nicht mehr da ist. Deine Einsamkeit, wenn du daran denkst, dass sie eines Tages nicht mehr da sein werden.

 

Du wirst die Gemeinschaft deiner erweiterten Familie mehr schätzen. Kümmere dich gut um sie.

 

Man wird dich, die nun im Zentrum ist, um Rat fragen. Es wird dich erstaunen, da du dir noch oft genug planlos vorkommst. Aber unterschätze nicht, was du weitergeben kannst. Zum Beispiel, dass man die Beleuchtung im Badezimmer immer seitlich vom Spiegel anbringen sollte und nie – NIE! – darüber.

 

Du wirst dich mögen. Besonders bei seitlichem Lichteinfall.

 

Du wirst deine Brille heben, um Kleingedrucktes zu lesen.

 

Und zu eitel für eine Lesebrille sein.

 

Du wirst noch immer keinen perfekten Lidstrich ziehen können, ganz egal, wie viele Tutorials du dir dazu angeschaut hast, wie einfach der perfekte Lidstrich gelingt.

 

Du wirst eine Sicherheit darin finden, niemand anderer mehr sein zu wollen als du selbst.

 

Dir wird eines Tages auffallen, dass die «Weißt-du-nochs?» in Unterhaltungen die «Wollen-wir-nochs?» abgelöst haben.

 

Der Moment, in dem dir das bewusst wird, ist der Moment, in dem du beschließt, noch was vorzuhaben.

Sind wir schon da?

Über die Sehnsucht nach neuen Rollen und den Mut, seine Ängste zu überwinden. Nebenbei das einzige Kapitel, in dem die Midlife-Crisis auftaucht. Versprochen.

Den ersten Schritt machte ich an einem Samstagmorgen im Januar. Ich ging unsere Straße runter und folgte meinem Atem Richtung Park, wo mehrere Dutzend andere Menschen im Nieselregen warteten, die wie ich zu einem freien Zirkeltraining dort aufgelaufen waren. Die nächste Stunde rannte ich durch den Matsch, bis ich am Ende wieder zurück nach Hause schlich, mit klatschnassen Füßen und brennenden Oberschenkeln.

Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Wieso war ich nicht im Bett liegen geblieben?

Warum war ich dem Rat von Matt Damon gefolgt, ausgerechnet?

Es war so, dass ich wenige Wochen zuvor Der Marsianer gesehen hatte. Der Film handelt davon, dass der Astronaut Mark Watney (Damon) bei einer Mars-Mission von seiner Crew versehentlich auf dem Planeten zurückgelassen wird und dort ums Überleben kämpfen muss. Da dieses Werk von 2015 ist, erlaube ich mir den Spoiler: Er schafft es.

Nach seiner Rückkehr auf die Erde hält Watney einen Vortrag vor angehenden Astronaut*innen: «Das ist das Weltall, es kooperiert nicht. An irgendeinem Punkt geht einfach alles schief. Alles geht einfach schief. Und Sie werden sagen: Das war’s. Das ist mein Ende. Sie können das entweder akzeptieren oder an die Arbeit gehen. Das ist alles. Sie fangen einfach an. Ein Schritt nach dem anderen. Sie lösen ein Problem. Und dann das nächste. Und das nächste. Bis sie genug Probleme gelöst haben und nach Hause kommen.»

Ich hatte den Film nicht zum ersten Mal gesehen. Ich war zu der Zeit bloß enorm empfänglich für Botschaften aus dem Universum. Es lief gerade nicht so bei mir. Kurz vor Weihnachten hatte ich einen Autounfall gehabt – Totalschaden. Auf der Busreise, die wir dank fehlendem Wagen in den Urlaub unternahmen, war mein Koffer abhandengekommen. Bei der Rückkehr wartete eine Steuernachzahlung auf mich, mit der ich in der Höhe nicht gerechnet hatte und von der ich keine Ahnung hatte, wie ich sie begleichen würde. Zudem kam unser kleiner Sohn jede Nacht in unser Bett, sodass sich entweder mein Mann oder ich dann einen anderen Schlafplatz suchten. In der Nacht vor dem Samstag war ich es gewesen. Übermüdet, verschuldet, mit Schrottwagen, ohne Lieblingsklamotten und mit Rückenschmerzen von einer offenbar papierdünnen Matratze im Kinderhochbett. Keine ernsthaften Probleme. Aber genug, um mich runterzuziehen.

Ich fing gerade an, mir richtig leidzutun, als mein Mann ins Zimmer kam, um mich daran zu erinnern, dass ihm ein Bekannter von dem freien Training im Park erzählt hatte, und ich würde doch nun schon so lange davon reden, wieder mit Sport anfangen zu wollen. Ich dachte: Aber doch nicht im Januar. Vielleicht im März. Oder im Mai. Oder nie. Ich dachte: Ich habe nicht mal vernünftige Turnschuhe. Ich dachte an Matt Damon und sein Problem, auf dem Mars selbst Wasser herzustellen, um Kartoffeln in dem anpflanzen zu können, was die Vakuumtoilette auf der Raumstation hergab. Schöne Scheiße. Aber was, überlegte ich, war das schon im Vergleich zu dem, was die durchschnittliche Frau jeden Tag antizipieren, sortieren, berechnen, verhandeln, lösen, schlichten, besorgen, aushalten und bewältigen muss? Und dann konnte er es auch noch vollkommen ungestört erledigen, da er für niemanden erreichbar war.

Damon, du verfluchter Glückspilz.

Dann ging ich los.

Etwas über ein Jahr lang lief ich zweimal die Woche morgens um halb acht in den Park, sprintete Treppen hoch und hüpfte über Seile, wurde ausdauernder, gelenkiger und kräftiger. Ich fand in dieser Zeit eine Lösung für meine Schulden. Der Koffer tauchte irgendwann samt Inhalt wieder auf. Ein Schrotthändler nahm uns das Auto ab. Das Leben ging weiter.

Fragte man mich, wie ich es schaffen würde, mich in der Früh dazu aufzuraffen, antwortete ich, dass ich nach den ersten Wochen harter Überwindung schnell feststellte, dass ich Sport lieber morgens als abends mache, weil ich dann noch zu verschlafen für Ausreden bin, und lieber draußen als drinnen. In der Trainingsgruppe waren nur nette Menschen. Außerdem lagen mir die Übungen. Plus: Diese zwei Stunden in der Woche gehörten ganz allein mir – unverhandelbar. Stimmte alles.

Was mich aber am meisten antrieb, war, dass es bald leichter war hinzugehen, als nicht hinzugehen.

Läufer sprechen vom rauschhaften Zustand des Runner’s High, dem Hochgefühl, das sich während des Laufs einstellt. In mir breitete sich nach dem Training eher ein gemächliches Summen von körperlicher Erschöpfung und mentaler Ruhe aus, das ich schnell vermisste, sobald das Training ausfiel. Gleichzeitig gewann ich an Energie. Mit wachsender Kraft gelang es mir auch abseits des Trainings, Dinge ohne langes Zaudern anzupacken. Mein Stand wurde stabiler. Mich konnte nichts mehr so leicht umhauen. Und es gelang mir an diesen Morgen, was ich mir sonst so selten in meinem Erwachsenenleben zutraute: Ich hielt mich für eine absolute Legende. Aus einem Liegestütz wurden fünf, wurden zehn, wurden zwanzig. Was ich beinahe in die Fußnote geschrieben hätte, und am liebsten gar nicht, weil es prahlerisch klingt. Woher kommt das bloß, Stolz im Kleingedruckten verbergen zu wollen? Aus der Annahme vielleicht, dass sich das nicht ziemt. Aber, bei allem Anstand: Ich hatte genug Schmackes in den Armen, um einen Elefanten auf die Matte zu kloppen. Alles, was über die Vorteile von Sport berichtet wurde, stimmte also.

Als sich das Virus ausbreitete, endete das Training, wie so vieles, für eine lange Zeit. Ich lief trotzdem weiter. Zunächst aus schierer Gewohnheit. Später, um bei Sinnen zu bleiben. Meist drehte ich abends meine Runde, weil ich frühmorgens nun am Schreibtisch saß, um die wenigen Stunden ungestörter Arbeitszeit zu nutzen, bevor die anderen aufwachten. Nicht immer, denn eine Frau zu sein, bedeutet auch, dass sie wachsam sein muss, sobald sie in der Dunkelheit das Haus verlässt, Haustürschlüssel in der Jackentasche fest umklammert und ohne Musik auf den Ohren, um zu hören, falls hinter ihr jemand auftaucht. Wenn ich loslief, dann auf den gut beleuchteten Straßen meiner Nachbarschaft. Sobald unser Sohn schlief, zog ich meine Turnschuhe an, goss Tee in den Thermosbecher und sagte meinem Mann: Bis gleich. Es gab mir ein Ziel in orientierungslosen Tagen. Eine halbe Stunde Freiheit von Verantwortung.

Ich beobachtete, dass es vielen ähnlich ging.

Meine Freundin K. war Ende 2019 nach Amerika gezogen. Kalifornien. Mit Mann und zwei Kindern. Ein Lebenstraum. Er hatte dort einen Job angenommen, sie ihren gekündigt, sie hatten die Berliner Wohnung untervermietet und ihr Leben in einen Container gepackt. Als sie auf der anderen Seite der Welt gerade ausgepackt hatten, kamen die ersten Nachrichten von Corona. Wenige Monate später griffen sie ein paar Koffer und flogen zurück nach Deutschland, da sie in Amerika kein Netzwerk hatten, das hätte helfen können, wenn einer von ihnen krank geworden wäre. Es war ungewiss, ob sie jemals zurückkehren würden. Sie zogen zu ihrem Vater aufs Land. Erst mal. Aus erst mal wurde ein Jahr, in dem ihr Mann seinen Job, den er zunächst aus Deutschland hatte weitermachen können, verlor. Sie begann, durch den Wald hinter dem Haus ihres Vaters zu laufen. Irgendwann fragte sie ihr Mann: «Warum gehst du jeden Tag in den Wald?» Ihre Antwort: «Damit ich nicht wegrenne.»

Meine Freundin O. fing an, sich über die Fitnessringe auf ihrer Smartwatch Bewegungsziele zu setzen und durch ihre Nachbarschaft zu stapfen. An manchen Tagen, sagte sie, hätte sie die anvisierte Schrittzahl schon in der Wohnung erreicht, im endlosen Kreislauf zwischen Schreibtisch, Homeschooling, Wäsche, Schreibtisch, Essen, Homeschooling, Bett. Und von vorn. Das «Ping» der Uhr eine Erinnerung, nicht durchzudrehen.

Mit zwei Freundinnen lief ich monatelang und durch diverse Lockdowns sonntags oft zum Bäcker. Eine Stunde hin. Eine Stunde zurück. Das Brot, für das Leute in Berlin anstanden wie zu anderen Zeiten fürs Berghain, war nicht schlecht, aber es war der Weg dorthin, der uns zusammenbrachte. Es war die einzige Begegnung, die möglich war.

Corona machte Menschen zu Spaziergängern.[*] Unterwegs konnte man im Park «Walking Dates» beobachten. Oder auch Menschen, die den Rat befolgten, dass es sich empfiehlt, eine Beziehung im Gehen zu beenden: Laufend lassen sich Zurückweisungen leichter ertragen. Gelegentlich sah man welche im forschen Stechschritt, die offenbar vom Gehen als «Mikroabenteuer» gelesen hatten – erste Anzeichen, dass sich der Trend zum Spaziergang selbst überholt hatte.

Man lief, um dem Chaos zu Hause zu entkommen und das Durchhalten zu durchbrechen; in dem Bewusstsein, damit etwas Gutes für die Gesundheit zu tun, wie zig Podcasts bestätigten, die man laufend neu abonnierte; um in Gesellschaft zu sein oder um Abstand von Partnern und Partnerinnen zu gewinnen, die das Tagesgeschehen daheim mit der Pausenlosigkeit eines Nachrichtentickers kommentierten («Newsflash! Das Messer, mit dem du vor zwei Stunden deinen Toast gebuttert hast, liegt noch immer am Rand der Spüle!»). Zum einen. Zum anderen, um wieder ein Gefühl für den Menschen zu bekommen, der man vorher war. Die Person im Außen. «Die aktive, animierte, lebendige Person, die wir einst in den Augen von anderen reflektiert sahen, der Mensch außerhalb des (nicht gerade unterhaltsamen) Zerrspiegels, in den wir gerade starren», wie es die Autorin Allison Glock beschrieben hat.

Eine Leserin des Blogs A Cup of Jo