Und morgen du - Stefan Ahnhem - E-Book
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Und morgen du E-Book

Stefan Ahnhem

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Beschreibung

Ein Klassenfoto, drei Tote. Wer wird der nächste sein? Helsingborg, Südschweden. Kommissar Fabian Risk ist gerade in sein idyllisches Heimatstädtchen zurückgekehrt. Er möchte endlich mehr Zeit mit seiner Familie verbringen. Doch dann wird in seiner alten Schule eine brutal zugerichtete Leiche gefunden. Daneben liegt ein Klassenfoto. Darauf abgebildet ist Risks alte Klasse, das Gesicht des Mordopfers mit einem Kreuz markiert. Und das ist erst der Beginn einer Mordserie, bei der der Mörder Risk und seiner Familie immer näher kommt. »Ein Krimi, der einen nicht mehr loslässt. Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite.« Hjorth & Rosenfeldt »Eine Geschichte des Bösen, die einen in die Schatten der Vergangenheit führt. Überraschend und spannend. Ich habe es in einem Zug durchgelesen.« Åke Edwardson Der zweite Teil der Fabian-Risk-Serie, Herzsammler, erzählt die Vorgeschichte zu Und morgen du, für alle, die erfahren wollen, wieso Fabian Risk mit seiner Familie nach Helsingborg gezogen ist.

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Über das Buch

Kommissar Fabian Risk kehrt nach Jahren in Stockholm zurück in seine beschauliche südschwedische Heimatstadt Helsingborg. Doch noch bevor er und seine Frau die Umzugskisten öffnen können, bitten ihn seine neuen Kollegen in einem Mordfall um Hilfe. Ein Mann wurde geradezu hingerichtet, seine Hände abgehackt. Risk kennt das Opfer. Und das ist erst der Beginn einer brutalen Mordserie. Bald taucht der nächste Tote auf. Auch diesmal grausam verstümmelt. Alle Opfer gingen in Risks Klasse. Ein alter Schulfreund nach dem anderen stirbt.

Fabian Risk wird von einem starken Team unterstützt. Aber er kann es nicht lassen, auf eigene Faust zu recherchieren, obwohl er damit nicht nur sich selbst in Gefahr bringt. Der Mörder ist ihm immer einen Schritt voraus, die Spur führt schließlich sogar quer über den Öresund. Unterstützt von der dänischen Polizistin Dunja Hougaard, kommen die Schweden der Identität des Mörders immer näher– doch dann ist plötzlich Fabian Risk verschwunden …

Über den Autor

Stefan Ahnhem, geboren 1966, ist ein bekannter schwedischer Drehbuchautor, unter anderem für die Filme der Wallander-Reihe.

Er lebt mit seiner Familie in Stockholm. Und morgen du ist sein Romandebüt und der erste Teil einer Krimiserie um den Kommissar Fabian Risk

Stefan Ahnhem

Und morgen du

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

List

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Die schwedische Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel Offer utan ansikte

bei Forum, Stockholm

List ist ein Verlag

der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-0928-6

© 2014 by Stefan Ahnhem

© der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/Jodi Orr

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

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Teil 1

30. Juni – 7. Juli 2010

Im Herbst 2003 führte der Psychologe Kipling D. Williams ein Experiment zu sozialer Ächtung durch. Drei Versuchspersonen sollten miteinander Cyberball spielen, ein virtuelles Ballspiel. Nach einer gewissen Zeit warfen sich zwei der Spieler den Ball nur noch gegenseitig zu. Nicht ahnend, dass die beiden anderen Spieler computergeneriert waren, fühlte sich der dritte extrem ausgegrenzt. Im MRT ließ sich eine erhöhte Aktivität derselben Hirnregion wie bei rein körperlichem Schmerz nachweisen.

PROLOG

In drei Tagen.

Er wurde von einer Krähe geweckt, die auf seinem nackten Bauch landete und ihre scharfen Krallen in seine Haut hieb. Anfangs hatte sie jedes Mal, wenn er aufwachte, erschrocken das Weite gesucht. Jetzt nicht mehr. Sie trampelte immer ungeduldiger und gieriger auf ihm herum. Bald würde sie sich nicht mehr abschrecken lassen und ihn Stück für Stück zerhacken.

Er schrie laut auf, und sie ließ von ihm ab und flatterte krächzend davon.

Er wusste nicht mehr, seit wie vielen Tagen er hier lag. Anfangs dachte er noch, er befände sich in einem Alptraum und alles würde wieder gut, wenn er nur aufwachte. Aber als er die Augen aufschlug, sah er nichts als Dunkelheit.

Seine Augen waren verbunden. Nur an der milden Brise er­­kannte er, dass er sich unter freiem Himmel befand. Er lag nackt auf etwas Kaltem und Hartem. Mit ausgestreckten Glied­maßen wie auf einer Zeichnung von Leonardo da Vinci. Mehr wusste er nicht. Der Rest waren unzählige Fragen. Wer hatte ihn hierhergebracht? Und warum?

Die Hoffnung, Antworten auf seine Fragen zu bekommen, hatte er aufgegeben.

Er versuchte erneut, sich loszureißen, doch je kräftiger er zog, desto tiefer bohrten sich die Dornen an den Riemen in seine Hand- und Fußgelenke. Der schneidende Schmerz erinnerte ihn an die Qualen, die er mit neun Jahren durch­gemacht hatte, als der Zahnarzt ihm nicht glauben wollte, dass die Betäubungsspritze nicht wirkte.

Doch das war nichts im Vergleich mit dem unerträg­lichen Schmerz, der regelmäßig wiederkehrte. Ein Brennen, das wie ein Schweißgerät in ihn eindrang und sich langsam über seinen nackten Körper bewegte. Stundenlang. Gelegentlich hörte der Schmerz kurz auf, setzte aber genauso plötzlich wieder ein. Manchmal blieb er ganz aus. Er versuchte herauszufinden, was ihn verursachte, ob ihn jemand folterte, aber es gelang ihm nicht. Am Ende konzentrierte er sich nur noch darauf, die Qualen zu ertragen.

Als wieder eine Stunde vergangen sein musste, rief er so laut wie möglich um Hilfe. Er war verblüfft, wie kläglich sein Schrei klang, und bemühte sich um mehr Kraft und Tiefe in der Stimme. Nichts. Nur das Echo seiner eigenen Verzweiflung. Er gab es auf. Ihn hörte sowieso niemand. Außer den Vögeln.

Wie schon so oft ging er im Geiste durch, was passiert war. Hatte er vielleicht ein Detail übersehen?

Er hatte morgens um kurz nach sechs das Haus verlassen, eine gute Dreiviertelstunde vor Dienstbeginn. Wie immer bei gutem Wetter ließ er das Auto stehen. Der Spaziergang durch den Bibliothekspark dauerte höchstens zwölf Minuten, er hatte reichlich Zeit.

Kaum trat er zur Haustür hinaus, verspürte er eine gewisse Unruhe. So stark, dass er stehen blieb und seinen Blick durch die Umgebung streifen ließ. Doch alles schien zu sein wie immer.

Der Nachbar versuchte geduldig, seinen rostigen Fiat in Gang zu bekommen, und eine Frau mit schönen blonden Haaren fuhr auf einem Hollandrad vorbei. Ihr Rock flatterte im Fahrtwind, und den Fahrradkorb hatte sie mit Plastikmargeriten geschmückt, als wollte sie ein bisschen Freude in der Welt verbreiten.

Er selbst war dafür nicht empfänglich. Die Nervosität ließ ihn nicht los, er ging schneller und schneller und überquerte die Straße bei Rot. Das machte er sonst nie. Doch heute Morgen war alles anders, sein gesamter Körper stand unter Anspannung. Im Park war er hundertprozentig überzeugt. Er wurde verfolgt. Die Schritte im Kies klangen nach Turnschuhen. Seine eigenen Absätze machten viel lautere Geräusche.

Als ihm bewusst wurde, dass er schneller geworden war, drosselte er sein Tempo wieder. Die Schritte hinter ihm kamen näher, er unterdrückte den Impuls, einen Blick über seine Schulter zu werfen.

Sein Puls stieg, kalter Schweiß brach ihm aus. Er glaubte, ohnmächtig zu werden, und drehte sich schließlich doch um.

Der Mann, der auf ihn zukam, trug tatsächlich Turnschuhe. Schwarze von Reebok. Seine dunkle Kleidung hatte viele Taschen. Sein Rucksack war vollgepackt, und in der Hand hielt er einen Lappen. Erst als der Mann aufblickte und ihm in die Augen sah, sah er sein Gesicht.

Dann ging alles ganz schnell. Der Faustschlag traf ihn mitten auf den Solarplexus, und der Schmerz schoss in alle Nervenfasern seines Körpers. Nach Luft ringend, ging er zu Boden und spürte, wie ihm der Lappen aufs Gesicht gedrückt wurde.

Er erwachte erst wieder von den Klauen, die sich in seinen Bauch bohrten.

Hoch über ihm verdeckte eine einsame Schäfchenwolke die Sonne und bot ihm so viel Schutz wie eine Burg aus Sand. Als sie weiterzog und sich schließlich ganz auflöste, war der Himmel von einem so perfekten Blau, wie es nur der schwedische Hochsommer hervorbringt. Die Sonne schien jetzt mit voller Kraft auf die genau platzierte Linse, die ihrerseits alle Strahlen auf einen einzigen Brennpunkt neben dem Mann mit den ausgestreckten Gliedmaßen richtete. Den Rest erledigte die Erdrotation.

Als Letztes hörte er das bösartige Knistern seines brennenden Haars.

Kapitel 1

Fabian Risk war die Strecke schon unendlich oft gefahren. Heute kam sie ihm zum ersten Mal leicht und erhebend vor. Sie hatten sich, wie geplant, früh am Morgen auf den Weg gemacht und konnten sich in Gränna eine ausgedehnte Mittagspause erlauben.

Bereits dort traten die Sorgen, die er sich wegen des Umzugs machte, in den Hintergrund. Sonja war so gut gelaunt, geradezu aufgekratzt, dass sie anbot, das letzte Stück durch Småland zu fahren, damit er zu seinem Strömling ein großes Bier trinken konnte. Die Stimmung war fast ein bisschen zu ausgelassen, beinahe fürchtete er, es wäre alles nur gespielt. Wenn er ganz ehrlich war, bezweifelte er, dass sie einfach vor den Problemen davonlaufen und von vorne anfangen konnten.

Die Kinder hatten reagiert wie erwartet. Matilda betrachtete es als ein spannendes Abenteuer, obwohl sie an einer neuen Schule in eine vollkommen neue vierte Klasse kommen würde. Theodor drohte damit, in Stockholm zu bleiben. Nach dem Mittagessen in Gränna beschloss jedoch sogar er, der Sache eine Chance zu geben, und nahm zum allgemeinen Erstaunen mehrfach die Kopfhörerstöpsel aus den Ohren und unterhielt sich mit ihnen.

Aber das Beste war, dass die Schreie verstummt waren. Die Rufe und Schreie, die ums Überleben flehten und ihn im letzten halben Jahr nicht nur in seinen Träumen, sondern auch tagsüber verfolgt hatten. Endlich hatten sie aufgegeben.

Als es ihm auf der Höhe von Södertälje zum ersten Mal auffiel, hielt er es für Einbildung. Erst als sie an Norrkö­ping vorbeifuhren, war er sich ganz sicher, und mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, wurden die Stimmen kraft­loser. 556 Kilometer später, am Zielort angelangt, waren sie vollständig verstummt.

Als ließen sich die Zeit in Stockholm und die Ereignisse im Herbst in ein Vorher und ein Nachher aufteilen. Endlich, endlich waren sie im Nachher angekommen, dachte Fabian und steckte den Schlüssel ins Schloss ihres neuen Zuhauses – eines der englischen Reihenhäuser aus rotem Backstein in der Pålsjögata. Bis jetzt hatte er als Einziger in der Familie das Haus von innen gesehen, aber er hatte keinerlei Befürchtungen, dass es den anderen nicht gefallen würde. Als er das Verkaufsinserat gesehen hatte, wusste er sofort, dass sie genau hier ein neues Leben anfangen würden.

In der Pålsjögata 17 in Tågaborg. In die Stadt war es nur ein Katzensprung, und der Pålsjöwald lag gleich um die Ecke. Dort würde er morgens joggen, und auf den Sandplätzen würde er wieder Tennis spielen. Wenn man ans Meer wollte, brauchte man nur den Halalidbacke hinunterzurollen, schon war man am Fria Bad, wo er in seiner Jugend immer gebadet hatte. Damals hatte er sich gern vorgestellt, sie würden in diesem Viertel und nicht in den gelben Miets­kasernen oben in Dalhem wohnen. Dreißig Jahre später war der Traum in Erfüllung gegangen.

»Worauf wartest du, Papa? Willst du nicht rangehen?«, fragte Theodor.

Fabian erwachte aus seiner Glückseligkeit und bemerkte, dass seine Familie auf dem Bürgersteig stand und darauf wartete, dass er sein klingelndes Handy aus der Tasche zog. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass es Astrid Tuves­son war, seine neue oder besser gesagt zukünftige Chefin beim Kriminaldezernat Helsingborg.

Formal war er noch für sechs Wochen bei der Polizei Stock­holm angestellt. Offiziell hatte er aus eigenem Entschluss gekündigt, aber die meisten seiner alten Kollegen wussten mit Sicherheit, wie sich die Dinge in Wirk­lichkeit verhielten. Er konnte dort nie wieder einen Fuß hinsetzen.

Sechs Wochen unfreiwilliger Urlaub, die ihm im Nach­hinein immer freiwilliger erschienen. Seit Ende der Schulzeit hatte er nicht mehr so lange am Stück freigehabt. Ob es lange genug war, würde sich zeigen. Der Plan war, sich zunächst in aller Ruhe einzurichten. Anschließend wollten sie ihre neue Heimatstadt erkunden und je nach Wetter, Lust und Laune vielleicht in den Süden fahren. Auf keinen Fall wollten sie sich Stress machen. Und Astrid Tuvesson wusste das mit Sicherheit ganz genau.

Trotzdem rief sie an.

Irgendetwas war passiert, und er war kurz davor, den Anruf entgegenzunehmen. Aber er und Sonja hatten sich ein Versprechen gegeben. In diesem Sommer wollten sie wieder eine Familie sein und sich die Verantwortung teilen. Vielleicht würde Sonjas Energie sogar reichen, um die letzten Bilder für die Ausstellung im Herbst fertigzustellen? Außer­dem gab es bestimmt noch andere Kollegen, die nicht im Urlaub waren.

»Nein, das kann warten.« Er steckte das Handy wieder ein, schloss die Tür auf und ließ Theodor und Matilda vorbei, die beide zuerst durch die Tür wollten. »An eurer Stelle würde ich mit dem Garten anfangen!« Er drehte sich zu Sonja um, die mit einem iPod-Lautsprecher zu ihm auf den Treppenabsatz kam.

»Wer war das?«

»Nichts Wichtiges. Komm, ich zeig dir das Haus.«

»Das war doch wohl nicht …?«

»Nein, war es nicht«, antwortete Fabian. Er sah ihr an, dass sie ihm nicht glaubte, und hielt ihr sein Handy hin. »Es war meine zukünftige Chefin. Sie wollte uns sicher nur willkommen heißen. Jetzt komm.« Er nahm Sonja den Laut­sprecher ab, hielt ihr die Augen zu und führte sie ins Haus. »Ta-taa!« Er nahm die Hand weg, und sie sah sich in dem unmöblierten Wohnzimmer mit dem Kamin und der offenen Küche um, die auf einen kleinen Garten hinausging. Theodor und Matilda hüpften bereits auf einem großen Trampolin ­herum.

»Ui … das ist ja wirklich … großartig!«

»Das Haus ist also in Ordnung? Es gefällt dir?«

Sonja nickte. »Hat die Umzugsfirma gesagt, wann die Sachen kommen?«

»Irgendwann am Nachmittag oder Abend. Wenn wir Glück haben, kommen sie erst morgen.«

»Wieso das, wenn ich fragen darf?« Sonja legte ihm die Arme um den Hals.

»Wir haben doch alles, was wir brauchen. Einen sauberen Fußboden, Kerzen, Wein und Musik.« Fabian stellte den Lautsprecher auf die Kücheninsel und ließ For Emma, for­ever ago von Bon Iver laufen – seit ein paar Wochen sein Lieblings­album. Auf den Bon-Iver-Zug war er ziemlich spät aufge­sprun­gen. Beim ersten Hören fand er die Platte langweilig, aber als er ihr eine zweite Chance gab, wurde ihm klar, was für ein Meisterwerk sie war.

Er packte Sonja und fing an zu tanzen. Sie lachte und gab ihr Bestes, um mit ihm Schritt zu halten. Er sah in ihre grünbraunen Augen, und sie zog die Haarspange aus ihren langen braunen Haaren. Das verordnete Training zeigte Wirkung. Sowohl psychisch als auch physisch. Sie hatte bestimmt fünf, sechs Kilo abgenommen. Dick war sie nie gewesen, im Gegenteil, aber nun wirkten ihre Gesichtszüge markanter, und das stand ihr gut. Er wirbelte sie herum und ließ sie in seinen Arm fallen. Ihr Lachen machte ihm bewusst, wie sehr er es vermisst hatte.

Sie hatten verschiedene Lösungen diskutiert. Vom Umzug aus der Wohnung an der Södra Station in ein Haus in einem der Vororte Stockholms bis zum Kauf einer kleinen Zweitwohnung und einer Trennung auf Probe, während der sie sich abwechselnd um die Kinder kümmern wollten. Doch keine der Alternativen fühlte sich gut an. Ob das daran lag, dass sie zu viel Angst vor einer Scheidung hatten, oder ob sie sich im Grunde noch liebten, blieb abzuwarten.

Erst als er das Haus in der Pålsjögata fand, ergab sich alles andere. Die Stelle als Kriminalinspektor bei der Polizei ­Helsingborg, die freien Plätze an der Tågabergschule und der große Dachboden, der sich mit seinen Dachfenstern wunderbar als Atelier für Sonja eignete. Es war, als hätte sich jemand ihrer erbarmt und ihnen eine letzte Chance gegeben.

»Und die Kinder? Wo sollen die deiner Ansicht nach schlafen?«, flüsterte Sonja in sein Ohr.

»Die können wir ja in den Keller sperren.«

Sonja wollte etwas erwidern, aber er brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen und tanzte weiter, als es plötzlich klingelte.

»Sind sie schon da?« Sonja sah ihn an. »Vielleicht dürfen wir ja doch in unseren Betten schlafen.«

»Dabei habe ich mich so auf den Fußboden gefreut.«

»Der läuft uns ja nicht davon. Außerdem sagte ich schlafen. Sonst nichts.« Sie küsste ihn wieder, strich ihm über den Bauch und schob ihre Hand unter seinen Hosenbund.

Es wird alles wieder gut, und wir werden für den Rest unseres Lebens glücklich sein, dachte Fabian, bevor sie die Hand aus seiner Hose zog und zur Tür ging.

»Hallo. Astrid Tuvesson. Ich bin eine neue Kollegin von Ihrem Mann.« Die Frau gab Sonja die Hand. Gleichzeitig schob sie sich ihre Sonnenbrille in die blonden Locken, die sie in Kombination mit dem farbenfrohen Kleid, den schlanken braunen Beinen und den Sandalen jünger als zweiundfünfzig wirken ließen.

»Aha. Hallo.« Sonja drehte sich zu Fabian um, der Astrid Tuvesson die Hand schüttelte.

»Du meinst zukünftige Kollegin. Ich fange ja erst am sechzehnten August an.« Fabian fiel auf, dass ihr das linke Ohrläppchen fehlte.

»Zukünftige Chefin, wenn wir schon so penibel sein wollen.« Lachend strich sie sich die Haare über das Ohr. Er fragte sich, ob es sich um eine Verletzung oder um einen angeborenen Defekt handelte. »Es tut mir leid … ich platze ungern hier rein und störe mitten in den Ferien, und Sie sind bestimmt kaputt von der Fahrt, aber …«

»Kein Problem«, fiel Sonja ihr ins Wort. »Kommen Sie rein. Allerdings haben wir leider nichts anzubieten, weil wir auf den Umzugswagen warten.«

»Macht nichts. Ich brauche nur ein paar Minuten mit Ihrem Mann.«

Sonja nickte stumm. Fabian ging mit Tuvesson auf die Terrasse hinter dem Haus und schloss die Tür hinter ihnen.

»Ich habe mich auch irgendwann breitschlagen lassen, ein Trampolin zu kaufen. Die Kinder haben mir jahrelang in den Ohren gelegen, und am Ende waren sie zu alt dafür.«

»Entschuldige, worum geht es?« Fabian hatte keine Lust, im Urlaub Konversation mit seiner zukünftigen Chefin zu betreiben.

»Es ist ein Mord passiert.«

»Ach. So etwas kommt vor. Leider. Solltest du das nicht besser mit den Kollegen besprechen, die nicht im Urlaub sind?«

»Jörgen Pålsson. Klingelt da was?«

»Ist er das Opfer?«

Tuvesson nickte.

Fabian kam der Name bekannt vor, aber er hatte nicht die geringste Lust, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Das Letzte, was er im Moment wollte, war arbeiten. Er fühlte sich wie ein vollbeladener Öltanker, der soeben von Piraten gekapert und gezwungen worden war, von seinem Kurs auf die Trauminsel abzuweichen.

»Vielleicht hilft dir das auf die Sprünge?« Tuvesson hielt ihm ein Foto in einer Klarsichthülle hin. »Das lag auf der Leiche.«

Fabian nahm ihr die Hülle aus der Hand, warf einen Blick auf das Bild und wusste sofort, dass er die Trauminsel vergessen konnte. Er wusste zwar nicht, wann er das Foto zuletzt angeguckt hatte, aber er kannte es. Es war ein Klassenfoto aus der Neunten. Das letzte Bild, auf dem sie alle versammelt waren. Er selbst stand in der zweiten Reihe, schräg hinter ihm Jörgen Pålsson.

Durchgestrichen mit einem Kreuz aus schwarzer Tusche.

Kapitel 2

Eine einzige Stunde. Dann hatte es geklingelt. Ihm war ­natürlich klar, warum Tuvesson ihn brauchte. Vielleicht fiel ihm etwas ein, das die Ermittlungen voranbrachte und am Ende sogar Menschenleben rettete? Fabian hatte jedoch so gut wie keine Erinnerungen an die Mittelstufe und verspürte, wenn er ehrlich war, nicht die geringste Lust, sich diese Zeit ins Gedächtnis zu rufen.

»Es ist der weiße Corolla da drüben«, sagte Tuvesson. ­Fabian folgte ihr auf die andere Straßenseite. Sie hatte angeboten, ihn hin- und wieder zurückzubringen, damit Sonja in aller Ruhe das Auto ausräumen konnte. »Und übrigens, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dir mitten im Urlaub die Zeit nimmst.«

»Mein Urlaub hat gerade erst angefangen.«

»Es dauert höchstens eine Stunde, versprochen.« ­Tuves­son steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn um. »Der Wagen hat zwar eine Zentralverriegelung, aber die Tür klemmt ein bisschen.«

Fabian öffnete fast gewaltsam die Beifahrertür und stand vor einem Haufen alter Kaffeebecher, offener Marlboro-­Packungen, Schlüssel, Essensreste, benutzten Küchenpapiers und einer Schachtel Tampons.

»Sorry. Einen Moment, ich …« Sie fegte alles außer den Schlüsseln und den Zigaretten auf den Boden. Fabian setzte sich, Tuvesson ließ den Motor an und fuhr aus der Park­lücke. »Ist es okay, wenn ich eine rauche?« Ohne Fabians Antwort abzuwarten, zündete sie sich eine Zigarette an und kurbelte das Fenster hinunter. »Eigentlich will ich aufhören. Ich weiß, das sagen alle. Anstatt dauernd darüber zu reden, sollte man es einfach tun. Und das werde ich auch. Nur nicht jetzt.« Sie nahm einen tiefen Zug und bog links ab in die Tågagata.

»Kein Problem.« Fabian betrachtete das Klassenfoto und Jörgens durchgestrichenes Gesicht. Warum war ihm nicht gleich eingefallen, wer Jörgen Pålsson war? Gerade Jörgen hätte ihm in Erinnerung bleiben sollen. Er hatte ihn nie gemocht. Vielleicht war das der Grund? Er hatte ihn einfach verdrängt. »Wo wurde er gefunden?«

»Fredriksdalschule. Soweit ich weiß, arbeitete er dort als Werklehrer.«

»Außerdem ist er dort bis zur neunten Klasse zur Schule gegangen.«

»Nicht alle schaffen es bis nach Stockholm … Was weißt du über ihn?«

»Eigentlich nichts. Wir waren nicht befreundet.« Fabian hatte plötzlich die Lambswool-Pullover von Lyle & Scott und Lacoste und den Fernseher vor Augen, der ins Klassenzimmer gerollt wurde, sobald Stenmark sich die Skier anschnallte. »Ehrlich gesagt, mochte ich ihn nicht.«

»Nein? Wieso nicht?«

»Er war ein Chaot. Sehr anstrengend. Hat gemacht, was ihm gerade in den Sinn kam.«

»So einen gab es bei uns auch. Er hat immer den Un­ter­richt gestört und anderen die Essenstabletts wegge­nom­men. Keiner hat sich getraut, etwas dagegen zu unter­neh­men. Nicht einmal die Lehrer.« Tuvesson sog das letzte bisschen Nikotin aus ihrer Zigarette und warf die Kippe aus dem Fenster. »Diese ganzen Buchstabenkombinationen gab es damals noch nicht.«

»Außerdem hat er nur Kiss und Sweet gehört.«

»Was ist so schlimm daran?«

»Nichts. Im Gegenteil. Aber das habe ich erst vor ein paar Jahren begriffen.«

Fabian stieg aus und betrachtete die zweistöckige Fredriksdal­schule, die sich mit ihren roten Backsteinmauern auf dem verlassenen Schulhof breitmachte. Zwei Basketballkörbe mit kaputten Netzen ließen erkennen, dass sich hier normalerweise Kinder aufhielten. Er ließ den Blick über die schmalen knastartigen Fenster schweifen und fragte sich, wie er es hier drei Jahre ausgehalten hatte, ohne einen Schaden davonzutragen. Allein das war eine Leistung. »Wer hat ihn ­gefunden?«

»Zuerst rief seine Frau an und meldete ihn vermisst, aber da konnten wir nicht viel machen.«

»Wann war das?«

»Mittwoch vor einer Woche. Er ist am Tag zuvor nach Deutschland gefahren, um Bier für Mittsommer zu kaufen, und wollte am Abend zurück sein.«

»Bier in Deutschland kaufen? Lohnt sich das noch?«

»Wenn man genug kauft. Eine Palette kostet vierzig Kronen, und wenn man nicht länger als drei Stunden bleibt, ­bekommt man sogar noch einen Wertgutschein.«

Bis nach Deutschland heizen, nur um das Auto bis obenhin mit Bier vollzupacken. Je länger Fabian darüber nachdachte, desto besser passte das zu dem Jörgen, der in seiner Erinnerung allmählich zum Leben erwachte. Jörgen und vielleicht Glenn. »Aber er ist nie in Deutschland angekommen, oder was?«

»Doch, er war drüben. Wir haben uns bei der Brücke er­kun­­digt, er ist wie geplant am Dienstagabend zurück­ge­kehrt. Aber danach verliert sich seine Spur. Wir sind erst gestern einen Schritt weitergekommen. Eine Glasfirma wollte, dass wir ein Auto abschleppen, weil es ihrer Hebebühne im Weg stand.«

»Sein Auto?«

Tuvesson nickte, während sie um das Schulgebäude herum­gingen. Etwa zwanzig Meter dahinter parkte ein Chevrolet Pick-up neben einem Skylift. Das Gebiet rund um den ­Wagen war großzügig abgesperrt und wurde von zwei uniformierten Polizisten bewacht.

Ein dünnhaariger Mann mittleren Alters, der seine Brille auf der Nasenspitze trug, kam in einem blauen ­Einmaloverall auf sie zu.

»Das ist Ingvar Molander, unser Kriminaltechniker, und das Fabian Risk, der eigentlich noch im Urlaub ist und erst im August anfängt«, sagte Tuvesson.

»Pah … Ein Urlaub mehr oder weniger. Was spielt das schon für eine Rolle, wenn man so einen Fall zu knacken hat. Oder was meinst du?« Molander zog sich die Brille noch weiter auf die Nasenspitze und musterte Fabian, während er ihm die Hand schüttelte.

»Langsam werde ich neugierig«, log Fabian.

»Richtig so. Du wirst nicht enttäuscht sein, versprochen.«

»Er will es sich nur kurz angucken, Ingvar.«

Molander warf ihr einen Blick zu, und Fabian nahm wider­willig zur Kenntnis, dass seine Neugier tatsächlich erwachte. Molander führte sie ins Schulgebäude und reichte ihnen zwei Overalls. »Bitte sehr.«

Fabian hatte die Schule seit fast dreißig Jahren nicht betreten. Sie sah genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Die Flure mit den roten Ziegelwänden und die schalldämpfenden Platten an der Decke, die wirkten, als wären sie aus Müll gepresst. Hier, ganz hinten im Gebäude, lag der Werkraum. Das Fach hatte ihn kein bisschen interessiert, bis er darauf kam, dass man Skateboards selbst bauen konnte. Nach einem Halbjahr hatte er so viele Sperrholzplatten er­wärmt, gebogen und zugesägt, dass er sie weiterverkaufen und sich von dem Geld richtige Tracker-Achsen kaufen konnte.

»Willkommen an einem Tatort, der es problemlos unter die Top Ten der schlimmsten Tatorte schafft, die ich je gesehen habe.« Molander hielt ihnen die Tür auf. »Zum Glück hat der Täter die Klimaanlage voll aufgedreht. Ansonsten wäre er nach der Woche hier unter den Top Five.«

Im Werkraum war es tatsächlich eisig. Obwohl das Thermometer zwölf bis dreizehn Grad Celsius anzeigte, kam ­Fabian sich vor, als würde er einen Kühlschrank betreten. Im hinteren Teil des Raums waren drei weitere Personen in ­Overalls damit beschäftigt, Bilder zu machen und Spuren zu ­si­chern. Der vertraute Geruch von Holz und Sägespänen war durchsetzt von einem abgestandenen und süßlichen Gestank. ­Fabian ging zur Leiche von Jörgen Pålsson, die in einer ­großen Lache aus getrocknetem Blut reglos hinter einer Tür lag, deren Klinke und Drehknopf mit Blut beschmiert waren. Der große und durchtrainierte Tote trug eine verwaschene Jeans und ein blutgetränktes weißes Tanktop.

Fabian hatte Jörgen kleiner in Erinnerung. Er war stark und hatte eine große Klappe, aber groß war er nicht. Jetzt musste er bärenstark sein. Trotzdem hatte der Täter es geschafft, seine Hände an den Handgelenken von den täto­wier­ten Armen abzutrennen. Die Stümpfe waren blutig und zerfetzt, er musste unvorstellbare Schmerzen gelitten haben. Und wieso ausgerechnet die Hände?

»Wie ihr seht, kann man an den Blutspuren auf dem Boden erkennen, wie er von der Tischlerbank zu der Tür dort drüben gelangt ist, durch die wir hereingekommen sind«, sagte Molander. »Sie hat zwar kein Schloss, war aber von der anderen Seite mit Bänken, Tischen und Stühlen versperrt. Das konnte er natürlich nicht wissen. Anschließend hat er versucht, durch diese Tür hier hinauszukommen. Aber wie soll man den Drehknopf betätigen, wenn man keine Hände hat?«

Fabian nahm die blutige Klinke in Augenschein.

»Habt ihr den Drehgriff schon untersucht?«, fragte Tuvesson.

»Mit Sekundenkleber verleimt. Was auch das hier erklärt.« Molander nahm eine medizinische Zange zur Hand und hob Jörgens Oberlippe an, um ihnen die zermalmten Vorderzähne zu zeigen.

»Er hat also versucht, den Knopf mit dem Mund umzudrehen?«, fragte Tuvesson.

Molander nickte. »Ein beachtlicher Überlebenswille. Ich dagegen wäre sicherlich mit intakten Zähnen gestorben.«

»Aber …? Ich verstehe nicht ganz. Hat er keinen Widerstand geleistet?« Tuvesson schüttelte den Kopf.

»Gute Frage. Vielleicht hat er das ja. Vielleicht stand er unter Drogen? Ich weiß nicht. Wir werden sehen, welche Schlüsse Flätan zieht.«

»Und wie lange hat das hier gedauert?«

»Drei, vier Stunden.« Molander führte sie zu einer Tischlerbank auf der anderen Seite des Werkraums, auch diese mit Blut beschmiert. »In diese Schraubzwinge hat der Täter die Arme gespannt, und mit diesem Fuchsschwanz hat er die Amputation durchgeführt.« Er zeigte mit der Zange auf die blutige Säge, die auf dem Fußboden lag.

»Habt ihr eigentlich schon die Glasfirma angerufen, die sich wegen des Autos gemeldet hat?«, fragte Fabian. Tuvesson drehte sich zu ihm um.

»Wieso? Meinst du, die haben was damit zu tun?«

»Wenn ihr mich fragt, ist dies das Werk eines Menschen, der nichts dem Zufall überlässt.«

Tuvesson und Molander wechselten einen Blick und nickten.

»Ich habe die Nummer hier.« Tuvesson zog ihr Handy aus der Tasche und wählte mit eingeschaltetem Lautsprecher. Fabians Vermutung bestätigte sich: kein Anschluss un­ter dieser Nummer. »Anscheinend hast du recht. Wir werden uns erkundigen, wer die Hebebühne gemietet hat, und du, Ingvar, sorgst dafür, dass sie sofort auf Spuren untersucht wird.«

Molander nickte.

»Und die Hände?«, fuhr Tuvesson fort.

»Die suchen wir noch.«

Tuvesson nickte und wandte sich an Fabian. »Na? Was sagst du? Klingelt da was?«

Fabian ließ seinen Blick über die Tischlerbank und den blutigen Fuchsschwanz, die Blutspuren auf dem Fußboden und die Leiche mit den abgesägten Händen schweifen. Dann sah er Tuvesson und Molander an und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«

»Was, gar nichts? Nicht einmal eine klitzekleine Vermutung, dass es jemand aus eurer Klasse gewesen sein könnte, oder warum jemand ausgerechnet Jörgen Pålsson so etwas antut?«

Fabian schüttelte den Kopf.

»Na ja, einen Versuch war es wert.« Tuvesson ging zum Ausgang. »Aber versprich mir, dass du mich anrufst oder in der Dienststelle vorbeikommst, wenn dir irgendetwas einfällt, ganz egal, was. Okay?«

Fabian nickte und verließ hinter Tuvesson den Werkraum. Eine Frage würde ihm keine Ruhe lassen.

Warum ausgerechnet die Hände?

*

18. August

Dies ist das erste Mal, dass ich etwas in dich hineinschreibe, obwohl ich dich schon vor zwei Jahren von Mama zu Weihnachten bekommen habe. Sie hat gesagt, dass es gut ist, wenn man etwas aufschreibt, damit man es nicht vergisst. Also mache ich das. Gestern habe ich mein Zimmer aufgeräumt und einen großen schwarzen Sack mit Müll vollgepackt. Mama hat sich sehr gefreut, und dann habe ich ganz hinten unterm Bett noch die C-3PO-Puppe gefunden, die mir Papa geschenkt hat und die seit über einem Jahr verschwunden war.

Heute waren alle wieder in der Schule. Alle außer Hampus. Die anderen haben sich über den neuen Klassenraum und die neuen Bücher gefreut. Ich nicht, denn jetzt bin ich an der Reihe. Es fing schon in Mathe an. Sie haben mich angesehen, obwohl ich gar nichts gemacht habe. Ich habe versucht, so zu sein wie immer und mir nichts anmerken zu lassen, aber sie haben einfach weitergemacht mit dem Anstarren. Ich weiß, was das bedeutet. Alle wissen das.

Ich wusste es vorher. Ich habe es die ganze Zeit gewusst. Als Hampus erzählt hat, dass sie wegziehen, habe ich es gleich gewusst. Ich habe natürlich trotzdem gehofft, dass ich mich irre. Den ganzen Sommer habe ich an nichts anderes gedacht.

In Englisch habe ich mich ganz nach vorne gesetzt, damit ich nicht sehe, wie sie mich anstarren. Ich weiß trotzdem, dass sie das die ganze Zeit gemacht haben. Und sie haben mit Zetteln nach mir geworfen. Aber ich habe mir nichts anmerken lassen. Ich habe mich nicht umgedreht. Kein einziges Mal.

Jesper hat einen der Zettel gelesen, und darauf stand, dass ich hässlich bin und stinke. Ich wasche mich immer sehr gründlich und benutze seit einem Jahr ein Deo, weil mein Schweiß jetzt stärker riecht, aber Mama hat gesagt, das ist bei allen so.

Ich habe versucht, zu riechen, ob ich stinke. Ich glaube nicht.

Aber hässlich bin ich auf jeden Fall. Potthässlich.

PS: Morgen hat Laban Geburtstag, und deswegen gehe ich heute so ein Laufrad, eine neue Trinkflasche und frische Säge­späne kaufen.

Kapitel 3

Als Fabian Risk nach Hause kam, war die Umzugsfirma schon dabei, ihren Hausstand auszuräumen. Er warf einen Blick in den Lastwagen und sah, dass sie bereits mehr als die Hälfte geschafft hatten. Übrig waren nur noch eine Wand aus Umzugskartons, alte Stehlampen, Hockeyschläger, die fleckigen Klippan-Sofas, der Designertisch mit den Arne-­Jacob­sen-Imitaten, der große alte Fernseher, den Theodor für sein Zimmer bekommen hatte, aber nie benutzte, Lang­lauf­skier, Fahrräder, die Vitrine, die eine Glasscheibe eingebüßt hatte, und jede Menge proppenvolle schwarze Müllsäcke.

War das wirklich alles, was er in seinen dreiundvierzig Lebensjahren gesammelt hatte? Ein paar durchgesessene Sofas und staubige Lampenschirme? Am liebsten hätte Fabian die Männer gebeten, den ganzen Krempel nicht ins Haus zu schleppen, sondern direkt auf die Müllkippe zu bringen. Es war, als hätte er sich gerade einen neuen, sehr edlen Computer gekauft und als Erstes die alten Dateien mit den Viren draufgeladen. Er wollte komplett von vorne anfangen. Ausnahmsweise nicht aufs Geld gucken und sich was Neues leisten. Plastikfolie aufreißen und den Duft von etwas Unbenutztem einatmen.

Er grüßte die Umzugshelfer, die einen der avocadogrünen Rollcontainer ausluden, die er zum zwölften Geburtstag bekommen hatte. Sie hatten die letzten zwanzig Jahre auf dem Dachboden verbracht. Das Ding sah schwer aus und nahm zwei Männer in Anspruch. Wieso war es so schwer? Er überlegte, was sich in den Schubladen befand, konnte sich aber nicht erinnern, wann er sie zuletzt geöffnet hatte.

Eine Stunde später, nachdem er mit Sonja ein paar Umzugskisten voller Küchenutensilien ausgeräumt hatte, fiel ihm wieder ein, was die Aktenschränke enthielten, und er konnte keine Sekunde warten. Sonja hatte die Helfer damit in den Keller geschickt. Auf dem Weg dorthin wurde Fabian bewusst, dass er bis jetzt noch keinen Fuß ins Untergeschoss des Hauses gesetzt hatte, obwohl jeder andere ernsthafte Hausinteressent das sicher als Erstes getan hätte.

Er hatte dem Makler blind vertraut, der beteuerte, das Haus sei in einem prima Zustand. Prima. Wie ein Patient, der von einer schweren Krankheit genesen war. Sorgen machte er sich trotzdem nicht. Dies war schließlich ein altes Haus mit dicken Backsteinmauern und guter Belüftung und kein Neubau mit billig isolierter Fassade in Mariastad oder vielmehr Schimmelstadt, wie der Volksmund das Viertel mittler­weile nannte.

Den Vorbesitzer hatte er auch nicht kennengelernt. Otto Paldynski, offenbar ein richtiger Pedant, hatte das Haus in den dreißig Jahren, in denen er mit seiner Familie darin wohnte, gepflegt wie ein Baby. Aus privaten Gründen wollte er den Verkauf rasch über die Bühne bringen und war dafür bereit, mit dem Preis etwas runterzugehen. Der Makler meinte, das käme einem Sechser im Lotto gleich. So eine Chance würde Fabian nie wieder bekommen.

In Wahrheit brauchte Fabian nicht lange überredet zu werden. Trotzdem fragte er sich, was das wohl für private Gründe waren. Er sprach den Makler sogar darauf an, aber der meinte nur, es sei nicht seine Art, sich in das Privatleben seiner ­Klienten einzumischen, und leitete elegant zu den Vorteilen des Hauses über. Fabian akzeptierte die Antwort mit einem Lächeln und beschloss, nicht weiter nachzubohren.

Er ging zu dem avocadofarbenen Rollcontainer, zog die oberste Schublade heraus und fand schnell das Gesuchte: das Jahrbuch aus der Neunten. Er setzte sich auf die Kommode und suchte seine Klasse heraus. Das gleiche Bild hatte der Täter am Tatort hinterlassen, aber hier waren keine Köpfe durchgestrichen.

An den Frisuren ließ sich die Zeit am deutlichsten ablesen. 1982. Damals kämmten sich alle. Seth Kårheden mit dem Oberlippenflaum und Stefan Munthe und Nicklas Bäckström, die in seiner Nachbarschaft wohnten und genau wie er dem Skateboardfieber verfallen waren. Ganz zu schweigen von Lina mit ihren Locken. Sogar Jörgen mit seinem Mittelscheitel sah aus wie frisch gestriegelt. Ein Haufen Nerds. Vor allem er selbst mit seinem Hemd, das in die viel zu hoch sitzende Hose gesteckt war, und den widerspenstigen Haaren. Den Schnitt hatte ihm seine Mutter verpasst.

Seit seinem Umzug nach Stockholm hatte er mit niemandem Kontakt gehabt. Nicht einmal mit Lina. Es war, als hätte er seine Jugend in einen Umzugskarton gepackt und in Helsingborg vergessen. Nun war alles voller Spinnweben.

Bis jetzt.

»Hier versteckst du dich also.«

Plötzlich stand Sonja vor ihm. Fabian zuckte zusammen.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«

Er schlug das Jahrbuch zu, als wäre er auf frischer Tat ertappt worden. »Ich habe dich gar nicht kommen hören.«

»Was hältst du davon, wenn wir eine Pause machen und vielleicht eine Pizza essen gehen? Die Kinder sterben vor Hunger.«

Fabian legte das Jahrbuch beiseite und stand auf. »Gute Idee. Ein paar Straßen weiter gibt es eine unheimlich gute Pizzeria. Falls sie noch existiert.« Er wollte Richtung Treppe gehen, aber Sonja hielt ihn am Arm fest.

»Alles in Ordnung, Liebling?«

Fabian drehte sich zu ihr um und nickte, sah aber an ihren Augen, dass sie ihm nicht glaubte.

Mit je einem Pizzakarton in der Hand gingen sie zur Strandpromenade hinunter, setzten sich auf die sonnenwarme Mauer und blickten auf den Öresund und nach Dänemark hinüber. Die Aussicht war wirklich schön. Viel schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Die Strandpromenade war verbrei­tert worden, und nun genossen hier viele Spaziergänger die erfrischende Abendbrise. Beim Fria Bad, das ganz in der Nähe lag, hatte man die Umkleiden zu Restaurants umgebaut, und statt der alten Gleise gab es nun große ­Ra­senflächen mit einer Boulebahn und Grillplätzen. Ein Stück weiter sah man die Palmen, die erstmalig anlässlich der Wohnmesse 1999 dort aufgestellt worden waren. Inzwischen hatte sich das zu einer Tradition entwickelt, und der einst unscheinbare kleine Strand war nun einer der beliebtesten von Helsingborg und nannte sich Tropical Beach. Er hatte das Gefühl, in einer vollkommen neuen Stadt zu sein.

»Das ist die leckerste Pizza meines Lebens«, sagte Matilda. Fabian gab ihr recht. Noch nie hatte ihm eine Pizza so gut geschmeckt.

Sie blieben noch eine Weile sitzen und beobachteten den Schiffsverkehr zwischen Helsingborg und Helsingör, wo das Schloss Kronburg der eindeutige Beweis dafür war, dass sie dem Rest von Europa näher gekommen waren. Fabian gelobte sich, nie wieder auch nur einen Meter weiter nach Norden zu ziehen, und drehte sich zu Theodor um, der mit leerem Blick auf den Sund blickte. »Wie hat denn deine Pizza geschmeckt? War es auch die leckerste deines Lebens?«

»Nein, aber sie war ganz okay.«

»Eine Zwei oder eine Drei?«

»Eine Vier plus.«

»Probier mal meine. Das ist mindestens eine Eins.« Matilda gab ihm ein Stück. Theodor biss ab und nickte. »Na gut, eine Drei, aber mehr nicht.«

»Mann, bist du geizig. Findest du nicht auch, Mama?«

Sonja nickte und sah Fabian an. Er hatte sich wirklich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, und bis jetzt hatte sie ihn nicht gefragt, was Tuvesson gewollt hatte. Aber ihr war klar, dass etwas nicht stimmte. Wie immer durchschaute sie seine armseligen Versuche, davon abzulenken, dass er mit den Gedanken ganz woanders war. Auch wenn sie mitspielte und ebenfalls so tat, als würden sie einen schönen Abend auf einem warmen Mäuerchen an der Strandpromenade verbringen und den roten Sonnenuntergang und das Plätschern der Wellen genießen.

In dieser Nacht liebten sie sich so, wie er es sich auf der langen Fahrt hierher vorgestellt hatte.

Auf dem Fußboden.

Mit Wein und Kerzenschein.

For Emma, forever ago …

Kapitel 4

Fabian und Sonja wurden von Matilda geweckt, die auf ihnen herumkrabbelte und wissen wollte, warum sie im Wohnzimmer auf dem Fußboden schliefen. Leicht verlegen murmelten sie, die Betten im Schlafzimmer wären noch nicht fertig zusammengebaut. Auch Theodor kam herunter und half mit, auf der sonnigen Terrasse den Tisch zu decken, während Sonja und Matilda zum ICA-Supermarkt Borgen düsten und fürs Frühstück einkauften. Es fehlte nur eine Tageszeitung, die Sonja angeblich vergessen hatte.

»Was machen wir heute?«, fragte Matilda.

»Wir packen weiter aus und …«

»Schrauben die Betten zusammen! Damit ihr nicht noch einmal auf dem Fußboden schlafen müsst!«

»Auch das«, lachte Sonja. »Und heute Nachmittag gehen wir vielleicht an den Strand.«

»Au ja!«

»Können wir vorher Schnorchel und Taucherbrillen kaufen, Papa?«, fragte Theodor.

»Tut mir leid, heute müsst ihr ohne mich baden.«

»Was? Warum denn?«, brach es aus Matilda heraus. »Wir haben doch Ferien.«

»Ja, aber Papa muss sich um ein paar Dinge kümmern«, sagte Sonja. »Er findet das genauso schade wie wir. Wir können nur hoffen, dass es nicht so lange dauert.« Sie fing seinen Blick auf, und er sah ihr an, dass sie im Supermarkt die Zeitung gelesen hatte.

Fabian betrat das neue weiße Polizeigebäude, das direkt an der E4 lag, nur einen Katzensprung von dem alten Gefängnis im Stadtteil Berga entfernt, das an eine Festung erinnerte. Er ging zu dem Mann an der Rezeption, wo neben Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet auch Helsingborgs Dagblad und Kvällsposten auslagen.

WERKLEHRERIMKLASSENRAUM

ZUTODEGEFOLTERT

Die Überschrift war typisch Kvällsposten. Hatte Sonja die gelesen? HD drückte sich etwas zurückhaltender aus, doch die Fotos waren fast identisch. Beide Bilder waren aus mittle­rer Entfernung aufgenommen worden und zeigten die Hebe­bühne und Jörgens Auto vor der Schule. Das Kennzeichen war zwar wegretuschiert, aber das blutrote Gebäude mit den kleinen Zellenfenstern ließ keinen Zweifel daran, um welche Schule es sich handelte. Und wie viele Werklehrer gab es dort?

Fabian stellte sich vor und erklärte dem Mann hinter dem Tresen, dass er eigentlich erst Mitte August anfange, Tuvesson ihn aber schon gestern wegen des Mordes an dem Werklehrer miteinbezogen und gesagt habe, er könne jederzeit vorbeikommen. Der etwa dreißigjährige Mann in Polizeiuniform begann, auf seine Tastatur einzuhämmern. Sein Haarschnitt erinnerte Fabian an die Dreißigerjahre in Deutschland, und seine Haltung war beeindruckend aufrecht.

»Verzeihung, wie war noch mal Ihr Name?«

»Risk. Fabian Risk, aber ich fürchte, Sie werden mich nicht finden. Wie gesagt, ich fange erst im August an.«

Der Empfangsherr beachtete ihn gar nicht, sondern kämpfte mit seiner Maus, gab Befehle ein und starrte zunehmend gestresst auf den Bildschirm. »Es tut mir leid, ich kann Sie nicht finden.«

»Das habe ich Ihnen ja gesagt, aber wenn Sie Tuvesson anrufen …«

»Astrid Tuvesson hat eine Dienstbesprechung und möchte auf keinen Fall gestört werden.«

»Genau deshalb bin ich da. Sie wartet bestimmt schon auf mich«, log Fabian und merkte selbst, dass er unnötig wütend klang. »Würde es was nützen, wenn ich sie anriefe?«

»Ich kann Ihnen nicht vorschreiben, mit wem Sie telefonieren, aber sie wird nicht rangehen. Das tut sie während Besprechungen nie.«

Der Mann hatte vermutlich recht. Fabian hatte bereits versucht, sie zu erreichen. »Okay … was machen wir nun? Ich muss da rein.«

»Was weiß ich? Keine Ahnung. Ich kann doch hier nicht jeden einfach reinlassen. Sie können sich ja wohl vorstellen, was dann los wäre.«

»Sie müssen Fabian Risk sein«, rief hinter ihm eine Stimme.

Fabian drehte sich um. Vor ihm stand eine Frau um die dreißig, durchtrainiert, in einem kurzärmligen Karohemd und abgewetzten Jeans, die auf Kniehöhe abgeschnitten waren. Ihre dunklen Haare waren kurz geschnitten, und im einen Ohr steckten mindestens zwanzig Ohrringe.

»Tuve meinte, so wie sie Sie kennt, stehen Sie hier unten und versuchen, irgendwie reinzukommen. Ich dachte, Sie fangen erst im August an.«

»Das dachte ich auch.« Fabian fragte sich, was Astrid Tuves­son noch alles über ihn wusste.

Sie begrüßten sich mit Handschlag.

»Irene Lilja.«

»Dann können Sie den Herrn hier vielleicht dazu bringen, mich reinzulassen?«

»Er steht nicht im Verzeichnis, und ich habe die Anweisung, hier unter keinen Umständen Leute vorbeizulassen, die keine …«

»Schon in Ordnung. Er kommt mit mir mit, und ich sorge dafür, dass er registriert wird.« Lilja bedeutete Fabian mit einem Nicken, ihr durch die abgeschlossene Glastür zum Fahrstuhl zu folgen. »Glück für Sie, dass ich mich verspätet habe. Florian kann unerbittlich sein.«

Sie betraten den Fahrstuhl, und Lilja drückte auf das oberste Stockwerk.

»Na? Ist Ihnen was eingefallen?«

»Leider nicht.«

»Was machen Sie dann hier? Ich dachte, Sie sind gerade erst angekommen und haben unendlich viel zu tun.«

Fabian wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Zum Glück ging gerade die Fahrstuhltür auf.

Lilja zeigte Fabian den großzügigen Besprechungsraum, von dem aus man ganz Helsingborg überblicken und bis nach Dänemark schauen konnte. In der Mitte stand ein ovaler Tisch, und die beleuchteten Wände dienten als Whiteboards und als Leinwände für die Beamer an der Decke. Fabian hatte noch nie einen so schicken und modernen Konferenzraum gesehen. Bis jetzt hatte er Teambesprechungen meist in fensterlosen Räumen ohne Klimaanlage abgehalten.

»Nein, ihm ist nicht eingefallen, wer der Täter ist. Ihr könnt weiteratmen«, sagte Lilja.

»Ich wollte mich nur ein bisschen dazusetzen und mir anhören, was ihr bis jetzt herausgefunden habt. Ist das okay?«, fragte Fabian.

»Unbedingt. Natürlich. Komm rein und setz dich.« Tuves­son stellte ihn dem Rest der Gruppe vor. Außer Astrid Tuves­son, Irene Lilja und Ingvar Molander war Sverker »Klippan« Holm dabei, ein fülliger Mann über fünfzig. »Auf Hugo ­Elvin müssen wir momentan verzichten. Er ist gerade nach Kenia geflogen und kommt erst in vier Wochen zurück.«

»Kenia«, brummte Klippan. »Da muss man also hin, wenn man seine Ruhe haben will.« Er wandte sich an Fabian. »Fabian. Du heißt doch Fabian?« Fabian nickte. »Ich warne dich. Sobald du auf diesem Stuhl sitzt, kannst du deinen Urlaub vergessen. Wenn du Urlaub willst, flieg nach Kenia. Oder noch weiter weg. Unsereiner muss sich mit dem Häuschen der Schwiegereltern auf Koster begnügen, und du siehst ja, wo ich gelandet bin.« Klippan breitete die Arme aus.

»Es war deine eigene Entscheidung, den Urlaub abzu­brechen und hierherzukommen. Wofür ich dir übrigens un­heimlich dankbar bin.« Tuvesson hängte ein Porträt von Jörgen Pålsson über die Bilder vom Tatort.

»Glaubst du, ich liege auf dem Steg und pule seelenruhig in meinem Bauchnabel, solange ein Täter, der zu so etwas fähig ist, frei herumläuft?«

»Du beklagst dich doch sowieso dauernd, dass dieses Häuschen nur Arbeit macht«, sagte Lilja.

»Aber ich bin hundertmal lieber mit meiner Familie zusammen als hier, und deshalb sollte es verboten werden, schwere Verbrechen während der Urlaubszeit zu begehen, verdammt noch mal.«

»Du musst wohl mal einen Antrag auf Gesetzesänderung stellen.« Tuvessons Ton signalisierte deutlich, dass der Smalltalk beendet war. »Keine Sorge, Fabian. So gern ich das tun würde, aber deinen Urlaub kann ich nicht streichen, da du noch in Stockholm angestellt bist.«

Fabian nickte und setzte sich.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte Klippan.

»Verzeihung, darf ich eine Frage stellen?«, meldete sich Fabian zu Wort. »Ihr habt nicht zufällig die Hände gefunden?«

»Darauf wollten wir gerade zu sprechen kommen.« Tuves­son nickte Molander zu. Der stand auf und drückte auf eine Fernbedienung. Ein Projektor an der Decke sprang an und warf ein Bild der abgesägten Hände an die Wand. Sie lagen auf einem ehemals weißen, jetzt aber blutverschmierten gefliesten Fußboden.

»Das Foto ist in der Jungsdusche gleich neben der Turnhalle aufgenommen worden.«

»Wir reden von derselben Schule?«, fragte Klippan. Molander nickte.

»Habt ihr schon begonnen, ein Täterprofil zu erstellen?«, fragte Fabian.

»Was habe ich euch gesagt?«, sagte Klippan. »Er merkt gar nicht, dass er voll mitarbeitet.«

»Bis jetzt nicht«, sagte Tuves­son, »aber es deutet alles dar­auf hin, dass wir es mit der gefährlichsten Sorte von Mördern zu tun haben – einem verrückten Einzeltäter, der mit seiner Tat etwas sagen will, einen detaillierten Plan ausgearbeitet hat und clever genug ist, diesen umzusetzen.«

»Wieso bist du dir so sicher, dass es nicht mehrere sind?« Lilja schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.

»Das hier ist so brutal.« Tuves­son deutete auf die Fotos vom Tatort. »Gleichzeitig ist es zu gewissenhaft vorbereitet und durchgeführt worden, als dass es mehrere Täter sein könnten. Wenn solche irrsinnigen Verbrechen von Gruppen verübt werden, geschieht das fast immer spontan und unter starkem Drogeneinfluss. Dabei macht man Fehler und hinterlässt jede Menge Spuren. Hier sind keine Fehler passiert. Es sind keine Fingerabdrücke gefunden worden. Keine Haare. Nichts. Übrigens, Fabian, was die Glasfirma betriff, hattest du recht. Die gibt es nämlich gar nicht, und der Skylift war eigentlich an die Baugesellschaft Peab vermietet, die gar nicht bemerkt hat, dass er nicht mehr da ist. Mit anderen Worten: Der Mord an Jörgen Pålsson war kein unglücklicher Zufall, sondern bis ins kleinste Detail durchgeplant. Es stand von vornherein fest, wo, wie und wann er stattfinden sollte.«

»Fragt sich nur, warum«, sagte Molander.

»Das ist eine gute Frage«, erwiderte Lilja. »Warum hackt man jemandem die Hände ab?«

»Vielleicht hat er was gestohlen?«, schlug Klippan vor. »Laut muslimischem Gesetz ist das die Strafe für Diebstahl.«

»Du meinst, der Täter könnte Moslem sein?«

»Wieso nicht.« Klippan tippte auf das Klassenfoto. »Der hier sieht doch ziemlich muslimisch aus. Was sagst du?« Er reichte Fabian das Foto. »Kannst du dich an ihn erinnern?«

Fabian nickte. »Jafaar Umar. Er wurde Jaffe genannt und … war echt nett, eine Art Klassenclown. Hat ständig Witze gerissen.«

»Klingt nicht nach unserem Mann«, sagte Lilja.

»Das Abhacken von Händen kommt ja in verschiedenen Kulturen vor«, sagte Molander. »Denkt nur an den Krieg in Ruanda. Dort hat man Kriegsgefangenen die Hände abgehackt, damit sie nicht gewalttätig wurden.«

»Die haben doch ganzen Dörfern die Hände abgehackt«, fiel Klippan ihm ins Wort. »Männern, Frauen und Kindern. Nur, damit sie ihre Finger- und Handabdrücke nicht auf den Wahlzetteln hinterlassen können.«

»Wieso Handabdrücke?«, fragte Lilja. »Gewählt wird doch anonym.«

»Ja, aber um überhaupt einen Wahlzettel zu erhalten, musste man sich identifizieren, und zwar mit seinem Fingerabdruck. Mit Armstümpfen ist das nicht so einfach.«

Fabian glaubte nicht, dass es sich bei dem Mord um eine muslimische Strafe für Diebstahl handelte. Er konnte sich nicht erinnern, dass Jörgen Pålsson geklaut hätte. Er war ein Chaot gewesen, aber kein Dieb. Die Frage war, was es dann zu bedeuten hatte. Abgehackte Hände in der Dusche. Was wollte der Mörder damit sagen?

»Risk? Worüber denkst du nach?«

Er hob den Kopf und sah in Tuves­sons fragende Augen. »Was will der Täter uns damit sagen? Ist es Zufall, dass sich der Mord an Jörgens Arbeitsplatz ereignet hat? Oder hat es etwas damit zu tun, dass er dort gearbeitet hat, wo er selbst zur Schule gegangen ist?«

»Du meinst, es könnte ein Schüler gewesen sein?«

»Ich weiß nicht. Oder ein Lehrer. Jemand, an dem er sich vergangen hat?«

»Vergangen? Wie meinst du das? Vergewaltigt?«, fragte Klippan.

»Dann hätte man ihm was anderes abgeschnitten«, sagte Lilja.

»Und noch etwas …«, fuhr Fabian fort, während er sich selbst fragte, woher er ausgerechnet dieses vergangen hatte. »Wenn Jörgen Pålsson die Öresundbrücke überquert hat, müsste es doch Fotos davon geben.«

»Wir wissen, dass er drüben war.« Klippan schob ihm einen Ausdruck hin. »Hier steht, wann genau er an der Mautstelle in Lernacken aus- und wieder eingereist ist.«

»Es schadet trotzdem nicht, nach Fotos zu fragen. Wenn du Lust hast, kannst du da gerne mal anrufen«, sagte Tuves­son.

»Mach ich.« Fabian wurde klar, dass Klippan recht gehabt hatte. Der Urlaub rückte in immer weitere Ferne.

»Klippan und Irene, ihr identifiziert alle Schüler der Klasse, bringt so viel wie möglich über sie in Erfahrung und nehmt Kontakt mit ihnen auf.«

Lilja und Klippan nickten.

»Und was machen wir mit Fabian?«, fragte Lilja. »Er war auch in der Klasse.«

Die anderen drehten sich zu Fabian um.

»Um den kümmere ich mich«, sagte Tuves­son.

»Okay.« Lilja wich Fabians Blick aus.

»Dann hätten wir noch die Frau des Opfers«, sagte Klippan. »Oder besser gesagt, die Witwe. Wer spricht mit ihr?«

»Du meinst Lina Pålsson«, ergänzte Tuves­son.

»Lina? So heißt sie?«, fragte Fabian. Tuves­son nickte. »Dann ist sie vielleicht die hier.« Er zeigte auf ein blondes Mädchen mit Korkenzieherlocken neben dem durchgestrichenen Jörgen. »Sie waren damals schon zusammen. Unglaublich … wenn ihr wollt, nehme ich gerne Kontakt mit ihr auf.«

»Kann ich mir vorstellen.« Klippan betrachtete das Klassenfoto. »Die ist ja zum Anbeißen.« Er klopfte Fabian auf die Schulter.

»Leider verändern sich die Leute mit der Zeit«, sagte Molander.

»Das kann aber auch von Vorteil sein«, sagte Lilja. »Seht euch Fabian an.« Lachend sammelten die anderen ihre Unterlagen ein, schüttelten Fabian die Hand und verließen den Raum. Alle außer Tuves­son.

»Falls du wirklich Lust hättest, an dem Fall mitzuarbeiten, wäre ich äußerst dankbar. Aber ich verstehe natürlich, wenn du dem Urlaub mit deiner Familie den Vorrang gibst. Die Entscheidung liegt ganz bei dir.«

»Ich helfe gerne.« Tuves­son täuschte sich. Wie hätte er sich angesichts dessen, was passiert war, frei entscheiden können? Er ermittelte nicht zum ersten Mal in einem minutiös geplanten Mordfall. Aber dieser war anders. Jemand, der mit ihm von der Ersten bis zur Neunten in einem Klassenzimmer gesessen hatte, war brutal ermordet und genau an dem Tag aufgefunden worden, als er selbst mit seiner Familie in Helsingborg ankam. Das musste natürlich nichts zu bedeuten haben, doch irgendetwas sagte ihm, dass es ebenso wenig ein Zufall war wie die abgesägten Hände.

»Wie schön. Aber eins muss dir klar sein.« Sie sah ihm in die Augen. »Ich weiß nicht, wie ihr das in Stockholm gemacht habt, aber hier sind wir ein Team und arbeiten zusammen. Das gilt auch für dich.«

Fabian nickte.

»Gut. Über dein Gehalt haben wir ja bereits gesprochen. Ich werde dafür sorgen, dass du es ab sofort bekommst.«

»Und bitte trag mich ins Verzeichnis ein, damit dieser Florian mich von nun an reinlässt.«

»Selbstverständlich. Und natürlich erhältst du einen Dienst­ausweis. Aus naheliegenden Gründen haben wir noch kein eigenes Büro für dich, aber du kannst erst mal den Schreibtisch von Hugo Elvin nehmen. In den nächsten Wochen ist er, wie gesagt, sowieso nicht da. Komm, ich zeige ihn dir.«

Fabian folgte Tuves­son durch die Abteilung, hörte jedoch kein Wort von dem, was sie sagte. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Seit er wusste, dass Jörgen Pålsson ermordet worden war, hatte sich etwas in seinem Unterbewusst­sein geregt, das partout nicht an die Oberfläche kommen wollte. Während der Teambesprechung war es endlich passiert. Es war kein Zufall, dass er das Wort vergangen benutzt hatte. Seine Erinnerungen an die Schulzeit waren jetzt deutlicher und verstärkten das Gefühl, das er mit sich herumtrug, seit Tuves­son bei ihnen aufgetaucht war.

Das Gefühl, dass Jörgen Pålsson genau das bekommen hatte, was er verdiente.

Kapitel 5

Im ersten Moment wusste Lina Pålsson nicht, wer er war. Obwohl er seinen vollständigen Namen nannte und sie dar­an erinnerte, dass sie vom ersten bis zum neunten Schuljahr in dieselbe Klasse gegangen waren, erkannte Lina ihn nicht. Am Ende fragte er sich, ob sie wirklich die Lina aus seiner Klasse war. Erst als er sich als Fabbe vorstellte, konnte sie ihn einordnen und lud ihn am selben Tag um eins zum Kaffee ein. So hatte er genug Zeit, sich an seinem neuen Arbeitsplatz einzurichten und bei der Öresundbrücke anzurufen.

Hugo Elvins Bürostuhl sah zwar aus wie ein technisch hochentwickeltes Objekt aus der Zukunft und verfügte über jede Menge Rädchen und Hebel, aber komfortabel war er leider nicht, im Gegenteil. Während Fabian der Betriebszen­trale der Öresundbrücke sein Anliegen darlegte, experimentierte er mit den Einstellungen herum. Er wurde verbunden, und während er dem Tuten in der Leitung lauschte, fand er eine perfekte Sitzposition. Er kam nicht umhin, sich verwundert zu fragen, was Hugo Elvin für einen Körperbau hatte.

»Sind Sie so einer wie dieser Kurt Wallander?«, fragte plötzlich eine Frau am anderen Ende der Leitung, und Fabian, der gar nicht bemerkt hatte, dass es nicht mehr tutete, erklärte ihr, Wallander sei Kriminalkommissar und kein Inspektor. Jedenfalls wäre er das, falls er tatsächlich existierte. »Und was ist mit Ihnen? Seid ihr in Wirklichkeit auch so schlau?«

Fünf Minuten später war es Fabian gelungen, das Gespräch in die richtigen Bahnen zu lenken und selbst die Fragen zu stellen. Die Frau erzählte ihm, dass an der Mautstelle Lernacken alle Autos von zwei Kameras fotografiert wurden. Eine erfasste von vorne das Nummernschild, die andere maß von oben die Länge des Fahrzeugs. All dies diente der Berechnung des Tickets und als Beweismaterial, falls ein Fahrer sich aus dem Staub machte.

Fabian berichtete, dass es um einen Chevrolet Pick-up mit dem Kennzeichen BJY-509 ging, der die Mautstation am Dienstag, den 22. Juni morgens um kurz vor halb sieben in Richtung Dänemark passiert hatte und am selben Abend um dreiundzwanzig Uhr achtzehn zurückgekehrt war. Die Frau versprach, die Bilder herauszusuchen, und fragte ihn nach seiner E-Mail-Adresse. Da Fabian noch keine eigene hatte, gab er ihr die von Tuves­son, bedankte sich für die Hilfe und verließ das Polizeigebäude.

Lina Pålsson hatte ihm ihre Adresse genannt. Er bog auf Anweisung des Navis nach Ödåkra ab, fuhr durch eine Einfamilienhaussiedlung, die wie alle Siedlungen dieser Art aussah, und blieb in der Tögata vor der Nummer 9 stehen. Er stieg aus und ging auf das zweigeschossige Haus zu, das aus dem gleichen roten Backstein wie die Fredriksdalschule gebaut war. Jörgen und Lina … Er verstand nicht, wie sie es über dreißig Jahre miteinander ausgehalten hatten. Damals war er überzeugt gewesen, dass ihre Beziehung nicht einmal das Halbjahr überdauern würde.

Als Fabian klingelte, erinnerte er sich daran, wie er das erste Mal diesen Klingelknopf gedrückt hatte. Er war damals in der vierten Klasse und traute sich nicht, vor der Tür stehen zu bleiben, sondern rannte weg und versteckte sich, bis ihr Vater herauskam. Von da an klingelte er jeden Morgen, und der Schulweg war für ihn der Höhepunkt des Tages, denn da hatte er sie ganz für sich allein. Sie unterhielten sich und lachten zusammen, und er tat alles, um das Tempo zu drosseln, damit sich der Spaziergang so lange wie möglich hinzog.

Klippan hatte recht gehabt. Lina war eindeutig die Schöns­te in der Klasse gewesen. Kurz bevor die Tür aufging, fragte sich Fabian, ob sie noch genauso schön war.

Eine dicke Frau öffnete ihm. Sie trug ein formloses braunes Kleid, und der graue Ansatz ihrer schwarz gefärbten Haare sprang ihm sofort ins Auge. Sie sah müde und kaputt aus. Vor allem wirkte sie um einiges älter als dreiundvierzig, stellte Fabian fest und musste Molander ebenfalls recht geben.

»Sie müssen Fabian Risk sein.« Fabian nickte, und sie gaben sich die Hand. »Agneta. Linas Cousine. Wir wechseln uns ab, damit sie nicht allein ist. Kommen Sie rein.«

Fabian ließ seinen Blick durch ein Wohnzimmer schweifen, das gemütlicher aussah, als das Haus von außen vermuten ließ. Lina ließ sich allerdings nicht blicken.

»Warten Sie hier, ich hole Ihnen einen Kaffee.« Die Frau verschwand in der Küche.

Fabian trat ans Bücherregal. Auch im digitalen Zeitalter hütete dieser Teil einer Wohnung noch immer die meisten Geheimnisse.

Dieses Bücherregal barg jedoch keine Überraschungen. Eine Reihe von farbenfrohen Spirituosen und Kristallgläsern in verschiedenen Größen sowie Souvenirs aus Griechenland und von den Kanarischen Inseln füllten die beleuchtete Vi­trine. Die wenigen CDs waren Sampler, die DVD-Sammlung enthielt zu gleichen Teilen schwedische Krimis und Produkte der Marke Disney. Die äußerst spärliche Bibliothek bestand zu mindestens drei Vierteln aus Titeln von Jan Guillou, Henning Mankell und John Grisham, den Rest machten einige pflichtbewusste Werke von Strindberg, Shakespeare und Dickens aus. Das einzig Störende – oder Erfreuliche, das kam ganz auf den Standpunkt an – waren Paul Auster, Cormac McCarthy und Jonathan Franzen.

Vermutlich gehörten sie Lina. Im untersten Fach ­entdeckte Fabian einige Fotoalben. Das erste stammte von Jörgens und Linas Hochzeit. Er konnte sich den Gedanken nicht verkneifen, dass Lina sich weit unter Wert verkauft hatte. Ins nächste Album waren Fotos von Weihnachtsbäumen, Krebsessen und Kindstaufen eingeklebt. Auf einigen posierte Jörgen mit nacktem Oberkörper und ließ seine tätowierten und gut trainierten Muskeln spielen.

»Was Interessantes gefunden?«

Fabian blickte hastig auf und sah Lina an. »Da bist du ja.« Er legte das Album weg und überlegte, ob er sie umarmen sollte, beschloss aber, sie mit Handschlag zu begrüßen, obwohl er feuchte Hände hatte. »Hallo.«

»Werde ich nicht umarmt?«

»Doch, klar. Entschuldige, ich wollte dich nicht …« Er drückte sie vorsichtig.

»Du bist kaum wiederzuerkennen. Ich dachte, du bist nach Stockholm gezogen.«

»Ja, aber jetzt bin ich wieder da. Und dich hätte ich jederzeit wiedererkannt. Du siehst noch genauso aus wie früher.«

»Danke.«

Fabian hatte nicht die geringste Ahnung, wie er weiter­ma­chen sollte. Es durfte keine zu lange Pause entstehen. Er kam sich wie der kleine Junge vor, der nicht schnell genug weggerannt war, nachdem er an der Tür geklingelt hatte. Agneta kam mit einem Kaffeetablett aus der Küche und stellte es auf dem Wohnzimmertisch ab.

»Soll ich mich dazusetzen, Lina?«

»Nein, Agge, es ist alles in Ordnung.«

Agneta zog sich zurück, und Fabian und Lina setzten sich aufs Sofa.

»Aha, du bist also Polizist und arbeitest an diesem Fall mit.« Lina wollte den Kaffee einschenken, doch ihre zitternden Hände machten es ihr nahezu unmöglich.

»Lass mich mal.« Fabian nahm ihr die Kaffeekanne ab.

»Entschuldige … es tut mir leid …« Lina begann lautlos zu weinen. »Ich verstehe das einfach nicht. Wie kann man nur so etwas tun? Er war doch so beliebt.«

Er wollte näher an sie heranrutschen und ihr eine tröstende Hand auf die Schulter legen, blieb aber lieber sitzen. Er war nur in seiner Funktion als Polizist hier. »Lina … Ich weiß, das ist alles unheimlich schwer für dich, aber hast du irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte?«

Lina schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Wie gesagt, er war doch überall beliebt. Die Schüler haben ihn regelrecht vergöttert. Er wusste sie zu nehmen. Vor allem die Schwierigen. Er konnte …«

»Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Er war ja in der Schulzeit selbst ein … wie soll ich sagen … eher chaotischer Typ.«

Lina sah Fabian an. »Wie meinst du das?«

Entweder hat sie es verdrängt, oder sie hat jetzt nicht die Nerven, sich damit zu beschäftigen, dachte Fabian und stellte seine Kaffeetasse auf dem Glastisch ab. »Lina … Wenn wir auch nur die geringste Chance haben wollen, den Täter zu fassen, muss ich meine Nase leider auch in unangenehme Dinge stecken.«

Lina wich seinem Blick aus, doch da Fabian nichts tat, um dem Schweigen ein Ende zu bereiten, gab sie schließlich auf und nickte.

»Soweit ich weiß, ist er zum Bierkaufen nach Deutschland gefahren. Weißt du, ob er jemanden mitgenommen hat?«

»Er ist immer alleine gefahren.«

»Und diesmal könnte er keine Ausnahme gemacht haben?«

Lina schüttelte den Kopf. »Wenn man sich die Ladefläche teilt, lohnt es sich nicht.«

»Vielleicht als Gesellschaft, dachte ich.«

Lina schüttelte den Kopf. »Wer sollte das sein? Bis nach Deutschland und zurück, wenn man nicht mal was einkaufen kann.«

Sie hat recht, dachte Fabian. Er konnte immer noch nicht nachvollziehen, wieso man sich diese Fahrt überhaupt antat. »Keine Ahnung. Ein Freund? Hatte er eigentlich noch Kontakt zu Leuten aus unserer Klasse? Außer zu dir?«

»Nur zu Glenn. Du weißt schon, Glenn Granqvist.«

Fabian nickte. Allmählich wurden seine Erinnerungen klarer. Glenn und Jörgen waren schon vor der Schule beste Freunde gewesen und aus dem gleichen Holz geschnitzt. Er nahm sich vor, als Nächstes mit Glenn zu sprechen.