Und später für immer - Volker Jarck - E-Book

Und später für immer E-Book

Volker Jarck

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Beschreibung

Frühling 1945: Es kann nicht mehr lange dauern, bis der Frieden endlich da ist und Johann heimkann zu seiner Braut Emmy und dem Neugeborenen. Nur wenige Wochen – die aber über Leben und Tod entscheiden. Als Johann und seine Kameraden nahe der Heimat stationiert sind, ergreifen sie die Chance und desertieren. Johann versteckt sich in der Scheune seiner Tante, die ihn versorgt, beide stets in der Angst, entdeckt zu werden. Nach einigen Tagen taucht plötzlich Frieda auf, das sechzehnjährige Nachbarsmädchen. Die beiden führen lange Gespräche über ihre Hoffnungen, über die Liebe zu Emmy, für die Johann alles riskiert. Doch Freundschaft ist Frieda schon bald nicht mehr genug, obwohl sie doch weiß, dass er verheiratet ist und Vater. Johann gerät in Bedrängnis: Wird Frieda ihn verraten, bevor der Krieg endet?

Ein bewegender Roman über einen Deserteur, der alles riskiert, um für die Frau, die er liebt, am Leben zu bleiben. Eine beinahe wahre Geschichte über die Menschlichkeit in unmenschlicher Zeit.

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Seitenzahl: 199

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Cover

Titel

Volker Jarck

Und später für immer

Roman

Insel

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2024

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagfoto: Collaboration JS/Arcangel, Malaga

eISBN 978-3-458-78132-5

www.insel-verlag.de

Motto

Damals, nach dem Ende all der Schrecken, hätte manch einer davon erzählen können, welch verdammtes Glück er gehabt hatte – in einer Zeit, als man Glück so buchstabierte: überleben.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Motto

Eins

Das Buch ist

Die Kippe im Mund,

Die Kettenhunde!

In den Flaschen

Der Feldjäger klettert nicht weiter.

Emmy Blohm senkte

Ihm fehlt jegliches Gefühl dafür,

Vors Kriegsgericht?

Alma hat gesagt,

»Jetzt oder nie,

»Welcher Soldat schläft

»Du stehst auf

Warum bist du was Besseres?

Richard stützte die Hände

Alles versteckt.

Zwei

Herr Kempe starb wieder und wieder.

Hast du Angst bekommen, Feldwebel?

Dumpf und überrascht

Das waren die Radieschen.

Johann schlief schlecht

Tante Alma steht lieber

Warum nicht Felix?

»Wer sind denn diese Leute?«

Als die Leinwand

Der Wind riecht nach April.

Nach ein paar Tagen

Drei

Die Nordsee warf sich ans Ufer,

Nie wieder so wie früher.

Der Kleinste will der Grösste sein,

Der allererste Eintrag

Wir können nur hoffen,

Das ist der Funker,

Vier

Liebe Emmy, liebe Braut,

Im Mai sah Johann

Walldorf, 12. Juni 44

Fünf

Mitunter staunt er,

Einen haben sie erwischt,

Wild hat er

»Meine liebe Emmy«,

»… meine beste Freundin …«

Engelschoff,

»Heute allein?«,

Da ist ein Querbalken,

Jenseits von Engelschoff

Am nächsten Tag

Sechs

Auf dem Garnisonsfriedhof

»Keiner traut keinem«,

Sie bangten um ihre Maschine

Sieben

Der Hitler sei tot,

Die Scheune hat er ausgefegt,

Acht

Das Unterhemd von Onkel Wilhelm

Eine Viertelstunde nur,

Aus einer anderen Zeit.

Vier Stunden mögen dem Tag noch bleiben,

Nachwort

Dank

Informationen zum Buch

Und später für immer

Eins

Das Buch ist nicht mehr da.

Er hat überall gesucht, doch das Tagebuch ist weg, er muss es verloren haben. Wenn er Glück hat, ist es ihm beim Sprung über den Weidegraben aus der Hosentasche gerutscht; wenn er Glück hat, sickert es in das brackige Wasser der Marsch, so rasch, so tief, dass die Seiten sich auflösen und die Buchstaben unleserlich werden, ehe dieser Winter endet und dieser Krieg. Dass niemand es findet. Dass ihn niemand hier findet.

Johann hat den ganzen Heuboden abgesucht, die ganze Zuflucht, zwölf Schritte im Quadrat. Nichts. Nur Papier, nur Worte, doch verhängnisvoll, zumindest die letzten von gestern, ein schnell geschriebenes Stoßgebet.

Schreien möchte er, aufstampfen, die Wut herauslassen, wie ein Soldat das tut, wenn kein Vorgesetzter in der Nähe ist. Doch nun gilt es, sich fürs Erste unsichtbar zu machen und keinen Laut – so still zu sein wie alles unter diesem hohen Dach, so still wie Stein und Bohlen, bis halbwegs gewiss scheint, dass er hier sicher ist. Nicht lauter atmen, als eine Strebe knarzt.

In den Dielenritzen Grashalme vom letzten Sommer, Mäusekot von gestern, daneben sein grauer Rucksack, in den er die Flasche und die alten Tagebücher gestopft hat, Brotkanten, eine Handvoll Radieschen, den dänischen Bernstein – und Emmys Briefe, zum Bündel geschnürt, es sind einhundertvier. Das neueste Tagebuch, eigentlich ein Taschenkalender mit einem winzigen Feld für jeden Tag, war vorn rechts in seiner Feldhose, und nun ist es fort. Fünfundsechzig Einträge, unwiderruflich fort. Es sei denn, seine Tante findet das kleine Buch noch irgendwo draußen, denn vielleicht ist es ihm erst hier auf dem Hof heruntergefallen, gestern Abend, als er ankam in seinem Unterschlupf, und liegt im Dreck des Märzregens.

Es ist nur Papier, es ist nicht nur Papier.

Ein paar Stunden hat er schlafen können, erschöpft wie lange nicht und ohne Traum, dann ins Dunkel gestiert, bis mit dem ersten Morgenlicht zwischen verzogenen Brettern die Deckenbalken über ihm Kontur annahmen.

Johann würde gern alles sortieren, was zwischen Herz und Kopf umhersaust, und die bangen Stunden mit dem Bleistiftstummel herumbringen. Er greift in den Rucksack: 43 ist noch da, 44 auch, dicht beschriebene Doppelseiten, da ist kein Platz mehr.

Elf mal sieben Zentimeter in blauem Einband, nicht größer als eine Packung Zigaretten, nichts für Menschen mit ausladender Schrift, doch man kann es überallhin mitnehmen: Essensausgabe, Toilette, Nachtwache, Feindflug. Seit zwei Jahren ist das winzige Buch nicht von Johanns Seite gewichen. Seitdem er dieses Mädchen getroffen hatte, so hat er es Richard erklärt bei ihrem ersten gemeinsamen Flug, seitdem gab es etwas, worüber sich zu schreiben lohnte. Etwas anderes als die Frontmeldungen und Durchhalteparolen, als den Alltag aus Übung, Belehrung, Verlegung, Untersuchung, etwas Besseres als Flak, Flak, Flakabwehr, und wieder im Hangar mit schlotterndem Kreislauf, neuer Tag und nächste Seite, der Krieg ist noch derselbe, nein – Fräulein Emmy Blohm, das war etwas anderes, diese Emmy, die war das Beste seit Langem und überhaupt.

Der Krieg mochte noch derselbe sein, Feldwebel Johann Meinert war ein verliebter Mann.

»Seit Emmy«, hatte er zu Richard gesagt, während ihre Maschine betankt wurde, »seit Emmy ist alles merkwürdig anders.« Denkwürdig anders. Seit Emmy notiert Johann auf der weißen Seite des Tages:

An Emmy geschrieben.

Jeder Brief an sie ist festgehalten und jeder von ihr – erwartet, bekommen, gelesen und noch einmal gelesen und beantwortet. Abwechselnd feierte und verfluchte Johann die Feldpost. Kam kein Brief für ihn, so schrieb er im Kopf schon die Antwort, und wenn er neue Zeilen lesen durfte, brachte ihn keiner von seiner Pritsche, wo er den Stift an die Wange drückte, bis er dort einen Abdruck hatte und endlich die richtigen Worte auf dem Papier.

Auf das Tagebuch hätte er besser achtgeben müssen. Es hat keinen Sinn, weiterzusuchen, er sucht weiter. Schüttelt die Decke aus, schiebt die Heuballen beiseite, tastet alle Taschen ab, als hätte er das nicht schon dreimal getan.

Emmys Briefe waren wie Kalenderblätter von daheim; haben ihn durch den norddeutschen Wespenstichsommer geführt, als sein Zug kurz vor Straßburg zum Stehen kam. Sie schrieb von den Kastanien, mit denen Nachbarskinder den Hühnerstall unter Beschuss nahmen, da war er in Dänemark beim Zahnarzt; sie marschierte durch den Januarmatsch zum Postamt Hohenzollernstraße, während er in Paris nach einem Geschenk für sie suchte; bei Blohms in Süderwisch, unendliche Hektar hinter jeder Front, wurde geschlachtet, geerntet und die Zeitung mit Hottendorfs geteilt; die Pferde trampelten durch Staub oder Pfützen, Emmys Onkel wartete auf die Versehrtenrente und Johanns dreikäsehoher Cousin hatte Flecken auf der HJ-Uniform.

Von ihrer Hochzeit schrieben sie und von seinem Urlaub, dem letzten, dem nächsten. Emmy versprach, Johann vom Bahnhof abzuholen, notfalls auch in Cuxhaven, ihr Fahrrad sei repariert und werde sie nicht im Stich lassen, so schrieb sie, da peilte er gerade im Luftraum über Eindhoven das nächste Ziel an und dachte nur: nachher an Emmy schreiben.

Einmal glaubte Johann – bäuchlings auf der Wolldecke und die Stiefel über der Bettkante, das Schiffchen unterm Kinn, das Kuvert schon aufgerissen –, er müsste ein Blatt oder mehrere übersehen haben: Emmy schrieb doch nicht nur zwei Seiten, wo war denn der Rest. Doch da war kein Rest. Dieser Brief, es war der achtundsiebzigste, war wohl der kürzeste, der schönste und merkwürdigste zugleich. Und der einzige, den sie nicht daheim in Süderwisch geschrieben hatte, nicht an Grete Blohms Küchentisch oder draußen im Hof, an ihrem ›Apfelkisten-Sekretär‹, wo manche unachtsame Wespe in Vaters Tintenfass ersoff.

Das ist der Brief, den er auswendig kennt.

Ich bin hier, Emmy, weiß Gott, ich bin tatsächlich hier.

Der Hunger macht sich allmählich bemerkbar, dabei hat Tante Alma ihm am Abend noch ein ordentliches Stück Käse in die Hand gedrückt, das muss er wohl vorm Einschlafen vertilgt haben. Er weiß gar nicht, wie lang das her ist, weil ihn ja nichts und keiner ins Bett geschickt oder geweckt hat.

Gestern Abend, das ist gerade so gut wie ›damals‹. Fünf Jahre lang ist Johanns Zeit im Takt von Dienst und Schlaf vergangen, nie hätte er gedacht, dass so ein Krieg das schlimmste Warten ist. Dass man das aushalten muss. Wie er das aushalten kann.

Eben noch zählte er, nass gekämmt und wacker munter, vor acht Uhr früh schon die neuen Rentenmark-Scheine – der schnellste angeleckte Finger in der Geschichte der Bankfiliale, sagte sein Chef –, bündelte mustergültig im besten weißen Hemd die Stapel, bevor die ersten Kunden kamen; und wenig später: mit seinen Brüdern beim Abschiedsschnaps, Anfang 1940, mit zehn anderen Rekruten am Bahnsteig, hundert anderen beim Appell, mit zwei Geschwadern an der Westfront. Zwanzig Jahre auf der Welt, und die Zeitrechnung begann von vorn. Jede Uhrzeit war nun eine unter vielen, zu der man salutierte oder aß, sich wusch oder in Deckung brachte. Oder wartete. Befehle erwarten, Befehle befolgen, das Funkgerät prüfen, die Stiefel wienern und warten und warten. An Emmy schreiben und warten. Dass diese neue Zeit vorbeigeht.

Jetzt hockt er hier in Engelschoff und hofft zum ersten Mal auf nichts und alles zugleich. Seine Vorgesetzten wissen nicht, wo er steckt, bringen sich derweil in Deckung, essen, würfeln, schießen oder waschen sich, sie machen Witze oder Einsatzpläne. Wie alle Tage dienen seine Kameraden und schreiben, rauchen, salutieren, bis ihnen einer sagt, dass sie das nicht mehr tun sollen, dass nun etwas anderes ansteht: Warten auf Verstärkung, Alarm, Geschütze, den nächsten Filmabend, auf Munition, Alarm, Ersatzteile, Verpflegung, Heinz Rühmann und den Messias, auf stabiles Wetter, auf neuen Treibstoff, den Alarm und bessere Nachrichten aus Berlin. Wie die Kameraden hat er gewartet auf den Tag, an dem das Warten wieder mit mehr Zuversicht erfüllt sein würde.

Johanns Zeit ist nicht mehr ihre Zeit. Seine ist nun mit dem Messer in den Balken geritzt: ein Strich für den ersten Abend und noch einer für diesen Tag, sein zweiter auf der Flucht vor der Fahne.

»Keiner findet dich da oben«, hat Tante Alma gesagt. »Keiner. Falls sie dich suchen.«

Natürlich suchen sie mich, denkt er. Sie suchen uns alle.

Er setzt sich auf sein Schlaflager, den Heuballen im Rücken, und lauscht in den anbrechenden Tag. Nichts. Kein herannahender Wagen, keine Autotüren, keine schneidend laute Stimme, die Onkel Wilhelm ins Gebet nimmt. Keine halbe Stunde bräuchte das Feldjäger-Kommando aus Stade bis hierher.

Die finden jeden.

Wieder einmal muss Johann die Beine ausstrecken, das linke Knie ist geschwollen, es gibt ja ohnehin seit der Trappenjagd selten Ruhe. Als hätten die Flakscheinwerfer sich in den Meniskus gefräst. Unter schwerem Beschuss, zurück mit Triebwerksdefekt, so hatte er notiert und sich an den Stift geklammert für den Zusatz: Knieschmerzen durch heftigen Schlag bei Ausweichmanöver. Wir mit Glück und auf Treibstoffreserve, dagegen Oberleutnant Winkler mit Besatzung nicht vom Einsatz zurückgekehrt. Ritterkreuze auf dem schwarzen Meeresgrund. Abends kleine Revue. An die Eltern geschrieben.

Im Stall nebenan blökt das Vieh und will gemolken werden. Er könnte helfen, er ist wach, doch er wird sein Versteck nur im Stockdunkeln verlassen, nur bei Einbruch der Nacht, mit seinem Eimer zur Jauche und geduckt wieder rein. Zum Glück ist noch längst nicht wieder Vollmond.

Wie Mühlräder kreisen Johanns Gedanken um das bisschen Gewissheit: Sie durchsuchen das ganze Reich nach solchen wie mir, und wenn es das Letzte ist, was sie tun; und wenn die Engländer uns schon im Tiefflug ins Hafenbecken pinkeln, weil unsere Flak nichts und niemanden mehr abwehren kann, so ist gewiss noch jemand von den Greifern unterwegs. Weil einer gehört hat, wie einer gesagt hat, dass einer gesehen haben will: Da, auf dem Hof, ja, da beim Stall müsst ihr schauen, hinter der Koppel, da war einer, den hab ich hier noch nie gesehen, jung war der, müsste der nicht an der Front sein, hab ich noch gedacht –

An der Front oder dahinter: Wer sich retten will, darf keinen Fehler machen. Dem darf keine verräterische Notiz aus den Taschen seiner Fliegermontur rutschen.

Am Hemdärmel wischt Johann zwei Radieschen aus seinem Vorrat ab und beißt hinein, leise. Er will der leiseste Funker der deutschen Luftwaffe sein. In den dröhnenden Himmel hinauf wollte er nicht mehr, kein Ziel mehr für den Hauptmann anpeilen, will keine Bomben gegen Abwehrfeuer tauschen, um ein für alle Mal rauszufinden, wer der Stärkere ist. Nicht mehr. Lautlos will er sein und unsichtbar dazu.

Erdig sind die Radieschen, und wer funkt jetzt wohl in seiner JU, in ihrer JU, die keine Besatzung mehr hat?

Alle, alle haben sie es mit einer Angst zu tun bekommen, die sich nicht mehr abschütteln ließ, und letzte Woche dann hat Hauptmann Bühler schließlich diesen Satz gesagt, beim Skatspielen am Abend zwischen Alarm und Alarm. Wir sind doch schon fast –

Still! Wieder horcht Johann und versucht, vollkommen geräuschlos zu bleiben, nicht am Ballen zu rascheln, mit dem Stiefelabsatz zu scharren, wenn er das Bein umlagert.

War wohl nur die Katze. Das Biest.

Tante Alma müsste schon aufgestanden sein, denkt er noch, ehe er die Augen wieder schließt, während es draußen gar nicht heller wird.

Jetzt gehen sie gleich zum Melken, jetzt ist der Krieg bald aus, jetzt bin ich doch noch schrecklich müde.

Jetzt dürfte längst aktenkundig sein beim Fliegerhorst in Stade:

Johann Meinert, Feldwebel der deutschen Luftwaffe, unerlaubt abwesend.

Die Kippe im Mund, nahm Hauptmann Bühler den abgegriffenen Stapel, schaute zu Boden und sagte: »Wir sind doch schon fast zu Hause, Jungs.«

In einem Tonfall, als habe er lediglich festgestellt, dass Krause mit Ausspielen dran sei oder Meinert nach dem Grand Hand haushoch in Führung liege. Fast zu Hause.

Er mischte die Karten und zog an seiner Kippe, Johann sieht das Glühen noch vor sich wie eine Nahaufnahme im Kino. Sie saßen bei den Garagen hinter der Flugleitung auf leeren Munitionskisten und spielten um nichts.

Erst zwei Tage zuvor hatte Bühler es abgelehnt, sich für das Sonderkommando zu melden, seitdem war er wortkarg, mal wie abwesend, mal hochkonzentriert, Johann glaubte sogar, er hätte ihn leicht zittern sehen während der Bereitschaft gestern Nachmittag.

Auf der Startbahn hatte Bühler doch immer geschmettert: Zack, nach oben und …, dann fiel seine Besatzung ein: … zack, nach Hause! Und dreimal in die Hände klatschen gegen Zweifel, Schiss und Übermacht. Nach Hause, das hieß nie etwas anderes als irgendwie zurück zum Flugplatz, nur wieder mit beiden Flügeln heil zu Boden.

Seine Kopfhaut prickelte, als Johann allmählich begriff, was ihr Flugzeugführer jetzt meinte, das Kartendeck zwischen durchgestreckten Fingern, ohne einen von ihnen anzuschauen. Es war, als hätte da einer einen Gedanken in den großen Kessel fallen lassen, um ihn langsam zu erhitzen, bis der Dampf alle umfing: Sind wir nicht schon fast zu Hause?

Richard räusperte sich.

»Du meinst Zack, Herr Hauptmann. Zack, fast zu Hause. Ja? Du meinst, es braucht nur noch ein paar Angriffe, bis Harris klein beigibt und …«

Er wusste kein und, mehr sagte er nicht.

Sie hatten eine Ahnung, wie Dresden aussehen musste, coventrisiert. Wer bei Verstand war, wusste sich umzingelt von Alliierten, die alles andere als klein beigaben. Ein verzweifeltes letztes Aufgebot würde sich auf sie stürzen müssen.

Bühler runzelte seine Stirn, sah sich um, niemand in Hörweite.

»Was ich sagen will, Richard, ist, dass wir ausgerechnet nach Stade abkommandiert wurden. Ausgerechnet wir ausgerechnet hier, kapierst du? Dass jeder von euch verdammt nah an seinem Zuhause ist. Von allen Flitzpiepen der Luftwaffe haben sie uns hierher verlegt, jetzt, wo alles in die Binsen geht.« Er senkte seine Stimme. »Für euch und mich sind’s keine hundert Kilometer bis zu Mama und Papa und wer immer da noch lebt. Was ich meine, Männer, ist nicht mehr Zack, nach oben, sondern: Seedorf«, dabei zeigte er auf sich, teilte dann präzise die Spielkarten aus und nannte bei jeder die Heimatorte der drei anderen: … »und Rotenburg«, das war Richard, nächste Karte, »und Quickborn«, von dort kam der dünne Carl, den sie Quicki nannten, wenn er hoch reizte und hoch verlor – »und Süderwisch.«

Emmy. Süderwisch, die paar Höfe und Häuser und Menschen und keine Schlacht nirgendwo.

»Das meine ich«, sagte der Hauptmann und schaute ihnen jetzt reihum in die Augen. »Vielleicht, Kameraden, vielleicht soll es ja so sein, dass vier Fischköppe kurz vorm Inferno viel mehr Glück haben als Verstand.«

»Als Munition«, sagte Richard, und Johann lachte auf.

»Inferno, Inferno …« Carl, der Jüngste von ihnen, rieb sich die Nase und sagte, als wäre nichts gewesen: »So! Achtzehn?«

Johann gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, Carl funkelte ihn an, wrang die Karten und haspelte drauflos: »Aber Hauptmann … wir fliegen …«, zittrig sortierte er seine Asse, als sei das seine erste Skatpartie, »wir fliegen doch? Wir fliegen aber doch nach London! Männer?«

»Tun wir das?« Hauptmann Bühler hob die Brauen. »Tun wir das, Quicki?«

Nun wussten alle, nun wusste auch die Möwe dort hinten, die Richtung Elbe flog, und der Kreuzkönig und die Zigarettenasche auf der Holzplatte, was der Hauptmann ihnen da vorschlug.

Johann schob seine zehn Karten langsam zusammen, legte sie auf den Tisch und verschränkte die Arme. Er hatte verstanden, dass ihr Pilot kein zweites Mal wagen würde, einen Aufruf zum Rammkommando abzulehnen. Bühler konnte nicht bleiben. Also dann.

»Was ist, Johann?«, fragte Carl. »Achtzehn? Zwanzig? Keine Lust mehr?«

»Ja«, sagte er langsam und sah dabei nicht den schmalen Carl an, sondern seinen Vorgesetzten, »ja, wahrscheinlich hab ich keine Lust mehr. Ich hab die letzten fünf Jahre mitgespielt. Und nicht viel gewonnen außer ein paar lausigen Päckchen Nordland.«

Richard nickte. »Das Kraut kratzt vom Hals bis zur Kimme.«

Niemand lachte, noch immer stierte Johann in das Gesicht des Hauptmanns. »Das muss doch jeder verstehen, dass man … irgendwann nicht mehr will, wenn alles verloren –«

Carl sprang auf seine dürren Beine, Richard drückte ihn sofort wieder auf seinen Hocker.

»Dein Arsch bleibt hier, Stabsgefreiter.«

»Verdammt«, zischte Carl und schüttelte Richards Hand ab, »wenn irgendwer euch hört! Meutergeist ist das!« Er schlug die flache Hand gegen die Stirn. »Seid ihr denn blöd? Ich will euch nicht hören, ich hab das nicht gehört!«

Richard nahm eine seiner Zigaretten und steckte sie Carl zwischen die Lippen.

»Zu spät, junger Held.«

»Du … du machst dich immer lustig, wenn du Held sagst.« Carls Lippen hatten zu beben begonnen, die Zigarette fiel runter. »Aber ist euch denn egal, was der Führer … was Göring … wir haben doch alle einen Eid geleistet, Männer. Einen Eid.«

Johann griff nach der Bierflasche.

»Wenn der einen Eid von mir hat, dann hätt ich den jetzt gern zurück.« Er beugte sich vor. »Der Hauptmann hat recht, Junge. Der Ofen ist so aus wie nur irgendwas.«

»Aber das OKL zählt doch auf uns, Johann?«

»Schütze Schenk.« Johann hob das Kinn. »Willst du als Held nach Hause? Oder willst du nach Hause?«

Carl holte Luft, doch Bühler war schneller.

»Und komm mir nicht mit Meyer! Ist der ein Held? Ist er das? Bläst sich auf in seinem Lametta-Kostüm und redet von Wunderwaffen.«

»Herr Hauptmann!«

»Was, Quicki, was? Soll der Herr Reichsmarschall doch selber da rauf! Ohne Fallschirm übern Atlantik, allein gegen London, das soll er. Kann meine letzte Ladung Sprit haben für seinen Heldentod, der eitle Fatzke.«

»Herr Hauptmann, mit Verlaub, Sie sind besoffen und sollten lieber das Maul halten!«

Sofort zuckte der junge Carl vor seinen eigenen Worten zurück, doch Bühler blinzelte nicht mal.

»Du kannst mich siezen, du kannst mich knebeln, ich bin so klar wie sonst was, mein Junge, und ich will noch einmal fluchen dürfen auf die Scheiße, in der wir stecken. Wir alle. Bis zur Brille. Alle!«

Richard lehnte sich weit zurück und spuckte bis zu dem Bombentrichter, den sie am Morgen nach dem letzten Angriff auf den Flugplatz zugeschüttet hatten.

»Erik hat recht«, sagte er. »Ich hab so was Wahres nicht gehört seit ewig. Was soll deine magere Leiche im Atlantik, Quicki, hm? Für welchen Ruhm, für welchen Fisch?«

Unwillig schüttelte Carl den Kopf. »Ihr könnt gut reden. Aber könnt ihr auch schnell rennen? Hm?«

»Wie machen wir das, Hauptmann?«, fragte Johann. »Was ist dein Plan?«

»Überleben. Meinetwegen mit euch, notfalls allein.«

»Das ist kein Plan.«

»Mensch, Meinert. Die Zeit der Pläne ist vorbei. Wir können nur noch irgendwie raus aus der Sache. Irgendwo verstecken und die Füße stillhalten, bis alle begriffen haben, dass es zu Ende ist. Zwei Wochen, vielleicht drei, dann schwenkt doch hier jeder den weißen Lappen, der noch einen Arm zum Winken hat. So lange muss man durchhalten. Und dann will ich irgendwann zu meiner Familie, mit allem dran, das ist der Plan.«

Er legte seine Hand flach auf den Tisch, die Adern zuckten, er wandte sich an Carl, der gar nicht mehr aufhörte, den hängenden Kopf zu schütteln.

»Du behältst das für dich, Stabsgefreiter? Carl?«

Irgendwo schlug krachend eine Barackentür auf, ein breiter Schatten stapfte Richtung Latrine. Die Märznacht würde unfreundlich kalt.

»Carl Schenk, meine Augen sind hier oben, du musst mir in die Augen gucken. Wir verlassen uns auf dich.«

»Ich scheiß mir in die Hose, scheißt ihr euch nicht in die Hose?« Carls Blicke hetzten durch die Runde.

»Doch, Soldat, das tun wir alle.«

Ein erster Regentropfen traf den Skat und rann davon. Zwei Scheinwerfer kreuzten unter tiefen Wolken.

»Aber«, setzte Carl noch einmal an, »du bist unser Hauptmann! Du bist der tapferste Pilot, den ich kenne. Der beste, seit Winkler gefallen ist! Du bist doch kein … Willst du wirklich –?«

»Weißte, Quicki«, sagte Richard, weil der Hauptmann schwieg, »Tapferkeit kannste nicht nachtanken.« Er griente. »Und ich hab den Führer angerufen, ob wir beim Endsieg noch im Plan liegen, aber …«

Carl hob fragend den Kopf wie ein geprügelter Erstklässler.

»… er war gerade zu Tisch.«

Die Kettenhunde!

Jetzt sind sie da. Das Scheunentor quietscht.

Da kommt nicht Tante Alma, denn sie haben vereinbart, dass Tante Alma pfeift, wenn sie ihm zu essen bringt, In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine, so ist er beruhigt.

Kein Pfeifen, kein Wort. Wie lang hat er geschlafen, wie leichtsinnig.

Da unten muss ein Feldjäger stehen, denkt Johann, hat das Tor aufgeschoben für die anderen, mit angelegten Gewehren schleichen sie sich an, wer sonst soll das sein? Onkel Wilhelm nicht, der behält die Hofauffahrt von der Engelschoffer Dorfstraße im Auge, hat Alma gesagt, und wenn da ein Auto von der Wehrmacht kommt, können wir dich immer noch warnen, hat sie gesagt.

Keine Warnung, kein Pfiff, kein Refrain von Marika Rökk.

Die Leiter kann er nicht mehr hochziehen, nicht einmal blitzschnell und ohne Lärm – man bemerkt sie sofort beim Hereinkommen.

Also dann, mein feiges Herz, heut sollst du wohl platzen. Da kommen die, die du im Stich gelassen hattest, dich abzustrafen, da holt dich deine Feigheit ein, der Übermut, das große Ich – ich, ich, ich muss überleben, es rette sich, wer kann! Und nun ist der Mensch allein in der Nacht.

Es dringt kein Laut zu ihm herauf: Tante Alma pfeift nicht, und die Kettenhunde hecheln totenstill. Mit ratterndem Puls kauert Johann zwischen den Heuballen, lauschen kann er noch und atmen, die Beine strecken nicht mehr.