Und tief in der Seele das Ferne - Katharina Elliger - E-Book

Und tief in der Seele das Ferne E-Book

Katharina Elliger

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Beschreibung

Ein junges Mädchen erlebt die Vertreibung aus Schlesien Ende 1944 werden die Nachrichten über die heranrückende Rote Armee immer bedrohlicher. Katharina und ihre Mutter schließen sich einem Flüchtlingstreck an, kehren jedoch bald in ihre Stadt zurück. Die Besatzungszeit ist grausam. Doch schlimmer trifft sie die Vertreibung unter unmenschlichen Bedingungen ein Jahr später.

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Seitenzahl: 306

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Katharina Elliger

Und tief in der Seele das Ferne

Die Geschichte einer Vertreibung aus Schlesien

 

 

 

Über dieses Buch

Ein junges Mädchen erlebt die Vertreibung aus Schlesien.

Ende 1944 werden die Nachrichten über die heranrückende Rote Armee immer bedrohlicher. Katharina und ihre Mutter schließen sich einem Flüchtlingstreck an, kehren jedoch bald in ihre Stadt zurück. Die Besatzungszeit ist grausam. Doch schlimmer trifft sie die Vertreibung unter unmenschlichen Bedingungen ein Jahr später.

Vita

Katharina Elliger wurde 1929 in Bauerwitz/Schlesien geboren. Nach der Vertreibung machte sie Abitur und absolvierte ein Lehramtsstudium in Münster. Sie heiratete, zog nach Tübingen um, bekam zwei Kinder und wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin am theologischen Lehrstuhl der Universität. Katharina Elliger starb 2019.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2023

Copyright © 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Karte Peter Palm, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke, Cordula Schmidt

Coverabbildung Ullstein Bild

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01350-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für meine Kinder Veronika und Tobias

Und doch, vor einigen Jahren in einem deutschen Interview gefragt: «Was fällt Ihnen bei dem Wort Heimat ein?», gab ich die mich völlig überraschende sofortige Antwort: «Heimatlos.»

 

Fritz Stern in einem Vortrag, gehalten 1995 in Berlin.

Vorwort

Seit den Ereignissen um Flucht und Vertreibung sind fast sechzig Jahre vergangen. In dieser langen Zeit begleitete mich das mir selbst kaum eingestandene Gefühl, fremd und anders zu sein als andere. Zwar verlief mein Leben «normal» in einer kleinen Familie, mit guten Freunden und vielen geistigen Interessen. Dennoch blieb mein Vertrauen in die Welt und in das Leben erschüttert. Die Erfahrung menschlicher Abgründe hat mich geprägt und es mir schwer gemacht, mich zugehörig zu fühlen.

Je älter ich werde, umso größer wird mein Bedürfnis, darüber zu reden und zu bezeugen, was mir widerfahren ist. Sonst bliebe ich mir und anderen etwas schuldig. Vielleicht ist erst jetzt die Zeit reif dafür, meine Geschichte zu erzählen, die ich so lange in mir vergraben hatte. Vielleicht bleibt sie eine Herausforderung für die nach mir Kommenden, in deren Verantwortung ich sie lege, damit sie sich nicht wiederhole.

 

Ich möchte vom Ende meiner Kindheit und dem Verlust meiner Heimat erzählen und davon, wie ich beide nach über fünfzig Jahren beinahe wiedergefunden habe. Meine Geschichte beginnt 1939 in der kleinen Stadt Bauerwitz, im Südosten des alten Oberschlesien, zwischen Ratibor und Leobschütz.

Im Krieg

Kinderalltag

In den letzten Augustnächten des Jahres 1939 zogen deutsche Soldaten durch unseren Ort. Das Getrappel und Schnaufen der Pferde, das ratternde Geräusch von Wagenrädern und das unregelmäßige Klappern von Stiefeln hatten uns geweckt. Wir stürzten ans Kinderzimmerfenster. Es bot sich im Dunkeln ein gespenstischer Anblick. Ab und zu zündete sich einer der Soldaten eine Zigarette an. Wir sahen das Aufflammen der Streichhölzer und wie sie für einen Augenblick die Gesichter erleuchteten. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Müde und teilnahmslos zogen sie Richtung Ratibor.

Am 1. September war besonders schönes Wetter. Meine Geschwister und ich spielten mit ein paar anderen Kindern hinter der Scheune Fußball. Da winkte Vater durchs Küchenfenster, wir sollten heraufkommen. Wir standen dann alle vier vor ihm in der Küche, erhitzt vom Spiel. In merkwürdig verhaltenem Tonfall sagte er: «Es ist Krieg. Es wird schlimm werden. Möge uns Gott helfen.» Eigentlich wollten wir weiterspielen. Aber wir konnten nicht. Vater saß zusammengesunken und blass auf dem Küchenstuhl. Mutter machte sich an der Spüle zu schaffen. Bernhard ging ins Kinderzimmer und schloss sich ein, ich lief in den Garten.

Am Tag darauf erfuhren wir, dass die Polen den Sender von Gleiwitz besetzt und die Deutschen zurückgeschossen hätten. Ich verstand das nicht, denn unsere Soldaten waren ja schon vorher dorthin gezogen. Hatten sie den Überfall erwartet?

Vater hatte zu Hause immer offen über «die Lage» gesprochen. Damit meinte er die politische Situation. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er uns verboten hätte, mit anderen darüber zu reden. Denn wir wussten so schon genau, was wir sagen durften und was nicht. Von klein auf hatte ich Namen und Begriffe gehört wie Pilsudski (der meinem Vater offenbar Eindruck machte), Zentrum (eine Partei, der er wohl nahe stand), Hindenburg, Notverordnung, Röhmputsch, Der Stürmer, Ermächtigungsgesetz, Herrenrasse, Rosenberg, von Schleicher und immer wieder Himmler, Goebbels und Heydrich. Zwar verstand ich nicht, wer die Leute waren und was die Worte bedeuteten. Aber manchmal sprach mein Vater von ihnen sehr erregt, schnell und leise.

Neuigkeiten brachte er nach Kriegsbeginn meistens aus der Schule mit. Noch im Mantel, kam er in die Küche und erzählte. Einmal sagte er: «Napoleon ist bis zu den Knien im Blut gewatet, Hitler wird es bis zum Halse stehen.» Ich schauderte und schlug im Lexikon nach, wer Napoleon war. Die Vorstellung von seinem Russischen Feldzug, der ihn bis nach Moskau gebracht hatte, machte mir Angst.

Im Winter heizten wir, um Kohle zu sparen, oft nur das Wohnzimmer und aßen dann dort am großen Tisch zu Abend. Vater und Mutter saßen an den Stirnseiten, neben Vater meine Brüder Bernhard – er war der älteste – und Franz, neben Mutter wir Mädchen Bärbel, die Zweitgeborene, und ich, die Jüngste. Da alle Lebensmittel nun rationiert waren, teilten unsere Eltern jedem seine Portion zu. Meine Mutter beschmierte die Brote mit Butter. «Kratz doch nicht so!», sagten wir Kinder oft, wenn man nichts mehr von der Butter sah. Und sie sagte dann: «Ihr müsst sie ja nur spüren.»

Ich hatte dabei meistens ein so schlechtes Gewissen, dass mir das Herz den Hals hochklopfte. Im Laufe des Tages holte ich mir nämlich oft heimlich ein Stück Butter. Damit es keiner merken sollte, schnitt ich ganz dünne Scheiben davon ab und aß sie pur. Die Butter wurde immer weniger. Und beim Abendbrot fragte dann jemand: «Ist die Butter schon wieder weg?» Ich meldete mich nicht. Meine Eltern müssen es gemerkt haben. Aber keiner von beiden sagte etwas dazu. Ich weiß nicht, ob sie mich im Verdacht hatten. Sie haben den Butterschwund jedenfalls ignoriert. Wenn die Brote mit Butter «bekratzt» waren, belegte sie mein Vater, sonntags und mittwochs mit Wurst, sonst mit Käse, Quark, Tomaten oder Eiern.

Auch beim Abendbrot nutzte Vater die Gelegenheit, seine Neuigkeiten und Gedanken mitzuteilen. Zuerst fragte er regelmäßig: «Ist unten die Haustür abgeschlossen? Ist die Wohnungstür zu?» Dann erzählte er zum Beispiel, dass jemand verhört oder abgeholt worden war. Oder er sagte Dinge wie: «Pater Beda brachte eine Nachricht vom Grafen von Galen. Der hat sich in Predigten gegen die Behandlung Behinderter gewandt.» Ich stellte mir unter einem Behinderten einen Menschen vor, der nicht gut laufen konnte, und wunderte mich, warum man ihn nicht behandeln sollte. Fragen durften wir nicht. Vater sprach mit Mutter. Aber er konnte doch kaum davon ausgehen, dass wir ihn nicht verstanden! Wenn er von Hitler sprach, sagte er oft «der Verbrecher», und die Nationalsozialisten nannte er «die Leute».

Einmal setzte sich Franz in seiner schwarzen HJ-Winteruniform, die er besonders schick fand, zum Abendbrot. Er war gerade Fähnleinführer geworden und trug eine grün-weiße Kordel auf der linken Brust. Da legte Vater plötzlich das Messer weg und sagte zu ihm: «Was wir hier reden, darf auf keinen Fall nach draußen dringen. Du wirst mich doch nicht etwa nach Dachau bringen.» Ich hielt es für ausgeschlossen, dass Franz Vater verraten könnte. Für mein Gefühl wollte er nur angeben und mit der Hilde zusammen sein. Die war auch Führerin in der Hitlerjugend. Ich wusste Bescheid, denn ich hatte den beiden oft nachspioniert.

Aber Dachau – was war Dachau? Vater sagte kurz, darüber könne er nicht reden. Aber ich wusste, dass unser zweiter Pfarrer in Dachau gewesen sein soll. Ich mochte diesen Pfarrer, weil er sehr gut predigte und anders war als unser alter Prälat. Aber er war auch immer sehr ernst und konnte mit uns Kindern nicht viel anfangen. Man sagte, er stamme aus dem Sudetenland, weil er aber gegen Hitler war, habe man ihn nach Dachau gebracht, und nun sei er zu uns strafversetzt worden. Das Wort KZ fiel in diesem Zusammenhang, das sei viel schlimmer als ein Gefängnis. Aber nun war er ja Gott sei Dank bei uns.

Mein Vater traf sich ab und zu mit diesem Pfarrer Hornischer unten an der Friedhofsecke, um mit ihm spazieren zu gehen. Ich war dann manchmal neidisch, denn bis dahin war Vater immer mit mir spazieren gegangen. Aber ihm schienen diese Spaziergänge wichtig zu sein. Ich hörte einmal, wie Mutter zu ihm sagte: «Es ist nicht gut, wenn man dich so oft mit ihm zusammen sieht.»

Ich glaube, mein Vater verachtete die Nazis. Er hängte kein Hitlerbild auf, obwohl es bei uns für Beamte Pflicht war, in der Wohnung ein Hitlerbild zu haben. Und er kaufte keinen Volksempfänger, obwohl dieses Kleinradio billig auf den Markt geworfen wurde, damit jeder die Hitlerreden, die Wehrmachtsberichte und Siegesmeldungen hören konnte. Die Hitlerreden zu hören war für Vater Pflicht. Und auch wir Kinder wurden in der HJ immer gefragt, ob wir die letzte Hitlerrede gehört hätten.

Also ging die ganze Familie ungefähr alle zwei Monate sonntags zu einem von Vaters Kollegen, um diese Reden zu hören. Ich war immer nur kurz dabei, ich konnte die bellende Stimme nicht aushalten. Und diese Drohungen gegen die ganze Welt waren mir unheimlich. Stattdessen ging ich in den großen Garten, wo sich schon meine Mutter mit der Frau des Kollegen unterhielt und Beeren pflückte oder Kaffee trank. Zum Schluss bekamen wir immer einen oder zwei Körbe Obst mit, das war das Beste. Ich mochte diese Gänge zum Kollegen nicht, denn ich fand sie langweilig. Aber von Vater war die Sache gut arrangiert. Zum einen hatte er sich zur Hitlerrede sehen lassen, und außerdem wusste er, dass sein Kollege nichts gegen ihn sagen konnte. Denn mein Vater hatte ihm für seinen Hausbau Geld geliehen, das er von ihm jederzeit hätte zurückfordern können.

Zweimal wurde mein Vater abgeholt. Das eine Mal war ich nicht zu Hause, als sie kamen, der Polizist, den jeder im Ort kannte, und ein Zivilbeamter. Mein Vater hatte in der Messe Orgel gespielt, während er bei einer NS-Veranstaltung hätte sein sollen. Das andere Mal lag Hitlers Geburtstag schon etliche Tage zurück, als der Friseur ins Haus kam, um meinem Vater und meinen Brüdern die Haare zu schneiden. Es hatte tagelang geregnet, und Vater sagte zu dem Friseur: «Der Herr Kuska könnte auch mal wieder die Fahne hereinholen. Die ist ja nur noch ein Fetzen.» Am nächsten Tag standen diese beiden Männer vor der Tür: «Sie haben gesagt, die Fahne ist ein Fetzen.» Als er mit ihnen das Haus verlassen hatte, überfiel mich große Angst, und ich lief hinterher. Aber sie schickten mich zurück. Von da an passte ich auf, wo mein Vater war. Eine Zeit lang ging das Gerücht, sie würden ihn vom Schulhof weg mitnehmen. Ich war immer erleichtert, wenn er mittags nach Hause kam.

Dann sah ich einmal, wie er die Fahne grüßte. Es war bei einem Fahnenappell. Alle Schüler und Lehrer waren unter den Bäumen im Schulhof um den Fahnenmast herum im Karree aufgestellt. Meistens erschien Vater zu solchen Anlässen gar nicht, oder er kam zu spät. Diesmal stand er ziemlich weit vorn. Dass er den Arm hob, passte nicht zu ihm. Es sah albern aus. Wenn ihn sonst jemand unterwegs grüßte, erwiderte er den Hitlergruß nur knapp, ohne jemals die Hand zu heben. Meistens sprach er den anderen zuerst an, um den Gruß überhaupt zu vermeiden. Ich war deshalb überrascht und fragte ihn hinterher, warum er die Fahne gegrüßt habe. «Ich muss vorsichtig sein», sagte er. «Was soll denn sonst aus euch werden!» Um diese Zeit tauchte auch ein kleines Hitlerbild im Wohnzimmer auf. Die Umrisse des entfernten Kreuzes blieben daneben auf der Tapete deutlich sichtbar.

Meine Mutter interessierte sich nicht sehr für Politik. So sah es wenigstens aus. In Wirklichkeit wusste sie über alles gut Bescheid. Wenn wir uns dann wunderten, sagte sie verschmitzt: «Man muss ja nicht alles wissen!» Sie ging gerne unter Leute, vor allem ging sie gern zum Tanzen. «Wer viel arbeitet, soll auch viel tanzen», sagte sie dann einfach – einer ihrer «weisen» Sprüche.

Ihre ganze Fürsorge galt uns Kindern. Wenn mein Vater sie mit uns beobachtete, sagte er stolz: «Eine richtige Kindermutter!», und dann freute sie sich, und wir fühlten uns alle so richtig wohl.

Sie hatte alle Hände voll zu tun. Fast alle Lebensmittel wurden einzeln aufgerufen, und so ging sie mit den sechs Lebensmittelkarten heute zum Fleischer, morgen in die Molkerei. Einmal gab es Mehl, dann Zucker. Und den Rest musste sie sowieso mühsam zusammensammeln. Wintervorräte legte sie an: Tee, Kräuter, Obst, Gurken, Kartoffeln, und manchmal bekamen wir Milch und ein paar Eier von unserem Bauern. Gemüse holte sie oft aus der Nachbarschaft, fast jeder hatte einen eigenen kleinen Garten. Meine Mutter konnte hervorragend kochen und backen. Ihre Streusel- und Mohnkuchen waren unschlagbar.

Viel Zeit kostete sie das Ausbessern der Anziehsachen. Ich sehe sie vor mir, wie sie, die Brille auf der Nase, nähte und stopfte. Als gar kein Stoff mehr zu bekommen war, nähte sie mir aus den Wanderjacken meiner Brüder, die ihnen zu klein geworden waren, einen Spenzer. Tagelang arbeitete sie daran, stickte am Ende noch Edelweißblüten auf die Taschenpatten. Dass man im Karo die Nähte nicht sah, war ein Meisterwerk. «Flickenteppich» nannte sie das gute Stück. Ich war so stolz darauf, dass ich ihn dauernd trug. Leider ging er nach drei Monaten kaputt. Der schwarz-weiß karierte Rock dagegen, den sie mir 1944, im letzten Sommer, noch nähte, begleitete mich bis in den Westen. Dass ich einen großen Winkel hineingerissen hatte, als ich bei meiner Freundin Maria, statt durch das schöne schmiedeeiserne Tor zu gehen, wieder einmal aus lauter Übermut darüber hinwegstieg, hat sie nie erfahren. Wir behoben den Schaden auf der Nähmaschine so kunstvoll, dass man fast nichts mehr sah.

Besonders gerne spielte Mutter Klavier. Bis zu ihrem Tode schwärmte sie immer wieder vom Klang des innig geliebten Quandt-Klaviers, das Vater ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Über dem Instrument hing, in einen stilvollen Goldrahmen gefasst, ein schönes Bild der Königin Luise, die sie sehr verehrte. Vor allem bewunderte sie ihren Mut, Napoleon für ihr Volk um Gnade gebeten und sich vor ihm bis zum Kniefall gedemütigt zu haben. Luise habe im Unglück eine Stärke bewahrt, die Männer in der Not oft vermissen ließen. «Sie war eine große Frau», sagte sie dann und schielte über ihre Brille zu ihr hinauf. Bach und Mozart mochte meine Mutter nicht, dafür Chopin und Reger. Und am liebsten Wiener Walzer. Wenn ich sie bat, einen Walzer zu spielen, hörte sie gar nicht mehr auf.

Einmal brach sie ein Stück abrupt ab, und als ich sie nach dem Grund fragte, zeigte sie mir das Titelblatt: Mendelssohn Bartholdy. «Es könnte ja jemand vorbeigehen und hören, dass ich Mendelssohn spiele – er war doch Jude.» Wir mussten immer vorsichtiger sein.

Unsere Juden

Eines Tages hörte ich ein heftiges Gespräch zwischen Vater und Mutter aus der Küche mit, in dem mein Vater verlangte: «Und du gehst weiter zu Lederers einkaufen!» Lederer war der einzige Jude in unserer kleinen Stadt. Er hatte auf dem Ring – so nannte man bei uns in Schlesien den Marktplatz – ein Textilgeschäft, war gut sortiert und verkaufte solide und geschmackvolle Sachen. Mutter ging gern und häufig dorthin. Als Kind begleitete ich sie oft beim Einkaufen. Auf Lederers freute ich mich immer: Die hatten ein Fadenspiel, mit dem ich mich beschäftigen konnte, und meistens bekam ich etwas geschenkt. Hier trafen wir auch immer jemanden, mit dem Mutter reden konnte. Aber allmählich kamen immer weniger Leute in den Laden, und dann war niemand mehr darin, wenn wir hingingen. Ich hatte den Eindruck, Lederers selbst war es unangenehm, dass wir überhaupt kamen. Zwar waren sie immer noch sehr freundlich, aber es wurde nicht mehr gelacht. Und es wunderte mich, dass Mutter sich nach allen Seiten umsah, ehe sie den Laden betrat, und dass sie sich beeilte, wieder zu gehen.

Dann passierte das Schreckliche. Mein Vater kam erregt vorzeitig aus der Schule und verbot uns, auf die Straße zu gehen. Unbekannte hätten bei Lederers die Schaufensterscheibe eingeschlagen und das Geschäft verwüstet. Er fügte leise hinzu: «Es war die SA.»

Ich gab vor, meiner Freundin etwas bringen zu müssen. Sie wohnte im letzten der Lehrerhäuser jenseits der Schule. Unsere Väter waren Kollegen. Ich konnte entweder in zwanzig Minuten auf einem Feldweg hinter den Scheunen zu ihr gelangen oder den etwas längeren Weg durch die Stadt nehmen. Diesmal lief ich natürlich über den Ring. Er war menschenleer. Nur zwei Polizisten gingen auf und ab. Ich stellte mir vor, Lederers selbst – er ein schwarzlockiger, gut aussehender Herr mit einer dunklen Brille, sie etwas korpulent, gemütlich – säßen in ihrer Wohnung und weinten. Später hörten wir, sie hätten noch in der folgenden Nacht den Ort verlassen.

Als ich das erste Jahr mit dem Zug in die Oberschule fuhr, begegneten uns an der Bahnsteigsperre in Leobschütz oft zwei Kinder, die mit dem Zug, mit dem wir gekommen waren, in die Gegenrichtung fuhren. Der Junge, ungefähr so alt wie ich, und das ältere Mädchen waren beide dunkelhaarig und auffallend hübsch. Und sie hatten etwas Vornehmes an sich. Ich freute mich immer, sie zu sehen. Mich wunderte, dass sie so schnell wie möglich durch die Menschenmenge drängten. Immer hatten sie es sehr eilig und blickten unsicher um sich. Sie trugen ihre Taschen unter dem Arm und hatten den Mantel offen. Und dann sah ich einmal, dass ein Judenstern auf die Mäntel genäht war. Judenkinder durften nicht in Leobschütz auf die höhere Schule gehen. Sie mussten nach Ratibor fahren. Nach ein paar Monaten sah ich sie nicht mehr am Bahnhof. Ich fragte meinen Vater, warum sie nicht mehr kämen. Da sagte er: «Die Leute bringen die Juden nach Polen in ein Arbeitslager. Dort müssen sie für den Krieg arbeiten.» Ich fand das ungerecht, fragte aber nicht weiter. Zwar sah ich überall die Anschläge und Plakate, auf denen stand: «Jude, verrecke» oder «Feind hört mit», und daneben war immer das Bild einer schrecklichen Fratze, so konnte kein Mensch aussehen. Ich bekam mit, was den Juden alles verboten wurde. Einmal durften sie nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, dann durften sie nicht ins Kino oder auf den Fußballplatz. Sich auf eine Promenadenbank zu setzen war ihnen auch verboten. Sie mussten ausweichen, wenn ein Deutscher kam. Aber warum? Die beiden Kinder und Lederers waren doch keine Verbrecher! Und Vater hatte mir erzählt, dass ich einem Juden, der Kinderarzt in Ratibor war, mein Leben zu verdanken hätte.

Andererseits konnte mit den Juden etwas wirklich nicht stimmen. Schließlich hatten sie Jesus ans Kreuz geschlagen. Die das getan hatten, mussten verrückt gewesen sein. Jedenfalls wurden die Juden in unserer Kirche verachtet und, so hatte ich den Eindruck, auch gefürchtet. Immerhin war die Kreuzigung 2000 Jahre her, und immer noch sprach man nur schlecht von ihnen.

In der Karfreitagsliturgie, in die ich gerne ging, weil sie so traurig und unheimlich war, gab es auch lange Fürbitten. Alle kamen darin vor, für alle wurde gebetet. Sie wurden der Hierarchie nach genannt: die Kirche, der Papst, die Bischöfe, Priester und das Volk Gottes, der Allerchristlichste Kaiser (obwohl schon lange Hitler regierte), die Katechumenen, die Irrenden, Kranken, Gefangenen, Pilger und Schiffbrüchigen, die Häretiker und Schismatiker. Zum Schluss kamen die Juden an die Reihe und danach die Heiden. Zuerst sprach der Pfarrer ein Gebet, dann forderte der Diakon die Gemeinde auf niederzuknien, und nach einer Weile des Schweigens rief der Pfarrer «Levate!» (Erhebet euch). Ich fand die feierliche Zeremonie sehr eindrücklich. Aber wenn die Juden an die Reihe kamen, ging es mir jedes Mal durch Mark und Bein. Da hieß es: «Oremus pro perfidis Judaeis …», und es folgte kein geräuschvolles Niederknien, kein «Levate». Die Leute standen bewegungslos da, bis der Pfarrer weitermachte. Das hat mich einmal so erschüttert, dass ich allein niederkniete. Ich dachte an Lederers und die beiden hübschen Kinder. Nach dem Gottesdienst zupfte mich eine Frau am Ärmel und fragte, ob ich nicht wüsste, dass man für die Juden nicht niederkniet. Ich sagte ihr: «Aber die haben es doch am nötigsten!» Darauf sie: «Du bist wie dein Vater, pass bloß auf!»

Hinterher habe ich mich gefragt, ob vielleicht die Nazis von Gott geschickt worden waren, um die Juden für den Mord an Jesus zu bestrafen. Ich konnte das alles nicht verstehen.

Die Kirche

Die Kirche spielte für mich als Kind eine große Rolle. Natürlich gingen wir sonntags in die Messe. Mein Vater hatte damit seine Pflicht erfüllt, er war kein Kirchgänger. Aber für mich gab es zusätzlich die Rosenkranzandachten im Oktober. Die fand ich zwar ziemlich langweilig, aber der gleichmäßige, singende Ton hatte etwas Beruhigendes und zog mich immer wieder an. Die Kreuzwegandachten in der Fastenzeit waren mir lieber. Oft ging ich nachmittags allein in die Kirche, um von Station zu Station die Bilder zu betrachten. Besonders vor der 12. Station, «Jesus stirbt am Kreuze», blieb ich lange stehen und dachte darüber nach, wie leidensfähig ein Mensch war. Ich konnte nicht nachvollziehen, wie er das alles ausgehalten hatte, ohne schon vorher längst unter den Schlägen und Misshandlungen der Folterknechte zusammengebrochen zu sein. Allein die Angst! Ich würde das nie aushalten, das wusste ich genau. Ich wäre schon beim ersten Geißelhieb gestorben. Und manchmal weinte ich angesichts dieses schrecklichen Schicksals. Deswegen konnte ich nicht verstehen, dass die Apostel, die daneben standen, so gelassen und teilnahmslos aussahen. Sie schienen gar kein Mitleid zu haben. Ihr Blick ging an Jesus einfach vorbei. An den Sonntagen in der Fastenzeit kam ein auswärtiger Priester, der die Fastenpredigten hielt. Da durfte ich allerdings nicht mitkommen. Das sei nichts für Kinder, hieß es. Gerade das machte die Sache besonders interessant. Und so schlich ich mich einmal hinter den anderen in die Kirche hinein und hörte, wie ein Kapuzinerpater wortgewaltig und wild gestikulierend über die Sünden sprach, mit denen wir Jesus ans Kreuz gebracht hätten. Ich konnte nicht verstehen, dass meine Notlügen (und ich log wirklich nur, wenn’s nicht anders ging) und mein Zuspätkommen so wichtig sein sollten. Und in die Hölle kam ich ganz bestimmt nicht. Da war ich mir sicher. Danach ging ich nicht mehr in die Fastenpredigten.

Am liebsten waren mir die Maiandachten. Dann konnte ich fast schon Sommerkleider anziehen, die Kirche war voller Blumen, die Lieder waren poetisch und gemütvoll. Oft bauten wir uns zu Hause noch einen Maialtar auf und schmückten ihn mit Blumen und Kerzen. Die Blumen pflückten wir am Feldrain.

Das erste Mal war ich von der Kirche enttäuscht, als ich begriff, dass Mädchen keine Ministranten und Priester werden durften. Das konnte ich nicht verstehen, denn es gab bestimmt niemanden, der lieber in die Kirche ging als ich. Ich liebte die wohlklingende lateinische Sprache und freute mich jedes Mal, wenn der Pfarrer mit dem Introibo ad altare dei, ad deum, qui laetificat iuventutem meam die Messe begann. Ich kannte viele Texte auswendig, das Tantum ergo, das De profundis, Veni creator spiritus. Diese Liebe zum Lateinischen hat mich nie verlassen.

 

1943 bekamen wir einen jungen Priester aus Heiligkreuz, Pater Glatzel. Er war Steyler Missionar und wäre liebend gern ins Ausland gegangen. Aber wegen des Krieges war das unmöglich. Da es in der Schule keinen Religionsunterricht gab, bot er uns eine Gruppenstunde in der Woche im Pfarrheim an. Die religiösen Inhalte habe ich vergessen, nicht aber, was wir sonst so alles machten. Er konnte gut Gitarre spielen und hatte eine wunderbare Stimme. Wir haben viel gesungen. Er war immer zu einem Spaß bereit, es war interessant und lustig. Und wo er politisch stand, sah man seinem Gesicht an. Wir waren alle begeistert von ihm.

Er hatte die Angewohnheit, sein Brevier auf dem Kirchplatz im Gehen zu lesen. Und wie von ungefähr gingen dann meine beste Freundin Maria und ich an der Kirche vorbei, wir schwärmten nämlich für ihn. Nie hat er sich abgewandt. Immer hatte er Zeit für ein paar freundliche Worte. Und hinterher waren wir beide stundenlang damit beschäftigt, diese Begegnungen nachzuerleben. Wenn ich ihn mal allein traf, waren die Gespräche ernsthafter. Sie bedeuteten mir viel. Nur unsere Eltern machten Schwierigkeiten. Mit meiner Mutter hatte ich die ersten Auseinandersetzungen, als sie mir Vorhaltungen machte, einem jungen Priester so nachzulaufen. Aber ich sah wirklich keinen Grund, mich zu schämen.

Wir mussten uns trotzdem etwas anderes einfallen lassen. Da wir jede zweite Woche im Wechsel mit den Jungen nachmittags Schule hatten – unser Lyzeum war ein Lazarett geworden –, gingen wir morgens so oft wie möglich in die Messe. Und es war unser unerschöpfliches Thema, wie schön er das Gloria gesungen hatte oder an den Stufen des Altars fast über den Teppich gestolpert wäre.

Es gab viele Totenmessen in dieser Zeit, manchmal zwei am Tag. Die Zahl der Gefallenen nahm ständig zu, sodass wir, außer sonntags, fast nur noch «schwarze Messen» hatten. Dafür wurde ein Katafalk aufgestellt und mit sechs Kerzen umgeben. Ein alter Mann spielte Orgel und sang ganz allein mit seiner zerbrechlichen Stimme dazu: «Requiem aeternam …» Über diese absurde Situation konnten wir uns nur amüsieren. Wir machten uns sogar, albern wie wir waren, über die «Trauergemeinde» lustig, die oft nur aus wenigen Leuten bestand. Wie jemand den Hut aufhatte oder sich räusperte – alles war Anlass zum Lästern und Kichern. Wir mussten viele missbilligende Blicke einstecken. Aber das hinderte uns nicht daran, das Leben von seiner interessanten und lustigen Seite zu sehen. Und wir sahen nicht ein, warum unsere Eltern dauernd mahnten, das gehöre sich nicht. Die Zeiten seien viel zu ernst. Das wussten wir ja selbst.

Schließlich verbot mir meine Mutter, ständig zu den Totenmessen zu gehen. Als ich das Pater Glatzel erzählte, ließ er ihr ausrichten: «Aber wer soll mir denn dann die liturgischen Antworten geben? Es ist ja oft kein Ministrant da!» Er besuchte meine Mutter und beruhigte sie.

Heute bin ich überzeugt, dass er, absichtlich oder nicht, auf diese Weise ein Gegengewicht zur Hitlerjugend geschaffen hat.

In der Schule

Ich war eine begeisterte Schülerin und ging vom ersten bis zum letzten Tag gern zur Schule. Am Anfang nahm mein Vater mich an der Hand mit in die Grundschule, später fuhr ich mit dem Zug in die Kreisstadt Leobschütz. Für mich veränderte sich dadurch einiges, es wurde jetzt richtig spannend. Zunächst fuhren die Züge noch zu einer passenden Zeit, 7.20 Uhr hin und 13.10 Uhr zurück. In den letzten Kriegsjahren aber mussten wir um 6.00 Uhr abfahren und kamen erst um 15.30 Uhr nach Hause. In den Zügen wurde gelernt oder geschlafen. Im Winter war es oft bitterkalt in der ungeheizten Wartehalle und in den ungeheizten Abteilen. Vor allem, wenn die Züge Verspätung hatten – und das kam oft vor –, froren wir erbärmlich. Damals habe ich mir die Füße erfroren, ich hatte ja auch keine richtigen Schuhe. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass jemand von uns geklagt hätte.

Die Schule war irgendwo zwischen Elternhaus und nationalsozialistischer Erziehung angesiedelt. Natürlich standen der Sport und die körperliche Ertüchtigung im Vordergrund. Die Kopfnoten im Zeugnis wurden immer mit einer Beurteilung des Charakters verknüpft. So war über meine Nebensitzerin – wir waren zwölf Jahre alt – lobend vermerkt: «Susanne zeigt starken Willen zu körperlicher Härte». Nur war Susanne überhaupt nicht an Sport interessiert. Wir amüsierten uns sehr darüber.

Von den Lehrern hing es ab, ob der Unterricht eher liberal, mehr sachlich neutral oder politisch doktrinär verlief. Wir hatten zum Beispiel eine alte Handarbeitslehrerin, die war von ihrer Arbeit überzeugt, aber Politik interessierte sie nicht. Wenn wir in der ersten Stunde von ihr unterrichtet wurden, gestaltete natürlich auch sie den vorgeschriebenen Morgengruß. Aber sie schrieb einfach einen christlichen Spruch (z.B. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst») oder ein Sprichwort (z.B. «Müßiggang ist aller Laster Anfang») an die Tafel, sagte dazu ein paar Worte, klatschte in die Hände und rief: «Also Kinder, fleißig, fleißig! Auch der Führer will, dass wir fleißig sind. Heil Hitler!»

Dann gab es eine Lehrerin, bei der wir Deutsch und Englisch hatten. Wir wussten alle, dass sie «dagegen» war. Nie stellte sie im Unterricht einen aktuellen Bezug her, auf Fangfragen fiel sie nicht herein. Sie war immer korrekt und gab einen hervorragenden Unterricht. Mit großer Eindringlichkeit las sie uns aus der Odyssee vor. Nie werde ich ihre Stimme vergessen: «Und als die Morgenröte mit Rosenfingern erwachte …»

Zwei junge Lehrerinnen unterrichteten an der Schule, die eindeutig nationalsozialistisch eingestellt waren. Sie vermischten den Unterrichtsstoff mit Parolen und Appellen. Die ewigen Wiederholungen waren schrecklich langweilig.

Unsere Biologielehrerin war für mich undurchsichtig. In der Schule verhielt sie sich korrekt. Weil sie aber überhaupt keine Disziplin halten konnte, trat sie oft mit verweinten Augen vor die Klasse. Auf dem Flur wurde sie vom strammen Chef heruntergemacht, von uns wurde sie gehänselt. Oft brachten wir sie zur Weißglut und freuten uns über ihre Hilflosigkeit, und manchmal tat sie mir Leid. Auf der anderen Seite war sie eine führende Persönlichkeit in einer NS-Organisation und nahm an den Aufmärschen und Parteiveranstaltungen teil. Sie war sehr musikalisch und zu vornehm und sensibel für diese Welt, eine idealistische Schwärmerin. Später, im Westen, sei sie Diakonissin geworden, hörte ich.

Ich spürte genau, wo jeder Einzelne politisch stand, ich konnte die Situationen gut einschätzen, und es machte mir überhaupt nichts aus, mich jeweils anzupassen. Ja, ich machte mir oft sogar einen Spaß daraus, durch unschuldige Fragen ein wenig zu provozieren und mich über Ausflüchte oder Klischees zu freuen. Früh lernte ich zu unterscheiden zwischen der Realität und den Informationen darüber. Aber dann kam ich zweimal in schwierige Situationen, und zwar bei der Geschichtslehrerin. Ich war begeistert von ihrem Unterricht. Aber zog sie die Parallelen zur Gegenwart aus Pflicht oder aus Überzeugung? Sie erschreckte mich mit persönlichen Bemerkungen. Die eine war ja noch gut gemeint, als sie sagte: «Wenn du 50 % deiner Quecksilbrigkeit deiner Schwester abgibst, hast du immer noch genug davon!» Ich empfand das als unpassend. Wollte sie mich loben oder tadeln? Wollte sie meine Schwester schlecht machen?

Aber das andere Mal irritierte sie mich so sehr, dass ich begann, ihr zu misstrauen. Es muss 1943 gewesen sein. Vater war vor kurzem gestorben. Ich hatte in seinem Schreibtisch gestöbert und einige Kladden gefunden mit Reiseberichten und Tagebuchaufzeichnungen. Dabei hatte ich mich in seinem Bericht über Prag festgelesen. Als wir kurz danach die Zeit Kaiser Karls IV. bis zum Prager Fenstersturz durchnahmen und die ersten kleinen Referate verteilt wurden, meldete ich mich: Ich könne etwas über Prag sagen. Ich schrieb viel aus Vaters Notizen ab, machte aber auch keinen Hehl daraus. Die Klasse war beeindruckt. Auch die Lehrerin lobte mich. Aber dann sagte sie: «Dein Vater muss ja ein großer Judenfreund gewesen sein, so liebevoll, wie er ihre Friedhöfe beschrieben hat.» Eisiges Schweigen folgte. Ich traute mich kaum zu atmen. Ich hatte meinen Vater verraten. Zwar schadete es ihm nicht mehr, aber ich hatte auch mich selbst bloßgestellt und ein schlechtes Licht auf meine Familie geworfen. Ich war sehr beunruhigt. Lange hatte ich Angst, es könnte deswegen etwas passieren.

Dann nahmen wir in Deutsch Balladen durch. Sie begeisterten mich alle. Heute noch weiß ich viele auswendig. Als ich eines Nachmittags laut deklamierend durch die Wohnung schritt, fragte mich mein Bruder Bernhard, ob ich eine Ballade hören wolle, die ich bestimmt noch nicht kennen würde. Er erzählte mir die Geschichte von Belsazar, einem verbrecherischen König von Babylon: Bei einem seiner protzigen Staatsbankette schrieb zum Entsetzen der Gäste eine unheimliche Hand an die schwach beleuchtete Palastwand die Worte Mene – Tekel – Ufarsin. Da keiner der Weisen die Schrift enträtseln konnte, wurde der Jude Daniel aus der Verbannung geholt. Dieser deutete sie als Gerichtsurteil über den Herrscher: gezählt, gewogen, geteilt, was so viel heißen sollte wie: deine Tage sind gezählt, deine Taten sind gewogen und für zu leicht befunden worden, dein Reich wird geteilt. In derselben Nacht kam der König um.

Dann las Bernhard mir die Ballade vor. Sie war noch unheimlicher als die Geschichte: «Die Mitternacht zog näher schon; in stummer Ruh lag Babylon …» Hatte schon der Turm zu Babel im Religionsunterricht meine Phantasie beschäftigt, so war ich von dieser Ballade völlig begeistert. Ich lernte sie sofort auswendig.

In der nächsten Deutschstunde meldete ich mich, ich wüsste eine Ballade, die bestimmt keiner kenne. Alle wurden ganz still, als ich sie vortrug. Aber am nächsten Morgen wurde ich von der Lehrerin vor der Klasse zur Rede gestellt: Woher ich das Gedicht hätte, wer es mir gezeigt hätte, ob ich wüsste, dass ein Jude es geschrieben habe. Seine Bücher seien längst alle verbrannt worden. Da log ich, ich hätte es auf dem Dachboden beim Abfall gefunden. Zu Hause suchte ich das Buch. Es stand selbstverständlich im Bücherschrank und war von Heinrich Heine. Sofort las ich mehr von ihm. Die «Lorelei» gefiel mir besonders gut. Konnte der, der das geschrieben hatte, eine «Judensau» sein?

Der Vorfall hatte keine Folgen. Die Deutschlehrerin war sogar besonders freundlich zu mir. Sie verriet mich auch nicht beim Direktor. Ich hatte den Eindruck, sie hatte selbst Angst und tadelte mich vor der Klasse, um nicht angezeigt zu werden. Aber ich fühlte mich unsicher und wurde vorsichtig.

Als wir in der Quarta waren, ging eine Welle der Unruhe durch die Schule. Man hatte beschlossen, dass wir in Leobschütz nur das «Puddingabitur» machen durften. Wer ein normales Abitur wollte, musste nach Neiße oder Ratibor wechseln. Meine Schwester Bärbel, vier Klassen über mir, hatte bereits ein Baby- und Kindergartenpraktikum machen müssen, Kochen lernen und viel Hand- und Werkarbeit leisten. Die Schwester von Susanne, die in Nassau bei Neustadt ihr Kindergartenpraktikum absolvierte, erzählte uns, was sie den Kleinen beibringen musste:

«Händchen falten,

Köpfchen senken

und an Adolf Hitler denken,

der uns gibt das täglich Brot

und uns führt aus aller Not.»

In dieser Zeit hörte ich ein aufgeregtes Gespräch von BDM-Führerinnen mit, in dem es darum ging, dass arische Mädchen ausgesucht und in eigenen Erziehungsstätten – die nannten sich Lebensborn – zusammengefasst wurden, damit sie «richtige deutsche Mädel» würden und später dem Führer Kinder gebären sollten. Da bekam ich Angst, denn Vater wollte doch, dass ich Kinderärztin würde.

Die Hitlerjugend

Wir Kinder waren alle in der Hitlerjugend. Ab 1939 war das Pflicht. Und ich gehörte dem ersten Jahrgang an, der als Ganzes dem Führer zu seinem Geburtstag am 20. April geschenkt und geweiht wurde. Wir als Oberschüler wurden dazu gedrängt, Führungsfunktionen zu übernehmen. Bernhard schaffte es, den Geldverwalterposten zu bekommen. Er lief mit einer kleinen Kasse herum, ließ die Gruppenführer mit den Beitragsgeldern zu sich kommen, notierte alles in Listen und lieferte die Beträge einmal im Monat ab. Vielen musste er hinterherlaufen, um die Gelder einzutreiben, aber dafür musste er nur selten in den Dienst. Er fuhr lieber mit dem Rad zu seinem Freund, der bei uns «Harras, der kühne Springer» hieß, weil er im Freibad einen Kopfsprung vom Fünf-Meter-Brett riskiert hatte. Meine Schwester Bärbel interessierte sich überhaupt nicht für die Hitlerjugend. Da man nach dreimaligem Fehlen erst von der Führerin, dann von der Polizei oder der SA zum Dienst geholt wurde, fehlte sie grundsätzlich zweimal und ging dann einmal hin. Wir hatten immer wieder Scherereien ihretwegen, und oft musste ich zu ihrer Führerin, wenn’s brenzlig wurde, auch zum SA-Leiter Müller, um irgendeine Entschuldigung für sie zu erfinden. Währenddessen vergnügte sie sich in der Villa nebenan bei ihrer Freundin Inge, wo sie im Turmzimmer Genoveva-Bücher lasen oder im Garten auf der Wippschaukel als Winnetou und Old Shatterhand durch die Prärie ritten und sich in der dritten Person anredeten («Hat mein weißer Bruder bedacht …?»). Franz war ein guter Führer, aber ich glaube, nicht aus Überzeugung, sondern weil er gerne Führer war. Er hatte eine Begabung dafür. Manchmal sah ich ihn aus dem Pfarrhaus kommen, wo er die Zeiten der Dienste und Morgenfeiern mit den Zeiten der Gottesdienste abstimmte. Ich selbst brachte es nur bis zur Schaftführerin.

Mein Vater war nicht begeistert darüber, dass wir in der Hitlerjugend waren, aber da er es auch nicht verbieten konnte, ignorierte er es. Es war zu Hause kein Thema.

Als Frau eines Beamten gehörte meine Mutter dem NS-Frauenbund an. Auch sie hätte eigentlich jeden Monat einmal zu ihren Veranstaltungen gehen sollen, ging aber nur ganz selten hin, um sich sehen zu lassen. «Was soll ich da? Das gefällt mir nicht», sagte sie. Zwar hatte sie das «Mutterkreuz in Bronze» verliehen bekommen, weil sie «dem Führer vier Kinder geschenkt» hatte. Aber das fand sie so dumm, dass sie es nie trug. Ich habe es jedenfalls nur einmal gesehen, als sie es uns nach der Verleihung vorführte.

Wenn sie jemand auf den Frauenbund ansprach, sagte sie: «Ich habe keine Zeit. Ich habe schließlich eine sechsköpfige Familie zu versorgen.» Erst als einmal zwei Frauen erschienen, um sie zum NS-Frauenschaftsabend abzuholen, und ihr vorhielten, beim Faschingsball vom Sudetengebirgsverein sei sie aber gewesen, wurde auch sie vorsichtiger.