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Als Elfriede Wolf, genannt Friedchen, am 12.12.1912 zur Welt kommt, scheint das Glück ihrer Eltern vollkommen. Noch ahnt niemand, was den Lebensweg des Kindes mehr als alles andere bestimmen wird: Es ist zwergwüchsig und Hermaphrodit. Obwohl der erste Weltkrieg und seine Folgen Friedchens Kindheit überschatten, wächst sie, liebevoll beschützt durch die Eltern, selbstbewusst und unbekümmert auf. An ihrer Seite Paul, der jüdische Nachbarsjunge, und später Hilla, ihre beste Freundin, der sie ihre Liebe schenkt. Erst als Heranwachsende wird sie plötzlich mit dem ganzen Ausmaß ihrer Andersartigkeit konfrontiert. Sie muss Spott, Enttäuschung und Verrat verkraften. Doch sie gibt sich nicht verloren, sondern kämpft um sich und ihren Platz - in einer Zeit, in der Anderssein lebensbedrohlich ist ... Robert Menasse über das Buch: »Sie werden vor Rührung weinen, wenn Sie Hanna Jansens Buch lesen. Schämen Sie sich nicht Ihrer Tränen, sagen Sie nicht, es sei Kitsch. Es ist anders! Dieses Buch erzählt so einfühlsam wie wuchtig, was das bedeutet: Anders zu sein. Und am Ende sind es auch Sie!«
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Seitenzahl: 231
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Hanna Jansenwurde 1946 in Diepholz geboren und wuchs in Osnabrück auf, wo sie später auch studierte.Ihren Durchbruch als international beachtete Kinder- und Jugendbuchautorin hatte sie 2002 mit dem Roman Über tausend Hügel wandere ich mit dir, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit nationalen und internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde.Gemeinsam mit ihrem Mann, einem Kinderarzt, hat sie dreizehn Kinder aus aller Welt aufgenommen, überwiegend aus Afrika.Heute lebt Hanna Jansen mit dem jüngsten Sohn und ihrem Mann auf einem Bauernhof in der Vulkaneifel.
Nämlich unsere ehemalige Natur
war nicht dieselbe wie jetzt, sondern eine andere.
Denn erstlich gab es drei Geschlechter von Menschen,
nicht nur zwei, männliches und weibliches,
sondern es gab noch ein drittes dazu,
welches das gemeinschaftliche war von diesen beiden.
Platon (ca. 400 v. Chr.)
Tatsächlich war keine Menschenseele in der Nähe, als die kleine Gestalt den vorgeschriebenen Pfad oberhalb der Wiesen verließ, um einen Fuß nach dem anderen in das nasse, nachgiebige Gras zu setzen und sich langsam dem Fluss zu nähern, der sich regenschwer durch die Auen wälzte. In der Ferne wie Schattengebilde Weiden, die in den Himmel ragten und das Ufer säumten.
In aller Herrgottsfrühe, noch in der Dunkelheit, hatte Friedchen sich auf den Weg gemacht. Jetzt begann der Tag sich in ein kaltes Wintergrau zu lichten. Stunden mussten vergangen sein, seit es aufgebrochen war. Doch da war kein Gefühl von Zeit, auch kein Gefühl von Kälte oder Nässe und kein Gedanke mehr an das, was vor ihm lag.
Der Gang war leicht, ebenso der Kopf. Die Nachwirkung von einem Mix aus Schnaps und Schlafpulver hatte gleich nach dem unsinnigen Erwachen an diesem Morgen eine Art Schwerelosigkeit herbeigeführt. Der Körper spielte keine Rolle mehr.
Nur ein Gedanke nahm noch einmal klare Konturen an, oder vielmehr war es ein Bild: das Bild der Eltern, die ihr Friedchen bedingungslos geliebt hatten als einen Teil von sich. Diese beiden hatten es so stark gemacht, dass es sich nie verloren geben musste. Und auch jetzt gab es sich nicht verloren. Es würde nur seinen Weg zu Ende gehen.
Wer denn?
Ich gehe tausend Jahre
um einen kleinen Teich,
und jedes meiner Haare
bleibt sich im Wesen gleich,
im Wesen wie im Guten,
das ist doch alles eins;
so mag uns Gott behuten
in dieser Welt des Scheins.
CHRISTIAN MORGENSTERN
Der 12.12.1912
war ein Datum, an dem die Briefmarkensammler überall in der Welt die Postämter stürmten und im fernen Bayern ein Regent verstarb,
es war ein Datum, das Karl Wolf, der viel Humor besaß und bei gegebenem Anlass gern ein Schlückchen Klostergeist hinunterkippte, nach jenem denkwürdigen Tag schlicht als Schnapszahl bezeichnete,
während Elfriede Wolf, die kurz nach Mitternacht das dunkle Licht der Welt erblickte, in ihrer Geburtsstunde später, als sie das Ungewöhnliche daran begriff, etwas Magisches entdeckte.
Henriette Wolf, geborene Edelmann, nannte die Zwölfen, die sich in Datum und Uhrzeit der Niederkunft ihres ersten und einzigen Kindes vereinten, ihre Glückszahlen, wie geschaffen für das lang ersehnte, späte Glück, das ihr der Himmel schenkte, und sie blieb dabei, ihr Leben lang.
Gertrud Haller hingegen, die Hebamme, hatte jeglichen Sinn für Daten, ganz gleich welcher Art, verloren, seit sie zu allen möglichen Tages- oder Nachtzeiten zur Geburt eines Kindes gerufen wurde und manchmal unter den widrigsten Umständen – während Stunde um Stunde scheinbar zeitlos verstrich – ihre Arbeit tat. Geburtstage waren für sie wie alle anderen Tage, ebenso schnell vergessen wie vergangen, und kaum einmal blieb ihr einer in Erinnerung. Auch selten eins der Kinder, bis auf wenige Ausnahmen: Bauers Mariechen zum Beispiel, die mit einem großen Feuermal zur Welt gekommen war, das arme Ding! Oder Meyers Hermann, dessen erster Atemzug den letzten seiner allzu jungen Mutter gekostet hatte. Einen kleinen Teufelskerl nannte Gertrud ihn.
Als Gertrud also in jener Nacht, von Karls Rufen unsanft aus dem Schlaf gerissen, ihr Haus verließ, um an seiner Seite den Weg durch die kleinen Gassen der Stadt anzutreten, tat sie es mit dem gewohnten Gleichmut. Draußen aber wurde sie von einem Frost empfangen, der ihr mit so scharfen Zähnen ins Gesicht biss, dass sie ihr wollenes Umschlagtuch bis zu den Augen hinaufzog. Es war ein Frost, der alles überzeichnete: die Helligkeit des Mondlichts, die Stille in den Seitengassen und den Widerhall der Schritte auf den harten, runden Pflastersteinen.
„Haben Sie auch genügend Holz und Kohle nachgelegt?“, knurrte sie Karl an. Sehr zu ihrem Leidwesen musste sie immer damit rechnen, dass nichts vorbereitet war.
„Es ist alles, wie es sein soll“, beteuerte er. „Henni hat dafür gesorgt.“ Er schwankte. Auf den Beinen, in die bereits eine halbe Flasche Klostergeist gesickert war, sowie zwischen einer unbändigen Vorfreude auf das bevorstehende Ereignis und ängstlicher Besorgnis um seine Henni. Eine Erstgebärende jenseits der dreißig. Würde sie es schaffen? Die Petroleumlampe, die er vor sich hertrug, schwankte mit ihm.
„Gibt es schon einen Namen?“, forschte Gertrud weiter. Mehr, um den werdenden Vater aus der Reserve zu locken, als aus echtem Interesse.
„Friedrich“, antwortete er prompt. Mit jeder Silbe stieß er eine weiße Atemwolke aus. „Oder Elfriede“, fügte er, nur der Vollständigkeit halber, hinzu. Wenn er ehrlich war, lieber Friedrich! Lieber ein Junge. Damit kannte er sich besser aus. Denn obwohl er seine Henni, die alles in seinem Leben ordnete, von Herzen liebte, blieb sie für ihn doch ein Buch mit sieben Siegeln. Meist konnte er nur ahnen, was sie fühlte oder dachte. Sie war eine ruhige Frau mit einem starken Willen, und der Blick aus ihren klaren, hellen Augen brachte ihn noch immer aus dem Gleichgewicht. Elfriede? Also gut, wenn’s sein musste, wäre ihm das auch recht.
„Wie geht es Ihrer Frau? Hat sie starke Schmerzen? Wie häufig sind die Wehen schon gekommen?“, fuhr Gertrud mit ihrem Verhör fort. Bei Erstgeburten wurde sie oft viel zu früh geholt und sie fürchtete, womöglich unverrichteter Dinge wieder umkehren zu müssen, was sie im höchsten Maße ärgern würde. Besonders in einer so kalten Nacht wie dieser. Schließlich war sie nicht mehr die Jüngste und die häufigen Nachteinsätze begannen an ihren Kräften zu zehren.
Karl schwankte noch ein wenig mehr. „Wie kann ich’s wissen!“, antwortete er. „Sie hat mich am Morgen fortgeschickt. Wollte mich nicht in der Kammer haben. Aber vorhin hat sie mich gerufen. ‚Geh jetzt und hole Gertrud Haller, es dauert nicht mehr lang‘, hat sie gesagt. Sonst nichts. Und da war sie ganz ruhig.“ Er schielte zur Hebamme hinunter, deren Augen über dem Umschlagtuch grimmig nach vorne blickten, als gelte es, in einen erbitterten Kampf zu ziehen, und das schwankende Pendel in ihm schlug nun endgültig auf die Seite der Angst. „Hätte ich lieber bei ihr bleiben und jemand Anderen nach Ihnen schicken sollen?“
„Sie wird’s schon wissen“, zischte Gertrud hinter ihrem Tuch. „Ein Mannsbild wäre ohnehin nicht zu gebrauchen!“
Die Worte der Hebamme trafen Karl, doch er musste zugeben, dass sie Recht hatte. Wenn seine Henni hilflos war, war er es auch. „Sie werden ihr doch helfen können?“, fragte er.
Gertrud schnaufte gereizt. „Kommt ganz drauf an! Wir werden sehen, was zu tun ist.“
Elfriede Wolfs erster Schrei war kräftig. Henni war, nachdem sie ihr Kind mit Gertruds Unterstützung und einer letzten entsetzlichen Anstrengung aus sich hinausgepresst hatte, in eine Art Ohnmacht gesunken, doch beim hellen Klang der Neugeborenenstimme tauchte sie wieder auf. Ein Junge!, dachte sie mit einem nie gekannten Glücksgefühl. So schreit ein Junge. Sie hob den Kopf. Doch als sie wie durch einen Schleier im matten Licht der Petroleumlampe die Hebamme sah, die den blutverschmierten Säugling an den Füßen hielt, um die Nabelschnur zu durchtrennen, fühlte sie sich plötzlich ausgehöhlt und ihre Freude schlug in eine tiefe Wehmut um, die sie sich nicht erklären konnte. Mit ungewohnter Heftigkeit sehnte sie ihr Kind in sich zurück, wo es geschützt gewesen war. „Ein großes Kind“, bemerkte Gertrud. Es war nur wenige Minuten nach Mitternacht.
Die Geburt war schneller in Gang gekommen, als die Hebamme es erwartet hatte. Tatsächlich hatte Henni so lange ausgeharrt, bis die Wehen in immer kürzeren Abständen angekündigt hatten, dass ihr Kind mit aller Macht aus ihr hinausdrängte. Erst dann hatte sie Karl losgeschickt, um die Hebamme zu holen. Und als Gertrud in die kleine, vom Küchenherd durch die geöffnete Tür erwärmte Schlafkammer getreten war, hatte sie Henni mit gespreizten Beinen auf einem mit sauberen Laken überzogenen Bett vorgefunden. Ihr Gesicht bleich wie das Laken, darin jedoch der eiserne Wille, ihre Sache gut zu machen. Und sie hatte ihre Sache gut gemacht, wie Gertrud zugeben musste. Selten hatte die alte Hebamme eine Erstgebärende erlebt, die so offensichtlich wusste, worauf es ankam und beinah lautlos den Schmerz ertragen hatte, der sie fast zerriss. Zum Glück hatte das Kind richtig gelegen, mit dem Kopf zum Ausgang. Ein großer Kopf, der die Öffnung, durch die er hindurchmusste, bis zum Äußersten gedehnt hatte. Aber insgesamt war es eine erstaunlich leichte Geburt gewesen, dazu bestens vorbereitet, denn alles, was gebraucht wurde, war bereitgestellt: frische Tücher und Laken, zwei Eimer, eine gefüllte Zinkwanne auf einem kleinen Tisch, auf dem Herd ein großer Kessel mit kochendem Wasser, Wickelbänder, Windeln, Tücher und Hemdchen fürs Kind. Und neben dem Bett eine alte Holzwiege.
Henni ließ Gertrud nicht aus den Augen, als die den Säugling nun über die Wanne hielt, um ihn mit energischer und doch behutsamer Hand zu waschen, seine tief gerötete Haut von den Resten der Fruchtblase zu befreien. Er hörte auf zu schreien. Und im selben Moment glitt aus Henni alles heraus, was ihren Körper monatelang mit dem des Kindes verbunden hatte, als ob nun ihrer beider Trennung endgültig vollzogen sei. „Frau Haller!“, stöhnte sie, entsetzt auf die blutige Masse starrend.
Die Hebamme wandte sich um. „Keine Sorge!“, sagte sie ruhig. „Gleich, wenn ich mit dem Kindchen fertig bin, werd ich mich drum kümmern. Übrigens, es ist ein …“, ‚Mädchen‘, wollte sie sagen, aber sie sprach es nicht aus, denn sie hatte etwas entdeckt, was sie bis dahin übersehen hatte. Einen kleinen Zipfel im Winkel der Schenkel, wirklich nur sehr klein, aber … Sie trug den Säugling in den Lichtkreis der Petroleumlampe, bettete ihn in ihrer Armbeuge und spreizte mit der freien Hand die Beinchen auseinander. Er schrie wieder los. Kopfschüttelnd untersuchte Gertrud die Angelegenheit genauer. Nein, ein Junge war es auch nicht, denn es fehlte alles Weitere, was ein Junge brauchte. Außerdem war da die kleine Spalte, wo sie hingehörte.
„Was tun Sie da?“, fragte Henni ängstlich und richtete sich auf. „Was ist mit meinem Kind?“
Gertrud dachte kurz nach. Diese Mutter verdiente es, sich ungetrübt zu freuen. „Es ist gesund!“, antwortete sie entschieden. „Und ein Mädchen.“
Mit einem erleichterten Lächeln sank Henni zurück.
Es war das Zipfelchen, das Gertrud Haller nie vergaß und weshalb Elfriede Wolf später zu den Kindern zählte, an die sie sich erinnerte.
Als der durchdringende erste Schrei seines Kindes ertönte, saß Karl auf dem Abort. Eine winzige Kammer im Treppenhaus mit einem Fenster zum Hof. Er starrte in die Nacht hinaus. Seine Hände, auf den Knien liegend, waren blau vor Kälte. Sein Körper steif, sein Kopf ernüchtert und nun wieder völlig klar. Friedrich, dachte er. So schreit ein Junge!
Er hatte sich an diesen Ort zurückgezogen, weil er das Warten in der Wohnung nicht mehr ausgehalten hatte. Auf und ab zu gehen vor einer verschlossenen Tür, hinter der seine Henni mit dieser ungehobelten Alten allein war und vielleicht unerträgliche Qualen litt, machte ihn verrückt. Hin und wieder hatte er ihr Stöhnen gehört und sich ausgeschlossen gefühlt. Wie so oft, wenn er begreifen musste, dass etwas Frauensache war und er keinen Zugang dazu fand.
In den Monaten der Schwangerschaft hatte sich dieses Gefühl verstärkt. Zwar hatte die Freude über das unverhoffte Glück ihn und Henni zunächst noch enger aneinander geschmiedet, als sie es ohnehin gewesen waren, aber je mehr ihr Bauch sich nach außen gewölbt hatte, desto in sich gekehrter war sie Karl vorgekommen. Als würde sie sich selbst nach und nach in diese Höhle verkriechen, in der ihr Kind wuchs. Karl hatte seine Augen nicht von ihr lassen können, doch sie war ihm entrückt. An den vielen Abenden, an denen sie schweigsam am Küchentisch gesessen hatte, um unermüdlich zu nähen, zu häkeln und zu stricken – all diese Bänder, Tücher und winzigen Hemdchen – hatte er auf ihre kleinen, geschickten Hände gestarrt, die ihn viele Male liebevoll berührt hatten, nun aber eine ganz andere Sprache sprachen, eine, die er nicht verstand. Zwischendurch hatte sie die Handarbeit beiseite gelegt, sich sanft über die Wölbung ihres Bauches gestrichen und Karl ein abwesendes Lächeln geschenkt. Die Bewegung ihrer Hände ein Streicheln, das nicht ihm galt. In solchen Augenblicken hatte es ihm die Brust zusammengezogen, und mehr als je zuvor hatte er sich gefragt, warum sie ausgerechnet ihn gewählt hatte. Vielleicht hatte der frühe Tod ihrer Eltern sie in seine Arme getrieben. Wenn es so war, ließ sie es ihn jedoch niemals spüren. Nicht den geringsten Anlass gab sie ihm, an ihrer Liebe zu zweifeln, im Gegenteil! Am Tag war sie die ruhige Stütze, die er brauchte, und in den Nächten raubte ihm ihre Leidenschaft den Atem.
Als Meister in der Königlichen Geschossfabrik genoss Karl Ansehen und verfügte außerdem über ein ungewöhnlich gutes Einkommen. Er hatte sogar das Recht auf Urlaub, wovon er jetzt Gebrauch gemacht hatte, um Henni zur Seite zu stehen, und er würde, wenn alles so blieb, wie es war, später einmal eine gute Pension erhalten. Die Arbeit in der Fabrik war hart, doch er tat sie gern und sie erfüllte ihn mit Stolz. Kaiser Wilhelm zu dienen, war eine Ehre.
Als Karl langsam aufstand, durchzuckte seinen Rücken ein stechender Schmerz und er konnte seine Finger kaum bewegen. Es wurde Zeit, dass er nach oben ging, um seinen Sohn zu begrüßen. Die Stimme des Kindes, die er noch eine Weile gehört hatte, war verstummt. Deshalb hoffte er, dass die beiden Frauen inzwischen alles hinter sich gebracht hatten und ihm nicht länger den Zutritt zur Kammer verwehren würden.
Kaum hatte er die gute Stube betreten, da öffnete sich auch die Tür zur Schlafkammer und Gertrud kam ihm entgegen. Einen Eimer in der Hand und im Arm einen Haufen Tücher und Laken. Mit Schrecken stellte Karl fest, dass die Laken blutdurchtränkt waren.
„Sie können jetzt zu ihr“, sagte die Hebamme im Vorbeigehen. „Aber gönnen Sie den beiden noch ein wenig Ruhe!“
Henni lag, von einem Kissenberg im Rücken gestützt, auf dem frisch bezogenen Bett. In ihren Armen geborgen hielt sie ein kleines, weißes Bündel, und Karl, der zögernd in der Türöffnung stehen geblieben war, empfing ihren leuchtenden Blick. „Komm!“, rief sie. „Du bist jetzt Vater.“
Ihre Worte, vor allem aber der warme Klang ihrer Stimme, befreiten Karl. Da war sie plötzlich wieder, die ungehemmte Freude! Mit großen Schritten eilte er zum Bett, strich Henni mit den Spitzen seiner eiskalten Finger über die Stirn und beugte sich über das Kind.
Viel konnte er nicht erkennen, denn es war bis zum Hals umwickelt. Er sah nur das kleine, merkwürdige Gesicht unter einer Spitzenhaube. Die Augen geschlossen, zwei sehr zarte Linien über einer Nase, die einem Knopf mit zwei großen Löchern glich. Die rosa Unterlippe vorgeschoben wie zum Trotz. Er lachte.
„Sieh nur, Karl!“, sagte Henni mit einem tiefen, zufriedenen Seufzer. „Unser Friedchen.“
Ob es nun der Schnaps war, die Magie oder das Glück, vielleicht aber auch einfach nur ein verrücktes Zahlenspiel: Etwas lag über dem Tag der Menschwerdung von Elfriede Wolf, was ihr weiteres Leben bestimmen sollte. Und das hatte sie sich nicht selbst ausgesucht.
Vier Jahre später,
am Vorabend zu Friedchens Geburtstag saß Henni kurz vor Mitternacht in der Küche und strickte Fäustlinge für ihr Kind. Bisher war es ihr immer gelungen, den Geburtstag zu einem ganz besonderen Ereignis werden zu lassen, dieses Mal jedoch sah sie sich vor eine Herausforderung gestellt, der sie sich kaum gewachsen fühlte. Friedchen war zu einer kleinen, starken Person mit eigenen Vorstellungen herangewachsen und hatte dem Tag schon seit längerem mit wachsender Spannung entgegengefiebert. Immer wieder hatte sie die Mutter gefragt, wann es denn endlich so weit sei. Aber die Zeiten machten es schwer, große Erwartungen zu erfüllen. Beim Zubettgehen hatte Friedchen vor Ungeduld gezappelt und mit aller Entschiedenheit behauptet, dass sie die ganze Nacht wach bleiben wollte, um nur ja den Anbruch des Morgens nicht zu verpassen.
Henni lächelte in sich hinein. Friedchens grenzenloses Vertrauen in ihre Fähigkeiten machte sie trotz allem glücklich. Einen Augenblick lang vergaß sie, wie viel Mühe sie in den letzten Tagen auf sich genommen hatte, weil sie ihre Tochter auch dieses Mal nicht enttäuschen wollte. „Dann bleibst du eben wach. Aber wehe, du stehst noch einmal auf! Sonst wird sich dein Geburtstag auf und davon machen und dieses Jahr bestimmt nicht mehr wiederkommen“, hatte sie geantwortet und die Bettdecke fest um die zappelnden Beine gestopft. Das hatte gewirkt.
Was Weggehen bedeutete, wusste Friedchen, seit der Vater mit einem seltsamen Topf auf dem Kopf sie und die Mutter verlassen hatte, um in den Krieg zu ziehen. Und von ihrem Freund Paul aus der Nachbarwohnung hatte sie erfahren, dass einer, der wegging, vielleicht nie mehr zurückkehren würde. Also hatte die Drohung der Mutter, der so heiß ersehnte Tag könnte verschwinden, bevor er gekommen war, sie so erschreckt, dass sie sich nicht mehr gerührt hatte und schon nach kurzer Zeit fest eingeschlafen war.
Henni blinzelte. Unter dem schwachen Licht der Lampe begannen ihre Augen vor Anstrengung zu tränen. Sie legte das Strickzeug beiseite und versuchte ihre Finger zu lockern. Nur noch der Daumen des zweiten Fäustlings musste fertig gestrickt werden. Sicher würde es noch einige Zeit in Anspruch nehmen, denn dieses winzige Detail erforderte ein Fingerspitzengefühl, zu dem ihre vor Kälte steifen Hände kaum mehr taugten.
Es gab keine Kohle mehr. Erst gegen Abend hatte sie mit feuchten Holzscheiten vom Hinterhof und ein paar Briketts aus ihrem armseligen Restbestand im Küchenherd ein Feuer angezündet. Doch die Kälte hatte sich während des Tages so tief in den Wänden festgesetzt, dass die schwelende Glut nichts dagegen ausrichten konnte. Ihre Wärme nur ein Hauch.
Vor Henni auf dem Küchentisch lagen die Geschenke. Der erste schon fertig gestellte Fäustling, ein dazu passender Kapuzenschal sowie lange Strümpfe. Alles dunkelgrün mit einem schmalen roten Rand. Die Wolle stammte aus ihrem eigenen Umschlagtuch, das sie dafür aufgeribbelt hatte. Ihr war klar, dass sie mit derlei nützlichen Sachen ein Kinderherz nicht so begeistern konnte, wie es irgendein Spielzeug vielleicht vermocht hätte. Aber sie bekam nur noch fünfzehn Mark im Monat und sämtliche Ersparnisse hatte der Krieg längst geschluckt. Wenn es ihr hin und wieder gelang, mit Wasch- und Näharbeiten für wohlhabende Leute ihren Geldbeutel geringfügig aufzufüllen, versuchte sie mit dem, was am Monatsende übrig blieb, unter der Hand Lebensmittel zu kaufen, die inzwischen nur noch über Karten zu erwerben waren und in äußerst knappen Mengen zugeteilt wurden: Mehl, Fett, manchmal sogar ein wenig Zucker. Schon lange im Voraus hatte sie einige Kostbarkeiten gehortet und morgen wollte sie einen Kuchen backen, allen Verboten zum Trotz!
Sie rieb die Handflächen gegeneinander, formte sie zu einer Höhle und blies ihren Atem hinein. Dann griff sie wieder zum Strickzeug, und während die Nadelspitzen die engen Maschen leise klappernd aufnahmen, um sie miteinander zu verschlingen, wanderten ihre Gedanken zwischen Mann und Kind hin und her.
Drei Monate zuvor hatte Karl, ohne es mit ihr zu besprechen, den Entschluss gefasst, doch noch in diesen unseligen Krieg zu ziehen.
Dass es ein unseliger Krieg war, darüber waren sie sich von Anfang an einig gewesen. Deshalb hatten sie auch nicht in die begeisterten Schlachtrufe für Kaiser, Gott und Vaterland eingestimmt, als zwei Jahre zuvor die jungen Soldaten durch die Stadt marschiert waren, aus voller Kehle Heldengesänge schmetternd. Henni hatte sie noch deutlich vor Augen: kraftvolle Burschen auf dem Weg in die Schlacht, ihre Gewehre lässig geschultert, in den Läufen bunte Blumen, als ginge es zu einem Schützenfest.
„Das wird eine sehr, sehr schlimme Sache!“, hatte Karl mit düsterer Miene vorhergesagt und Recht behalten. Der Krieg war nicht, wie angekündigt, innerhalb weniger Wochen ruhm- und siegreich zu seinem Ende gekommen. Mittlerweile ging die Front durch ganz Europa. Sie war in Afrika und auch im Vorderen Orient. Sogar in der Luft und auf den Weltmeeren tobte der Krieg. Unzählige Opfer hatte er schon gefordert.
Einige Male, auf dem Weg zum Markt, war Henni dem endlosen Zug von Bahren mit schwer Verwundeten begegnet, die vom Bahnhof zum Kloster hinaufgetragen wurden, das jetzt als Lazarett diente. Ganze Waggonladungen blutender und verstümmelter Menschen waren es gewesen. Sie hatte im Vorübergehen die Augen gesenkt, die Lippen zusammengepresst und im Stillen ein Dankgebet zum Himmel geschickt, dass Karl sich nicht unter den Versehrten befand. Dass es ihm vergönnt war, dem Kaiser und seinem heiligen Krieg als Rüstungsarbeiter zuhause an der Heimatfront zu dienen! Für seinen rastlosen Einsatz war er sogar öffentlich gerühmt worden. Außerdem hatten er und Henni den größten Teil ihrer Ersparnisse als Kriegsanleihe zur Verfügung gestellt. Das genügte doch! Karl musste nicht in die Schlacht ziehen, er war ohnehin zu alt dafür. Und er verabscheute Gewalt.
Karls einsamer Entschluss, die sichere Heimatfront zu verlassen, hatte Henni völlig unerwartet getroffen. Sie konnte nur ahnen, dass die furchtbare Nachricht von nebenan den Ausschlag gegeben hatte. Ihr Wohnungsnachbar Peter Hirsch war gefallen, sein Kopf von einer Handgranate abgerissen. Er hinterließ Rebecca, seine junge Frau, und zwei Kinder, Ruth und Paul. Paul war im selben Jahr geboren wie Friedchen.
Gleich zu Beginn des Krieges war Peter Hirsch dem Aufruf des Verbandes der deutschen Juden gefolgt, freiwillig zu den Fahnen zu eilen. Karl und Henni hatten es mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Sie hatten sich gefragt, was einen Juden, wenn er es doch nicht musste, dazu bewegen mochte, für den deutschen Kaiser in die Schlacht zu ziehen. Vor allem aber hätten sie es einem Mann wie Peter Hirsch niemals zugetraut. Denn Peter Hirsch, Tag für Tag mit Pferd und Wagen unterwegs, um Haushaltswaren auf dem Land zu verkaufen, hatte so gar nichts Soldatisches oder Heldenhaftes an sich. Als Henni ihn kurz vor seinem Aufbruch in den Krieg das letzte Mal im Korridor getroffen hatte, nun ausgestattet mit Pickelhaube und feldgrauer Uniform, war es ihr so vorgekommen, als habe er sich nur verkleidet.
Von dem Tag an, als Rebeccas Klage durch die Wand in ihre Wohnung drang, war Karl ruhelos geworden. Er wich Henni aus, und weniger als zwei Wochen später machte er sich heimlich auf den Weg, um sich zum Heeresdienst zu melden. Gegen ihren Willen musste sie ihn gehen lassen.
Nach wie vor war sie nicht einverstanden! Zwar kam sie auch allein zurecht, doch die Ungewissheit quälte sie. Wo mochte ihr Mann gerade sein? War er unverletzt? Lebte er? Bisher war keine Feldpost von ihm eingetroffen und Henni wartete auch nicht darauf, denn sie kannte Karls Scheu vor Worten. Aber sie vermisste ihn. Nicht auf eine besonders schmerzliche, eher auf eine verhaltene, beständige Art, als sei ein Teil von ihr nicht mehr da. In den Nächten, wenn ihr Körper unter der schweren, klammen Federdecke keine Wärme fand und ihr der Atem, alles Ungesagte mit sich tragend, vor dem Mund gefror, fehlte ihr der Mann, dessen ungeahnte Zärtlichkeit sie in ihrer ersten gemeinsamen Nacht tief berührt und für immer an ihn gebunden hatte.
Friedchen … Trotz der schlechten Zeiten sollte es ein schöner Geburtstag werden. Das hatte Henni sich fest vorgenommen. Aber selbst wenn sie es versucht hätte, wäre irgendein Spielzeug wohl kaum zu beschaffen gewesen. Sie hatte sich auch nicht darum bemüht, weil sie nämlich keine Ahnung hatte, was ihrer Tochter überhaupt gefallen würde. Eine Stoffpuppe, die sie vor zwei Jahren mit viel Liebe für sie angefertigt hatte, saß meist unbeachtet auf der Fensterbank, und nur wenn Paul da war, kam es vor, dass sie ihren einsamen Platz verlassen und im Spiel der beiden Kinder eine Rolle übernehmen durfte. Henni hatte beobachtet, dass es immer nur der empfindsame Nachbarsjunge war, der nach der Puppe griff.
Sie hatte lange hin und her überlegt, wie sie dem kommenden Tag etwas Glanz verleihen könnte, bis ihr endlich etwas eingefallen war: Friedchen liebte Geschichten! Dauernd verlangte sie, dass ihr aus einem der wenigen Bücher, die sie besaßen, vorgelesen werden sollte. Es gab nur vier: die Heilige Schrift in ledernem Einband, ein Erbstück aus Hennis Elternhaus, ein modernes Kochbuch für die deutsche Hausfrau, ein Roman über das Leben der heiligen Genoveva, den ihr Karl zur Verlobung geschenkt hatte, und ein dicker, in Leinen gebundener Band mit deutschen Volks- und Heldensagen. Dieses Buch liebte Friedchen über alles, denn es enthielt feine Zeichnungen, die das Erzählte in eindrucksvoller Weise illustrierten. Schon sehr früh hatte Henni ihre Kleine auf den Schoß genommen, um mit ihr die Bilder zu betrachten, aber erst in diesem Jahr hatte sie begonnen, ihr die Sagen vorzulesen. Sie hätte sich keine aufmerksamere Zuhörerin wünschen können.
Morgen wollte sie Friedchen mit einem Schattenspiel überraschen, das ihre Lesung begleiten sollte. Zu diesem Zweck hatte sie einige Abende lang Scherenschnittfiguren zu Siegfrieds Kampf mit dem Drachen angefertigt, die nun, in den Seiten versteckt, auf ihre Aufführung warteten. Mit der Gestaltung der Figuren hatte Henni sich schwer getan, weil sie zwar Handarbeiten, nicht aber Zeichnen gelernt hatte. Dass es ihr trotzdem gelungen war, erfüllte sie mit großer Zufriedenheit.
Hennis Freude an ihrem Kind war noch immer ungebrochen, doch während des vergangenen Jahres, in dem es ungewöhnlich schnell gewachsen war, hatte sich eine leise Besorgnis unter die Freude gemischt, eine Ahnung, dass irgendetwas mit der Tochter vielleicht nicht so war, wie es sein sollte. Die sehr hellen, wasserklaren Augen, von dichten schwarzen Wimpern umkränzt, hatte Friedchen von der Mutter, das störrische braune Haar, in den Spitzen leicht nach außen gewellt, ohne die Perfektion einer Locke zu erreichen, vom Vater. Sonst aber gab es nichts an ihr, worin sie ihren Eltern glich. Der schon bei der Geburt recht große Kopf war geblieben, und die hohe, runde Stirn, nun noch stärker ausgeprägt, schien die Nase darunter zu erdrücken. Vor allem aber hatte Henni festgestellt, dass der Körper des Kindes beim Wachsen allmählich seine Ausgewogenheit verlor, weil die Beine nicht mitmachten. Und Friedchen hatte kaum etwas von einem kleinen Mädchen. Kleider, die Henni für sie nähte, wirkten beinah lächerlich an ihr. Die Kleine hatte zudem eine sehr ungestüme Art, tobte wild herum wie ein Junge. Und wenn sie ihre molligen Arme um den Hals der Mutter schlang, konnte sie plötzlich so zudrücken, dass Henni die Luft wegblieb.
Natürlich hatte auch Henni schon in den ersten Tagen nach der Geburt das kleine Zuviel zwischen den Beinen der Tochter bemerkt. Sie hatte darauf ähnlich wie Gertrud Haller reagiert, zunächst verwirrt, bei näherer Betrachtung jedoch entschieden, dass im Wesentlichen alles so war, wie es bei einem Mädchen sein sollte. Geringe Abweichungen, Launen der Natur, mochte es viele geben. Einer vagen, ständig nagenden Unruhe zum Trotz redete sie sich ein, dass eine kleine Missbildung an dieser verborgenen Stelle, die ja nur dem Blick der Mütter, Hebammen und späteren Ehemännern vorbehalten war, kein Grund zur Sorge sein musste, einfach ein Geheimnis bleiben konnte. Selbst Karl wusste nichts davon und da Friedchen noch nie ernsthaft krank gewesen war, also nie ein Doktor ins Haus gerufen werden musste, hatten bisher nur Henni und Gertrud Haller das Zipfelchen zu Gesicht bekommen.