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Mitten in der Nacht wird der Herzog von Arkholme durch die einschmeichelndste Klaviermelodie geweckt, die der prominente Musikkenner je gehört hat. Kurz darauf sieht er sich einer zu allem entschlossenen Pianistin gegenüber, die ihn mit gezogener Pistole zwingt, ihr zuzuhören. Der Herzog, der seit Jahren bestrebt ist, förderungswürdige Talente zu entdecken und zu diesem Zweck des Öfteren Wettbewerbe veranstaltet, wird dabei rigoros über die Machenschaften der von ihm beauftragten Agenten aufgeklärt. Bevor er dies ändern kann, verschwindet die junge Dame spurlos. Der Herzog hat nur noch einen Wunsch: Vanola, die stolze Ungarin, wiederzufinden.
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Seitenzahl: 202
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Der Herzog von Arkholme schenkte dem reizlosen Vortrag der italienischen Primadonna, die eine Arie aus der Oper „Faust“ zum Besten gab, kein Gehör mehr.
Zweitklassige Darbietungen wie diese waren dem Musikliebhaber und Mäzen ein Greuel, und es setzte ihn immer wieder in Erstaunen, daß selbst Leute mit Stil und gutem Geschmack in der Musik auffallend kritiklos waren.
Er hing seinen Gedanken nach und überlegte, ob er die Einladung der Gastgeberin, der attraktiven Lady Lawson, annehmen und nach dem offiziellen Empfang und der Verabschiedung der Gäste bleiben sollte.
Ihm war durchaus bewußt, was das zur Folge haben würde. Lord Lawson hielt sich zur Zeit in Nordengland auf, und der Herzog wurde den Verdacht nicht los, daß der reichlich überstürzt anberaumte Empfang ausschließlich ihm gegolten hatte.
Bei seiner Ankunft in dem luxuriösen Haus am Berkeley Square hatte er eine kleine, erlesene Abendgesellschaft vorgefunden und war von der Gastgeberin mit strahlenden Augen begrüßt worden.
Während sie sich angeregt unterhielten, hatte sie allzu deutlich verraten, welche Absichten und Hoffnungen sie an diesen Abend knüpfte.
Der Herzog war nicht so töricht, sich der Tatsache zu verschließen, daß er als einer der prominentesten Aristokraten Englands galt und wegen seines enormen Reichtums und seines Junggesellenstatus nicht nur von Müttern heiratsfähiger Töchter umworben wurde, sondern auch von verheirateten Damen, die nichts unversucht ließen, seine Aufmerksamkeit zu erregen und ihn als Liebhaber zu gewinnen.
Daß er in der Liebe ebenso unübertrefflich war wie auf der Jagd und beim Pferderennen war selbstverständlich. Allerdings war er im Laufe der Jahre seiner eigenen Unwiderstehlichkeit überdrüssig und zweifellos zum Zyniker geworden.
An der Tafel war er Lady Lawsons Tischherr. Sie wandte sich mit leiser, melodischer Stimme ihm zu: „Ich hoffe, Euer Gnaden, daß Sie mir als Experte einen Rat geben können.“
„Worum handelt es sich?“ fragte der Herzog, wohl wissend, worauf sie hinauswollte.
„Ich habe meinen Mann gerade dazu überredet, mir einen neuen Steinway zu schenken. Da es sich seiner Meinung nach um ein sehr kostspieliges Geschenk handelt, möchte ich ganz sichergehen, den besten Flügel zu bekommen, dessen Klang auch Ihnen zusagt.“
Die Art, wie sie dabei mit den Wimpern klimperte und die Lippen einladend schürzte, verriet dem Herzog nur allzu deutlich, daß sie ihn weniger mit ihrem Klavierspiel beglücken wollte als vielmehr mit ihren Fähigkeiten auf einem anderen Gebiet.
Er war außerdem völlig sicher, daß der besagte Steinway nicht etwa in einem der Empfangssalons stehen würde, sondern in Lady Lawsons Boudoir.
Vor einiger Zeit hatte er einmal erwähnt, daß sich in seinem Haus in der Park Lane, in dem an sein Schlafzimmer angrenzenden Wohnzimmer, ein Flügel befände.
„Wenn ich nicht schlafen kann, was selten passiert“, hatte er mit einer Offenheit bekannt, die er bald bereuen sollte, „spiele ich einige Melodien, die beruhigend auf mich wirken und deren Klang mich gewissermaßen in den Schlaf wiegt.“
Da sich alles, was den Herzog betraf, in den Salons wie ein Lauffeuer verbreitete, machte auch dieser Ausspruch von ihm die Runde und wurde sogar in einem Klatschmagazin veröffentlicht.
Die Folge war, daß jede Schöne, die ihre Netze nach dem Herzog auswerfen wollte, ganz plötzlich ausgerechnet im Boudoir ein Piano stehen hatte, das er unbedingt ausprobieren sollte.
Ihn amüsierte die Vorstellung, daß der Flügel oder das Piano eigens zu dem Zweck aufgestellt worden war, um ihn anzulocken, und sich in verspielt eingerichteten Boudoirs höchst seltsam ausnahm.
Er hatte außerdem den Verdacht, daß die stolzen Besitzerinnen des nagelneuen Steinway oder Broadwood über die Fingerübungen nicht hinausgekommen waren.
Je älter er wurde - immerhin hatte er bereits das stattliche Alter von dreiunddreißig Jahren erreicht - desto stürmischer, verzehrender und kurzlebiger wurden seine Affären. Er konnte sich selbst nicht erklären, weshalb er einer Frau schon nach kurzer Zeit überdrüssig wurde, die er anfangs begehrenswert und reizvoll gefunden hatte.
Ab und an beschäftigte auch ihn die Frage, die seiner gesamten Verwandtschaft auf der Seele brannte: Wann er wohl endlich heiraten werde und wen?
Da er der einzige Sohn seiner Eltern war, gab es außer ihm keine rechtmäßigen Erben des Herzogtums, und er war es seiner langen, edlen Ahnenreihe schuldig, für einen Stammhalter zu sorgen.
Er hatte keine Eile damit, redete er sich ständig selbst ein, zumal er nie mit jungen Mädchen zusammenkam.
An Einladungen ehrgeiziger Väter und Mütter mangelte es ihm nicht, die seinen Titel und sein Vermögen als willkommene Bereicherung ihres eigenen adligen Stammbaumes begrüßt hätten, aber er war natürlich viel zu klug, um auch nur eine davon anzunehmen.
Sein Interesse konzentrierte sich deshalb auf verheiratete Damen der Gesellschaft, die entweder gleichgültige Gatten hatten oder zumindest tolerante, wenn es sich um den Herzog handelte.
Denn sie mußten sich eingestehen, daß er ihnen nicht nur zu Pferde überlegen war, sondern auch als sicherer Schütze bei Duellen galt.
Obwohl es gesetzlich verboten war und von der Königin mißbilligt wurde, sich zu duellieren, hatte der Herzog sowohl in England als auch in Frankreich schon eine ganze Reihe von Duellen ausgefochten.
Er war immer als Sieger daraus hervorgegangen und stets unverletzt geblieben, während sein Gegner zwei, drei Monate lang den Arm in der Schlinge tragen mußte.
Der Herzog war ein viel zu geübter Schütze, um seinen Gegner tödlich zu verletzen.
Es war ohnehin demütigend genug für einen Edelmann, dessen Ehre durch den Herzog verletzt worden war, dem Mitleid seiner Gattin und dem Hohngelächter seiner Mitmenschen ausgesetzt zu sein.
Es war unwahrscheinlich, daß Lord Lawson in Rage geraten würde, wenn seine Frau einen Liebhaber hatte, solange sie Diskretion wahrte.
Lawson war beträchtlich älter als die bildhübsche junge Debütantin, die er gleich nach ihrer Vorstellung bei Hofe geheiratet hatte, und da sein Hauptinteresse den Pferden galt, ließ er seine junge Gemahlin häufig allein, um herumzureisen und an Pferderennen teilzunehmen und beachtliche Preise einzuheimsen.
Es war vorauszusehen, daß Eileen Lawson früher oder später ihr Herz an einen anderen verlieren würde, denn sie hatte lediglich wegen des gesellschaftlichen Aufstiegs eingewilligt, den Lord zu ehelichen.
Da sie jedoch großen Respekt vor ihm hatte, ging sie sehr diskret zu Werke, was wiederum zu ihren Gunsten sprach. Obwohl sie sich unsterblich in den Herzog verliebt hatte, achtete sie sorgfältig darauf, daß sie so wenig wie möglich ins Gerede kamen.
Natürlich ließ es sich nicht ganz vermeiden, daß über sie geklatscht wurde. Sobald sie zusammen gesehen wurden, löste dies das Getuschel und anzügliche Blicke der Stammgäste in den Clubs aus, die nichts anderes zu tun hatte, als Skandalgeschichten durchzuhecheln oder welche zu erfinden.
Seit einiger Zeit war der Herzog ohnehin sorgfältig darauf bedacht, sich mit keiner Frau mehr einzulassen, die nicht nur das Herz an ihn verloren hatte, sondern darüber auch den Kopf zu verlieren drohte.
Da er für die meisten Damen der weitaus attraktivste Mann war, der ihnen jemals im Leben begegnet war, lebten sie nur noch in ihrer Liebe zu ihm, weil er Gefühle und Empfindungen in ihnen zu wecken pflegte, die ihnen bisher unbekannt gewesen waren.
Der Herzog fragte sich oft, warum andere Männer ihre Frauen weder zu befriedigen vermochten noch imstande waren, das Feuer der Leidenschaft in ihnen zu entfachen.
Da alle Frauen, denen er bisher seine Liebe geschenkt hatte, ihm versichert hatten, daß es mit ihm anders sei als mit allen anderen Männern zuvor, mußte er zwangsläufig zu der Ansicht kommen, daß er wohl eine Ausnahme war.
Das war aber auch der Grund, weshalb er immer vorsichtiger wurde, ob er eine neue Liebesaffäre eingehen sollte oder nicht.
Wie gewöhnlich riß ihn der Anblick von Lady Lawson nicht gerade vom Stuhl. Er fand sie sehr attraktiv und spürte, wenn er sie berührte, wie ein begehrliches Funkeln in ihre Augen trat.
„Was soll ich tun?“ grübelte er. „Soll ich bleiben, wie sie es erwartet? Oder soll ich mich unter irgendeinem Vorwand zusammen mit den übrigen Gästen entfernen?“
Es war seiner Meinung nach nur allzu offensichtlich, wie es ablaufen würde.
Sobald die Gäste begannen, sich zu verabschieden, würde er sich diskret in ein anderes Zimmer zurückziehen, und erst wenn die Haustür hinter dem letzten Gast ins Schloß gefallen war, würde Lady Lawson sich ihm anschließen.
Dann würden sie noch immer den Schein wahren und vorgeben, keine andere Absicht zu verfolgen, als oben in ihrem Boudoir den Steinway zu besichtigen.
Der Herzog wußte genau, was ihn dort erwarten würde: gedämpftes Licht, der Duft irgendeines exotischen Parfüms, der sich mit dem der Blumen vermischte, die das Zimmer in eine Liebeslaube verwandelten.
Er würde keine Zeit finden, den Flügel zu begutachten, sondern hatte nur noch Augen für die reizende Bewohnerin zu haben. Sie würde verliebt zu ihm aufblicken und mit halbgeöffneten Lippen seine Küsse erwarten.
Ohne sein Zutun würde sie in seinen Armen liegen, und während er sie leidenschaftlich und fordernd küßte, würde er wissen, daß die nur angelehnte Tür gegenüber ins Schlafgemach führte, wo nur einige diskret abgeschirmte Kerzen das breite, mit Seide und Spitzen drapierte Bett beleuchten würden.
Die Primadonna hatte ihren Vortrag beendet und zum Schluß eine bekannte Arie mehr recht als schlecht zum besten gegeben, für die sie Beifall erntete. Da es von ihm erwartet wurde, klatschte der Herzog mit.
Lady Lawson erhob sich sofort und bat ihre Gäste ins angrenzende Zimmer, wo Diener in etwas protzigen Livreen Champagner reichten.
Der Herzog folgte der Dame des Hauses und bewunderte ihren anmutigen Gang und die fließende Bewegung der großen Krinoline, die sich von ihrer schmalen Taille abhob.
Ihr Nacken war zart und weiß, und die Diamanten blitzten wie Glühwürmchen in ihrem hellen Haar.
Attraktiv ist sie, mußte er zugeben.
Auf der Schwelle zum Salon blieb sie einen Augenblick stehen, um einem der Diener einen Befehl zu erteilen, und ihre sonst so melodische Stimme klang plötzlich schneidend und kalt.
Es war wie eine Dissonanz, wie falsch gespielte Musik, und in dieser Sekunde fand er die Antwort.
„Nein“, sagte er sich, „jedenfalls nicht heute Nacht.“
Zwanzig Minuten später fuhr er in seiner komfortablen Equipage, die er vorzugsweise abends benutzte, zu seinem Haus in der Park Lane.
Er hatte Enttäuschung von Lady Lawsons Augen abgelesen, als er sich lange vor den anderen Gästen verabschiedet hatte, und das Zucken ihrer Hand, die er artig an die Lippen gehoben hatte, verriet ihm, daß sie ihn am liebsten gebeten hätte, zu bleiben.
Der Herzog konnte jedoch sehr unbarmherzig sein, wenn es ihm gefiel; selbst, wenn sie vor ihm auf die Knie gefallen wäre und ihn angefleht hätte, sie zu lieben, hätte er ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß ihm im Augenblick nicht der Sinn danach stand.
Auf der Heimfahrt überlegte er, wie ein so kleiner Zwischenfall ihm die Entscheidung hatte abnehmen können.
Die Antwort war schnell gefunden: Er verlangte nicht mehr und nicht weniger als Vollkommenheit, fürchtete jedoch, daß er sie nie bei einer Frau finden würde. Einige Male hatte er es sich für kurze Zeit eingebildet, um dann jedoch erneut enttäuscht zu werden.
Behaglich lehnte er sich in die weichen Polster der Kutsche zurück, legte die Füße auf den kleinen Sitz gegenüber und gestand sich ein, daß er zu dieser späten Stunde gewöhnlich keine so tiefsinnigen Betrachtungen anzustellen pflegte.
Die Frage, die ihn vor allem beschäftigte, war zweifellos, wonach er suchte in seinem Leben und was wohl geschehen würde, sollte er es jemals finden.
Er schob seine Nachdenklichkeit auf die Tatsache, daß er allein war, und das war er einfach nicht gewöhnt.
Seine Position brachte es mit sich, daß er über eine große Schar von Anhängern verfügte, von Leuten, die es sich geradezu zur Lebensaufgabe gemacht hatten, ihn zu unterhalten und zu amüsieren.
Gewöhnlich pflegte er zwei, drei Leute im Gefolge zu haben, wenn er eine Party verließ, um mit ihnen bei sich zu Hause noch einen Schlummertrunk zu nehmen.
Ausgenommen natürlich, er war mit irgendeiner schönen Dame des Hauses, in dem das Diner stattgefunden hatte, liiert oder fuhr zu einer, die ihn schon sehnsüchtig erwartete, ganz gleich, zu welch später Stunde er eintraf. Doch ansonsten war er selten allein.
Heute abend hatte er keinen seiner Freunde gebeten, ihn zu begleiten, obwohl mehrere an dem Empfang teilgenommen hatten. Vielleicht deshalb, weil er angenommen hatte, er werde bei Lady Lawson bleiben.
So konnte es geschehen, daß er sich von den anderen unbemerkt davongeschlichen hatte, worüber seine Freunde sich gewiß sehr wundern würden. Vermutlich würden sie annehmen, er hätte irgendwo ein Rendezvous.
Diese Überlegung brachte ihn auf die Frage zurück, was er eigentlich wollte und weshalb er sich heute abend entschlossen hatte, nicht die Rolle zu spielen, die von ihm erwartet wurde.
„Das muß das Alter sein!“ überlegte er und schnitt eine Grimasse.
Stirnrunzelnd starrte er vor sich hin und haderte mit seinem Geschick, obwohl sein Verstand ihm sagte, daß es lächerlich war.
Die meisten Männer wären stolz gewesen, seine hohe Stellung und sein großes Vermögen zu besitzen und außerdem eine Persönlichkeit und ein vielbegehrter junger Mann zu sein.
Für ihn war es jedoch deshalb reizlos, weil ihm alles zu leicht gemacht wurde, weil er um nichts kämpfen mußte.
Einen Augenblick lang überlegte er, ob er sich wohl besser fühlen würde, wenn er die Gipfel des Himalaja erklomm, die Wüste Gobi durchquerte oder den Amazonas entlangsegeln würde.
Dann erkannte er, daß er nicht nach körperlichen Höchstleistungen strebte, sondern nach geistiger Übereinstimmung, nach einem Gleichklang der Seelen.
Lange hatte er keine Frau mehr gefunden, die seine Phantasie anregte, seine Ideale verkörperte und an seine Ritterlichkeit appellierte.
Körperlich vermochten sie ihn zu erregen, und der Künstler in ihm erfreute sich an ihrer Schönheit; das war aber auch schon alles.
Die Pferde hatten mittlerweile den Säulengang von Arkholme House in der Park Lane erreicht. Der rote Teppich wurde auf der Freitreppe ausgerollt, ein Lakai in der herzoglichen Livree öffnete den Wagenschlag, und der Herzog stieg aus. In der hellerleuchteten Halle nahm ihm sein Diener den mit roter Seide gefütterten Abendumhang, den Stock mit dem Goldknauf, die weißen Handschuhe und den Zylinder ab.
Unschlüssig blieb er einen Augenblick stehen.
„Im Herrenzimmer stehen Sandwiches und Champagner bereit, sollte Euer Gnaden etwas zu sich nehmen wollen.“
„Ich gehe ins Bett, Newman“, erwiderte der Herzog und stieg die Treppe hinauf.
Er schritt den Gang entlang zu seiner Suite. Seit der Erbauung des Hauses Ende des vergangenen Jahrhunderts war sie stets von den Herzogen von Arkholme bewohnt worden.
Derselbe Architekt, Henry Holland, der für den Kronprinzen den Carlton-Palast renoviert hatte, war damals auch für den Herzog tätig gewesen, und das Haus in der Park Lane galt als eines der prächtigsten und geräumigsten in der ganzen Gegend.
Die Nüchternheit des grauen Gemäuers war im Laufe der Jahre abgemildert worden, zumal der Vater des Herzogs passionierter Gärtner gewesen war. Er hatte wilden Wein, Klematis und Wildrosen angepflanzt, die sich an der Rückfront des Gebäudes hochrankten und auch die später angebauten Balkons überwucherten.
Wenn die Blumen blühten, drang ihr Duft durch die geöffneten Fenster des Hauses, so daß seine Bewohner sich auf einen der herkömmlichen Landsitze versetzt glaubten.
Der Herzog dachte an diesem Abend jedoch weder an seine riesigen Besitztümer in anderen Teilen Englands noch an sein Stammhaus in Oxfordshire, das eine Pracht war und so geräumig, daß ein Besucher kaum glauben konnte, sich tatsächlich in einem Privathaus zu befinden.
Der Besitzer all dieser Herrlichkeiten grübelte immer noch über sich selbst und über seinen impulsiv gefaßten Entschluß nach, Lady Lawsons Einladung nicht Folge zu leisten.
Sie würde es ihm zweifellos übelnehmen und sich in ihrer Enttäuschung fragen, weshalb sie versagt hatte.
Sein Kammerdiener erwartete ihn und war ihm beim Auskleiden behilflich.
Als er dann endlich wieder allein war, blies er die Kerzen neben seinem Bett aus und war entschlossen, zu schlafen und sich damit dem Kreuzverhör, das er mit sich selbst anstellte, zu entziehen.
Er wußte, daß es schwierig werden würde.
Oft genug hatte er sich über Leute lustig gemacht, die behaupteten, nicht schlafen zu können, weil ihnen alle mögliche Gedanken durch den Kopf gingen, jetzt ging es ihm ebenso.
Er lag im Dunkeln in seinem breiten Bett und dachte über sein Leben nach. Fast schien es ihm, als hätte er die Jahre vertändelt und Nützlicheres tun können, als seine Zeit mit Frauen und Pferdesport zu verbringen und gelegentlich einen Abstecher in die Politik zu machen, wenn seine Anwesenheit im Oberhaus erforderlich war.
„Welche Alternative gibt es denn?“ fragte er sich.
Nur widerwillig gestand er sich ein, daß es darauf eine klare Antwort gab: heiraten, eine Familie zu gründen und mit ihr sein Leben zu verbringen.
Das hätte unweigerlich zur Folge, daß er mehr Zeit auf einem seiner Landsitze verbringen mußte und nicht mehr in Boudoirs verweilen durfte, die mit einem neuen Steinway ausstaffiert worden waren. Er würde auch keine zart duftenden Einladungskarten mehr empfangen, die sonst tagtäglich in sein Haus geflattert waren.
„Diese Frauen!“
Wie eine Heerschar belagerten sie ihn und würden ihn eines Tages, wenn er sich nicht mehr energisch genug zur Wehr setzte und seine Wachsamkeit nachließ, zur Strecke bringen.
„Was soll diese innere Einkehr?“ fragte er sich laut. „Niemand kann mich zu etwas zwingen, das ich nicht tun will, und ich lasse mich auch von Frauen nicht dazu nötigen, entweder mit ihnen ins Bett zu gehen oder irgendein unansehnliches Wesen zu ehelichen, nur weil es eine brauchbare Herzogin abgibt.“
Ihm schauderte bei dem bloßen Gedanken daran, und doch blieb ihm gar keine andere Wahl, als entweder dieses Ziel anzusteuern oder so weiterzuleben wie bisher, was ihm aus irgendeinem unerfindlichen Grund heute abend sauer aufgestoßen war.
Er wälzte sich ruhelos auf die andere Seite und versuchte krampfhaft einzuschlafen. Morgen würde sich sein Problem ganz gewiß von selbst lösen, und er würde über seine trüben Gedanken lachen.
Einer seiner engsten Freunde würde mit ihm das Frühstück einnehmen und ihn dann zum Covent Garden begleiten, wo er der Jury eines Komponistenwettbewerbs angehörte, den er vor einem Jahr ins Leben gerufen hatte, um junge Talente zu fördern.
Eigentlich-war es die Königin gewesen, die ihm gegenüber geäußert hatte, daß es ein Jammer sei, wie wenig bedeutende Musiker England im Gegensatz zu Frankreich und Österreich aufzuweisen habe.
Ihre Worte hatten den Herzog in Erstaunen versetzt.
„Ich habe so viel über die Bedeutung von Strauß und Offenbach gehört“, fuhr die Königin fort, „und als Prinz Albert und ich anläßlich der Weltausstellung in Paris weilten, schien die Luft erfüllt von der herrlichen Musik, die aus dem Opernhaus drang.“
Sie lächelte versonnen und fügte hinzu: „Es würde unserem Land gewiß guttun, wenn es musikalischer wäre und uns alle damit glücklicher machte.“
„Sie haben völlig recht, Madame“, erwiderte der Herzog.
Er war ein großer Musikliebhaber und ließ der Oper in Covent Garden jedes Jahr eine großzügige Schenkung zukommen. Den Vorschlag der Königin betrachtete er deshalb als eine gute Idee, um deren Verwirklichung er sich gern kümmern wollte, abgesehen davon, daß es sich mehr oder weniger um einen königlichen Erlaß handelte, dem er Folge zu leisten hatte.
Das Königliche Opernhaus in Covent Garden war zweimal niedergebrannt und vor zwei Jahren, also 1858, zum dritten Mal in neuem Glanz auferstanden.
Der Herzog hatte zusammen mit den Leitern des Opernhauses einen Wettbewerb ins Leben gerufen, der vielversprechenden, begabten Komponisten, gleich welcher Nationalität, die Möglichkeit bot, ihre Werke vorzustellen, vorausgesetzt, es handelte sich um Originalstücke, die noch nie veröffentlicht worden waren.
Für die besten Werke hatte man Preise ausgesetzt, und außerdem verbürgte sich der Herzog dafür, diese Kompositionen veröffentlichen und aufführen zu lassen.
Die Idee stieß allgemein auf große Begeisterung, und der Herzog hatte die Königin pflichtgemäß darüber unterrichtet. Er erhielt ein von der Hofdame Ihrer Majestät ausgefertigtes Glückwunschschreiben, in dem die Königin ihm ihre Anerkennung aussprach.
Ihn interessierte es sehr, wie die morgige zweite Anhörung ausfallen würde. Die erste war enttäuschend gewesen. Nur zwei Kompositionen waren dabei gewesen, die nach gründlicher Überarbeitung eine Veröffentlichung verdient hätten, aber wohl kaum großen Anklang beim Publikum finden würden.
Er suchte nach originellen, mitreißenden Stücken, denen ein Zauber anhaftete, den man weder erlernen noch erklären konnte, weil er vom Komponisten selbst ausging.
Die erste Anhörung, die drei Tage gedauert hatte, war in den Zeitungen so groß herausgebracht worden, daß sich seiner Schätzung nach Dutzende, wenn nicht Hunderte, von weiteren Bewerbern gemeldet haben mußten.
Es war nahezu unmöglich, sich alle Werke anzuhören. Deshalb hatte er es dem Leiter der Kommission überlassen, die Spreu vom Weizen zu trennen, bevor er selbst in Aktion trat.
Der Schlaf übermannte ihn und löste seine Gedanken auf. Er träumte wirres Zeug und glaubte, genau die Musik zu hören, die er suchte.
Sie sickerte in sein Bewußtsein, wurde ein Teil seiner Träume, bis er ganz plötzlich erkannte, daß sie auf dem Piano im Zimmer nebenan gespielt wurde.
Einen Augenblick lang glaubte er noch zu träumen, doch je länger er den Tönen lauschte, nachdem er die Augen aufgeschlagen hatte und in die Dunkelheit starrte, desto deutlicher erkannte er, daß es keine Täuschung war.
Nebenan saß tatsächlich jemand am Klavier und spielte eine Melodie, die prickelnd war wie edler Champagner und von Meisterhand dargeboten wurde.
Noch immer traute er seinen Ohren nicht, blieb regungslos liegen und lauschte mit angehaltenem Atem. Verwirrt tastete er sich dann aus dem Bett und zündete eine Kerze an.
Die Musik, die an sein Ohr drang, war wie ein brillantes Feuerwerk und, ohne daß es ihm in diesem Augenblick bewußt wurde, die Erfüllung all seiner Träume.
Unbewußt strich er sich mit der Hand das dunkle Haar glatt und stieß die Tür zum Nebenzimmer auf.
Zu seiner Verblüffung fand er den Raum dunkel vor. Nur auf dem Klavier brannte eine Kerze, deren gedämpfter Schein auf die Gestalt am Klavierhocker fiel.
Der Herzog ging leise auf das Klavier zu, ohne dem Rätsel, was das alles zu bedeuten hatte und wer der meisterhaft spielende Besucher sein könnte, auch nur eine Spur näher zu kommen.
Er hatte das Klavier noch nicht ganz erreicht, da konnte er die Gestalt genauer erkennen und traute seinen Augen nicht. Es war eine Frau.
Er nahm ein schmales, weißes Gesicht wahr, zwei übergroße Augen, die ihn anstarrten, eine hohe Stirn, die von rötlichem Haar gekrönt war, das im Schein der Kerze Funken zu versprühen schien.
Die Musik wurde leiser und sanfter, so daß die scharfe Stimme des Herzogs deutlich zu vernehmen war: „Wer sind Sie, und was tun Sie hier?“
Sofort unterbrach die Frau ihr Spiel und griff nach etwas, das auf dem Klavierdeckel gelegen hatte. Zu seinem maßlosen Erstaunen sah er den Lauf einer Pistole in ihrer Hand blinken.
„Nehmen Sie Platz, Euer Gnaden. Ich wünsche, daß Sie mir zuhören.“
Wie angewurzelt stand der Herzog da.
„Ich frage Sie noch einmal“, sagte er. „Wer sind Sie, und was tun Sie hier?“
„Man sollte meinen, das sei offensichtlich“, erwiderte sie, die Waffe unverwandt auf ihn gerichtet. „Ich habe Ihnen vorgespielt und wünsche, daß Sie sich diese Musik anhören, die Sie begeistern müßte, wenn Sie tatsächlich so musikalisch sind, wie man Ihnen nachsagt.“
Ihre Stimme hatte einen höhnischen Unterton, als verurteile sie ihn für ein Vergehen, dessen er sich nicht bewußt war.
„Wie sind Sie hereingekommen?“ fragte er noch immer fassungslos. „Haben Sie einen meiner Diener bestochen?“
„Eine gute Frage. Bestechung ist offenbar die einzige Möglichkeit, um an Sie heranzukommen. Unglücklicherweise habe ich dazu jedoch nicht die erforderlichen Mittel und war deshalb gezwungen, in das Haus von Euer Gnaden einzusteigen.“
„Sie sind eingestiegen?“ rief der Herzog entgeistert aus.
Sein Blick fiel auf das weit geöffnete Fenster, das zum Balkon führte. Nie zuvor war ihm in den Sinn gekommen, daß die wilden Weinranken, die Wildrosen und Klematis, die die hintere Hauswand überwucherten, es einem geübten Kletterer ohne weiteres ermöglichten, in die Räume im ersten Stock einzusteigen.
Es wäre jedoch ein gefährliches Unterfangen, besonders für ein so junges Mädchen wie seine ungebetene Besucherin.
„Sie sind widerrechtlich bei mir eingedrungen“, sagte er. „Wenn ich meine Dienerschaft alarmiere, wird man Sie ins Gefängnis stecken.“
„Dessen bin ich mir bewußt“, entgegnete sie, „und deshalb bin ich bewaffnet. Sie werden mich anhören, Euer Gnaden, oder ich werde schießen. Wenn Sie Pech haben, ziele ich nicht gut und treffe Sie ins Herz.“
„Dieses Risiko sollte ich wohl nicht eingehen“, erwiderte der Herzog. „Bewaffneten Frauen habe ich nie getraut und füge mich deshalb Ihrer Forderung, Sie anzuhören.“
„Danke“, sagte das Mädchen. „Ich schlage vor, Sie setzen sich so, daß ich Sie beobachten kann, falls Sie mich hereinlegen wollen.“
„Indem ich meinen Dienern läute, zum Beispiel?“ fragte der Herzog. „Diese Möglichkeit bleibt mir immer noch, bevor Sie verschwinden können.“
„Damit werde ich mich befassen, wenn es soweit ist“, erwiderte sie. „Nehmen Sie Platz, Euer Gnaden, und lauschen Sie einer Komposition, die Ihnen auf der Anhörung morgen nicht vorgespielt wird, weil ich nicht das Geld habe, um die Veranstalter zu bestechen.“