Ungarischer Neureicher - Marton Nemeth - E-Book

Ungarischer Neureicher E-Book

Marton Nemeth

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Beschreibung

Was würden wir auf jeden Fall erledigen, wenn wir in der Zeit zurückreisen könnten? Würden wir uns in das gewählte Zeitalter einfügen und unser Leben als stille Zuschauer leben? Oder würden wir versuchen, uns in den Fluss der Ereignisse "einzumischen"? Würden wir die Verantwortung übernehmen, die Zukunft zu verändern, ohne das ganze Ausmaß der Folgen zu kennen? Oder würden wir lieber tatenlos beobachten, wie ein möglicher Prozess, der die Zukunft der gesamten Menschheit gefährden könnte, in Gang kommt? Márton Németh beleuchtet in seinem Roman, der sich mit aktuellen Themen und Situationen auseinandersetzt, die möglichen Auswege aus zwei Blickwinkeln.

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Seitenzahl: 536

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IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-942-9

ISBN e-book: 978-3-99131-943-6

Umschlagabbildung: Eperjessy László

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum Verlag

Das Buch wurde von Tamara Szűcs-Ivády aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt.

www.novumverlag.com

1989 – KOMITAT PEST

Walter lauschte verblüfft. Er beobachtete die Ereignisse aus Sichtweise eines Hubschraubers. Er verstand nicht, ob das, was er sah und hörte, der unabänderliche Lauf der Zeit oder einfach eine Dimension war, die er jederzeit neu gestalten konnte. Wenn es das Jahr 1949 gewesen wäre, hätte er gewiss Albert Einstein danach gefragt, ob das Zeitparadoxon ein real existierendes Phänomen ist oder nicht. Er grübelte auch darüber, ob sich der Homo Sapiens angesichts der Beschleunigung der Welt so schnell weiterentwickeln wird, wie es in anderen Bereichen des Lebens geschieht, die durch die Technologie auf die nächste Stufe gehoben werden.

Ein Klacken riss ihn aus seinen tiefgründigen Gedanken. Das Geräusch einer herunterfallenden Schraube. Es war ein metallisches Geräusch, eine Art Klingeln. Der Klang der Mumifizierung der industriellen Entwicklung in Ungarn. Ein Klang, der alles enthielt. 32 Jahre Sozialismus. 32 Jahre des Rückstands. Die zentralisierte Verwaltung des gesamten Marktes. Eine Zeit, in der ein paar Leute Dinge entschieden, von denen sie keine Ahnung hatten. Wie zum Beispiel, warum es in einer Produktionsanlage vorkommen kann, dass ein Hilfsarbeiter (der spätere Operator im 21. Jahrhundert) während der Arbeit Werkzeug und Schrauben stapelt und von einem zum anderen Montagetisch packt, anstatt die beiden Tische zusammenzuschieben, wodurch die Gefahr, dass eine Schraube zu Boden fällt, minimiert werden würde. Es war ein lächerliches Beispiel, das spürte auch Walter, aber irgendwie, aus der Myriade von unverständlichen Entscheidungen und Weltanschauungen, kam alles in dieser kleinen Sache zusammen. In dem Herunterfallen einer Schraube. Oder eher in der sinnlosen Folge dieses Ereignisses.

Biatorbágy war damals – im Vergleich zu heute – nur ein staubiges, kleines Nest, eine Umgebung mit enormem Potenzial, das nur von wenigen erkannt wurde und wenn überhaupt, dann nur dank Szilveszter Matuska, der am 13. September 1931 einen Teil der Gleise des Viadukts in die Luft gesprengt und dabei 22 Menschen getötet hatte, was als „Attentat von Biatorbágy“ in die Geschichtsbücher einging. Ein Ort, an dem ein für einen Pfifferling wert erworbenes Feld in den nächsten zwanzig Jahren zu einer Millioneninvestition entlang der Landesstraße 1 und zu einem blühenden Geschäft werden würde.

Vielleicht kommt eine Investition mit einem solchen Zeitrahmen erst dem Kind oder Enkelkind des Mannes dort zugute, aber trotzdem! Walter hätte gern davon profitiert und wie. Denn er war Jahrgang 1986. Und im Jahre 1989 war er plötzlich 33. Er erlebte dieses Jahr doppelt. Einmal als Dreijähriger und einmal als Dreiunddreißigjähriger. Das war der Traum vieler. Er war zurück in die Zeit gereist. Er hatte es aber nicht getan, um Verletzungen aus der Kindheit zu heilen oder seinem jungen Ich auszureden, seine falschen Entscheidungen zu ändern. Er wollte weder sich selbst noch seine Eltern treffen. Er wollte weder Google gründen noch als Erster in Apple investieren und auch nicht mit Spekulationen über etwas, von dem er bereits wusste, dass es passierte, anfangen.

Er war aus einem anderen Grund hier: Er suchte Ungarns Antworten. Antworten auf die Frage, wie aus dem Saudi-Arabien der Anjou-Zeit das Ungarn geworden war, welches wir 2019 kennen. Dazu hätte man natürlich viel weiter in der Zeit zurückreisen müssen, aber gemäß dem Stand der Wissenschaft im Jahre 2019 war das noch nicht möglich: Jeder konnte nur so viele Jahre zurückreisen, wie er bereits lebte. Zeitreise ist eine komplizierte Angelegenheit und es gibt keinen Grund, überrascht zu sein, denn der Mensch hatte sich im Laufe seiner Evolution an Einschränkungen gewöhnt. Warum sich also genau darüber wundern?! Zeitreisen ja und zwar gemäß dem eigenen Alter. Es ist so simpel. Diese vollkommen absurde Realität beschäftigte Walter deshalb nicht. Er reiste einfach. So lang, wie er es für sinnvoll erhielt. 1989, um genau zu sein. Und warum nicht 1986? Ganz einfach: Dann hätte er 3 Jahre warten müssen, bis er im Jahre 1989 gelandet wäre. Es sollte aber 1989 sein und Biatorbágy, Punktum.

In der Spätfrühlingsbrise verliefen Walters erste Tage ruhig, er betrachtete das Viadukt von der Hügelkuppe aus und fragte sich, ob er eigentlich Glück hatte, Glück, zu wissen, wie dieser Ort in dreißig Jahren sähe. Dieser Ort mit seinem späteren Kreisverkehr unter dem Viadukt, dem Sportzentrum, den neuen Häusern, der Siedlung, das Aufblühen der Kolonie. Er beschloss, an den wichtigen Ereignissen des Landes als außenstehender Beobachter teilzunehmen, frei von jeglichen politischen oder religiösen Äußerungen. Er wollte sie erleben. Wie es wohl gewesen war. Als Massen von Menschen an ein gemeinsames Ziel glaubten, nur eben etwas unterschiedlich. Deshalb hatte er das Jahr 1989 gewählt. Wegen der Wende. Er wollte sehen, wie Ungarn den Sozialismus verlässt und sich der damals so hoffnungsvoll erwarteten Demokratie, dem Liberalismus und dem Kapitalismus zuwendet. Er liebte die Geschichte und hatte eine eigene Auffassung, aber er wollte versuchen, objektiv zu bleiben. Er kam mit einem namenlosen Ansässigen, der sein Fahrrad auf der staubigen Straße schob, ins Gespräch, das er höflich und distanziert begann.

„Einen schönen guten Tag, wie geht es Ihnen heute?“, fragte Walter.

„Wie soll es einem denn gehen? Ich bin müde, junger Mann, müde bin ich. Frühmorgens habe ich im Garten gearbeitet, dann bin ich in den Laden gegangen, habe Brot gekauft und nehme es jetzt mit nach Hause, meine Frau wartet auf mich. Sie sind nicht von hier, stimmt’s?“, antwortete ihm der Alte.

Walter schmunzelte und erwiderte dann manierlich:

„Das stimmt, ich komme aus der Zukunft.“

Der Alte musste jetzt auch schmunzeln und erwiderte:

„Wenn Sie wirklich aus der Zukunft kommen, könnten Sie mir dann sagen, wie das Wetter morgen wird?“

Walter war perplex, dass dies wirklich die einzige Frage war, die der alte Mann an einen Zeitreisenden hatte.

„Das weiß ich nicht, warum ist das so wichtig?“

„Es ist deshalb wichtig, denn wenn ich es wüsste, könnte ich entscheiden, ob ich heute das Dach repariere oder Unkraut jäte“, antwortete der Alte. Walter mochte diese Einfachheit, diese Losgelöstheit von den Problemen der Welt, dieses Lebensgefühl, demnach sein Gegenüber an keiner der Schwierigkeiten aus dem 21. Jahrhundert zu leiden schien. Es gibt keine Telekommunikationskanäle, über die er minütlich mit massenweise Propaganda zugeschüttet wird. Die Politik neigt schließlich dazu, nicht den Menschen zu dienen, sondern die Menschen in Angst zu versetzen. Natürlich nicht vor sich selbst, wie ein paar Jahrzehnte zuvor, sondern vor anderen. Sie suchen nach den Dingen, vor denen sich die Mehrheit fürchtet, dann kochen sie es mit Bösem und verstärken das Ganze, um die Angst noch größer zu machen und dann überzeugen sie die Menschen, dass sie, die Politiker, es sein werden, die sie durch einfache heroische Handlungen schützen werden. Das ist das ganze Rezept. Manipulierte Hassinduktion, deren Lösung wir selbst sind.

Dieser Alte schien jedoch mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Er lebte im Hier und Jetzt. Ohne Depressionen wegen Vergangenem und ohne Angst vor seiner Zukunft. Er lebte einfach seine eigene Geschichte, obwohl ihm der Zahn der Zeit schon einige Male reichlich zugesetzt zu haben schien. Er hatte sich arrangiert. Er hatte Dinge erreicht, von denen ein junger Kerl aus dem 21. Jahrhundert nur wenig weiß. Er empfand kein Bedauern, nie das Land verlassen zu haben. Der Garten seines Nachbarn löste in ihm kein Unbehagen aus, denn beide glichen einander und auch dem nächsten Garten und dem nächsten. Er verspürte weder ständige Leere noch einen sinnlosen materialistischen Drang, irgendwelchen Dingen hinterherzujagen und auch ein Smartphone besaß er nicht; das hätte ihn sowieso endgültig zu ewigem Trübsal verdammt. Er erfreute sich dem wenigen Guten, das ihm gegeben war und das er erreicht hatte; ihm gelang es, die wahren Momente des Lebens wahrzunehmen und morgens erhobenen Kopfes seinem Spiegelbild entgegenzutreten. Walter betrachtete ihn anerkennend, ihn beeindruckte der Anblick des Alten. Plötzlich vernahm er die Stimme seines Ichs aus dem 21. Jahrhundert: „Die Komfortzone ist nicht der Ort, an dem man gern ist, sondern der, an dem man die dortige Scheiße gut kennt.“ Er kämpfte mit sich. Sein Verstand mit seinem Herzen, sein bewusstes Ich mit dem unbewussten.

„Ich glaube, dass es auch morgen nicht regnen wird, aber wie sagt man so schön: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ Er war stolz, eine so passende Redewendung gefunden zu haben. Gewiss würden sie einander verstehen, was sind schon ein paar Jahre mehr oder weniger.

„Oh, junger Mann, heute werde ich nichts davon tun. Meine Frau wartet zu Hause mit leckerer Kapustník auf mich und dann sind da noch die Tiere. Ich habe viel zu tun, mehr, als in einen Tag passt.“

Kapustník. So nennen die Slowaken ihre Krautpastete. Und da Sóskút die nächste Siedlung war, in der auch heute noch Nachfahren der einst dort angesiedelten Slowaken leben, stammte dieser Alte vermutlich aus Sóskút. Oder seine Frau. Schließlich ist sie es, die Kapustník macht. Die Frau aus Sóskút hatte einen Mann aus Biatorbágy geheiratet. Walter schmunzelte in sich hinein, erfreut darüber, zu diesem Schluss gekommen zu sein, obwohl das weiß Gott nichts Besonderes war. Die Bürger zweier benachbarter Gemeinden hatten geheiratet und lebten nun in Biatorbágy. Walter mochte Kapustník, er war sogar einmal auf einem Kapustník-Fest gewesen. Das war 2018, um genau zu sein.

„Junger Mann“, unterbrach ihn der neugewonnene Bekannte, „darf ich fragen, was Sie von Beruf sind?Körperliche Arbeit wird es ja nicht sein, dazu sind Ihre Hände zu federnverwöhnt.“

Federnverwöhnt. Was für ein Ausdruck! Walter hatte ihn nie zuvor gehört.

„Ja, das sehen Sie richtig, ich bin kein Mann der körperlichen Arbeit.Ich arbeite im Bankwesen, bin dort Portfolio-Manager und bereite die strategischen Beschlüsse der Division auf operativer Ebene vor“, log er.

Der Alte lauschte stillschweigend für fünf Sekunden; er versuchte zu begreifen, in welcher Sprache man ihm das gerade gesagt hatte, bevor er die Auskunft, passend zu seiner eh etwas steifen Persönlichkeit, mit den Worten quittierte:

„Junger Mann, ich habe keine Ahnung, ob man das isst oder trinkt, aber wenn es eine sichere Anstellung ist, noch dazu mit einem so wohlklingenden Namen, dann sollten Sie sie behalten, denn nur das zählt.Dass man in dieser schnelllebigen Welt eine feste Anstellung hat.“

Walter sprach absichtlich ein in der Zukunft so in Mode gekommenes „Hunglish“, wenn also englische Wörter von Mitarbeitern multinationaler Unternehmen verungarischt werden. Er tat das nicht aus Snobismus heraus, sondern aus dem Grund, dass der Alte ihn nicht verstehen und das Ganze als weit entfernt empfinden würde. Er wollte nicht in Verlegenheit gebracht werden, indem er einen Arbeitsplatz in der Nähe erwähnt, an dem ein Bekannter des Alten arbeitete, was wiederum zu einem weiteren Gesprächsthema geführt hätte. Menschen fühlen sich unwohl, wenn sie etwas selbst nicht verstehen, andere aber schon. Er wollte sich dem Alten gegenüber nicht überlegen zeigen, sondern einfach auf Nummer sicher gehen. Und nichts Falsches sagen.

Zwei Dinge im letzten, knappen Satz des Alten ließen ihn jedoch aufhorchen. „Sichere Anstellung“ und „schnelllebige Welt“. Letzteres, weil er wusste, dass sich die Welt in ein paar Jahren viel schneller drehen würde und der erste, weil genau das zu hören in diesem Jahr seltsam war. An der Schwelle zur Wende. Ob der Alte ahnte, dass sich in den folgenden zehn Jahren entscheiden würde, welche Familien reich und welche arm sein werden? Aber woher sollte er das ahnen? Wenn doch, selbst dann würde es ihn wohl nicht sonderlich interessieren. Er hatte seine weltverändernden Jahre schon hinter sich. Sein Zeitalter des Ehrgeizes, des Mutes und der Selbstverwirklichung. Vermutlich hatte er eine solche Phase gehabt. Nur wurde sie schnell abgewürgt. Ihm wurde gesagt, er solle aufhören zu träumen und lieber schneller die Kartoffeln aus der Erde lesen. Von der Träumerei kann man schließlich nicht leben, von Kartoffeln aber schon. Er würde also Kartoffeln einsammeln. Tag für Tag, so lang, wie man ihm das sagte. Später wird er es sein, der den Auftrag zur Kartoffellese erteilte. Seltsam, wie langsam die menschliche Evolution im 20. Jahrhundert vonstatten ging. Ohne intensiveres Nachdenken wurden Überzeugungen und Gewohnheiten übernommen und weitergegeben, ohne dass jemand die Frage gestellt hätte: „Warum machen wir das so?“ Wenn man sie doch gestellt hatte, wurde mit dem Fragesteller schnell ein Exempel statuiert, damit so etwas lieber nicht geschieht. Natürlich nur in den weniger kapitalistischen Ecken der Erde.

„Und was ist mit den Unternehmen?“, fragte Walter. „Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich ein Unternehmen gründen und besitzen werde, das mich im Alter ernähren wird?“ Kaum hatte er das gesagt, spürte er, dass es etwas zu früh gewesen war. Das Land ist noch nicht soweit. Den Alten interessierte diese Frage aber nicht besonders.

„Ich würde sagen, machen Sie ruhig ein Unternehmen. Oder, wie heißt das, gründen Sie eins.“ Thema beendet, das spürten sie beide und auch, dass es keinen weiteren gemeinsamen Nenner geben würde. Sie verabschiedeten sich höflich voneinander. Nach dem kurzen Gespräch sah Walter zu, wie der Mann mit seinem Fahrrad unter dem Viadukt verschwand, als ihm wieder nachdenklich zumute wurde. Wie muss man mit einem Mann aus der Vergangenheit sprechen? 2019 würde dieser Mann höchstwahrscheinlich tot sein. Oder aber unglaublich alt. Hätte er Nachforschungen angestellt, hätte er ihm vermutlich sogar das Datum seines Todes mitteilen können, was sein restliches Leben sicherlich ruiniert hätte.

Insgeheim hält sich jeder für unsterblich. Der Alte hätte ihm ja sowieso nicht geglaubt. Und das wäre auch richtig gewesen so. Halt. Nicht an so etwas denken, da wird man verrückt. Er ließ die Theorie Theorie sein und lief ebenfalls in Richtung Viadukt. Er wusste nicht wirklich, wohin er gehen sollte, die Welt – und vor allem Biatorbágy – hatte sich in den vergangenen 30 Jahren ziemlich zurückentwickelt. Also ging er an den Steinsäulen des Viadukts vorbei und scherzte mit sich selbst darüber, wie witzig es wäre, ein grinsendes Selfie von der Umgebung zu machen und es auf Facebook zu posten. Seine Freunde würden meinen, dass es sich um ein geschicktes Photoshop-Bild handeln würde. Sie würden ihm bestimmt gratulieren, wie gut er sich selbst in dieses alte Bild setzte. Und diejenigen seiner Freunde, die besonders aufmerksam waren, würden anmerken, wie schön und seiner Zeit voraus die Auflösung des alten Bildes ist. Er würde ihnen einfach aus 1989 entgegen lächeln. Natürlich würde er grinsen. Wie alle, denn das war eine Art ungeschriebene Regel in der Welt der sozialen Medien. Auf diesen Plattformen, auf denen die Menschen versuchen, ihre wenigen glücklichen – oder zumindest danach aussehenden – Momente größter zu machen, als sie eigentlich sind. Und dann schauen sie sich die glücklich scheinenden Momente ihrer Freunde an und das macht sie traurig. Ihnen fällt gar nicht ein, dass sie auch mit ihren eigenen Bildern Traurigkeit verursachen. Weil sie nicht das Ganze sehen. Sie denken gar nicht daran, wie überflüssig es ist, das Leben von Leuten anzusehen, die man seit tausend Jahren nicht sah. Es ist sinnlos. Wie einsam jemand ist, kann man leicht daran erkennen, wie viel Zeit er oder sie in den sozialen Medien verbringt. Umso mehr Zeit man sich dort herumtreibt, desto einsamer ist man.

Walter wusste und spürte, dass auch er nur ein Wanderer war, wie alle anderen auch. Das Streben nach materiellen Gütern, Geld, Macht, Titeln und Rang ist sinnlos, denn der Preis für diese weltlichen Anerkennungen ist gewiss Zeit und Aufmerksamkeit. Zeit und Aufmerksamkeit, die man anderen schenkt oder schenken könnte. Ein Dienst, bei dem man auf der Hut sein muss, denn die angeborene Suche „nach dem leichteren Weg“ ist unglaublich verführerisch. Und sie verführt durch ständige Wiederkehr, jeden Tag. Sie stellt einen auf die Probe. Auch Walter. Warum hatte er sich auf die Suche nach einem Tischlerbetrieb gemacht, wenn er sein eigenes Glück hätte schmieden können?

Als er am Dorfamt vorbeikam, sah er eine Metzgerei. Er schaute ins Fenster. Die Fleischtheke war makellos rein, die Ware war in Reih und Glied ausgelegt. Keine Spur von Mangelwirtschaft. Die Umgebung war ordentlich und sauber, mit einem kleinen Schild, das die täglichen Öffnungszeiten und die aktuellen Sonderangebote auflistete. Rippchen, Keule und Lende. Innovation pur. In einer Zeit, in der jeder gleich bettelarm ist, bietet der Metzger Lendchen im Sonderangebot an. Was für eine Rarität. Walter reichte das, er entschloss sich hineinzugehen.

„Schönen guten Tag, was darf es sein?“, hörte er eine von weitem bekannt klingende Stimme, die er irgendwo schon einmal gehört hatte, nur fiel ihm beim besten Willen nicht ein, wo und wann. Als der sich in seinen Dreißigern befindende, leicht stoppelige lächelnde Verkäufer sich hinter dem Tresen aufrichtete, erkannte Walter ihn schlagartig. Denn er kannte diesen Mann. Nicht persönlich, aber aus dem öffentlichen Leben im 21. Jahrhundert. Er sollte später Milliardär der ersten Generation werden. „Meine Güte!“, dachte er bei sich. Damit hatte er nicht gerechnet. Noch nicht. Es stimmt zwar, dass er genau deshalb hier war, um solche Leute zu treffen, aber er hatte nicht ahnen können, dass ihn der künftige Schlachthofbesitzer und Agraroligarch János Felvidéki am staubigen Straßenrand eines Dorfes, das man kaum als Ballungsraum bezeichnen kann, anlächeln und zum Kauf von Schweinekeulen ermutigen würde.

„Ähm, ja, g-g-guten Tag“, versuchte er seine Gedanken aus dem 21. Jahrhundert zu ordnen. „Ich möchte fragen, ob Sie auch Kaffee verkaufen?“

Etwas Besseres war ihm nicht eingefallen. Kaffeekauf beim Metzger aus Biatorbágy.

Super, eine tolle Idee …

„Kaffee haben wir nicht, aber wenn Sie mögen, ich habe heute früh frischen gekocht, davon kann ich Ihnen eine Tasse anbieten“, erklang die freundliche Antwort.

Der Typ war total professionell. Kein Wunder, dass er es weit bringen würde. Neunundneunzig Prozent der Metzger hätten ihn mit seinem Wunsch nach Kaffee bestimmt aus dem Geschäft gejagt, nicht aber dieser. Er sah (auch) in ihm eine Chance. Er wusste, dass die Kunden ihn am Leben hielten und dass es sich lohnt, wenn man sich mit ihnen vorurteilslos gut stellt. Man konnte ja nie wissen. Dieser junge Mann kaufte zwar im Moment nichts, aber er würde vielleicht einem Freund davon erzählen, der jedoch einen benachbarten Schweinezüchter einweiht, der ein paar zusätzliche Schweine zu einem günstigen Preis loswerden möchte. Wer weiß? Es könnte auch sein, dass dieser Mann der Sohn des Bürgermeisters der Nachbarstadt ist, oder er kennt einige Gastronomen, die einen Fleischlieferanten suchen, oder wer weiß, wer dieser junge Mann ist. Hauptsache ist, dass er ein Kunde ist, der hereingekommen ist und etwas kaufen wollte. Es ist schließlich nicht sein Fehler, dass es die gewünschte Ware nicht gibt, sondern die des Geschäftsführers. In diesem Fall seine, János Felvidékis Schuld. Und das war das Rezept für garantierten Erfolg. Er war kein Mann der Gewohnheiten, er suchte nach neuen Dingen, hörte auf die Bedürfnisse seiner Kunden und versuchte, sein Geschäft entsprechend anzupassen. Er wollte dienen. Seinen Kunden dienen. Viele sind der Auffassung, dass das Individuum einen Auftrag hat, nämlich der Gesellschaft zu dienen. Das ist die höchste Aufgabe. Dem Alltag der Gemeinschaft mit rohem Fleisch dienen. Ein kleines Glied in der Maschinerie zu sein, in der es die souveräne Pflicht eines jeden ist, durch seinen patriotischen Dienst dafür zu sorgen, dass alle Rädchen reibungslos ineinander greifen können.

„Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich möchte keinen Aufwand verursachen.Wenn Sie keinen Kaffee verkaufen, kann ich das nicht annehmen“, erwiderte Walter.

„Sie können das nicht annehmen?Warum denn nicht, um Gottes Willen?Hier, bitteschön, einen Schwarzen für den jungen Mann“, und goss er ihm mit schnellen Bewegungen auf eine beinah verstörend schleimige Art einen Kaffee ein. „Milch habe ich nicht, denn ich trinke meinen immer schwarz, aber ich kann Ihnen Zucker anbieten.“

„Danke, ein wenig Zucker bitte.“ Walter nahm die Tasse an.

Sie unterhielten sich höflich. Walter schlürfte betont die Flüssigkeit aus der dunkelgrünen Tasse; er wollte nicht wirklich darüber nachdenken, was der Metzger daraus trinkt oder was er sonst in der Tasse aufbewahrt, wenn er gerade nicht nach Kaffee lechzende Kunden abwickelte.

„Sind Sie von hier?“, fragte Felvidéki. Dass er sein Gegenüber noch nie gesehen hatte, fügte er natürlich nicht hinzu, um Walter nicht zu beleidigen. Er war bereits in dieser Zeit ein schlauer Fuchs mit allen Wassern gewaschen, daran bestand kein Zweifel.

„Früher schon“, erwiderte Walter geheimnisvoll.

„Früher?Jetzt nicht mehr?“

„Jetzt ist es so, dass ich wieder von hier bin.“ Er sprach in Rätseln. Sinnloserweise. Er hätte es mit einem „Nein, ich stamme nicht von hier“, abtun können, hatte es aber nicht. Er wollte die Wahrheit sagen, aber so, dass der Metzger diese nicht versteht. Er hasste es zu lügen. Bevor das nächste Kreuzverhör kam, fragte er schnell zurück, um zu sehen, ob er sein Gegenüber ein wenig zum Reden bringen und das Gespräch in eine andere Richtung lenken konnte.

„Woher beziehen Sie dieses gute Fleisch?“

„Von meinem Cousin.Beziehungsweise von seinem Vater, meinem Onkel, der ein leitender Angestellter des Nationalen Instituts für Fleischverarbeitung ist“, sagte Felvidéki.

Walter kippte bei diesem Satz die Kinnlade nach unten. Kann es sein, dass János Felvidéki in Wirklichkeit nicht mehr ist, alsein elitärer Strohmann? Das Bild formte sich. Zumindest die Ahnung eines Bildes. Eine mögliche Version der zukünftigen Wahrheit. Er hatte immer wieder gelesen, dass dieser Felvidéki ein halbgebildeter Emporkömmling sei, bei dem sich viele fragen, wie er es so weit gebracht hatte, wo er doch notorisch ungebildet ist, keine Sprachen spricht und seine Aussagen oft erfunden sind. So also. Man nehme den Onkel, einen gewieften Parteisekretär, der weiß, dass er nicht privatisieren kann, weil er sonst seinen Job los ist, der seinem Neffen ein riskantes, aber passendes Stück vom Kuchen des Landes anvertraut, ein Stück Industrie, zu dem nur Wenige Zugang haben werden. Sie spielen vor, dass der kleine János nicht nur ein anständiges Einkommen, sondern auch außergewöhnliche Fähigkeiten in der Fleischverarbeitung erwarb, die ihn sofort dazu qualifizieren, einen der größten Industriestandorte der Nationalen Fleischverarbeitungsgesellschaft zu übernehmen, den er auf dem Papier mit dem Gewinn aus dem Fleischereibetrieb in Biatorbágy kaufen wird. Unglaublich. Im 21. Jahrhundert kauften meist die großen Unternehmen die kleineren auf, doch hier wird der Metzger aus Biatorbágy32Prozent an der ungarischen Fleischerzeugung erwerben. Kann sein, dass es im Hintergrund nicht einmal einen Taschenvertrag braucht, schließlich bleibt die Kohle in der Familie. Vermutlich wird später jedoch ein Optionskaufvertrag im Sommerhaus am Schwarzen Meer aufbewahrt werden. Das ist alles. János Felvidéki wird also nicht nur aufgrund seiner Liebe zur Arbeit Milliardär werden, sondern das Leben wird ihn in jungen Jahren dazu machen. Er wiederum wird die Gelegenheit nutzen und warten, bis sein Onkel sieben Jahre später vorzeitig an Lungenkrebs stirbt. Wer wird sich schon 2019 daran erinnern, was dieser in den wilden Neunzigern in Ungarn getrieben hatte? Niemand. Er wird sich als barmherzigen Samariter ausgeben, wie all die anderen und sagen, dass er das alles aus dem nichts schaffte und so weiter. Und das Forbes Magazin wird ihn interviewen und sagen: „Hier, bitte, hier ist ein Mann, der es schaffte, folgen Sie seinem Beispiel, er ist reich, also ist er sicherlich auch klug“. Walter lächelte bei der sich blitzartig in seinem Kopf erscheinenden Szene in sich hinein. Er fragte sich, ob der alte Mann nicht nur wegen des Risikos nicht für seinen Sohn privatisiert hatte, oder weil selbst der Sekretär nicht so unverschämt sein konnte.

„Und was arbeitet Ihr Cousin?Ist er auch Metzger?“, fragte Walter.

„Also, mein Cousin arbeitet nicht in der Fleischverarbeitung, aber er bringt mir meine Ware“, lautete die Antwort.

„Verstehe.“ Alles war klar. Das erklärte ebenfalls so einiges. Der Cousin ist wahrscheinlich der dumme, arbeitsunfähige Sohn seines Vaters, den selbst der Sekretär nicht in die Firma holen wollte, so dass er es vorzieht, ihn „seinen eigenen Weg gehen zu lassen“, auf gut Deutsch also das Geld des Vaters nach eigenem Gutdünken auszugeben. Aber es ist letztendlich ja auch schnurzegal. Der Punkt ist, dass Felvidéki – Systemliebe hin, Gastfreundschaft her – ein reicher Handlanger ist, der nur deshalb unabhängige Geschäftsentscheidungen treffen kann, weil sein Herr verendet ist. Natürlich war es nicht nur Felvidéki so ergangen. Zu dieser Zeit wimmelte es im Land von ähnlichen Konsorten. 2019 wird man dann sagen können, dass es sich bei Felvidéki um einen Gründer der ersten Generation handelt, der auf dem kleinen Schlachthof des Reichtums mit bloßen Händen Schweine schlachtete, aber auch in seinem Fall wird man nur abwinken können, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Denn auch bei ihm war es nicht „aus dem Nichts“ geschafft. Fleißige Hände und eine überdurchschnittliche Ausdauer reichen nicht aus. Das allein macht noch niemanden reich. Zur Gleichung gehören definitiv auchMöglichkeiten. Und dasErkennen der Möglichkeiten. Hat man diese Gabe, kann man, wenn denn dann diese gewissen Chancen vor der Tür stehen, sagen, dass man Glück hatte. Und damit ist nicht dieses Glück nach Zufallsprinzip gemeint. Zufälliges Glück hat man, wenn man im Lotto gewinnt, aber man muss auch etwas dazu tun, damit daraus etwas wird. Ist man aber fähig, die in den Schoß gefallenen Geldscheine verantwortungsvoll zu verwalten, hatte manGlück. Und wenn nicht, ist man innerhalb von vier Jahrenärmer, als vor dem Lottogewinn. Walter hielt diesen Metzger vom Dorffür glücklichund schaute zu ihm empor. Diese berufliche Laufbahn hätten nicht viele Menschen so erfolgreich absolviert, wie er es in einigen Jahren tun würde. Er gestand Felvidéki zu, dass er vermutlich eine Rolle bei seinem Aufstieg spielen würde und dass es unfair wäre, alle Lorbeeren dem reichen Onkel zuzuschreiben. Es ist eine Frage der Standpunkte. Die beiden unterhielten sich noch etwas über die besondere Beziehung zwischen Rinderkeule und Gulasch sowie über die Rolle von Geschmacksverstärkern und Soßen, bevor sich Walter höflich von dem „ur-armen“ Felvidéki verabschiedete.

2018 – EIN BANKER-EVENT, BUDAPEST

Lauter Beifall. Der Preis für die Innovation des Jahres wurde gerade überreicht. Das Unternehmen ist zwar erst sechs Jahre alt, aber der Jahresumsatz betrug dieses Jahr schon viereinhalb Milliarden Forint. Gegründet wurde es von zwei jungen, unternehmerisch denkenden Kommilitonen aufgrund einer großen Idee, großem Ehrgeiz und etwas Geld. Sie hatten im Schatten der multinationalen Tech-Riesen eine Marktnische gefunden und waren damit allen KMUs zuvorgekommen. Es war eine Geschichte wie im Märchen, kein Wunder also, dass sie gehypt wurden. Der Gründer mit dem Spitznamen CleverBoy (geb. Péter Pallér, 1985 in Budapest), dachte sich, wie einfach es wäre, eine kostenlose App zu benutzen, um damit Fahrten zu organisieren. Die App wurde ein riesiger Erfolg und Jan und Jedermann nutzen sie, wobei es unglaublich ist, dass dieses Konzept bis dato keinem der großen Transportunternehmen eingefallen war. Es werden also keine Waren, sondern Menschen transportiert. Die beiden Ex-Studenten hatten also erkannt, dass die schiere Anzahl der Autos nicht nur die Umwelt verschmutzte, sondern auch den Verkehr lahmlegte, vor allem wenn man bedenkt, dass eine Person ihr Auto höchstens ein bis zwei Stunden pro Tag benutzt. In der verbleibenden Zeit steht das Auto auf einem Parkplatz oder in einer Straße. Die Idee, den Begriff des Autobesitzes neu zu überdenken, lag also auf der Hand, vor allem in einem städtischen Kontext.

Wozu hat man als Stadtbewohner überhaupt ein Auto? Es ist viel einfacher und kostengünstiger, wenn man nur für die täglichen Fahrten ein Auto nutzt und es in der übrigen Zeit denjenigen überlässt, die es brauchen. Die Idee kam nach Uber, die den Staub aufwirbelte, dessen Grundkonzept ein ähnliches ist. Nur transportieren hier nicht Menschen andere Menschen, sondern sie werden von elektrischen, selbstfahrenden Autos gefahren. Auf diese Weise kann ein Auto 20-30 Autos an einem Tag ersetzen und noch dazu auf umweltfreundliche, elektrische Weise. Mit einer Ladung kommt es den ganzen Tag aus und die Stadtbewohner zahlen gerne drei- bis viertausend Forint pro Monat für die Nutzung dieser Autos.

Zwei junge Studenten hatten sich zusammengetan und während nächtlichen Kneipentouren ein Programm geschrieben, das zu einem Bestseller wurde. Die klassische Start-up-Story. Zwei junge Kerle, eine gemeinsame Uni, Bier trinken in der Nacht und die plötzlichen Millionen. Eine Geschichte wie im Start-up-Märchen. Sie wurden für ihre beeindruckende Arbeit, ihre soziale Verantwortung und ihr vorbildliches Fundraising geehrt. Und das Publikum klatschte, wenn es klatschen sollte. Viele jedoch taten es nicht aus Überzeugung. Vor allem diejenigen nicht, die ihr Unternehmen schon seit mindestens fünfundzwanzig Jahren führten und es immer noch nicht geschafft hatten, einen Umsatz von viereinhalb Milliarden zu erzielen. Und diejenigen, die das bereits geschafft hatten, hatten das Gefühl, dass sie viel härter hatten arbeiten müssen, um einen solchen Umsatz zu erzielen. Es war nicht fair, dass diese beiden Taugenichtse herumlungerten und die Medien sich sofort auf sie stürzten. Welch Affront! Das dachte sich auch Kázmér Vámhegyi, der stets ehrgeizige Industriemagnat und stolze Besitzer eines Toilettenpapiergeschäfts. Er hatte das Gefühl, dass das Leben ihm einen Streich gespielt hatte, indem es ihn siebenundzwanzig Jahre lang Ärsche abwischen ließ, um ausreichend wohlhabend zu werden, und jetzt war hier dieser Pallér, sorry: CleverBoy, mit einem seiner Sauf-Kumpane, der das Geschäft des Jahres beim Trinken zusammengeschustert hatte. Zum Teufel mit ihnen. Das ist nicht fair, darin war er sich absolut sicher. Interessanterweise verglich auch er sich mit denen, die reicher waren als er selbst. Obwohl diese eindeutig in der Unterzahl waren. Es war für ihn selbstverständlich, dass er mehr hatte als neunzig Prozent des Landes, aber die restlichen zehn Prozent ärgerten ihn doch sehr. Gern zeigte er besserwisser mit dem Finger, wenn jemand einen staatlichen Zuschuss erhielt oder von einer anderen Organisation Geld bekam. Er sprach allerdings nicht gerne darüber, dass es eine EU-Ausschreibung gewesen war, in deren Rahmen er den bedeutenden Teil seines Toilettenpapierrollen- und Schneidemaschinenparks bekommen hatte, überwiesen aus Steuergeldern und zu 70 % als nicht rückzuerstattende Fördersumme. 2,5 Millionen Euro. Aber psssst. Das war selbstverständlich und wohlverdient. Wenn nur die anderen nichts bekämen! Seine egoistischen Gedanken wurden von der Dankesrede CleverBoys unterbrochen.

„Meine sehr geehrten Damen und Herren, vielen Dank für diese riesige Anerkennung.Als wir vor ein paar Jahren loslegten, hätten wir nie gedacht, dass der Weg, den wir beschreiten wollten, mit Steinen aus Erfolg gesäumt sein würde und so wichtig solche Anerkennungen auch erscheinen mögen, sie sind nicht, was wirklich zählt.Was wirklich zählt, ist der Alltag.Die Montage, Dienstage, Mittwoche, Donnerstage und Freitage, an denen wir morgens zur Arbeit gehen, etwas anfangen, es fortsetzen und schließlich beenden.Das wirklich Wichtige daran ist, dass wir das mit guter Laune und mit Herzensblut tun, Tag für Tag.Wenn wir müde sind, setzen wir uns in unsere Sitzsäcke, legen eine inspirierende Musik auf und scheißen im wahrsten Sinne des Wortes auf die Welt.Unser Start-up hat nie staatliche Beihilfen erhalten und wir sind nie begünstigende Kompromisse eingegangen.Diese ganzen Fördermittelanträge sind in unseren Augen Nonsens.Das ist so, als würde ein Schiedsrichter in einem Fußballspiel einer Mannschaft Tore geben, nur weil sie ihre Umkleidekabine sauberer hält oder weil sie im Sommer mehr trainiert hat.Unverdient sollte ein Unternehmen überhaupt kein Geld erhalten.Das ist unsere Meinung.Danke noch mal!“Grabesstille. Sogar Kázmér Vámhegyi, einem der größten Miesmäuler, stockte der Atem. Und auch seine Gedanken für ein, zwei Sekunden. Er konnte sich nicht erklären, ob er das gerade wirklich gehört hatte oder ob er langsam verrückt wird. Bereits der Sitzsack-Nihilismus auf Arbeit hatte ihm ein gewaltiges Loch in seinen Verstand gehauen, aber die folgenden Sätze ließen ihn atemlos und seinen Blutdruck in die Höhe schnellen. „Wie zum Henker denkt sich dieser aufgeblasene Niemand, dass er den Preis für das innovativste Unternehmen des Jahres bekommt und dann hierher kommt und anfängt, sie zu beschimpfen, die bereits staatliche Fördermittel erhalten hatten und deren Unternehmen noch immer keine viereinhalb Milliarden wert sind?Wie kann er es wagen, offen vor allen Leuten, einen Frevel begehend, das Großmaul zu geben?Denn es war ein Frevel, kein Zweifel.Selbst unter uns galt das als solcher, geschweige denn hier mitten auf der Bühne, vor Land und Welt.Morgen werden sich die Medien in die Inhaber der staatlich subventionierten, wohlhabenden Unternehmen verbissen und sagen, dass sie es nicht verdient haben und so weiter.Und das alles inmitten eines Raumes voller prominenter Mitglieder des politischen Kreises.Das ist, sagen wir mal, mutig.“ Das musste Vámhegyi auch vor sich selbst zugeben. Eier hatte der Typ zweifellos. Aber trotzdem! Und diese schwache Fußball-Analogie. Dass sie es nur deshalb weitergebracht hatten, weil sie Geld bekommen hatten?

In Wirklichkeit wusste Vámhegyi, dass CleverBoy recht hatte, dass das, was er sagte, ein Volltreffer war, aber sein Verstand konnte es nicht verarbeiten. Schon zu lange bereicherte er sich, als dass man ihm gegenüber ehrlich sein könnte. Zumindest waren die meisten Menschen in seiner Umgebung seit Jahren nicht mehr ehrlich. Auch er war ein halbgebildeter Emporkömmling, aber das wusste er auch von selbst. Dass die Leute nicht mehr ehrlich zu ihm sind. Er ist ein altmodischer „Boss Dinosaur“mit einem Hauch vonMegalomanien, gespickt mit einer Dosis schizophrener Paranoia. Auch während der Veranstaltung schaute er dreimal unter dem Tisch auf die Live-Kamera der Toilettenpapierfabrik. Er überzeugte sich selbst, dass dies die natürlichste Sache der Welt sei und zur Untermauerung dachte er an die anderen Boss Dinosaur, die dasselbe taten. So halten sie es, immer und überall. Nach dem Aufwachen, beim Mittagessen, vor dem Schlafengehen, bei Veranstaltungen, im Urlaub. Aus irgendeinem Grund wirkte die berufliche Entwicklung des 21. Jahrhunderts auf sie in die entgegengesetzte Richtung. Sie machen sich selbst verrückt, weil sie sich in immer mehr Dinge einmischen wollen, sich in die Computer all ihrer Mitarbeiter hacken und sich dann wundern, warum sie in allem und jedem den Feind sehen und spüren. Ihr einzigartiger Slogan lautet: „Es wird so sein, weil ich es sage!“In den Sitzungen, die sie einberufen, versuchen sie, ihre Dominanz durch sakrale Verzögerungen und symbolisches Smartphone-Drücken zum Ausdruck zu bringen. Anstatt die Arbeit sinnvoll zu delegieren, spielen sie die„Ein-Mann-Show“und wundern sich dann, dass die Arbeitnehmer immer weniger nachdenken, keineIdeen haben, müde werden und dann irreparabel ausbrennen.

Auch Kázmér Vámhegyi hatte schon seit langer Zeit Kopfschmerzen, denn er neigte dazu zu glauben, dass nur er arbeitete und niemand sonst. Dieses Gefühl trat immer häufiger auf, obwohl er von einem sorgenfreien Ruhestand geträumt hatte. Doch merkt er, dass er immer mehr arbeitet und immer müder wird. Und er gibt sich alle Mühe, nicht zu glauben, dass er schuld daran ist. Er ist nicht in der Lage, sein eigenes Unternehmen im Sinne des modernen Zeitalters zu führen. Manchmal hätte er vor Schmerz aufschreien können. Und tat es auch. Er schrie mit anderen. Mit den Menschen, die ihm an diesem Tag zufällig im Weg standen. Auch die Katze trat er, wenn er mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden war. Jeder wusste das über ihn, natürlich hinter seinem Rücken. Und wenn er schließlich zu einer solch prestigeträchtigen Veranstaltung kam, die er nicht als aufopfernde Arbeit seiner Angestellten, sondern als eine souveräne Auszeichnung für sein eigenes Lebenswerk betrachtete, kam ein Woodstock-Ausreißer mit einem kindischen Spitznamen und heimst ganz einfach die Lorbeeren ein. Er sagt ihnen, dass sie ohne das Geld aus den Fördermitteln aufgeschmissen wären. „Wenn seine verdammte App nur verboten würde!“ In Gedanken wütete weiter. Er flüsterte sogar dem neben ihm sitzenden Oligarchen János Felvidéki, seinem Kumpel, zu: „Was hältst du von dieser Scheißerei, mein Bester?“

„Was ich davon halte?Dass für diejenigen, deren Weg so steil nach oben führt, der Weg nach unten genauso steil sein wird.“Felvidéki richtete sich stolz auf. Er dachte, er hätte weise gesprochen. Eine schwer fassbare Weisheit, wie von Sokrates oder Marcus Aurelius. Sie waren gereizt; lang ist es her, dass sie selbst junge Aufstrebende gewesen waren, sie hatten diese Zeit sogar beinah vergessen. Die Metzgerei in Biatorbágy fiel Felvidéki gar nicht ein, für ihn begann die Zeitrechnung erst nach der Privatisierung. Und es sollte niemanden interessieren, was davor passiert war. Er war immer schon wohlhabend gewesen und hatte seinen Erfolg sich selbst zu verdanken. Das dachte er zumindest. Genau wie Vámhegyi. Felvidéki war auch ein wenig verblüfft über die Anrede „mein Bester“. Kennt Vámhegyi seinen Platz nicht? Schließlich hatte er wesentlich mehr Geld als Vámhegyi, also ließ er sich nicht gefallen, dass dieser kleinreiche Mann ihn „meinen Besten“ nennt. Was bildet er sich ein? Nur weil sie an denselben Tisch gesetzt wurden, hieß das nicht, dass sie sich auf einer Ebene befinden. SeinejährlichenGewinne sind höher als derUmsatzvon Vámhegyi.

Es ist unglaublich, dass sie nicht einmal in der Lage sind, bei einer Veranstaltung wie dieser die sozialen Schichten symbolisch abzugrenzen. Es könnte einen Tisch für die Reichen, einen weiteren für die Reicheren und noch einen für die Reichsten geben. Letzteres natürlich am besten Platz im Raum. Und die Kleinreichen sollten sich freuen, überhaupt hier sein zu dürfen und würden einen Tisch zwischen Buffet und Flur bekommen. Felvidékinörgelteebenfalls, aber nicht mehr über die ergreifende, mutige und zutreffende Rede von CleverBoy, sondern über das Herabsehen durch Vámhegyi. Er konnte es nur schwer ertragen, wenn man auf ihn herabsah, vor allem von einem kleinreichen Mann, der sich selbst zu hoch einschätzte. Sogar vomPremierministerkonnte er das schwer hinnehmen, geschweige denn von einem Typ wie Vámhegyi.

„Der Weg nach unten?!Ja, das hoffe ich auch! Zur Hölle mit seinem blöden Preis!“, kommentierte der Klopapierkönig, dem es an Wortschatz mangelte, und fuhr dann fort: „Kleverboj, oder was, ein Klugscheißer!Er ist eher ein stupid dog, dummer Hund, oder?“, schmunzelte er vor sich hin.

Er hielt sich vor seinem alten Freund für witzig und war stolz auf sich, weil er sein erbärmlich falsches Englisch zur Schau stellen konnte. Der Witz war so schlecht, dass Felvidéki nicht einmal so tat, den Witz zu verstehen. Er tat eher so, als hätte er nichts gehört und verachtete innerlich Kázmér Vámhegyi tief. Sein Blick untersuchte unterbewusst die Sitzordnung und er fragte sich, ob er am richtigen Tisch saß. Er fragte sich, wenn man das Gesamtvermögen der Personen an jedem Tisch zusammenzählte, welches der reichste Tisch wäre. Und ob er wohl an diesem sitzt? Denn wenn nicht, wurde er am falschen Tisch setzen lassen und würde sich beschweren. Er kümmerte sich auch nicht besonders um Intelligenz oder andere vernachlässigbare menschliche Eigenschaften, hier zählte nur die Größe des Geldbeutels, sonst nichts. Jeder, der etwas anderes behauptet, ist dumm oder arm.

Also begann er, die gehobene Gesellschaft zusammenzuzählen. Es gab fünfzig oder fünfundfünfzig Tische im Raum, die Bühne war gewölbt, die Tische waren in einer regelmäßigen Reihenfolge angeordnet, immer weiter von der Bühne entfernt, zehn Tische in einer Reihe, fünf volle Reihen, zehn oder zwölf Personen an jedem Tisch. Es war offensichtlich, dass die Gesellschaft verdünnt worden war und dass auch die Schleppe anwesend war. Die nicht arbeitenden Ehefrauen, die nur noch symbolisch in den Unternehmen tätig waren und dabei alle möglichen lächerlichen Scheinaktivitäten machten; die Angehörigen der Thronfolgerfamilie, bei denen schwer zu erkennen war, welchen Wert sie wirklich hatten, weil sich nach außen hin alle von ihrer besten Seite zeigten; ein paar familienfremde Führungskräfte, Manager und das war’s. Jeder Eingeladene durfte maximal eine Hauptbegleitung oder einen Gast mitbringen, was auch strikt eingehalten wurde, da sie sonst nicht genug Platz hätten. Wenn jemand hier eine Bombe abwerfen würde, könnten die zweihundert größten inländischen Unternehmen, die das Magazin „Figyelő“ auflistete, gleichzeitig und in kürzester Zeit den quälenden Prozess des Generationswechsels einleiten. Felvidéki konnte nicht den ganzen Raum einsehen, sondern nur die umliegenden Tische. Es gab diesmal keinen VIP Bereich und er dachte bei sich: „Es wäre schön, wenn es einen gäbe.“ Wie ungeheuerlich das wäre. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund für die Vermischung der Kasten. Denn wenn er und seine Partner an einem klar abgegrenzten Tisch säßen, nähmen es die Kleinreichen wahrscheinlich übel. Hier wird in jeder Form versucht, alle glauben zu machen, dass alle, die hier waren, zu den Besten gehören, und mehr nicht. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Auch unter den Besten könnte man leicht eine Rangliste aufgrund des Reichtums erstellen. Er könnte in dem Fall am zweiten oder schlimmstenfalls am dritten Tisch sitzen. Leider könnte er selber nicht einmal an den ersten Tisch, denn er müsste die dort sitzenden imaginären Personen erst einmal umwerben. Damit sie ihn aufnähmen. Er kannte sie alle persönlich und mit vielen von ihnen hatte er bereits Geschäfte gemacht, aber es gibt gewisse Voraussetzungen. Der Wert eines Menschen in Geld berechnet. Einfache Mathematik, aber schwer zu realisieren. In ein paar Jahren, mit etwas Glück, ist es jedoch möglich. Und dann müsste er sich nicht mehr mit Subjekten wie Vámhegyi abfinden und schon gar nicht mit ihm an einem Tisch sitzen. Er würde mit den Top zwanzig an einem Tisch sitzen. Und er würde die Tatsache einfach ignorieren, dass die reichsten Menschen in Ungarn im Vergleich zu den reichsten Menschen der Welt weit zurückbleiben. Ab da würde ihn das nicht mehr kümmern. Er würde nicht einmal einen Fuß außerhalb des Landes setzen, um noch reichere Menschen zu sehen. Er hatte bereits seinen eigenen Privatjet, er ließ sich sogar Kleidung von Privatjets liefern, er machte Urlaub, wo immer er wollte und warum wäre er seine Seele mit russischen Oligarchen und Kapitalisten aus Monaco belasten. Ihm reichte das schon. Der reichste Mann Ungarns zu sein. Vámhegyi und der Rest des Proletariats können da hin gehen, wo der Pfeffer wächst. Er wird jemals wieder mit ihnen ums Verrecken nicht sprechen.

„Einen Augenblick, bitte!“, sprach ihn während einer Pause der Veranstaltung Felvidéki CleverBoy an. „Sie kommen mir so bekannt vor, junger Mann, sind wir uns nicht schon einmal begegnet?“

„Ich muss zugeben, dass ich mir Gesichter nicht gut merken kann … Ich weiß nicht, ob wir uns persönlich getroffen haben, aber ich weiß, wer Sie sind, Herr Felvidéki“, antwortete CleverBoy.

„Ich gratuliere Ihnen zu der Auszeichnung“, begann Felvidéki, „es gehört schon eine Menge Selbstvertrauen dazu, sich in so jungen Jahren vor die Geldsäcke zu stellen und ihnen Ihre ungeschminkte Meinung zu sagen, nicht wahr, junger Mann?“Bevor ihm sein Gegenüber antworten konnte, fuhr er fort: „Offene Provokation!Das ist absolute offene Provokation!“, sprach er affektiert lachend.

„Ich halte es nicht für Provokation, wenn man seine ehrliche Meinung zu etwas sagt“, antwortete CleverBoy. „Schließlich darf jeder eine Meinung frei haben, nicht wahr, Herr Felvidéki?“

„Meinung?Eine Meinung darf man haben, ja!Aber … Sägen Sie sich nicht den Ast ab, auf dem Sie sitzen!“ Mit diesen Worten bewegte sich Felvidéki aus der sozialen Distanz heraus und trat CleverBoy näher, während er sich unverständlich am Bauch kratzte. „Und lassen Sie mich Ihnen einen unaufgeforderten Rat geben, den ich einmal von einem alten Mann erhalten habe, der Gott weiß warum, Ihnen ähnlich sah:Habgier und Machtgier sind die beiden schlimmsten Abscheulichkeiten des Lebens, wie ich es kenne.“

1989 – SZIGLIGET

„Guten Morgen, Herr Schwarzenberger!“ Mit diesen Worten begrüßte Herr Kovács seinen Mieter freundschaftlich nach einem einzigartigen Sonnenaufgang in Szigliget. Die Sonne schien über den ganzen Balaton. Es war die Art von Sonnenschein, die nur diejenigen kannten, die ihr tägliches Leben in diesem kleinen Dorf verbracht hatten oder die Gelegenheit gehabt hatten, hier ein paar sorgenfreie Tage zu verbringen. Das beinah parallel zur Terrasse verlaufende flache Licht betonte die Unebenheiten und Unvollkommenheiten der Oberfläche. Es war bereits das zweite Mal, dass Herr Schwarzenberger hier war. Letztes Jahr war er zum ersten Mal hier gewesen, aber er hatte sich geschworen, jedes Jahr zu kommen, denn dieser wunderbare Ort ist unvergleichlich. Die Ruhe, das Hintersichlassen der Probleme, die malerische Landschaft, der ländliche Tourismus – all das schaffte für ihn ein Umfeld, nach dem er sich im Alter sicher sehnen würde. Er war erst um die vierzig, aber er hatte das Gefühl, dass er hier so eine Art jungen Ruhestand erleben könnte. Es war, als ob die Zeit an diesem Ort rückwärts lief. Mit vierzig fühlte er sich hier wie ein Rentner – aber jung. Das war ein interessantes Gefühl. Deshalb war er hier. Er träumte, wovon jeder Rentner träumt. Wieder vierzig zu sein, mit der Weisheit des Alters, aber in einem etwas jüngeren Körper. Herr Schwarzenberger hatte ostdeutsche Wurzeln: Seine Mutter war Lehrerin aus Berlin, aber er war in Ungarn geboren und bezeichnete sich als Ungar. Er sprach Deutsch so gut wie seine Muttersprache. Fremden gegenüber gab er sich gern als „echter“ Deutscher aus und er ärgerte sich über die stereotype Haltung der Ungarn, die ihn für einen reichen Ausländer hielten. Sein Familienname war auch nicht Schwarzenberger. Es war nur ein Name, den er erfunden hatte, um sich besser zu verkaufen. Er bereitete sich auf ein Doppelleben vor und hatte bewusst zwei Images aufgebaut. Als er an den Balaton kam, war er Herr Schwarzenberger, der wohlhabende deutsche oder österreichische Geschäftsmann, der in Mark und Schilling bezahlte. Schon damals war er ein echter Snob. Er äffte die Reichen nach und gierte nach einem hohen Lebensniveau, das er sich nicht leisten konnte. Genauer gesagt nicht das ganze Jahr über, aber hier am Balaton, einmal im Jahr für ein paar Tage. Und dann ließ er es sich gut gehen. Er war in relativer Armut aufgewachsen und hatte sich schon als Kind geschworen: Komm, was wolle, aber er wollte reich sterben. Und wenn das Leben und seine Berechnungen nicht aufgehen würden, würde er wenigstens genug gespart haben, um ein paar Tage im Jahr wohlhabend zu leben, weg von zu Hause, weg von der Armut, weg von der Verlangsamung des stetigen Abstiegs. Auch das Ferienhaus von Herrn Kovács hatte er zufällig gefunden, als er von der Hauptstraße abbiegend das ihn sanft anlockende Schild mit der AufschriftZimmer Freierspähte. Er war fest entschlossen, das beste Ferienhaus auf dem Hügel auszuwählen, damit die Nachbargäste sahen, dass er am besten Ort wohnte. Auf diese Weise stärkte er sein Ego vor Fremden und natürlich vor Herrn Kovács. Ihm war wichtig, was andere über ihn dachten. Insgeheim war er wütend über den Gedanken, dass man sich leicht vorstellen kann, dass sogar Herr Kovács reicher ist als er. Schließlich hat er ein Ferienhaus wie dieses, das er nicht hat und auch nicht kaufen könnte. Es war eine ärgerliche Erkenntnis, aber wenigstens war er der Einzige, der es wusste.

„Guten Morgen, Herr Kovács!Wie schön sind heute die Blumen.Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich heute Gäste empfange, sie kommen zum Mittagessen.“ Schwarzenberger begrüßte Herrn Kovács in einem leicht verspielten Stil auf Ungarisch, aber mit starkem deutschem Akzent.

„Verstehe, Herr Schwarzenberger, sie sind herzlich willkommen, es ist viel Platz, kann ich Ihnen helfen?“, lautete die höfliche Antwort.

„Nein, danke, alles ist perfekt.“

Sie haben so vereinbart. Herr Kovács hatte schon öfter seltsame Gäste gesehen, schließlich betrieb er seit zwanzig Jahren Unterkunft schwarz. Aber Herr Schwarzenberger war nicht im Geringsten seltsam. Er hielt das Ferienhaus sauber, hatte keine Hauspartys oder keine Trinkgelagen, buchte rechtzeitig und bezahlte pünktlich, benutzte sogar nur eines der Handtücher. Vom Standpunkt eines Wirtes aus gesehen ist der Kerl ein Haupttreffer und die Tatsache, dass er ein bisschen seine Nase hoch trägt, wen kümmert’s; auch die anderen Germanen tragen sie hoch. Tragen sie es so, wie sie wollen. In einer solchen Woche verdient er praktisch passiv einen Monatslohn. Herr Kovács war ein echter, fleißiger Typ wie Ameise, der auf seinem Geld saß. Und er war tatsächlich reicher als Herr Schwarzenberger. Zumindest 1989. Interessanterweise hatten beide den Wunsch nach materiellem Wohlstand, aber mit einer völlig anderen Vorstellung. Während Herr Schwarzenberger sich nach Anerkennung und Reichtum sehnte, war Herrn Kovács diese fehlbaren Gefühle völlig gleichgültig. Er wollte nicht bekannt werden, er wollte keine Untergeordneten und er hielt seinen Reichtum gut verborgen. Es ist einfacher für die Leute, dich zu akzeptieren, wenn sie denken, dass du arm bist. Geld ist für jede Art von Kompensieren überflüssig, es sollte nur verwendet werden, um Existenzsicherheit und etwas freien Willen zu kaufen. Damit Herr Kovács in ein paar Jahren machen kann, was er nur will. Er braucht nicht, sich nicht an die Fesseln seines Geschäfts zu klammern und die ständige Angst, seinen Einfluss und seine Macht zu verlieren. Er will sich nicht in höheren Kreisen bewegen, er erwartet nicht, dass sich für ihn goldene Türen öffnen. Er war eine einfache, anständige Seele mit einem bürgerlichen Geist und bürgerlichen Freunden, mit wahren Freunden.

„Hallo, mein Freund!Schön, dich zu sehen, es ist tausend Jahre her.Als die Nachricht kam, dass du ein wunderschönes Ferienhaus am Balaton gekauft hattest, dachten wir nicht, dass es so schön sein würde.Der Panoramablick vom Rókarántó auf den ganzen See, man kann gleichzeitig Badacsony und das Káli-Becken sehen.Herzlichen Glückwunsch, Alter“, wurde Herr Schwarzenberger von seinem ersten Gast, Elek Nyikos, einem professionellen Ziegenzauber, begrüßt. Das war sein Spitzname. Ziegenzauber. Um das Ganze noch abwertender zu gestalten, wurde es durch das Wortprofessionellergänzt. Elek Nyikos hatte eine Ziegenfarm und züchtete nebenbei Schweine. Im Restaurant Gundel, das damals noch verstaatlicht war, wurde auch sein Geld auf die gleiche Weise angenommen, aber man flüsterte hinter seinem Rücken, dass sein Geld stinke. Es stank nach Ziegenscheiße. Die Augen der gesellschaftlichen Elite waren äußerst gereizt, dass ein einfacher Mann wie dieser Elek Nyikos es wagte, seinen durch Ziegenscheiße beschmutzten Fuß in ihren Zirkel zu setzen und so zu tun, als sei er einer von ihnen. „Danke, mein lieber Freund, du weißt, dass ich großzügig bin, wenn es um Komfort geht“, log Herr Schwarzenberger seinem Freund ins Gesicht. Oder besser gesagt, er hat nicht gelogen, sondern Nyikos in dem falschen Glauben gelassen, dass das Ferienhaus wirklich ihm gehört. Sollte sich herausstellen, dass es nicht ihm gehört, könnte er sagen, dass er nie behauptet hat, es zu besitzen. Das überraschte ihn selber übrigens, denn er hatte noch nie jemandem erzählt, dass er ein Ferienhaus gekauft hatte. Er hatte den Bekannten nur gesagt, dass er zum Ferienhaus fuhr, weil er Urlaub brauchte. Sie haben es also falsch verstanden. Die babbeln alle nur Unsinn. Klassischer Klatsch und Tratsch. Auf jeden Fall gefiel es ihm; er musste sich nicht bemühen, sich reicher auszugeben als er in der Tat war. Die netten Bekannten taten es für ihn.

„Wer wird noch zu der heutigen informellen Unterhaltung erwartet?“– Die Betonung lag auf informell. Es ging darum, ihrer Zusammenkunft einen professionellen Kontext zu geben. Ein wenig Formalität, ein wenig Heimlichtuerei. Als ob sie bereits so wichtige Leute wären, dass ein freundschaftliches Treffen nichts anderes als eineinformelle Unterhaltungsein könnte.

„Hierher kommen, bitte, alle, die wichtig sind … und Du“, lachte Herr Schwarzenberger laut. Er fügte dem vorhergehendeninformellenAusdruck noch etwas hinzu, indem er anfing, geheimnisvoll zu sein und auch indem er Nyikos auspreiste. Aber was soll’s, dieser Nyikos wird sowieso sicherlich in den Senkel gestellt, er wird sich durch diesen Witz nicht beleidigt fühlen und Herr Schwarzenberger hatte sonst nicht die Absicht, ihn zu beleidigen. Es fiel ihm einfach ein, er konnte diesen Scherz nicht auslassen. Bevor er eine sinnvolle Antwort geben konnte, wurde ein lautes Hupen von einem Blick auf den religiösen Kunstschatz der Atmosphäre des Comecons, den roten Lada, begleitet. Der stolze Besitzer, Kázmér Vámhegyi, grinste hinter dem Lenkrad. Es ist nicht bekannt, ob es das Statussymbol seines neuen Autos war, das ihn zu einem übertriebenen Lächeln veranlasste, oder ob er einfach nur froh war, dass er damit einen fünfzehn Grad steilen Hügel hinauffahren konnte. Auf jeden Fall sah er glücklich aus, das steht außer Zweifel. Er näherte sich ihnen vorsichtig verlangsamt, begleitet von einem beeindruckenden Dröhnen der Motoren. Die Wahrheit war, dass seine Beine noch nicht an das Kupplungspedal gewöhnt waren und um die Schande des Abwürgens zu vermeiden, zog er es vor, das Gaspedal stärker zu betätigen. Vámhegyi und zwei seiner Kumpel stiegen aus dem feuerroten Torpedo aus und er begrüßte seinen Freund lautstark:

„Willkommen Freund!“

„Oh, Vámhegyi, du bist so dumm, du solltest Englisch lernen, das geht dir besser“, dachte Schwarzenberger und versuchte dann, die freundliche Geste zu erwidern.

„Ich begrüße alle meine Freunde!Ich begrüße euch, meine Freunde!“ Sie schüttelten sich die Hände und umarmten sich.

„Meine Herren!Ich freue mich über die Ehre Ihrer Gesellschaft, bitte kommen sie nach mir.Es ist mir eine große Freude, Sie in der Majestät dieses prächtigen Balatoner Hochgebirgshäuschen zu sehen.Bitte, fühlt euch wie zu Hause, alles was mein ist, ist auch euer“, er versuchte gastfreundlich zu sein, beinah übertrieben, zumal ihm hier nichts gehörte. Er fand es witzig, eines der schönsten Ferienhäuser am Balaton als Kabäuschen zu bezeichnen.

„Kommen Sie, meine Herren, lassen Sie uns auf Ihre Ankunft anstoßen und dann trinken wir später auf etwas anderes“, scherzte er weiter. Der vorbereitete Welschriesling wartete bereits auf die durstigen Gäste und natürlich wurde das Sprudelwasser dazu gereicht. Sie tranken kleine Schorlen. Sie haben weder concierge noch long step gemacht. Jeder hatte ein 200 ml Glas, in das man Wein und Sprudelwasser einschenken konnte. Angesichts der außergewöhnlichen Hitze war der heimische, hochwertige Riesling schnell verbraucht und zum Glück wusste Herr Schwarzenberger, dass der Vorrat im Keller schier unerschöpflich war. Also tranken sie eine Weinschorle nach der anderen. Nicht ein wenig, sondern sehr viel. Vámhegyi war hocherfreut, einen kleinen Vortrag über seinen neuesten Erwerb stolz halten zu dürfen und er beschrieb ausführlich, wie er die Atmosphäre des Comecons in den 1990er Jahren erlebt.

„Stellt euch vor, Genossen“, er benutzte den Begriff Genossen zynisch und verurteilte damit zutiefst das Regime, das kurz vor dem Zusammenbruch stand, „am Montag erhielt ich die Nachricht, dass mein lang ersehntes Auto eingetroffen sei und ich es in der Védgát utca in Csepel, im Merkúr-telep, abholen könne.“Es ist schon Fest und zwar aus den Feinsten. „Wisst ihr, wie sehr ich ein echtes Auto unter meinem Hintern haben wollte?!Ich habe es gehasst, einen Trabant zu fahren, er ist so Schmach.Wenn es mir dann zu langweilig wird, hoffe ich, mir einen Golf 2 leisten zu können.Ich habe neulich einen gesehen, meine Freunde, es ist ein prächtiges Geschöpf.Das nächste Mal vielleicht.“Vámhegyi – wie alle Autobesitzer, der sich für etwas hielt – plante bereits, in die Zukunft des Automobils aufzubrechen, in die magische Welt der westlichen Autos, die damals fast unerreichbar war. „Meine Herren, trinken wir auf den Fortschritt, auf das Vaterland, auf den Kapitalismus!“„Tovarisi konyec!“

„Tovarisi konyec!“, sagten sie alle und stießen an. Sie werden nie das einfache, aber geniale Plakat von István Orosz vergessen, welches den Kopf eines fetten Genossen von hinten zeigt, mit der Aufschrift: „Tovarisi konyec!“„Genossen, es ist vorbei!“Es ist zu einem geflügelten Wort geworden, das nur diejenigen wirklich verstehen können, die diese Zeit erlebten.

„Was sollen wir jetzt tun?Das System wird zusammenbrechen und wir werden ein Land ohne Regierung und ohne jegliche Kontrolle haben.Meint ihr, dass wir ein Land des leichten Geldes haben werden?“, fragte Elek Nyikos, der Ziegenzauber.

„Was machen wir?!Ich werde euch sagen, was passieren wird.Genau wie überall sonst, wo der Kapitalismus sein gieriges Köpfchen erhob.Der einzige Unterschied ist, dass man am Anfang nicht befürchten muss, dass das Land von den Großkapitalisten überrannt wird.Wir werden eine Kolonie sein, aber frei.Eine Kolonie der Lohnarbeit.Billige Arbeitskräfte für die kapitalistischen Konzerne.Und ein Verbrauchermarkt mit zehn Millionen Menschen, die nur darauf warten, dass vor ihren Nasen der Honigfaden gezogen wird.Alles wird hier sein, glaubt mir.Um die Wirtschaft anzukurbeln, müssen die Menschen zum Konsumieren gebracht werden.Aber um sie zum Konsumieren zu bewegen, wird ein konsumierbares Produkt gebraucht, das irgendwo hergestellt werden muss.Und genau da kommen wir ins Spiel.Ganz am Anfang des Prozesses, der sich morgen zur Realität entwickeln wird.Die Produkte müssen erzeugt werden, damit das Vieh etwas fressen kann.Wir werden uns von einer alten Mangelwirtschaft zu einer modernen Konsumgesellschaft entwickeln.Ich sage euch, jeder, der etwas im Kopf hat, kann auf den Wellen zum Reichtum reiten!Auf den Konsum!“, erhob sein Glas Schwarzenberger, der kapitalistische Konsumrevolutionär.

„Ich verstehe, dass dies eine große Knall wird, aber wo sollen wir anfangen, mein Freund?Ich habe Ziegen und Schweine, wir leben schon ganz gut davon.Glaubst du, dass es eine nächste Stufe gibt?“,fragte Nyikos verständnislos.

„Natürlich gibt’s!Wir stehen eigentlich am Anfang des Weges!In deinem Fall, mein lieber Freund, sind vielversprechende Agrarunternehmen am Horizont zu sehen. Wenn du ein paar Taschen voller Geld übrig hast, dann privatisiere, wo du kannst!Du kannst alles, was du willst, für einen Apfel und ein Ei kaufen.Es wird dir das teure öffentliche Eigentum für ein Zehntel des Preises überlassen, weil man denkt, damit Geld für das Land verdienen zu können.Aber das ist nichts anderes als der legale Diebstahl des Vermögens.Mit einem Modewort ausgedrückt: Privatisierung.Das wird noch einige Jahre so bleiben, niemand hat einen Grund, Angst zu haben, es wird später von keinem gefragt werden, woher das Vermögen stammt.Was auch immer eure Hände erreichen, greift fest zu und lasst nicht los!“ Herr Schwarzenberger war sehr an Offenbarungen interessiert und begann zu ihnen zu sprechen, als wäre er der einzige Erwachsene von den Anwesenden und die anderen die unwissenden kleinen Buben.

„Larifari!“, sagte der bisher sprachloser Imre Görbe, einer der Begleiter von Vámhegyi, das älteste Mitglied des Zirkels, das schon weit in seinen Sechzigern war. „Es ist ein Blödsinn, dass man das Staatsvermögen ohne weiteres erwerben kann!Der Staat hatte schon immer die Kontrolle und das wird auch jetzt nicht anders sein.Ihr seid jung, ich habe jedoch viel erlebt.Krieg, Revolution, Frieden, Freude, Leid und es gibt eine Lehre, die man immer aus solchen Hurra-Optimismus-Revolutionen zog: Sie wurden alle besiegt!Auch diesmal wird es nicht anders sein.Sie geben sich die, hm, wie hast du gesagt, Privatisierung aus, aber ich glaube nicht, dass sie auf lange Sicht denjenigen zugute kommt, die tüchtig sind.Das ist nur ein Teil des großen Plans.Der Staat kann nämlich nicht mit sich selbst konkurrieren.Dazu muss man zunächst den Wohlstand an diejenigen weitergeben, die dazu in der Lage sind, damit sie die Chance ausnutzen. Sie müssen sich entwickeln, konkurrieren, wieder rentable Fabriken bauen, den Tourismus ankurbeln, den Agrarmarkt zum Blühen bringen und so weiter.Dann, wenn der Prozess endlich gelungen zu sein scheint, also die Fachleute sind ausgebildet und die stabilen, profitablen Imperien sind aufgebaut, kommt der Staat wieder und holt sich zurück, was ihm gehört.Und dieses Ereignis wird noch in eurem Leben passieren!Ihr mögt jetzt denken, dass ihr das Leben eurer bettelarmen Familien für immer verändert, aber ich muss euch warnen, meine lieben Freunde: Das werdet ihr nicht tun.Wenn ihr das Rentenalter erreicht, wird „Onkel Staat“ höchstwahrscheinlich an eure Tür klopfen und friedlich, höflich alles zurückfordern, was er euch jetzt zum Schnäppchenpreis geben will.Vielleicht in zwanzig, vielleicht in dreißig Jahren.Es ist nicht die Frage, ob es passieren wird. Die Frage ist, wann und mit welchen Mitteln ihr euch schützen könnt.Denn es wird nicht einfach sein, das sage ich euch jetzt!“,erachtete Görbe.

„Willst du uns sagen, dass du der Meinung bist, wir würden unser ganzes Leben lang als Unternehmer schuften und am Ende stellt sich heraus, dass wir nichts mehr waren als Teil eines grandiosen Plans, verdummte Regierungsangestellte?“, fragte der blasse Nyikos, der mit sich rang, welche Seite er ziehen sollte. Sogar die grundlegende menschliche Frage nach dem Sinn des Lebens fällt ihm ein. Er überlegte, ob er dazu bestimmt ist, Geschäftsimperien aufzubauen oder ein ausgehöhlter Soldat zu sein.

„Irregeführte, wohlhabende Staatsbedienstete, Elek.Die Betonung lag auf „wohlhabend“!Alle treten auf dem Schlamm, aber einer schaut nach den Sternen.Wenn du klug genug bist, musst du vielleicht nicht alles verlieren.Wenn du hartnäckig und steif bist, wirst du sicherlich in zwei Hälften gebrochen.Wie einen dünnen Baumzweig.Denkt also nicht nur an einen sorglosen Ruhestand, sondern auch daran, was passiert, wenn ihr zurückgeben müsst, was ihr jetzt habt“, so Görbe.

Schwarzenberger gefiel diese Vision aus zwei Gründen nicht. Zum einen, weil er nicht darüber nachgedacht hatte und zum anderen, weil er insgeheim mit dem Gesagten einverstanden war, es aber nicht einmal vor sich selbst zugeben konnte. Wenn er das täte, würde er sich eingestehen, dass er nicht weiter als seine eigene Nase sehen kann. Und dieses Erkennen passte nicht zu seinem Ego. Keinem von ihnen. Denn mit Ausnahme von Imre Görbe verfügten sie noch nicht über die notwendige Weisheit und Erfahrung.