Ungeschminkt und ungelogen - Werner Kronenberg - E-Book

Ungeschminkt und ungelogen E-Book

Werner Kronenberg

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Beschreibung

Der Autor (Jg. 1953) stellt in diesem Bändchen 30 Kurzgeschichten aus 30 Jahren Theaterarbeit mit Amateuren zusammen. Diese Geschichten hinter den Geschichten berühren Dimensionen des menschlichen Miteinanders (in der Schule und darüber hinaus), die zunächst gar nicht im Vordergrund standen und doch mit dem Abstand der Jahre zur bleibenden Quintessenz der gemeinsamen Theaterarbeit zählen.

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Für meine Familie, die wenigen echten alten und neuen Freunde und die zahllosen jungen (und älteren) Begleiter, die sich ein Stück mit auf den Weg gemacht haben...

Aus ist das Stück

Aus ist das Stück. Verübt ist die Vorstellung. Langsam Leert, ein erschlaffter Darm, das Theater sich. In den Garderoben Waschen von Schminke und Schweiß sich die flinken Verkäufer Eilig gemischter Mimik, ranziger Rhetorik. Endlich Gehen die Lichter aus, die das klägliche Pfuschwerk enthüllen und Lassen in Dämmer das schöne Nichts der misshandelten Bühne. Im leeren Noch leicht stinkenden Zuschauerraum sitzt der gute Stückeschreiber, und ungesättigt versucht er Sich zu erinnern.

(B.Brecht)

Inhalt

Vorbemerkungen und Inszenierungen (1986-2018)

Kurzgeschichten

1. Augenblicke machen süchtig oder Wimpernschläge sind auch Schläge

2. Madame Pace leibhaftig oder der rettende Souffleur

3. Beziehungskisten, der Sperrmüll im Theater?

4. „Können Sie mal unterschreiben?“ oder „Die Geister, die ich rief...“

5. Im Fallwind der Domtürme

6. „Zeigt her Eure Füße“ oder Rekruten für die Kunst

7. Hysterie, bleiche Mädchen und süße Riegel

8. In die Knie oder Vom Ende einer Biertischgarnitur

9. Tünnes, Schnitt(s)chen, Neonazis: Kabarett mit Hindernissen

10. Totes Kind auf städtischem Pflaster oder Müllmann in Not

11. „Ich spiel‘ das nie wieder“ – von der Übermacht der Realität und ihrer Bewältigung

12. Deko, Feuerwehr und gute Fee: vom Glück im Supergau

13. „Va bene, principale.“ Ihr Auftritt, Signore Dell’Angelo!

14. „Tach zesammen“ – Auf dem Cimetière Montparnasse in Paris

15. Von Pferden und Peitschen: Theater auf Abwegen

16. Von Bensberg über Paris und Danzig nach Aachen und zurück oder Wenn einer eine Reise tut

17. „Das Who-Syndrom“ oder Der TheaTerminator

18. „Herr lass Hirn regnen“ oder Dumm und Dreist gesellt sich gern

19. „Papi, bin ich so sexy genug?“ – von Eisenbetten und Peitschen, Latexkleidern und Silikonbrüsten

20. Der verlorene Faust oder Je öller, je döller

21. Der Schein bestimmt das Bewusstsein oder Wer ist hier eigentlich noch echt?

22. Mit Navi wär‘ das nicht passiert oder Wieder kein Stop in Rothenburg ob der Tauber

23. Kinder auf der Bühne oder „Sind die in der 6d etwa alle so?“

24. Flieg, Fuffie, flieg... oder Wer zuletzt lacht, braucht für den Spott nicht zu sorgen!

25. „Das zieh’ ich nicht an“ oder Ein Bild für die Götter

26. Simsalabim – weg sin se oder Öcher Printen sind die besten!

27. Der rote Stuhl für die Braut oder Verfremdung ist, wenn man trotzdem lacht

28. Am Ende doch ein Freudenhaus!

Bonus-Geschichten

29. A magic moment oder Fürchtet Euch nicht: Das Christkind lebt

30. Da lachen ja die (Theater)Götter oder Alles nur heiße Luft

Epilog:

Ungeschminkt und ungelogen oder Was von den Jahren übrig bleibt..

Vorbemerkungen

Bei der öffentlichen Vorstellung meines ersten Bandes von „Nieder mit dem Krippenspiel“ im Jahre 2000 erwiesen sich die dort abgedruckten ersten 15 Kurzgeschichten bei den Lesungen in Schulen, Bibliotheken oder auch Wohnzimmern als der eigentliche Publikumsmagnet. Erst im unmittelbaren, persönlichen Vortrag entfalteten sie die ganze Fülle von liebevoller Skurrilität, beißender Ironie oder romantisierender Besinnlichkeit.

Ich habe im Folgenden daher weitere 15 Begebenheiten zusammengestellt, die auf den ersten Blick allenfalls Marginalien der vorgestellten Projekte darstellen und ursprünglich nicht unbedingt für Dritte bestimmt waren. Neben der Lust am Fabulieren, d.h. hier aber nur am Erzählen, nicht am Erfinden, denn alles hat sich genau so zugetragen!, bleibt die Gewissheit, dass die ausgewählten Histörchen durchaus exemplarischen Charakter haben und damit auch theaterinteressierte Leser und Spielleiter anregen, warnen oder einfach nur unterhalten könnten.

Diese „Geschichten hinter den Geschichten“ berühren auch Dimensionen des menschlichen Miteinanders (in der Schule und darüber hinaus), die zunächst gar nicht im Vordergrund standen und doch mit dem Abstand der Jahre zur bleibenden Quintessenz der gemeinsamen Theaterarbeit zählen.

[Die Geschichten von 1986-1999 finden sich bereits in Band I von Nieder mit dem Krippenspiel! (Norderstedt, 2000), die Stories von 1986-2005 sind auch als Hörbuch auf der Doppel-CD So ein Theater im Theater (Lindlar, 2006) erschienen, die Episoden 2001-2008 findet man in Band II von Nieder mit dem Krippenspiel: Abgeschminkt (Norderstedt 2010) und die letzten beiden Stories sind der narrative Bonus für das vorliegende Bändchen.]

Es gilt für die nunmehr 30 Geschichten das gleiche wie für meine über 20 Inszenierungen: sie kommen nie wieder (alles nur heiße Theaterluft) und bleiben doch ein Leben lang!

Inszenierungen:[Die Nummern verweisen auf die dazugehörigen Kurzgeschichten]

1. Gymnasium Kreuzgasse, Köln:

1986: Luigi Pirandello,

Sechs Personen suchen einen Autor

(mit Dieter Boers) [Nr.1+2]

1987: Peter Weiss,

Marat/Sade

(mit Dieter Boers; Einladung zur Kölner Schultheaterwoche) [Nr.3-5]

1988: Yvan Goll,

Methusalem oder der Ewige Bürger

(mit Dieter Boers; Einladung zur Kölner Schultheaterwoche) [Nr.6]

1989: Arthur Miller,

Hexenjagd

(mit Dieter Boers) [Nr.7]

1990: Kabarett zur Deutschen Einheit Bertolt Brecht,

Die Heilige Johanna der Schlachthöfe

(mit Rolf Wichert und Friedrich Haupt) [Nr.8]

2. Albertus-Magnus-Gymnasium, Bensberg:

1992: Max Frisch,

Die chinesische Mauer

(mit Ingelore Ebeling - Einladung zur Kölner Schultheaterwoche)

1993:

Der wunde Punkt

– Kabarett zum Zeitgeschehen

1993:

Deutschland einig Freizeitpark

(Kabarett)

1994:

Kabarettschnittchen aus 100 Jahren

[Nr.9]

1995: Alain Robbe-Grillet

, Djinn

(Mulitmedia-Projekt mit Helmut Schulte) [Nr.10]

1996:

Stück ohne Namen - Frauen in Auschwitz

(von und mit Judith Kriebel; Einladung zur Kölner Schultheaterwoche und zum Internationalen Theaterworkshop in Auschwitz/ Polen) [Nr.11]

1997: Frank Wedekind,

Frühlings Erwachen

(Musiktheater mit Annette Piel - Einladung zur NRW-Landesschultheaterwoche) [Nr.12+13]

1998: Soirée

„Sartre

2

“, Das Spiel ist aus/Geschlossene Gesellschaft

(mit Stefan Demmin) [Nr.14]

1999: Peter Weiss,

Marat/Sade

(II) (mit Helga Ritter, Miro Magloire und Stefan Demmin) [Nr.15]

2001: Roger Vitrac,

Victor oder die Kinder an der Macht

(mit Hans Ueberberg und Stefan Demmin) [Nr.16+17)

2003: Johann Wolfgang Goethe,

Faust I

(mit Jürgen Klisch, Helmut Schulte, Hans Ueberberg und Stefan Dem min) [Nr.18-20]

2005:

Walser meets Pirandello

: Theresia Walser,

Das Rest paar

– Luigi Pirandello,

Sechs Personen suchen einen Autor

(mit Jürgen Klisch und Stefan Demmin) [Nr.21-23]

2006:

Antigone - Sophokles meets Anouilh

(mit Jürgen Klisch) [Nr.24-25]

2008: Bertolt Brecht/Kurt Weill,

Die Dreigroschenoper

(mit Jürgen Klisch und Rolf Faymonville) [Nr.26-28]

2011: Patrick Süskind,

Der Kontrabass

(mit Freddy Burger)

3. EvB-Gymnasium, Wipperfürth:

2018: Yasmina Réza,

Der Gott des Gemetzels

[Nr.30]

3. Außerschulische Inszenierungen

2005/07/10/13/16: Bergische Weihnacht –

Satirisches Krippenspiel mit Mund-ART und Gesang

(Open-air-Aufführung mit Thomas Braun und Günter Sauer mann in Lindlar-Fenke und Frielingsdorf) [Nr.29]

1. Augen-Blicke machen süchtig oder Wimpernschläge sind auch Schläge (1985)

Es soll Männer geben, die vom Zigarettenholen nicht mehr zurückkehren. Einfach so. Oder Frauen, denen völlig unerwartet der Mann ihres Lebens begegnet, mit dem sie dann meist eher kopflos das Weite suchen. Liebe auf den ersten Blick, „le coup de foudre“ wie die Franzosen sagen, obwohl diese Metapher vom Blitzschlag schon eher aktuelle Verbrennungen oder künftige Verwüstungen ankündigt als die deutsche Umschreibung. Dagegen sollten deutsche Beamte in geschützten Diensträumen eigentlich eher immun und gefeit sein, oder?

Ich ahnte dann auch nichts Böses, schon gar nicht, dass mir eine schicksalhafte Begegnung bevorstand, als ich im Oktober 1985 mit vertrauten Kollegen in der Biologiesammlung des Kölner Gymnasiums Kreuzgasse saß und die große Pause genoss. Es handelte sich um eines jener illegalen Refugien, in die sich deutsche Pädagogen bisweilen vor dem Adlerauge eines dienstbeflissenen Schulleiters, spontan anfallenden Vertretungsstunden oder einfach unliebsamen Kollegen zurückziehen, um im Kreise von Mitfühlenden (wenn nicht Mitleidenden) vergangene oder künftige Gefechte an der pädagogischen Front nachzukauen oder strategisch vorzuplanen. Inmitten von Skeletten, Präparaten und Aquarien trafen sich regelmäßig die „Illegalen“ zum Pausenplausch, überzogen auch gern mal ein paar Minuten, bevor sie sich erneut in die Höhle des Löwen begaben und waren für Suchende ergo todsicher und zuverlässig dort auffindbar und anzutreffen, so dass die Schulleitung schon die Einrichtung eines „heißen Drahtes“ erwogen hatte, um die administrative Unmittelbarkeit zu den Beamten des offenen schulischen Vollzuges wiederherzustellen. Es lag also auch nichts Ungewöhnliches in den regelmäßigen Störungen durch je nach Gemütslage übervorsichtig oder stürmisch anklopfende Schüler, die sich nach einer Quartalsnote erkundigen oder eine vergessene Hausaufgabe gestehen wollten. Offenbar hatte sich die in der Regel tendenziell positive Disposition der „Insassen“ zunehmend herumgesprochen, so dass auf Lehrerseite bereits der Umzug in ein neues Refugium angedacht und räumliche Alternativen erwogen worden waren.

Ein durchaus energisches Klopfen an jenem freundlichen Herbsttag kündigte also per se noch nichts Schwerwiegendes, Tiefgreifendes, Langfristiges an. Irgendwer bemühte sich halt zur Tür und ließ das störende Subjekt herein. Welch verhängnisvoller Akt! „Kann ich Sie ‘mal kurz sprechen, Herr Kronenberg, aber unter vier Augen, wenn es geht.“ Vor mir stand eine jener aparten Erscheinungen, mit denen uns die Oberstufe alle Jahre wieder konfrontiert, ohne dass uns nun gleich immer neu die Knie weich werden (auch wenn ich damals gerade knapp über dreißig war). Ich kannte die Schülerin ansehens, ihr Äußeres hatte keine provozierende oder warnende Signalwirkung, wenn da nicht ein ungewöhnlicher Wimpernschlag mit einem leichten Lächeln gewesen wäre, das in seiner hochexplosiven Kombination von Bitte, Verführung und Ironie bereits Fallstricke auslegte, bevor das erste Wort der Erläuterung gefallen war. „Also, es ist so: wir waren auf einem Theater-Workshop und haben entschieden, eine neue Theater-AG zu gründen. Wir spielen Pirandello, die Rollen sind auch schon verteilt.“ Pause. Kunstpause? „Ja und?“ Das konnte mich ja nicht weiter betreffen, wahrscheinlich ging es um irgendeine organisatorische Auskunft oder literarische Spezialfrage, um die ich mich in der Pause wahrlich nicht kümmern wollte. „Also?“ Mädchen, nun komm schon raus mit der Sprache. Gleich klingelt es wieder unbarmherzig, das Leben ist kurz. „Ja, eigentlich“ – zwei gezielte Wimpernschläge – „wollten wir Sie fragen, ob Sie nicht unser Spielleiter werden könnten. Wir meinen, Sie sind genau der Richtige und haben doch auch selber Schauspieltalent.“ Bums, noch zwei Augenauf-Schläge hinterher, dann Luft anhalten und innerlich anzählen. Ob er schon wankt? Ich wankte (noch) nicht. Das war ja eine schöne Schnapsidee. Da sollten sich mal schön die Germanisten drum kümmern, das war schließlich ihr Terrain, warum sollte ich mir so was antun, davon hatte ich ohnehin keine Ahnung, und Lust schon mal gar nicht, ich war mit meinen bilingualen Aktivitäten wahrlich ausreichend ausgelastet und überhaupt. In Sekunden hatten sich die Schutzwälle vor diesem neuen Anspruch aufgerichtet und eher gelassen ließ ich eine kleine Luke auf, um der Aspirantin die Unsinnigkeit ihres Ansinnens in pädagogisch angemessenem Ton und Stil zu erläutern. Also, Luke auf und ... rums: wieder der Wimpern-Schlag, diesmal Volltreffer. Offensichtlich erreichte sie die wohlgefeilte und doch stereotype Abwehrrhetorik, die ich abspulte, gar nicht erst und mit dem überfälligen Schulgong zog sie schon wieder das explosive Lächeln auf, klimperte noch einmal bedrohlich vielversprechend und selbstbewusst und zog mit einem knappen, fast schnippischen „Na, vielleicht denken Sie noch ‘mal drüber nach. Wir treffen uns am Montag um 14h00 in der Bibliothek“ von dannen. Ende des Auftritts, gekonnter Abgang, Ende des Prologs, Anfang eines Langzeitdramas, dessen Text und Handlungsverlauf der „jugendliche Held“ noch nicht kannte. Aber der Vorhang war gelüftet, der Abgrund sichtbar, die Gefahr erkannt. Ob Andrea D. diesen Auftritt wirklich so inszeniert hatte, wie er auf mich in der Erinnerung nachwirkt, sei dahingestellt. Jedenfalls verfehlte er seine Wirkung nicht. Wenn ich auch den nachfragenden und frotzelnden Kollegen gegenüber abwinkte, wirkte die leichte Dosis eines noch nicht definierten Stoffes in mir nach. Ich besorgte mir den Text von Sechs Personen suchen einen Autor, natürlich „nur aus Neugier“ und völlig unverbindlich. Ich las und wurde immer unruhiger, je näher der fatale Montag heranrückte. Na ja, hingehen kann man ja mal. Verpflichtet ja noch zu nichts. Mal sehen, was sich da für Traumtänzer einfinden würden. Der fatale Entschluss war getan, die Abwehrkräfte sanken und ich kam zum Schultheater, wie die Jungfrau zum Kind. Wenn ich auch meine Zustimmung noch über Wochen hinauszögerte und weder offiziell noch öffentlich machen wollte (wie sollte ich so etwas meiner Frau beibringen?), so war ich doch längst infiziert. Kontamination per Wimpernschlag. K.o. in der ersten Runde. Als ich erwachte, war ich nicht mehr derselbe. In einer eher prosaischen Biologiesammlung eines Kölner Gymnasiums begannen für mich ein pädagogisches und künstlerisches Abenteuer und eine persönliche Metamorphose, die beim entschlossenen Anklopfen an die Tür des Sammlungsraumes nicht zu erahnen gewesen waren. Vielleicht hätte ich an diesem Tag besser Zigaretten geholt, statt zur Schule zu gehen, obwohl ich wahrlich etwas verpasst hätte...

Sicher mehr Blitzeinschlag als Liebe auf den ersten Blick, aber Überspannung muss ja nicht automatisch zum Totalausfall führen. Manchmal geht das Leben seltsame Wege...

2. Madame Pace leibhaftig oder der rettende Souffleur (1986)

Unerfahrene Spielleiter sind Angsthasen. Sie wittern überall Stolperfallen, Fallstricke und Heckenschützen (die ja meist auch als besserwissende Kritiker – bisweilen in Form von Kollegen, die nicht ein banales Klassenfest auf die Beine bringen - im Publikum sitzen). Bei meiner ersten Inszenierung sollte natürlich nichts schief gehen, alles reibungslos ablaufen und alle Greenhorns sollten wirken wie alte Hasen, die kein Halali mehr schrecken kann. Also wurde nichts dem Zufall überlassen, nicht nur eifrig geprobt und wiederholt bis zum Erbrechen, sondern auch pfiffig mit Hinweisschildern hinter der Bühne gearbeitet, die ein dichtes Netz von Eselsbrücken und Erinnerungen über und unter uns legten, dass wir vor lauter doppelten Böden allenfalls noch fürchteten, auf dem Angstschweiß des eigenen Lampenfiebers auszurutschen.

Natürlich konnte da auf einen Souffleur nicht verzichtet werden, der einsatzbereit und zu allem entschlossen in den Kulissen hockte. Nur hatte keiner die Rechnung mit dem Wirt Pirandello (in: Sechs Personen suchen einen Autor) gemacht. Wer sollte sich da auch auskennen, wenn potentielle Bühnenfiguren leibhaftig auf einer Probe erscheinen, eine virtuelle Geschichte erzählen, die reale Schauspieler dann nachspielen sollen, bevor die Bühnenfiguren ob deren Unzulänglichkeiten selbst einspringen, um dem fiktiven Geschehen mehr Realitätsgehalt zu verleihen? Wann kommt eigentlich welche Szene in welcher Spiegelung und mit welcher Textvariante? Geprobt hatten wir es eigentlich genug, aber den Faktor der Aufregung im systematischen Verwirrspiel zwischen Schein und Sein dann doch unterschätzt. Und es kam, wie es kommen musste. Nachdem die ersten Szenen wie am Schnürchen abgespult waren und langsam die Anfangsnervosität gewichen war, hatten wir plötzlich eine unerwartete Erscheinung. Mitten im Streit zwischen Schauspielern und Bühnenfiguren tauchte mit tiefem Décolleté und Federboa Madame Pace auf, die Puffmutter des Bordells, in dem die virtuelle Tochter ihren nicht minder fiktiven Vater angeblich real getroffen hatte und in einer späteren Szene auf der Bühne auch treffen sollte. Diese Dea (oder Domina?) ex machina verschlug allen – nicht nur im Publikum - die Sprache. Der arme Souffleur hinter dem Vorhang implodierte und starb den vorzeitigen Heldentod, alle waren wie versteinert (obwohl gar kein freeze vorgesehen war) und keiner hatte mehr den notwendigen Durchblick. Das war die Stunde (oder besser die Sekunde) des Souffleurs, nicht des echten, sondern derjenigen Bühnenfigur, die den Schauspielern im virtuellen Theater (im Theater) hinzugesellt war und der brav die Textanschlüsse des Meisters aufzusagen hatte. Mit vorher nicht gekannter Kaltschnäuzigkeit schrieb er einen eigenen, neuen Text in sein spärliches Drehbuch (in dem Pirandellos Reclam-Heftchen steckte) überquerte diagonal die Bühne, ereilte Madame Pace mit den vorwurfsvollen Worten „Aber meine Dame, sie sind doch noch gar nicht dran. Offensichtlich haben sie sich im Bordell geirrt. Wir jedenfalls spielen noch Theater.“ Sprach‘s und komplimentierte die Sprachlose von der Bühne, bevor er die Mitspieler wieder in den vorgesehenen Handlungsablauf einwies und den ersten Szenenapplaus kassierte. Madame Pace bekam dann den ihren ebenfalls, weil sie fast wie ein running gag empfunden wurde, als sie im zweiten Anlauf punktgenau ihren Auftritt hatte und der Spielleiter sich schwor, künftig nur noch mit sichtbarem und ins Spielgeschehen irgendwie integriertem Souffleur zu arbeiten, keine Stücke mehr mit einer Puffmutter zu inszenieren und in keiner Probe eine pfiffige Improvisationsübung auszulassen.

Angsthasen fallen in die Grube und gute Souffleure gehören in den (Theater-) Himmel.

3. Beziehungskisten, Sperrmüll im Theater? (1987)