Unter Wilden - Werner Kronenberg - E-Book

Unter Wilden E-Book

Werner Kronenberg

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Beschreibung

Der Autor Werner Kronenberg (Jg. 1953) berichtet in diesem Buch von einer viermonatigen Reise mit dem Schiff um die Südhalbkugel. Es handelt sich nicht um einen klassischen Reisebericht, sondern um eine strukturierte, z.T. satirische Analyse des klassischen Kreuzfahrtbetriebes. Der Titel erschließt sich dabei auf überraschende Weise: die "Wilden" sind nicht immer da, wo wir sie vermuten... An ausgewählten Destinationen werden enttäuschte Erwartungen ebenso geschildert wie z.T. überraschende persönliche Highlights. Das Buch ist auch ein Plädoyer für entschleunigtes Reisen und eine Liebeserklärung an die Unendlichkeit der Ozeane, ihr vielschichtiges Blau im Zusammenspiel von Wasser und Licht und an den ewigen, wogenden Sound des Meeres in diesen schrillen, aufgeregten Zeiten.

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Für meine Frau Dorothee, mit der ich diese Reise machen durfte Für Siegfried und Dorothee K., die uns und die wir begleitet haben

„Einzeller, Affen, Ungeheuer, Menschen, Wunder, alles dasselbe. Alles Biomasse. Kein Grund zur Aufregung. Unsere Spezies stellt sich sofort anders dar, wenn man sie unterm Mikroskop betrachtet und in biologischen Begrifflichkeiten umschreibt. Aus Mann und Frau werden Männchen und Weibchen, der vordringliche Lebenszweck des Einzelnen ist Nahrungserwerb, aus Essen wird Fressen…“

(F. Schätzing)

Inhaltsverzeichnis

0. Vorbemerkungen

Mit Hindernissen und Verzögerung - wie dieses Buch entstand

Kreuzfahrten vor, in und nach den Zeiten von Corona

Kreuzfahrten zwischen Boom und Verteufelung

Der Neustart – ein Ende des Größenwahns?

I. Der Vorlauf

Ein Lebenstraum

Bisherige Reisen

Die Buchung

Die Vorbereitung

II. Die Reise

Die Route

Das Schiff

Allgemeine Schiffsdaten

Home, sweet home: Die Kabine

Essen, bis der Arzt kommt

Die Logistik

Das Wetter

Routinen und Sicherheit

Das Programm I: Seetage und Landgänge

Das Programm II: Das Bordentertainment

Das Paralleluniversum

Der permanente Ausnahmezustand: Krieg im Waschsalon

Lieblingsorte an Bord

Vom Ankommen und Wegfahren

III. Die Passagiere

Schock 1: schwimmendes Seniorenheim

Schock 2: Bordsprache Sächsisch

Typologie der Mitreisenden:

Touristen, Nomaden, Flüchtlinge

Die Widerlinge

Die Netten

Passagierwechsel

Die „Befreiten“ von Deck 1

Verrutschtes Menschenbild

IV. Die Crew

Häuptlinge und Indianer

Die Rezeption

His master‘s voice

Der Kapitän

Die Offiziere/die Manager

Die Scouts

Lektoren, Reisespezialisten, (Gast)Künstler

Das Service-Personal

Der Kabinensteward (der „Boy“)

Helmut aus Hannover: No fraternization?

Die blauen Ameisen

Die Theorie vom „Trainingsschiff“

[

Fotoseiten:

Abb. 1 – 27]

V. Destinationen: Flops und unvergessliche Momente

Landgänge, offizielle und individuelle Reiseroute

Zerstörte Mythen – die „Postkarten“-Flops

Rio – Dauerregen am Zuckerhut

Tahiti – schwarzer Basalt

Mauritius – eine feuchte Insel

Südafrika – Land der leeren Augen?

Persönliche Highlights

Die Livraria Lello in Porto

Baden in Salvador de Bahia

Ushuaia, Feuerland und Gletscherallee

Seelöwen und Pelikane in San Antonio

Sehnsuchtsort Osterinsel

Mit Haien schnorcheln vor Bora Bora

Wandern in den Marlborough Sounds

Silvester in Sydney

Die weißen Strände von Esperance

Die strahlenden Menschen von Maputo

Auf dem Tafelberg in Kapstadt

Im Gewusel von Dakar

Shoppen in Honfleur

VI. Und was bleibt?

Dankbarkeit

Die Entschleunigung

Die Weite der Ozeane

Die Gesichter der Menschen

[

Fotoseiten

: Menschenbilder]

Epilog: Was das Reisen mit uns macht

P.S.: Halt‘ Dich raus…?

0. Vorbemerkungen

Mit Hindernissen und Verzögerungen – wie dieses Buch entstand

Eigentlich erscheint es viel zu spät. Um Jahre verzögert geschrieben. Geistig schon abgehakt, in den Tiefen des PC in Stichworten abgelegt, zwischenzeitlich vergessen. Und dann doch wieder hochgeschwemmt, hartnäckig aufgetaucht, unsinkbar und unversenkbar…

Nachdem wir, meine Frau Dorothee und unsere Begleiter, Dorothee und Siegfried K., Ende Februar mitten im Karneval 2020 von unserer ersten Weltreise, genaugenommen einer Schiffsreise mit der AIDAaura um die Südhalbkugel (Oktober 2019 – Februar 2020), nach vier Monaten in unser uns fast fremd anmutendes Haus im Bergischen Land zurückgekehrt waren, befand sich im Reisegepäck neben rund 7000 Fotos ein prall gefülltes persönliches Logbuch, das unterwegs fast täglich angereichert worden war und aus dem ich zentrale Stichwörter und die Gliederung des vorliegenden Buches herausarbeitete. Auch der Titel, der sich im Laufe aufmerksamer Lektüre in all seiner Vielschichtigkeit erschließen dürfte, stand bereits fest. Eigentlich mussten die Stichpunkte nur noch zügig ausformuliert werden, solange die Erinnerung noch frisch war.

UND DANN KAM CORONA!

Am Aschermittwoch 2020 war tatsächlich erst einmal ALLES vorbei. Sich ausdehnende Infektionen, Kontaktverfolgungen und -beschränkungen, Masken, Lockdowns, Kita- und Schulschließungen, einsames Sterben in den Altersheimen, aufeinanderfolgende Virusvarianten und -wellen, Impfkampagnen, Querdenkerdemos etc. Unsere vertraute Welt geriet aus den Fugen, das öffentliche Leben brach zunehmend zusammen, Reisen wurden auf ein Minimum reduziert, Menschen durch Absperrungen und Zäune getrennt, von Drohnen verfolgt, das volle Programm! Und das für fast drei Jahre. Erste Anzeichen hatten wir bereits während der Reise wahrgenommen (asiatische Kreuzfahrtpassagiere mit Masken auf Tahiti, TV-Nachrichten über erste Ansteckungen in Bayern und Quarantänemaßnahmen auf einem Schiff vor Japan). Aber niemand hatte das künftige Ausmaß dieses internationalen medizinischen, ökonomischen und menschlichen Ausnahmezustandes vorhergesehen.

Über Sinn und Wahnsinn diverser Maßnahmen muss hier nicht philosophiert werden. Fakt ist aber, dass sich in dieser Zeit kein Mensch mehr für Reiseberichte, Erinnerungsfotos und Betrachtungen über die Menschen dieser Welt interessierte, während in Bergamo/Italien LKWs als Leichenwagen durch die Straßen der Stadt rollten und sich in New York die Kühlwagen mit Tausenden von Pandemieopfern stauten, weil die Bestattungskapazitäten längst nicht mehr ausreichten.

Und wer wollte da von der „Reise seines Lebens“ berichten, während sich nicht einmal mehr der erweiterte Familienkreis, geschweige die Nachbarschaft die – von 7000 auf die 3500 besten reduzierten – Fotos anschauen konnte und wollte? Die legendären Dia- bzw. Fotoabende waren Vergangenheit, und ich brachte keine Zeile zu Papier bzw. in die Textverarbeitung. Projekt geknickt, mangels Motivation, Interesse und Relevanz. Während noch vereinzelt Kreuzfahrtschiffe über die Weltmeere irrten, ohne die geplanten Häfen anlaufen zu können oder zu schwimmenden Lazaretten wurden, hatte sich das Thema scheinbar definitiv erledigt.

Aber wir hatten die Rechnung ohne den Wirt der Erinnerung gemacht. Da drückte etwas von ganz unten an die Oberfläche des Bewusstseins, das offenbar stärker war als der Deckel der Pandemie. Google servierte immer mal wieder Fotoserien aus meinem eigenen Archiv unter dem Motto: „Weißt Du noch, heute vor drei Jahren“, sonntägliche Schwimmbadgespräche mit unseren Begleitern rissen nicht ab: „Jetzt ist es schon 1, 2, 3 Jahre her, dass wir… Wie gut, dass wir das gemacht und noch vor Corona unbehelligt hingekriegt haben“. Auch das ZDF-„Traumschiff“ und zahlreiche TV-Dokus aus aller Welt hatten die Erinnerung befeuert: „Sieh mal, da waren wir doch auch, erinnerst Du Dich noch als wir da und da…“

Im Oktober 2022 nahm ich dann zum ersten Mal mein kleines, aber feines, in braunes Leder gefasstes Logbuch wieder zur Hand, verfolgte die damalige Weltreise aus dem Winter 2019/20 Tag für Tag an Hand meiner Einträge und verglich sie mit dem Logbuch eines Teilnehmers der ersten Weltreise nach der Pandemie auf der AIDAmar auf ähnlicher, z.T. gleicher Route (Thomas Voigt in der Bergedorfer Zeitung, online im Internet, von Oktober 2022 – Februar 2023).

Und siehe da, mit dem Ende der Lektüre neigte sich auch die Pandemie ihrem Ende entgegen, weltweit wurden die Beschränkungen aufgehoben und Köln hatte im Februar 2023 endlich seinen Rosenmontagszug pünktlich zum 200. Geburtstag des Festkomitees Kölner Karneval zurück.

Und ich entsann mich meiner Notizen, frischte die Erinnerungen im heimischen Dialog auf und machte mich, verspätet, aber endlich wieder motiviert und fast euphorisch an die Arbeit. Und schrieb dieses Buch in zwei Monaten runter. Es sollte allerdings kein klassischer Reisebericht von A-Z, sondern eher eine strukturierte, kritische Analyse der Reise im Gesamtkontext der Kreuzfahrtindustrie werden, und dies mit einer satirischen Schlagseite.

Gut Ding braucht Weile und die Erinnerung braucht Zeit zum Sacken, bevor sie um so kräftiger wieder an die Oberfläche spült.

Wie passend – oder unpassend –, dass AIDA zum September 2023 eines der ältesten und kleinsten Schiffe seiner Flotte, „unsere“ AIDAaura, ausmustert, verkauft, verschrottet oder gar versenkt.

Und wie gut, dass es auch nach der Pandemie noch Bücher gibt.

Kreuzfahrten vor, in und nach den Zeiten von Corona

Vor Corona waren Kreuzfahrten in der Tourismusbranche der Wachstumsmarkt schlechthin. 75 Redereien tummelten sich mit 350 Schiffen aller Größen und Kategorien in diesem Geschäft, überboten einander mit ständig neuen Superlativen, Schiffsgrößen und Freizeitangeboten, sodass zunehmend die Schiffe selbst zum eigentlichen Ziel der angebotenen Reisen wurden. Das 2019 größte Schiff, die Harmonie of the seas, Baujahr 2016, bot 6360 Gästen und 2384 Crewmitgliedern Platz, die zwei neuesten Schiffe von AIDA, die AIDAnova und die AIDAcosma schwimmen mit über 5000 Passagieren in einer vergleichbaren Liga mit, sind aber schon mit modernsten Umwelttechnologien ausgestattet, werden mit Flüssigerdgas (LNG) betrieben und setzen somit den Kurs der Senkung von Emissionen in der Kreuzschifffahrt fort.

Die nach oben vermeintlich offenen Schiffsgrößen erlaubten den Reedereien Kalkulationen, die auch bescheidenen Budgets eine solche viel gepriesene und oft lang ersehnte Seereise ermöglichten. Kein Winkel der Welt schien vor diesen Ozeanriesen sicher, bevor ein völlig unerwarteter Faktor, die Covid19-Pandemie, der Wachstumshybris und dem ökonomischen Größenwahn abrupt ein Ende setzte.

Innerhalb eines Jahres kam die gesamte Kreuzfahrtindustrie wie auch die Tourismusindustrie allgemein weltweit zum Erliegen, statt unbegrenzt scheinender Profitmaximierung wurden Milliardenverluste eingefahren, zigtausende von Crewmitgliedern – zumindest vorübergehend – entlassen und in ihre Heimatländer, meist in Südostasien zurückgeschickt, Schiffe notdürftig gewartet und gepflegt, ohne einen einzigen Cent einzufahren.

Die Buchungen für die Jahre 2022 und 2023 zeigen aber, dass all dies der Reiselust der Kunden keinen Abbruch getan hat. Im Gegenteil. Der erwartete und erhoffte Nachholeffekt nach der Pandemie schlägt voll auf die Buchungszahlen kurzer, mittlerer und langer Seereisen durch, auf die Preise allerdings auch, auch wenn die Durchführung oft noch an den Spätfolgen von Corona leidet und der freie Zugang zu allen Häfen der Welt mit ihrem jeweiligen Hinterland noch nicht ohne weiteres gewährleistet ist.

Damit allerdings flammt auch die alte Debatte über Traum und Wirklichkeit, Sinn und Unsinn dieser „Traumreisen“ wieder voll auf.

Kreuzfahrten zwischen Boom und Verteufelung

Der existentielle Zwiespalt der Kreuzfahrtindustrie zwischen ökonomischem Boom und moralischer, d.h. v.a. sozialer und ökologischer Verteufelung ist nicht leicht aufzulösen. Wolfgang Gregor hat es in seinem Buch Der Kreuzfahrtkomplex (2016), ein durchaus mehrdeutiger Titel, detail- und kenntnisreich versucht. Auf ihn stützen sich vornehmlich die Daten und Fakten des vorliegenden Kapitels.

Der Boom speist sich aus zwei Faktoren: einer noch ständig steigenden Nachfrage von „Traumreisenden“, die „einmal im Leben“ oder „alle Jahre wieder“ die Planken betreten, um in exotische Welten entführt oder einfach auf denkbar bequeme Weise dauerbespaßt zu werden. Die Grenzen der Gewinnmaximierung der Veranstalter scheinen fast unbeschränkt erweiterbar, je populärer die Angebote durch Vergrößerung der Passagierzahlen sind. Dazu kommt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Dauergästen, die im Jahr oft mehr Zeit an Bord verbringen als zu Hause. Bei unserer Reise gab es eine – für uns – erstaunliche Zahl von Mitreisenden, die die Weltreise schon zum dritten Mal gebucht hatten oder auch bereits an Bord Kreuzfahrt Nummer 28, 29, 30 festmachten. Dabei handelte es sich nicht nur um wohlhabende Senioren, sondern auch junge Familien mit noch nicht schulpflichtigen Kindern, deren Eltern von Bord aus im Homeoffice regulär ihren Geschäften nachgingen.

Neben dieser nachfrageorientierten Komponente steht das Angebot an konkurrierenden, profitorientierten Unternehmen, die unter Billigflaggen mit entsprechenden Steuervorteilen und der Nutzung von billigen Arbeitskräften aus Entwicklungsländern, v.a. aus Asien, Chancen der Gewinnmaximierung bei gleichzeitiger Umweltbelastung nutzen.

The Big Four der Branche, Carnival, Royal Caribean, Norvegian und MSC teilen sich den Markt bei einem jährlichen Wachstum von 10% (vor der Pandemie), 33 Milliarden Umsatz mit 23,2 Millionen Passagieren (davon 3 Millionen in Deutschland) auf. Durch die extreme Verschachtelung der Unternehmen (z.B. gehört AIDA zu Costa und Costa zu Carnival), weiß der unbedarfte Kunde meist nicht, bei wem er bucht und wem er per Bordkarte im Schnitt 47 € pro Tag an Bord in die Kassen spült.

Natürlich ist es kein Wunder, dass diese Industrie neben ihren Gewinnen auch ihren Kritikern Argumente liefert, die Kreuzfahrten grundsätzlich infrage stellen. Hier nur eine begrenzte Auswahl von kritischen bis zu satirischen Analysen, die sowohl die Finger in einzelne Wunden legen, als auch solche Reisen ganz grundsätzlich für unvertretbar halten:

David Foster Wallace, Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich, 1997/ Frankfurt 2018

Wolfgang Gregor, Der Kreuzfahrtkomplex: Traumschiff oder Albtraum, Hamburg 2016

Wladimir Kaminer, Die Kreuzfahrer, München 2018

Albrecht Steinecke, Kreuzfahrttourismus, München 2018

Dinah Deckstein et al., Der Kreuzfahrt-Wahnsinn, Spiegel 09.08.2019

Wolfgang Gregor, Gesellschaftlich nicht mehr vertretbar, Spiegel-online, 11.08.2019

Die Argumente lassen sich in drei Kernvorwürfe bündeln:

Rüde Arbeitsbedingungen

für die „Billigsklaven“ (W. Gregor) der Crew mit strenger Rang- und Hackordnung unter Deck und entsprechender „Kapo“-Überwachung (ibid.)

Der

ökologische Fußabdruck

dieser Reisen, v.a. die hohe Umweltbelastung durch die Schiffe mit Dieselantrieb

Der

Touristeninfarkt

vieler Hafenstädte, die den Stundentourismus quantitativ oft nicht mehr verkraften und qualitativ, v.a. ökonomisch, wenig von ihm profitieren (die meisten Kreuzfahrer konsumieren ja an Bord). Es kommt höchst selten zu einem authentischen Kontakt zwischen Touristen und Einheimischen.

„Ein marokkanischer Bazar-Händler in Casablanca wird dann genauso wahrgenommen wie ein marokkanischer Asylant am Kölner Hauptbahnhof.“ (Gregor, ibid. S.235)

Viele Hafenstädte, allen voran Venedig, sind ja deshalb dazu übergegangen, größeren Schiffen die Landung zu verwehren. Dasselbe gilt für die norwegischen Fjorde ebenso wie auch zunehmend für südpazifische Inselparadiese wie Bora Bora.

Das Fazit der meisten Publikationen, sofern es sich nicht um Ratgeber der Reedereien oder ähnliche Werbeträg handelt, fällt daher meist vernichtend aus:

Die Belastung der Natur, die verminderte Erlebnisqualität der Reisenden durch überfüllte Schiffe, generell abnehmende kulinarische Standards oder fortwährende Beschallung durch Werbung und die Erosion des authentischen Charakters von Zielhäfen durch eine zu hohe Taktung der Ozeanriesen.

„Die Kreuzfahrtgesellschaften dieser Welt glauben, nicht ausschließlich von Gier getrieben zu sein – sie irren sich. Eine Industrie, die ihren Erfolg auf dem Rücken von Umwelt, Mitarbeitern, mangelnder Steuergerechtigkeit und Sicherheit aufbaut, ist weder nachhaltig noch gesellschaftlich verantwortungsvoll, (Gregor, ibid.S.269)

Der Neustart – ein Ende des Größenwahns?

Wird denn nun nach der Pandemie und beim Bau des nächsten Luxusliners alles besser, sauberer, fairer? Hat uns als Kunden und die großen Kreuzfahrtanbieter die Pandemie denn wirklich Demut gelehrt? Da dürften Zweifel angesagt sein. Schaut man sich einmal Details des demnächst größten Kreuzfahrtschiffes der Welt an, das real gebaut wird, dann kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus:

„Neuer Rekordhalter 2023: Wonder of the Seas

Das größte Kreuzfahrtschiff der Welt ist neuerdings die Wonder of the Seas der US-Reederei Royal Caribean. Das Schiff ist seit Frühjahr 2022 mit Passagieren unterwegs. Der Koloss löst das bisherige größte Kreuzfahrtschiff Symphony of the Seas ab. Beide gehören zur Oasis-Klasse der Reederei und wurden von der französischen Werft STX France in Saint-Nazaire gebaut.“ (https://www.seetours.de/ratgeber/groesstes-kreuzfahrtschiff)

Das Schiff ist:

362 Meter lang

66 Meter breit

rund 70 Meter hoch und

hat 16 Decks

für bis zu 6.988 Passagiere.

Dagegen macht sich die Titanic ja geradezu wie ein Schlauchboot aus.

Das Freizeitangebot und die kulinarischen Verlockungen für die rund 7000 Passagiere werden bestimmt umwerfend sein. Aber man stelle sich einmal die Ankunft in einem beliebigen Hafen der Welt vor. Würden in meiner Heimatgemeinde Lindlar (Oberbergischer Kreis, ca. 20.000 Einwohner) morgens rund 1000 Schwarzafrikaner vor dem Rathaus aus Bussen aussteigen, um alles zu fotografieren, was nicht niet- und nagelfest oder bei drei auf den Bäumen ist, dann würde gewiss der Ausnahmezustand ausgerufen und die Feuerwehr rückte mit großem Löschgerät an. Wetten, dass?

Aber das ist alles noch gar nichts gegen die schwimmenden Hotels der Zukunft: (Abb. 1: Das geplante Mega-Kreuzfahrtschiff Pangeos)

[Im folgenden Text wird auf 27 Abbildungen verwiesen, die sich im Mittelteil dieses Buches (auf S. → - →) befinden.]

„Pangeos: Elektrische Wasserschildkröte soll weltgrößtes Kreuzfahrtschiff werden

„Das italienische Designstudio Lazzarini hat ein riesiges Kreuzfahrtschiff in Form einer Wasserschildkröte entworfen. Die Terayacht mit dem Projektnamen ‚Pangeos‘, benannt nach dem Superkontinent Pangea, soll 550 m lang und an der breitesten Stelle 610 m breit werden. Rund 60.000 Menschen sollen darauf Platz finden. Angetrieben werden soll es elektrisch, gespeist von Energie aus Batterien, Solarmodulen und Wellenkraft. Nach derzeitigen Plänen würde Pangeos das größte Kreuzfahrtschiff der Welt sein, wenn es nach einer Bauzeit von acht Jahren tatsächlich 2033 vom Stapel laufen sollte.“ (www.heise.de/news/Pangeos-Elektrische-Wasserschildkroete-soll-weltgroesstes-Kreuzfahrtschiff-werden7340773.html)

Diese Dimensionen entziehen sich meiner Vorstellungskraft. Sie bleiben hier unkommentiert und nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Aber die Gretchenfrage des Buches ist trotz langer Vorrede noch immer nicht gestellt:

Wie kann man guten Gewissens und sofern man bei Sinnen ist, eine Weltumrundung per Kreuzfahrtschiff planen, durchführen und ohne Reue in sein Leben integrieren?

Das Buch wird versuchen, darauf stimmige Antworten zu liefern, auch wenn die Rechnung bei ehrlicher Abwägung nie ganz aufgeht.

I. Der Vorlauf

Die Reise beginnt natürlich lange vor der Reise. Schließlich fährt man nicht mal eben ein paar Tage nach Zeeland. Die Dauer von vier Monaten erfordert sowohl für die lange Abwesenheit zuhause wie für die Gestaltung unterwegs eine sorgfältige Vorbereitung, deren Eckpunkte hier zusammengetragen sind.

Ein Lebenstraum

In der Regel trifft man die Entscheidung für eine Weltreise nicht spontan, nicht aus einer Laune heraus, auch wenn unerwartete Faktoren zusätzlich dazu beigetragen haben.

Natürlich ging der Buchung ein fast lebenslanger Traum voraus: Einmal um die ganze Welt! Das ist der Udo Jürgens-Effekt: Ich war noch niemals in New York… (wo wir aber 1997 und 1998 schon waren).

Wahrscheinlich entstand unser Traum 1980 bei einer vierwöchigen Reise durchs Mittelmeer von Venedig bis Jalta auf der Krim, durch die Sowjetunion über Moskau und Leningrad bis Tallin und zurück über die Ostsee nach Lübeck. Der erste Teil der Reise auf dem russischen Kreuzfahrtschiff Aserbeidschan vermittelte uns jungen Leuten (wir waren nicht einmal 30) ein Gefühl von Luxus und Weltläufigkeit, das uns bis dato fremd war. Sowohl der Bordservice wie die Ein- und Ausfahrten aus den mediterranen Häfen hinterließen bei uns einen nachhaltigen Eindruck. Von den goldenen Sonnenuntergängen ganz zu schweigen. Damals entstand der dann oft wiederholte Plan: wenn wir mal Zeit und Geld haben, dann fahren wir um die ganze Welt, und zwar mit so einem Schiff…

Vorerst aber waren andere Ziele auf der Tagesordnung (s.u.). Vor uns lag ein 40-jähriges Berufsleben mit festen (Ferien-)Rhythmen und Zwängen (2 Kinder, Hauskauf, begrenztes Budget), das diesen Traum nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, wohl aber auf die Zeit nach der Pensionierung hinausschob. Er verblasste, aber er blieb immer präsent, bis, ja bis endlich mit dem Ausscheiden aus dem Schuldienst (2016 bzw. 2018), die reale Möglichkeit der Verwirklichung entstand. Wenn nicht jetzt, wann dann? Die Umsetzung aber erfolgte dann keineswegs automatisch.

„Wollt Ihr nicht nächsten Winter auch Heizkosten sparen“, fragte uns unser Schwimmfreund Siegfried K. beim sonntäglichen Bahnen ziehen im Hallenbad, prustete und tauchte kurz ab. Wie jetzt? Energiesparen war auch schon vor der Ukrainekrise ein Thema. „Wie meinst Du das?“, antwortete ich, als er wiederauftauchte. Als Fuhrunternehmer hatte Siegfried jeden Sonntagmorgen praktische und alltagstaugliche Tipps und Infos bereit, aber die Antwort ging in eine unerwartete Richtung. „Wir buchen diese Woche unsere zweite Weltreise auf einem Kreuzfahrtschiff. Habt Ihr nicht Lust einfach mitzukommen?“ Hallo? Was war das denn für eine Frage?! Und was für ein merkwürdiges Zusammentreffen. Just in der Woche zuvor hatte uns unsere Reiseberaterin im Reisebüro bereits diesen Floh ins Ohr gesetzt, von unserem Lebenstraum und von K.s Plänen wissend und vielleicht hoffend, wir würden mit anbeißen. Es verging dann noch eine gute Woche, in der der Entschluss reifte, die ultimative Reise unseres Lebens anzutreten. Reisefreudig waren wir bis dahin auch immer gewesen, aber das war nun doch eine andere Hausnummer. Da wurden der Bedenkenträger und der Zauderer in mir aber doch wach und munter und meldeten sich tagelang zu Wort.

Bisherige Reisen

Seit unserer Studienzeit waren wir gerne unterwegs. In fast fünf Jahrzehnten führten uns unsere Reisen als Romanisten vornehmlich nach Frankreich, das wir von Lothringen bis Nizza oder zu den Pyrenäen, von der Westspitze der Bretagne bis Colmar durchstreift haben, abertausende von Kilometern, die sich immer wieder in Paris zu Kulturaufenthalten kreuzten oder wiederholt zu Lieblingszielen führten (Korsika). Diese Reisen dienten neben der Erholung vor allem der sprachlichen und kulturellen Auffrischung und Erweiterung des romanischen Horizontes, wie dies auch auf den zahllosen von uns begleiteten Schüleraustauschen und schulischen Studienreisen nach Frankreich geschah. Reisen ins benachbarte europäische Ausland und seine Metropolen (Österreich, Schweiz, Italien, Griechenland, Spanien, Polen, England, Schottland) blieben eher die Ausnahme oder wir erweiterten unseren sprachlichen wie landeskundlichen Horizont in Ländern des frankophonen Sprachraums (Tunesien, Ostkanada - Québec).

Von der Initialzündung einer Reise durch die ehemalige Sowjetunion 1980 war bereits vorher die Rede. Der Trip durch die USA