Unken-Ruf, Kriminaler Roman von der Washington Peninsula - Jeff Sailor - E-Book

Unken-Ruf, Kriminaler Roman von der Washington Peninsula E-Book

Jeff Sailor

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Beschreibung

Im Sommer 2008 werden auf einem Strand der Washington Peninsula bei Cape Alava ein kleines Camplager und Leichenteile entdeckt. Bei Letzteren handelt es sich um die sterblichen Überreste eines renommierten Archäologen der Universität in Seattle, der hier offenbar mit zwei seiner Studenten eine - nicht angemeldete - Exkursion durchführte. Von seinen Begleitern fehlt bis auf einen blutigen T-Shirt-Fetzen jede Spur. Das Camp liegt nahe eines 300 Jahre alten, historischen Dorfs des indigenen Stamms der Makah und auf dem Land ihres Reservats. War der Archäologe mit seinen zwei Helfern als Grabräuber unterwegs? Police Officer Stan Wrozeck trifft zunächst auf eine Mauer des Schweigens. Wrozeck ermittelt hier in seinem vierten Fall, da die zuständige FBI-Beamtin Alice wieder einmal auf seine Unterstützung angewiesen ist.

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EPUB
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Seitenzahl: 354

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jeff Sailor

Unken-Ruf

Wrozeck und die Toten am Strand

© 2025 Jeff Sailor

Lektorat von: Norbert Peter Tossing

Coverdesign von: Dr. Gudrun Tossing

Illustration von: Jeff Sailor

Herausgegeben von: Dr. Gudrun Tossing

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

Dr. Gudrun Tossing, Tannenstraße 15-15a, 42653 Solingen

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Jeff Sailor

Unken-Ruf

Kriminaler Roman von der Washington Peninsula

Wrozeck und die Toten am Strand

(Police Officer Stan Wrozecks vierter Fall)

Über den Autor

Jeff Sailor wurde am 31.8.1956 in Salinas, Kalifornien, als Sohn eines US-amerikanischen Meeresforschers und einer deutschen Chemikerin geboren. Nach der Trennung seiner Eltern zog er bereits als Fünfjähriger mit seiner Mutter nach Deutschland und lebte mit ihr in Düsseldorf. Er studierte Germanistik an der Universität zu Köln, brach das Studium nach einigen Jahren aber ohne Abschluss ab und kehrte zurück in den Westen der USA zur Familie seines Vaters.

Dort nahm er im Folgenden etliche Gelegenheitsjobs an. So betätigte er sich als Erntehelfer im Steinbeck Country, als Werftarbeiter in Monterey sowie als Zeitungsredakteur in Astoria, Oregon. Als freier Schriftsteller verfasste er unter anderem die Romane „Jenseits von Jenen“, „Stark-Sturm“, „Schlangen-Grab“, „Salamander-Chor“ und „Wechsel-Blut“. Außerdem schrieb er die Kurzgeschichtensammlung der „Tossing Tales“ sowie viele weitere Storys, Gedichte und Satiren. Er schreibt in deutscher Sprache und übersetzt hin und wieder eines seiner Werke ins Englische. Häufig publiziert er unter Heteronym, nennt sich dabei Alissa Carpentier oder Gudrun Tossing. Nach fünf gescheiterten Ehen, unter anderem mit einigen Protagonistinnen seiner Romane, lebt er inzwischen zurückgezogen und Pfeife rauchend in seiner vom Vater ererbten Villa in Carmel bei Monterey. Sein apricot-farbener Pudel heißt Carli V.

Auf der ganzen Erde ist kein Ort der Einsamkeit geweiht.

Unsere Toten verlassen niemals die schöne Erde, die ihnen Leben gab.

Sie hören nicht auf, ihre grünen Täler und rauschenden Flüsse, die Schönheit der Berge, der Buchten und der umwucherten Seen zu lieben.

Nachts, wenn es still geworden ist, drängen sich dort die Geister unserer Ahnen, die früher diese Wege belebten.

Denn die Toten sind nicht ohne Macht.

Sprach ich euch von Toten? Nein, es gibt keinen Tod. Nur ein Hinübergehen in eine andere Welt.

(Aus einer Rede von Chief Seattle, 1854)

Karte der Washington Peninsula

(vom Autor aus dem Gedächtnis gezeichnet,

von daher eher nicht maßstabsgerecht)

Inhaltsverzeichnis

Cover

Unken-Ruf

Urheberrechte

Titelblatt

Über den Autor

Teil 1: Stan kann es nicht fassen

1) Die Meldung

2) Ein Gemetzel

3) Die Wächter am Dorf der Ahnen

4) Das Camp

5) Neues vom FBI

6) Alice und der Assistent

7) Anruf nach Deutschland

8) Eine Mauer des Schweigens

9) In die Wildnis

10) Cape Alava

Teil 2: Stan tappt im Dunkeln

1) Auf der Suche nach dem Vermissten

2) Verdachtsmomente

3) Der Häuptling spricht

4) Die Scherben eines Potlatchs

5) Auf Schatzsuche

6) Mit Engelszungen

7) Lichen

8) Manganknollen

9) Ein grausiger Fund

10) Status quo

11) Bedauernswert

Teil 3: Stan macht einige Entdeckungen

1) Ein talentierter Mister Ripley?

2) Unkenruf

3) Ein Betrug in großem Stil

4) Ganz neue Aspekte?

5) Der Mann auf der Liste

6) Montana

7) Ein Abend zuhause

8) Die Wende?

9) Schwer greifbar

10) Zwischenfall mit einem Bären

11) Ein Fall für Stan

Teil 4: Stan ist entsetzt

1) Die Karten neu mischen

2) Sein freier Tag

3) Der Tod eines Sheriffs

4) Fahrt durch die Nacht

5) Schlagzeilen

6) Von lebenden Toten

7) Gespräch mit dem Staatsanwalt

8) Der dritte Mann

9) Beweisen Lässt sich gar nichts mehr

10) Im Westen ein Ende

11) Schlaflos in Seattle

Anmerkung des Autors

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Unken-Ruf, Kriminaler Roman von der Washington Peninsula

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Urheberrechte

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Über den Autor

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Teil 1: Stan kann es nicht fassen

1) Die Meldung

„Nun beruhigen Sie sich doch erst einmal“, beschwor Police Officer Stan Wrozeck seinen aufgebrachten Gesprächspartner. „Atmen Sie tief durch.“ Ein Notruf war eingegangen, und Stan hatte heute am Sonntag Rufbereitschaft.

Statt einer Antwort hörte er eine Art von Gurgeln am anderen Ende der Leitung. Wurde der Mann angegriffen, dort wo er sich gerade befand?

Noch immer dieses Gegurgel, jetzt von einzelnen Hustern unterbrochen, dann Keuchen. Schließlich schrie der geradezu heraus: „Ein Arm, eine Hand – ein Kopf! Alles hier … auf dem Sand.“

Wrozeck fühlte sich zutiefst beunruhigt: „Sagen Sie mir um Himmels Willen zuallererst, wo Sie sind!“

„Ozette“ stöhnte er. Ozette umschrieb einen großen Bereich. Dann wieder Geräusche, ein Würgen, das Stan nun endlich zuordnen konnte. „Der kotzt sich ja die Seele aus dem Leib“, dachte er.

„Sind Sie verletzt? Bedroht Sie jemand?“

„Nein, alles tot.“ Was sollte das denn nun wieder heißen. Etwa mehrere Leichen?

„Wo am Lake Ozette befinden Sie sich genau? Sagen Sie es mir. Wir kommen sofort.“

„Nicht am See, ich jogge bei Cape Alava“, kam es mit verzerrter Stimme zurück.

„Also am Küstenufer der Lake-Ozette-Region“, dachte der Deputy und wiederholte laut und bestimmt: „Wir kommen!“

Das „sofort“ sparte er sich diesmal aus. So schnell konnten sie wirklich nicht in diese Wildnis gelangen.

Der Mann befand sich wohl mitten auf dem Pacific Trail, einem Küstenwanderpfad für Hiker und Jogger und damit einige Meilen von der Zufahrtsstraße entfernt. Es war schon ein Glück, dass es da momentan überhaupt Funkempfang gab.

Den verzweifelten Anrufer wies er an: „Ich muss jetzt kurz unterbrechen, weil es die Notrufleitung ist. Beenden Sie ebenfalls, lassen aber bitte unbedingt Ihr Handy an, damit wir Sie orten können. Gehen Sie von den Toten weg! Fassen Sie nichts an! Ich rufe Sie gleich zurück und bleibe mit Ihnen in Sprechkontakt.“

Der Notruf war bei ihm im Police Department von Forks gelandet statt in Port Angeles, fälschlicherweise und wie so oft. Für Forks gab es wohl die bessere Verbindung. Zunächst orderte Wrozeck einen Hubschrauber mit Notarzt und ein Schnellboot.

Der Kollege aus Port Angeles, der seine Meldung entgegengennahm, meinte sofort, per Boot wäre momentan wahrscheinlich schwer heranzukommen. Ob es einen geeigneten Hubschrauberlandeplatz bei Cape Alava gäbe, sei zum jetzigen Gezeitenstand ebenfalls fraglich, eventuell nur auf der Hochebene hinter den Klippen und nicht direkt unten am Strand.

Für die üblichen Straßen-Einsatzfahrzeuge stellte der Waldparkplatz am Lake Ozette die nächste Anlaufstation dar, und von dort waren es noch gute zwei Meilen Fußweg bis zur Küste.

Also musste der arme Kerl da draußen im schlimmsten Fall mehr als eine Stunde ausharren, was auch immer ihm in der Wildnis zugestoßen sein mochte.

Nun telefonierte Stan noch kurz mit seinem Vorgesetzten Roger Darney, dem Sheriff des Hoh Rain County. „Hallo Roger, mir ist ein Leichenfund bei Cape Alava gemeldet worden“, informierte er ihn. „Ich habe alles veranlasst und fahre selbst dort rüber.“

„Nimm Ron von der Motorradstreife mit. Der hat heute Dienst“, klang es zurück. „Ist zwar nicht unsere Zuständigkeit, aber auch kein Fehler, wenn du nachschaust, was da los ist.“

„Je nachdem, in welchem der beiden Indianerreservate was passierte, ist es unsere Zuständigkeit“, dachte Stan, mochte es seinem Chef jetzt aber nicht näher auseinandersetzen.

Er tippte stattdessen rasch die Nummer vom Display des Notrufapparats in sein Cell Phone, aber da kam nur das Besetztzeichen.

Verdammt, der hypernervöse Anrufer hatte von seiner Seite das Gespräch nicht beendet. Immerhin war das Handy noch angeschaltet, so dass man ihn orten konnte.

Wrozeck bat Ron, ihn mit seiner Maschine zu begleiten, schwang sich draußen in sein Dienstfahrzeug, einen Chevy SUV, startete und fuhr mit Blaulicht eilends davon.

Etwas nördlich von Forks bog er vom Highway US-101 nach links ab, weil es beim Örtchen Sappho eine Abkürzung Richtung Neah Bay gab, in die westlichste Ecke der Olympic Peninsula. Es war ein gewundenes Sträßchen durch Wiesenlandschaft und Waldabschnitte, wirklich nicht schnell befahrbar wegen der vielen Kurven, doch von der Entfernung her sparte man gut 50 Meilen.

Ron hatte ihn mit seiner schweren BMW-Maschine noch auf dem US-101 überholt und garantiert auch diese Abkürzung genommen. „Der ist bereits über alle Berge“, dachte Stan. „Ich sollte eigentlich ebenfalls Motorrad fahren. Ist sportlicher, schneller und macht mehr Spaß.“

Die Kollegen aus Port Angeles würden per Schnellboot wohl früher bei Cape Alava eintreffen. Wahrscheinlich mit Sergeant Dekker als Leiter des Einsatzkommandos, den Stan für einen nassforschen Jungspund hielt.

„Hoffentlich vermasselt der nicht alles“, überlegte er und trat unwillkürlich noch mehr aufs Gas. Er schnitt die Kurven. Hier kam einem doch höchstens alle 15 Jahre mal einer entgegen.

Immer wieder versuchte er, die Handyverbindung zu dem Mann aufzubauen, der den Notruf abgesetzt hatte – vergeblich. Das alles verstärkte seine Nervosität.

Ein weiterer Linksabzweig führte in die Hoko-Ozette-Road hinein. Auf dem Parkplatz bei Lake Ozette standen nur einige Privatfahrzeuge herum, die sicherlich Sonntagsausflüglern und Wanderern gehörten. Die Einsatzwagen aus Port Angeles waren wohl noch auf dem Highway 112 unterwegs. Ron stand neben seinem Motorrad und sah ihm entgegen.

„Der hat immerhin auf mich gewartet“, ging es Stan durch den Kopf. Ron wäre auch sonst nicht viel anderes eingefallen. Eigeninitiative war nicht so sein Ding. Der brauchte klare Anweisungen.

„Hey, Ron, dann wollen wir mal“, forderte er ihn auf. „Von hier aus sind es nur noch zweieinhalb Meilen zu Fuß“.

Ron nickte ergeben, und die beiden Männer setzten sich in Trab, zunächst mal bergauf bis zu einer Art von Hochebene. Es gab hier einen kleinen Hiking Trail, der nach Cape Alava führte, über ein Moorgebiet und dabei streckenweise über einen hölzernen Board Walk verlaufend. Er diente als einer der Stichwege zum berühmten Pacific Trail, der über Hunderte von Meilen verlief. Dessen Teilstück an der Washington-Küste galt als landschaftlich besonders attraktiv.

Sie waren nicht weit, da hörten sie ein knatterndes Geräusch von oben. Und dann sahen sie ihn: Der Hubschrauber der Rettungswacht war gerade aus einiger Entfernung über den Rand der Klippe zum Hochmoor aufgestiegen, und befand sich bald darauf direkt über ihnen. Pilot und Copilot winkten ihnen zu.

Stan erkannte, dass der Copilot ihnen ein Zeichen gab, den Daumen nach oben hielt. Erleichtert winkte Stan zurück. „Gott sei Dank, sie haben den Mann, der den Notruf absetzte“, sagte er zu seinem Kollegen. „Er stand total unter Schock und muss so schnell wie möglich ins Hospital.“

„Dann brauchen wir ja nicht mehr so zu rennen“, meinte Ron. Der schwitzte in seiner Ledermontur. „Müssen wir doch“, antwortete Stan. Er sah vor seinem geistigen Auge nämlich Sergeant Dekker am Strand herumwuseln, dabei unwissentlich, aber hochwahrscheinlich, alle verwertbaren Spuren verwischend.

„Ach, machen Sie sich keine Sorgen, Deputy. Die Jungs aus Port Angeles sind auch nicht so viel schlechter als unsere Leute“, grinste Ron, setzte sich aber wieder in Trab. Nanu, der konnte ja Gedanken lesen. Hätte man ihm gar nicht zugetraut.

„Und im Grunde genommen hat er auch noch Recht“, gestand Wrozeck sich ein.

Die beiden Männer bewegten sich dann im weiteren Verlauf tatsächlich ein wenig langsamer vorwärts. Es ging hier – auf zum Teil morschen Planken – über eine weite Ebene, begrünt mit Farnen, Eriken, Himbeer- und Huckleberry-Sträuchern sowie Wachholderbäumen.

Letztere wuchsen höher aus dem übrigen Gestrüpp heraus. Diese sogenannten Junipers hatten zum Teil ein ganz bizarres Aussehen: knorrige, niedrige Stämme, die sich nur ein paar Fuß über dem Grund buschartig ausweiteten. Sie standen auf kleinen Erdaufhäufungen in der Moor- und Heidelandschaft, trugen jetzt im Frühsommer bereits viele grüne Beeren, die sich im Herbst bläulich bis schwarz verfärben würden. Vereinzelt, aber weithin sichtbar, ragten Gruppen von Birken mit ihren eleganten, weiß glänzenden Stämmen empor.

Stan kannte diesen Weg von Wanderungen her, die er als Naturmensch in seiner Freizeit so gerne unternahm. Er liebte diese Heidelandschaft über der wilden Pazifikküste von Cape Alava. Sie gefiel ihm in ihrer kargen Schlichtheit, ihrem stillen Frieden inmitten einer Umgebung, die eigentlich für den üppigen Wuchs der olympischen Regenwälder berühmt war. Der langgezogene Lake Ozette, nach dem die ganze Ecke benannt war, lag südöstlich von hier.

Sie befanden sich momentan nahe der Ozette Indian Reservation. Doch etwas weiter südlich gehörte ein Küstenstreifen der Olympic Wilderness wieder zum historischen Land der Makah, einer Untergruppe der Nuu-Chah-Nulth, welche im Gegensatz zu den Waldbewohnern der Ozettes reine Küstenansiedler waren.

„Wenn, was immer da unten geschah, auf dem Gebiet der Makah passierte, fällt es in unsere Zuständigkeit, und ich kann Sergeant Dekker gleich nach Hause schicken“, dachte sich Wrozeck, doch als Ron das jetzt kommentierte, wurde ihm peinlich bewusst, dass er mal wieder laut gedacht hatte.

„Der lässt sich nicht gern nach Hause schicken“, grinste er nämlich zu Stan hin. „Und wahrscheinlich ist es ja auch auf dem Gebiet der Ozette Indians geschehen.“

Das Rauschen der See durch das Aufschlagen von Brandungswellen wurde immer lauter. Endlich erreichten sie den Saum der Ebene. Der Weg verlief nun genau am Felsenrand der Steilküste, dem Rim, entlang.

Ganz unvermittelt blieben beide Männer einen Moment stehen. Zu überwältigend war der Anblick, der sich hier bot: Man schaute tief auf ein Stück besonders wilder Pazifikküste hinab, mit vielen Felsen, deren zackige Silhouetten aus der See ragten. Manche waren kahl, andere oben mit Gesträuch und Bäumen bestanden.

Diese sogenannten Sea Stacks bildeten die Reste von einst durchgehenden felsigen Landzungen, die durch die einschlagende Flut vom Festland gelöst und abgetragen worden waren. Die Brandung fiel hier bei Flut meterhoch in die langgezogene Sandbucht unter der Steilklippe ein. Sie schleppte riesige Treibholzstämme auf den Sandstrand, die diesen wie einen Wall begrenzten, während dahinter kahle und stark erodierte Felswände der Klippen senkrecht aufragten.

Der weitere Weg verlief nun eine Weile unmittelbar auf dem Klippenkopf entlang. Noch war unten am Strand nichts zu sehen. Der lag verlassen und menschenleer, war zurzeit auch mit ungefähr 50 Metern relativ breit. Die See ging gerade zurück.

„Wo mögen die Kollegen nur sein?“, rief Stan seinem Begleiter zu. Sie hörten hier oben lediglich das Rauschen des Meeres, welches die Stimmen der Einsatzkräfte verschluckte. Schließlich schauten sie von ihrem Riff aus in die südwestliche Nachbarbucht, und da herrschte in der Tat ein betriebsames Gewusel.

„Na also, dort beginnt das Stammesgebiet der Makah. Es ist der Abschnitt, wo ihr altes Ahnen-Dorf liegt“, rief Stan aus, und Ron sah ihn ungläubig an. „Wo soll da ein Dorf sein?“, fragte er verwundert.

Stan lachte auf: „Das Ancient Village wurde bereits vor 300 Jahren bei einem Hurrikan verschüttet.“ Er deutete dabei auf eine große Sanddüne, die sich an die Klippenflanke lehnte. „Es hat unter dem Sand die Jahrhunderte überlebt und kam erst bei einem Sturm in den 60er Jahren erneut zum Vorschein. 40 Jahre später wurde die Stätte wieder zugeschüttet und mit Sand verfüllt.“ „Warum denn das?“, wunderte sich Ron.

„Als Schutz vor Grabräubern“, antwortete Stan. Jetzt blieb keine Zeit mehr für weitere Erklärungen. Sie mussten sich auf den Abstieg konzentrieren.

Der Pfad führte vom Felskopf aus steil bergab, eher ein Ziegenweg als ein Hiking Trail.

„Die Kollegen hatten es eben mit ihrer Ausrüstung noch weitaus schwerer als wir“, tröstete er seinen Begleiter, der sich ungeschickt bewegte, bisweilen strauchelte. Der konnte eben besser Motorradfahren …

Ein heiserer Schrei erschallte aus den Lüften. Stan schaute nach oben ins Licht, beschattete die Augen mit seiner Hand: Ein schnittiger Raubvogel kreiste in weiten Bahnen über ihnen, stieß immer wieder Rufe aus.

„Ein Rotmilan“, wies Stan zu ihm hinauf und zeichnete mit dem Finger seine Flugbahn nach. Ron schaute nur flüchtig hoch und schnaufte verächtlich: „Verdammt viel Gegend hier!“

2) Ein Gemetzel

„Man kann es dem Typen, der das vorfand, wirklich nicht verdenken, dass er total ausgerastet ist“, meinte der Pathologe Frank Miles und wies auf einen dunklen Klumpen vor seinen Füßen. Da lag etwas auf dem feuchten Sandstreifen vor dem Flutsaum – ungefähr von der Größe eines Fußballs.

Bei all den Meerespflanzen, die hier angeschwemmt wurden, fiel es von weitem nicht einmal auf, denn es hob sich kaum von einer der anthrazitfarbenen Knollen des See-Kelbs ab, einer Algenart, die hier zuhauf angeschwemmt wurde und deren Fruchtstände zuweilen die Dicke einer Melone erreichten. Aus diesen Knollen wuchs die Pflanze meterlang als gummiartiger, glatter Schlauch hervor, wobei sich die Blätter wie nasse Lappen um den elastischen Stiel schlangen.

Manchem Strandläufer wäre vielleicht gar nichts aufgefallen, nur der einsame Jogger heute Morgen, der hatte mit großem Entsetzen erkannt, um was es sich da handelte – und entsetzlich war dieser Fund in der Tat. Miles hatte ihn wohl bereits untersucht und sich eben, als der Deputy näherkam, gerade wieder aufgerichtet.

Stan zwang sich hinzuschauen. Das Dunkle an diesem Klumpen entpuppte sich als Haupthaar: schwarz, halblang und lockig aussehend.

„Der gehörte zu einem Herrn mittleren Alters.“ Der sadistische Doc bückte sich und drehte den Kopf langsam und genüsslich mit seinen behandschuhten Fingern, damit man frontal auf das Gesicht sah. Stan drehte sich der Magen um bei dem, was er nun erblicken musste.

Das war einmal ein menschliches Antlitz gewesen, aber jetzt fehlten die Augen und ein Teil des Kiefers. Wie unter Zwang musste Stan in diese schwärzlichen Höhlen starren, aus denen noch Fäden von Organischem hingen.

„Die Möwen“, dachte er beklommen. „Die haben sich die Augen geholt.“

Der Schädel hatte ja möglicherweise schon eine ganze Weile am Strand herumgelegen, bevor der einsame Jogger ihn fand. Wie gut konnte er das Grauen des armen Kerls jetzt nachvollziehen!

Mund und Kiefer des Toten wirkten durch Schnitte zerstört und insbesondere am Hals irgendwie zerfranst.

„Der wurde von einer Schiffsschraube enthauptet“, kommentierte Miles. „Die Zunge hat es auch erwischt.“

Als wenn das noch von irgendeinem Belang wäre …

Die Nase erschien noch gut erhalten, eine ziemlich ausgeprägte Hakennase, darunter ein Menjou-Bärtchen, gut erkennbar und offensichtlich auch ganz adrett gestutzt.

Es war dieser Widersinn aus Zerstörung und Erhaltung, was Stan nun besonders mitnahm. Er fühlte sich bei dem Anblick ganz und gar nicht wohl.

„Sie sehen irgendwie blass um die Nasenwurzel aus, Deputy“, grinste Frank. „Mir als Arzt fällt das gleich auf.“ Er brachte gern seinen Status als Mediziner ins Spiel.

„Ihre Klienten sehen doch alle bleich aus“, blaffte Stan zurück.

Doch der andere war mit seinen Gedanken schon weiter. „Apropos Nasenwurzel. Er trug eine Brille mit schweren Gläsern. Das erscheint durch einen Abdruck im oberen Bereich des Nasenbeins recht wahrscheinlich. Aber wir werden wohl kaum seine Dioptrien feststellen können.“

„Was soll das Frank? Finden Sie das etwa lustig?“, platzte es aus Wrozeck heraus.

„Hey, Deputy, ich dachte doch nur, dass es Ihnen die Arbeit irgendwie erleichtert, wenn es sich um einen Brillenträger handelte. Sie können ihn ja schließlich nicht abfotografieren, um nach einem Vermissten mit seinem Aussehen zu fahnden.“

Da war was dran. Stan nickte etwas beschwichtigt. Er wusste selbst nicht, warum er dem gewissenhaften Miles immer auf die Füße trat. Der machte schließlich auch nur seinen Job und konnte nichts dafür, dass er selbst sich momentan so hundeelend fühlte.

„Wenn Sie kotzen müssen, Stan, dann gehen Sie bitte weit genug weg, am besten bis ans Wasser“, meinte Frank ungerührt. „Wir haben hier schon genug Schweinerei durch den glücklichen Finder.“

„Ich bin zwar ebenfalls zartbesaitet, aber so schlimm ist es bei mir noch nicht“, entgegnete Wrozeck. Er schaute sich gerade nach seinem Kollegen Ron um. Der Motorradpolizist hielt sich auffallend im Hintergrund.

Stan konnte es ihm nachfühlen, aber er selbst riss sich nun zusammen. Frank führte ihn beflissen zum nächsten Fundstück, das circa 50 Meter weiter angespült worden war.

„Die starke Behaarung des Unterarms und die ausgeprägten Handgelenkknöchel lassen auf einen Männerarm schließen“, erklärte er pedantisch.

Da lag ein fast an der Schulter abgetrennter Arm auf dem Strand, die Hand völlig unverletzt, was geradezu grotesk aussah, wenn man sie in Kontrast zu der ausgefransten Schnittstelle und zu einigen schweren Wunden an Unter- und Oberarm betrachtete.

„Von einer Schiffsschraube abgetrennt, vermute ich jetzt mal“, versuchte Wrozeck relativ gelassen zu bleiben, doch er hatte seine Stimme schlecht im Griff.

„Ja, das passt wieder ins Muster“, bestätigte der Pathologe, der nun den Leichenteil drehte und wendete.

„Bisswunden von einem Hai“, dozierte er dabei. Von einem relativ kleinen Hai. Ein größerer hätte gleich alles verschlungen.“

„Da hat die Hand ja noch mal Glück gehabt.“

Miles überhörte Stans Sarkasmus und gab sich betont sachlich: „Hand und Arm gehören wahrscheinlich zu dem Kopf, doch ich muss es noch verifizieren. Am ganzen Arm ist nirgends ein Fitzelchen Textil zu entdecken. Hätte er ein T-Shirt oder Hemd getragen, wären zumindest in die Schnittstelle einige Fasern gelangt. Ich schaue es mir im Labor noch genauer an, doch ich glaube, er war – wenn überhaupt – ganz sommerlich bekleidet, als er auf See über Bord ging.“

„Woher wollen Sie denn wissen, dass er über Bord gegangen ist? Der kann ja auch ein Schwimmer gewesen sein, der weit hinausschwamm und einem Schiff zu nahekam.“

„Zumindest die Person, der der Kopf gehörte, konnte nicht mehr weit schwimmen“, erwiderte der Doc ganz süffisant. „Haben Sie etwa das Einschussloch auf seiner Stirn nicht gesehen?“

Stan konnte kaum verhindern, dass ihm der Mund offen stehenblieb. Eilig rannte er zu der Fundstelle des Kopfes zurück, wo ein Mann der Spurensicherung gerade ein Schildchen mit der Nummer 1 in den Sand pflanzte.

Stan hatte eben dermaßen entsetzt auf die leeren Augenhöhlen gestarrt, dass ihm das kleine Loch auf der Stirn nicht aufgefallen war.

Nun, eine dunkle Haarlocke des Toten hatte sich auch gnädig darübergelegt. Der Einschuss war erst jetzt einwandfrei zu sehen, als der Pathologe sie behutsam zur Seite schob.

„Ich dachte, das sei ersichtlich gewesen, trotz des kleinen Kalibers.“

„Sie hätten die Todesursache ruhig erwähnen können“, murrte der Deputy und schob sogleich die Frage nach: „Welches Kaliber ist es denn?“

„36 oder 38 schätz ich jetzt mal, aber das kann ich erst nach der Obduktion sagen.“

Also ein Verbrechen und nicht etwa ein Unglück. Stan fühlte sich zwar vorgeführt, aber andererseits wurde ihm bewusst, dass der „alte Langweiler“, wie er Miles insgeheim gerne nannte, durchaus gewitzt sein konnte.

„Die Leichenteile lagen sicher bereits einige Stunden vor dem Auffinden hier auf dem Ebbestrand. Die nächste Flut hätte sie eventuell wieder mitgenommen. Der oder die Toten können von einem Schiff aus sowohl in Küstennähe als auch auf hoher See entsorgt worden sein. Beides ist möglich“, so der Pathologe.

Wrozeck sah aufs Meer hinaus. „Wo auch immer. Das Schiff ist längst von der Bildfläche verschwunden.“

Es kreisten noch zwei Hubschrauber über der Bucht. Außerdem machte er drei Boote des Rettungsdienstes und der Küstenwache aus, aber wahrscheinlich waren da noch mehrere unterwegs und suchten ebenfalls die Umgebung ab.

„Dekker hat das veranlasst, weil es ja mehrere Tote sein könnten“, sprach der Doc in Stans Gedanken hinein.

„Das ist gut so. Wenn das Verbrechen auf einem Schiff geschah, ist es wahrscheinlich sowieso ein Fall für die Kollegen aus Port Angeles, respektive Sergeant Dekker“, überlegte Stan laut.

„Kommt doch darauf an, wo der oder die zu Tode gekommen sind, vielleicht ja an Land“, orakelte Frank. Korrekt, wie er war, ordnete er den gefundenen Arm immer noch einem potentiellen zweiten Opfer zu.

Inzwischen kamen weitere Kollegen den Pfad hinabgeklettert, die nun auch mit ihren Wagen den Waldparkplatz erreicht und den Marsch über die Hochebene hinter sich gebracht hatten.

Stan konnte sich denken, dass etliche Einsatzkräfte, die heute am Sonntag zusammengetrommelt wurden, auf die Schnelle mit ihren Privat-Pkws den Einsatzort erreicht hatten.

„Alle abgestellten Pkws, die nicht zu uns gehören, müssen registriert werden, um sie später zuzuordnen“, fiel ihm dazu ein.

„Das habe ich Dekker bereits vorgeschlagen, und er wollte es anordnen“, sagte Miles.

Dann stellte der Deputy eine Frage, die ihm gerade erst in den Sinn kam: „Sergeant Dekker war zuerst da, und es sind seine Leute von der Spurensicherung, die hier herumwuseln. Warum hat er seinen Pathologen nicht auch gleich mitgebracht?“

„Doc Ritchie ist heute am Sonntag verhindert. Da musste Dekker eben mit mir vorliebnehmen“, grinste Frank.

„Sie wohnen doch wie ich in Forks. Wieso sind Sie bereits vor mir hier gewesen?“

„Weil ich zufällig privat in Port Angeles zu tun hatte, als mich Dekkers Anruf erreichte. So konnte ich per Boot mitkommen.“

Sie beobachteten, wie die beiden Leichenteile, nun getrennt in zwei Plastiktüten verpackt, von einem Feuerwehrmann sorgfältig in einen Leichensack verstaut wurden.

Da näherte sich von See schon ein Schnellboot für die Übernahme. Es war wohl eines der Boote, die auf Dekkers Anweisung hin nach allem Möglichen Ausschau gehalten, aber nichts gefunden hatten.

„Zwei Leichensäcke wären pietätvoller gewesen“, meinte Stan etwas süffisant an Frank Miles gerichtet. „Denn noch weiß man schließlich nicht, ob die Leichenteile zu ein- und derselben Person gehören.“

Der Doc nickte nur stumm, wandte sich dann ab und gesellte sich zu einem der Kollegen.

3) Die Wächter am Dorf der Ahnen

Alleingelassen begann Wrozeck notgedrungen, nach seinem Kollegen Dekker Ausschau zu halten. In der Regel schnitt er den, so gut es ging, weil ihm dessen voreilig-forsche Art nicht passte. Die Antipathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Auch Decker ging dem ranghöheren Under-Sheriff aus Forks lieber aus dem Weg.

Zurzeit stand der Sergeant mit einigen seiner neu eingetroffenen Spurenermittler am Rand und schien ihnen Anweisungen zu geben. Nun schwärmten sie aus, und Dekker blieb allein zurück. Er schaute seinem Polizeikollegen Wrozeck eher unwillig entgegen, fühlte sich dann aber doch verpflichtet, dem Dienstälteren entgegenzugehen.

„Hallo, Stan“, rief er beim Näherkommen. „Besten Dank, dass Sie mit dazugekommen sind, um uns zu unterstützen.“

„Wir wissen schließlich noch gar nicht, wo der Mord oder die Morde geschahen, und wer von uns beiden zuständig ist“, erwiderte Stan kühl.

Angelegentlich dachte er darüber nach, wie Dekker mit Vornamen hieß, ohne dass es ihm einfiel. Der andere nickte, scheinbar nachdenklich geworden, aber im Prinzip war er sich seiner Sache sicher.

„Der oder die sind ja wohl auf See getötet worden“, mutmaßte er laut, um seinem Gegenüber einmal mehr das Gefühl zu geben, dass er hier allenfalls geduldet war. Stan verdross das. So ein Einschussloch konnte man sich schließlich überall und nirgends einfangen. Aber er verspürte so gar keine Lust, es nun mit seinem ungeliebten Kollegen auszudiskutieren.

Wie auf Bestellung kam einer der Spurensucher aus Richtung der nahen Düne gelaufen und rief ihnen zu: „Wir haben wahrscheinlich die Stelle gefunden, wo geschossen wurde. Das ist am Eingangsstollen zum verschütteten Dorf. Doc Miles schaut es sich bereits an.“ Er machte kehrt, wies mit der Hand nach der Düne, und die beiden folgten ihm.

„Lassen Sie uns schauen, was Ihre Männer da aufgetan haben“, meinte Stan lässig. „Ich bin Ihnen ebenfalls für Ihre Unterstützung dankbar, Sergeant.“

Zwei Wächter standen da und sagten kein einziges Wort. Sie behinderten die Leute der Spurensicherung nicht, die in ihren weißen Ganzkörper-Anzügen ihrer Arbeit nachgingen. Sie blieben einfach nur in der Nähe, stumm und schauend.

„Wer hat die denn vorgelassen?“, wetterte Dekker.

„Die gehören hierher“, erwiderte Stan nur. „Es sind Angehörige der Nuu-Chah-Nulth. Wir befinden uns auf ihrem Stammesgebiet und am Standort ihres historischen Dorfs.“

Er benutzte absichtlich den komplizierten Namen der Stammesobergruppe. Den bei Weißen gängigen Begriff „Makah“ hätte Dekker verstanden. Der glotzte ihn verwundert an, bekam aber keine nähere Erklärung.

Stan grüßte kurz zu den beiden Indianern hinüber, und sie nickten ihm schweigend zu. Einer war ein Mann, den er auf Mitte bis Ende 40, also ungefähr seines Alters, schätzte, der zweite erschien ihm deutlich jünger. Beide waren großgewachsen, schlank und wirkten muskulös. Der Ältere trug sein Haupthaar lang und hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Jüngere hatte einen modischen Kurzhaarschnitt.

„Könnten Sie Karl Lagerfeld und seinem Adlatus nicht mal begreiflich machen, dass sie hier nur stören?“, nörgelte Dekker schon wieder.

„Mich stören sie nicht“, war Stans Antwort. Aber er sagte das nur, um dem Sergeanten etwas entgegenzuhalten, und um ihm klarzumachen, wer denn hier der Verantwortliche war.

Es erschien auch ihm nicht völlig in Ordnung, dass die Indianer am Einsatzort alles beobachteten. Doch er wusste, dass die Stelle des verschütteten Dorfes einen heiligen Ort für sie darstellte, und das galt es zu respektieren.

Wrozeck kannte die ganze Historie des Ahnendorfs:

Über Jahrhunderte blieb es unter der riesigen Düne verschwunden, und seine Existenz wurde innerhalb des Stammes nur mündlich überliefert. Archäologen hätten es bei einem entsprechenden Auftrag zur Grabung sicherlich rasch aufgefunden, doch den gab es nie, den Auftrag. Innerhalb des Reservats hatten die Nuu-Chah-Nulth die Hoheitsrechte, und die begnügten sich mit der mündlichen Überlieferung.

Bis Anfang der 60er Jahre ein Orkan die Flutwellen gewaltig auf den Strand von Cape Alava peitschte, was Teile des Dorfes wieder frei spülte.

Man entdeckte neben außergewöhnlichen Artefakten viele Ausrüstungsstücke des täglichen Lebens, darunter alte Walfänger-Boote, alles noch – nach über drei Jahrhunderten unter Sand – in einem außergewöhnlich guten Erhaltungszustand. Den Makah gab die Entdeckung wichtige Details ihrer Geschichte zurück.

Viele der Stammesmitglieder befanden sich damals in einem Zustand wachsender Verwahrlosung. Sie gingen keiner geregelten Arbeit mehr nach, waren zum Großteil alkoholabhängig und fristeten ihr Dasein von den monatlichen Beträgen der staatlichen Unterstützung.

Sie wohnten in ihnen zur Verfügung gestellten Fertighäusern, und lebten ohne Lebensplanung und ohne Zukunftsperspektive seelisch abgestumpft in den Tag.

Erst die Entdeckung ihrer Vergangenheit gab ihnen einen Ruck und neuen Mut: Sie kooperierten bei den aufwendigen Ausgrabungsarbeiten und begrüßten es, dass mit Support aus staatlichen Mitteln ein Museum in Neah Bay erbaut wurde, ihr eigenes Cultural Center, wo man die Fundstücke ausstellte. In der Folgezeit fühlten sie sich stolz, dass nun Leute nach Neah Bay kamen, die sich für ihre Historie interessierten. Sie gewannen dabei Schritt für Schritt die eigene kulturelle Identität zurück.

Diese positive Entwicklung zeigte sich in höherer Beschäftigungsrate und deutlich weniger Alkohol-Abusus, insbesondere bei der nachrückenden Generation. Stammesangehörige arbeiteten im Museum, in der Fischerei und wurden in Umweltfragen aktiv, entwickelten zum Beispiel ein Verfahren zur Nachzucht einer gefährdeten Wildlachsart, deren Bestand sich daraufhin rasch erholte.

Als zu Beginn der Reagan-Administration für das noch laufende Ausgrabungsprojekt sämtliche staatlichen Forschungsgelder gestrichen wurden, stellte das zwar einen herben Rückschlag dar, doch das Stammesleben hatte sich in den alten Traditionen bereits wieder soweit gefestigt, dass es für die Indianergemeinde in Neah Bay nach wie vor aufwärts ging.

Von ihrer autonomen Verwaltung, der Makah Tribal Administration, wurden Boote angekauft, die man in den Monaten der erlaubten Hochseefischerei vermietete. Erfahrene Guides des Stammes gingen mit den Sportanglern auf Tour und verdienten damit Geld für die Community.

Die wiederbelebten Lachsbestände zogen etliche Weißkopfadler an und diese majestätischen Vögel wiederum Touristen. „The eagles are back“, werteten die Stammesältesten es ehrfürchtig als gutes Zeichen.

All das ging Stan nun durch den Kopf, als er die beiden schweigenden Wächter betrachtete, über die sich Dekker so aufregte.

Erst vor ein paar Jahren waren die Mittel vorhanden, den Stollen fachkundig unter der Hilfe von Archäologen mit Sand zu verfüllen und damit zu schließen. Vorher standen freiwillige Wächter des Stammes vor dem Eingang, stets zu zweit und sich in Schichten ablösend. Sie hatten die Pflicht, in dieser abgelegenen Gegend Grabplünderungen zu verhindern, und sie wurden dieser Aufgabe offenbar gerecht. Nach der Verfüllung tauchten sie nur noch sporadisch auf, und ihre Wacht hatte eher symbolischen Charakter.

„Hätten sie zur Tatzeit auch dort gestanden, wäre es vielleicht gar nicht zu diesem Drama gekommen“, dachte Stan. Doch Sergeant Dekker sah offenbar Verdächtige in ihnen.

„Eine Blutlache am Stolleneingang wurde ziemlich dilettantisch mit Sand verdeckt, weitere Spuren im Bereich der Düne verwischt. Ich vermute, dass dort die Leiche eine Weile provisorisch verscharrt war, bevor sie zu einem Boot gebracht wurde“, vermeldete Miles, der gerade einige Proben nahm. Die Kollegen sicherten die Spuren im Umfeld. Zwei von ihnen benutzten Metalldetektoren, um im Sand des Eingangsbereichs Kugeln und Hülsen nachzuspüren.

Einer von Dekkers Leuten kam eilig quer über den Strand auf sie zugelaufen und brachte einen Plastikbeutel mit einem textilen Fundstück. „Wir haben einen blutbesudelten T-Shirt-Fetzen bei den Felsen weiter hinten gefunden“, wies er in südliche Richtung. Miles breitete den gleich zu einer ersten Untersuchung auf einer Folie aus. Es handelte sich nur um den vorderen Teil eines hellblauen Shirts, das längliche, braune Verschmutzungen im Brustbereich aufwies.

„Wie von einer Person mit einer Platzwunde an der Stirn oder mit Nasenbluten“, meinte der Doc. Das aufgedruckte Muster dieser Vorderseite war erhalten: Man erkannte die Silhouette eines springenden Killerwals mit dem dunkelgrauen Aufdruck Free Willy. Der gesamte Rückenbereich des ärmellosen Shirts war abgerissen. „Vielleicht wurde das abgetrennte Textilstück als Verband gebraucht“, spekulierte Miles.

Wrozeck wandte sich an Dekker: „Haben Sie eigentlich schon das FBI verständigt oder den Staatsanwalt in Seattle?“, fragte er. Als der andere nur verdutzt den Kopf schüttelte, seufzte Stan demonstrativ auf, griff zu seinem Handy und wählte die Nummer der ihm wohlbekannten zuständigen FBI-Agentin, namens Alice Cooper. Dabei entfernte er sich absichtlich ein Stück von seinem Kollegen, der das Gespräch sicher gerne mitgehört hätte. Stan erklärte der Beamtin Lokalität und nähere Umstände des Leichenfunds.

„Wir haben eben an Land die Stelle entdeckt, wo das Opfer aller Wahrscheinlichkeit nach erschossen wurde“, fuhr er fort. „Als der Strand in größerem Umkreis abgesucht wurde, kam noch ein offenbar mit Blut verschmierter Fetzen eines T-Shirts zum Vorschein. Ein Aufdruck ´Free Willy` war erkennbar.“

„Gratuliere, Stan, mit dem Tatort auf dem Festland ist es deine Zuständigkeit“, klang es recht munter von Alice zurück, und schon überlegte sie weiter: „Wenn da jemand am Strand erschossen wurde, ist er eventuell auf dem Landweg dorthin gekommen und sein Auto befindet sich noch auf dem Parkplatz.“

Daran war schließlich schon gedacht worden: „Wir werden schleunigst die dort stehenden privaten Pkw zuordnen, und ich lasse dir die Kennzeichen von denjenigen zukommen, die nicht den Einsatzleuten gehören. Darunter wird dann auf jeden Fall auch das Auto des Joggers sein, der den Notruf absetzte.“

„Okay, dann bist du ja noch eine ganze Weile beschäftigt. Es genügt, wenn du mir die Liste der Pkw-Kennzeichen vorab schickst und mir heute Abend telefonisch ein Update gibst. Für morgen früh könnten wir dann eine Video-Konferenz verabreden.“ Die hatte es nicht eilig, aus Seattle in die Wildnis aufzubrechen, aber sie würde sich um die Fahrzeughalter kümmern.

„Geht es bei ´Free Willy` nicht um so einen komischen Delphin?“, beendete sie das Gespräch noch launig. „Ja, sogar um den größten aller Delphine, einen Orca-Wal“, lachte Stan auf. Sollte Dekker, der ihn während seines Telefonats nicht verstehen konnte, aber auch keine Sekunde aus den Augen ließ, doch ruhig mitbekommen, dass Wrozeck sich gut mit der FBI-Kollegin verstand.

Es stellte sich dann rasch heraus, dass es auf dem abgesperrten Parkplatz nur zwei Autos unbekannter Herkunft gab: einen roten Ford Mustang mit lokalem Kennzeichen und einen großen schwarzen Land-Rover mit einem Nummernschild aus Seattle.

Genauso schnell bekam Stan dann eine Antwort von Alice: „Der Ford Mustang, von dem du sprachst, gehört unserem Jogger. Ich habe ihn in seiner Klinik angerufen und ihm angeboten, dass wir ihm den Wagen überführen. Hiker sind für den Trail in eurem Abschnitt zurzeit nicht angemeldet. Sollten da trotzdem welche herumturnen, haben sie zumindest nicht die erforderliche Backcountry-Erlaubnis eingeholt. Dann wird der Land-Rover aus Seattle, eventuell dem oder den Opfern gehören. Lass das Fahrzeug einfach sofort öffnen und spurentechnisch durchsuchen. Ich erkunde mich derweil nach dem Halter und höre mich im Großraum Seattle nach Vermisstenmeldungen um.“

4) Das Camp

„Meine Leute haben eine halbe Meile westlich am Strand ein Camp-Site gefunden: zwei weiße Zelte und eine Feuerstelle“, berichtete Dekker wichtigtuerisch, sein Sprechfunkgerät in der Hand.

„Das schauen wir uns dann mal in Ruhe an“, gab Wrozeck gelassen zurück, doch der Sergeant konnte es gar nicht erwarten und ging raschen Schritts voraus.

„Ob der nun glaubt, dass ich ihm nachrenne?“, dachte Stan verdrießlich und folgte ihm ohne den ernsthaften Versuch, ihn einzuholen.

Am Stolleneingang vorbeikommend rief Wrozeck dem dort noch beschäftigten Miles zu: „Frank, wenn Sie da fertig sind, kommen Sie uns doch bitte nach in Richtung Westen. Dort gibt es eine Lagerstelle am Strand.“

„Ich bin schon bereit und komme gleich mit“, antwortete der und winkte auch dem Polizeifotografen, ihnen zu folgen. Stan war froh, dass Miles sich ihm sofort anschloss.

Bald kamen zwei weiße Zelte in Sicht. „Sieht irgendwie nicht aus wie das Lager von normalen Wanderern“, spekulierte Wrozeck. „Es liegt außerdem noch eine gute halbe Meile vom offiziellen Übernachtungsplatz für Hiker entfernt.“

„Nein, das sieht eher aus wie eine eigenständige Mini-Expedition“, kommentierte Miles. Letzteres schloss er wohl aus der Art der Zelte, die in ihrem monotonen Weiß sehr einheitlich wirkten. Darüber ragte schroff die Steilklippe aus beigefarbenem Sandstein empor. Während die Zelte über den Strand hinweg weithin sichtbar waren, hoben sie sich gegen den Hintergrund der sehr hellen Felswand nur unmerklich ab.

Ein kleines Camp in einer unwirtlichen Mondlandschaft, so sah es aus. Zum Bild passten dann auch drei Männer in „Astronautenanzügen“, die diesen Lagerplatz nach Spuren absuchten.

Dekker wartete bereits vor Ort und überließ dem Pathologen und Wrozeck etwas unwillig den Vortritt, als diese sich ins kleinere der beiden Zelte zwängten. Darin befanden sich ein benutzter Schlafsack, auf dem Boden ausgerollt, und daneben eine halbvolle Plastikgallone mit Trinkwasser. Weiter hinten lag ein textiler Rucksack, der etwas Proviant sowie zwei frische T-Shirts und Unterwäsche enthielt. Im zweiten, deutlich größeren Zelt, standen nur ein Rucksack und ebenfalls eine angebrochene Gallone. Ein einziger Schlafsack lehnte noch zur Rolle eingeschweißt an der Zeltwand. Eine Eindellung in der Bodenbespannung wies auf eine Schlafstelle hin, aber es fand sich keine Decke oder ein Kopfkissen. Der Rucksack war von gleicher Art wie der im Einer-Zelt, enthielt auch Proviant in Dosen und zusätzlich Bedarfsartikel wie Zahnpflegemittel, Kamm, Haarbürste, Nähzeug, ein Nagelnecessaire, Flüssigseife, Insekten- und Sonnenschutzsprays. Nichts war benutzt und das meiste zum Teil noch eingeschweißt.

„Das überlassen wir jetzt alles den Kollegen und schauen uns noch draußen um“, bestimmte Wrozeck. „Zwei zurückgelassene Rucksäcke sind uniform und scheinen zu einer Standardausrüstung zu gehören“, ließ er kurz seinen Kollegen Dekker wissen, der sich ihnen für die Untersuchung des Außenbereichs wieder anschloss.

Im Schutz der Klippenwand lag eine Feuerstelle mit grauer Asche, in der geschwärzte Scheite von verkohltem Treibholz staken. Weder Kochgeschirr noch Speisereste waren hier aufzufinden.