Schlangen-Grab - Jeff Sailor - E-Book

Schlangen-Grab E-Book

Jeff Sailor

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Beschreibung

Es passiert auf einer schmalen, gewundenen Straße durch nordkalifornischen Mammutbaumwald: Crash einer Bentley-Limousine gegen einen der Baumgiganten. Grässlich verstümmelt findet Police Officer Stan Wrozeck die Leichen der Wageninsassen vor, zweier Holzbarone aus der nahe gelegenen Stadt Eureka. Das Auto wurde manipuliert, stellt sich heraus - eigentlich eine Sache für das FBI. Doch Wrozeck verbeißt sich in den Fall und lässt sich nicht abdrängen. Die Spur führt ihn dann noch tiefer in die Wälder …

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Schlangen-Grab

Stan Wrozecks erster Fall

Kriminalroman aus Nordkalifornien

Jeff Sailor

Fehnland-Verlag

Erstausgabe im April 2019

Alle Rechte beim Verlag

Copyright © 2019

Fehnland-Verlag

26817 Rhauderfehn

Dr.-Leewog-Str. 27

Coverdesign: Tom Jay (www.tomjay.de)

Inhalt

Über den Autor

Teil I: Stan blickt nicht durch

1) Fatal

2) Co-Lateralschäden

3) Der Platzhirsch

4) Die beiden Witwen

5) Erste Indizien

6) Sein weiter Weg nach Eureka

7) Ihr großer Schwarm

8) Beutestücke

9) Fenster mit Aussicht

10) Wirrwarr und Ärgernisse

11) Schwindeleien

12) Vergangenes Unrecht

13) Gesuch auf Amtshilfe

14) Dienstfahrt ins Gefängnis

15) Schlaflos, lustlos

16) Wrozeck got the Blues

Teil II: Stan ermittelt

1) Im Wald der Giganten

2) Segwoya, der Schriftgelehrte

3) Eine noch vage Idee

4) Auf der Spur

5) Wer ist der Sonnyboy?

6) Die letzte Fahrt des Bentleys

7) Kein Fall für Stan?

8) Das Spektrum weitet sich

9) Das Mädchen Lulla

10) Marthas Missgeschick

11. Am Goldenen Tor

12) Harry und Freddy

13) Und Wishu schweigt

14) Philosophenstunde

Teil III: Stan sucht in der Vergangenheit

1) Die Sache mit Lenny

2) Die Geschichte der Rose

3) Über alte Zeiten reden

4) Ein Pfeil für Pluto

5) Fort Ross

6) Falsch verbunden

7) Aussortiert

8) Elsie

9) In einem Punkt Gewissheit

10) Rache für was?

11) Vergangenes ist nie vorbei

12) Begegnung im Wald

13) Aus anderer Perspektive

Teil IV: Stan steht vor einem Rätsel

1) Ermittlungsfehler

2) Einer so gut wie der andere

3) Der Abschiedsbrief

4) Das Geständnis

5) Vor dem Prozess

6) Als alles seinen Lauf nahm

7) Das belauschte Gespräch

8) Stans Vision

9) Wie es dann weiterging

10) Der Parkplatz im Wald

11) Enigma

12) Schlangengrube

Anmerkung des Verfassers

Register

Aufzählung der handelnden Personen

Kleines Brevier von großen Bäumen

Vorankündigung

Über den Autor

Jeff Sai­lor wurde am 31.8.1956 in Sa­li­nas, Kali­fornien, als Sohn eines US-amerika­nischen Ozeano­logen und einer deut­schen Chemi­kerin ge­boren.

Nach der Tren­nung seiner Eltern zog er be­reits als Fünf­jähri­ger mit seiner Mutter nach Deutsch­land und lebte mit ihr in Düssel­dorf. Er stu­dierte Germa­nistik an der Uni­versi­tät zu Köln, brach das Stu­dium nach eini­gen Jahren aber ohne Ab­schluss ab und kehrte zurück in den Westen der USA zur Fami­lie seines Vaters.

Dort nahm er im Fol­genden etli­che Ge­legen­heits­jobs an. So be­tä­tigte er sich als Ernte­helfer im Stein­beck Coun­try, als Werft­arbei­ter in Mon­te­rey sowie als Zei­tungs­redak­teur in As­to­ria, Oregon.

Als freier Schrift­stel­ler schrieb er unter ande­rem die Romane »Jen­seits von Jenen«, »Stark-Sturm«, »Sala­mander-Chor«, »Tot-Schlaf« und »Fern-End­lich­keit«. Außer­dem ver­fasste er die Kurz­geschich­ten­samm­lung der »Tos­sing Tales« sowie zahl­reiche wei­tere Storys, Ge­dichte, Essays, Thea­ter­stücke und Sati­ren.

Er schreibt in deut­scher Spra­che und über­setzt hin und wieder eines seiner Werke ins Engli­sche. Häufig publi­ziert er unter Pseud­onym.

Nach fünf ge­schei­terten Ehen, unter ande­rem mit eini­gen Protago­nistinnen seiner Romane, lebt er in­zwi­schen zurück­gezo­gen und Pfeife rau­chend, in der vom Vater er­erbten Villa in Car­mel bei Mon­te­rey. Sein apri­cot-farbe­ner Pudel heißt Car­li V.

»I´m just a human being try­ing to ma­ke it in a world that is ve­ry ra­pid­ly lo­sing its un­ders­tan­ding of being human.«

»Ich bin nur ein Mensch, der ver­sucht, in einer Welt klar­zu­kommen, die sehr rasch ihr eige­nes Ver­ständ­nis von Mensch­lich­keit ver­liert.«

John Tru­dell

Teil I: Stan blickt nicht durch

1) Fatal

Poli­zei­offi­zier Sta­nislaw Wro­zeck um­kreis­te das Auto­wrack des wein­roten Bent­le­ys, stapf­te dabei in seinen Wes­tern­boots durch Feucht-Moras­tiges.

»Schlan­gen-Grube, Schlan­gen-Gruft, Schlan­gen-Grab«, mur­melte er vor sich hin. Es hörte sich an wie eine Dekli­nation. Er wusste, dass man so nicht dekli­niert. Schließ­lich war es auch mehr eine Art von freier Asso­ziation, die ihm selbst schon selt­sam genug er­schien. Aber er hatte ja zum Glück keine Zu­hörer.

Da gab es zwar die Exper­ten der Un­fall­ermitt­lung, die hier im sump­figen Stra­ßen­graben in­mitten eines nord­kalifor­nischen Red­wood-Waldes herum­wusel­ten, aber sie küm­merten sich nicht um ihn, wäh­rend sie ihrer Arbeit nach­gingen. Sie schie­nen alle drei sehr be­schäf­tigt und wären sicher­lich heil­froh ge­wesen, wenn sie den Police Offi­cer aus den Füßen ge­habt hätten.

Der störte doch nur, wenn er genau in der Rinne herum­spa­zierte, in den der Bent­ley mit seinem Heck ab­ge­rutscht war – nach­dem sein Bug sich in eine 500 Jahre alte, rie­sige Weiß­se­quoie ge­bohrt hatte.

Von einem Bug konnte man bei dem Wagen im Übri­gen gar nicht mehr spre­chen. Zu­sammen­ge­presst wie eine Zieh­harmo­nika sah der aus.

Die Lage des Fahr­zeugs wirkte bizarr. Es be­durfte eini­ger Denk­anstren­gungen, sich daraus den Un­fall­her­gang zu rekons­truieren. Dabei kam man letzt­end­lich zu dem Schluss, dass es sich wie folgt zu­trug: Der Fahrer be­kam – wohl wegen über­höhter Ge­schwin­dig­keit – die aus­gepräg­te Rechts­kurve nicht mehr. Er sah sein Heil im Ver­reißen des Steuer­rads nach links, was den Wagen um die eigene Achse riss.

So schleu­derte er in den Graben auf der ande­ren Stra­ßen­seite, schlin­gerte in dieser Rinne mit seinen rechts­seiti­gen Reifen ent­lang und schleu­derte – noch immer mit er­heb­lichem Schwung – fron­tal gegen den Stamm des Mammut­baums.

Der Bent­ley stand nun um­ge­kehrt zu seiner eigent­lichen Fahrt­rich­tung. Er wirkte wie in die Se­quoie hinein­ge­fräst.

Auf der ur­sprüng­lichen Route des Wagens war der schma­le High­way an der Un­fall­stelle leicht ab­schüs­sig, und da gab es keine Brems­spur.

»Man bremst doch ab, wenn man merkt, dass man die Kurve nicht mehr kriegt«, über­legten sich die Un­fall­ermitt­ler. »Oder man ver­sucht es zu­min­dest noch.«

Die Rechts­kurve war per Warn­schild an­ge­zeigt mit einer Ge­schwin­dig­keits­be­gren­zung von 30 Meilen pro Stunde. So wie der Wagen jetzt aus­schau­te, musste er ein Mehr­faches davon drauf­gehabt haben. Warum keine Brems­spur, son­dern nur ein miss­glück­tes Aus­weich­manö­ver?

Nun, den beiden Wagen­insas­sen, dem Fahrer und seinem Bei­fahrer, musste man diese Frage nicht mehr stel­len. Die waren so tot, wie man nur sein kann. Und sie sahen in all den Split­ter­trüm­mern des Wracks auch so gräss­lich aus, wie man nur aus­sehen kann.

Dem Fahrer wurde der Ober­bauch­be­reich vom Steuer­rad ein­ge­quetscht, durch dessen Mitte die Lenk­säule hervor­geschos­sen war. Sie hatte sich mit Vehe­menz schräg von unten kom­mend in seinen Brust­korb ge­bohrt und ihn quasi auf­ge­spießt.

Nicht genug damit brach ihm der Ruck des Auf­pralls ver­mut­lich das Ge­nick. Sein Schä­del schlug dabei zu­nächst nach vorne und wurde mit sol­cher Ge­walt zurück­geschleu­dert, dass die Na­cken­leh­ne ab­brach.

Gleich im An­schluss fiel der Kopf wieder vorn­über. Da lag er jetzt über dem Brust­bein, nur wenig ober­halb des Ein­tritts­lochs der Lenk­säule. Daraus war Blut ge­quol­len, viel Blut, das sogar unter der völlig ver­zoge­nen, aber noch ge­schlos­senen Fahrer­tür durch­sicker­te.

»Fast wie ein Lava­strom«, dachte Stan Wro­zeck, »zu­nächst wohl hell­rot, doch nun dunkel ver­krus­tet.« Stän­dig dräng­ten sich ihm solche Natur­ver­glei­che auf.

Immer­hin hatte er sich in­zwi­schen auf seine Pflicht zurück­beson­nen und in­spi­zierte das ver­un­glückte Fahr­zeug.

Als er am Griff der Tür zog und ruckte, um sie zu öffnen – so ge­walt­sam wie ver­geb­lich –, bau­melte drin­nen der Kopf des Leich­nams hin und her.

Der Un­fall hatte sich wahr­schein­lich be­reits am Vor­abend er­eignet. Er war aber erst heute, am frühen Sonn­tag­morgen, von einem ande­ren Auto­fahrer ge­meldet worden.

Die Avenue of Gi­ants, wie man diese Wald­stre­cke wegen ihrer Riesen­bäume nannte, wurde ab dem Abend nur noch wenig be­fahren. Sie stell­te eine Tou­risten­attrak­tion des nord­kalifor­nischen küsten­nahen High­ways 101 dar, auf dem zu später Stunde kaum noch Leute unter­wegs waren.

Außer­dem senkte sich wohl bald nach dem gest­rigen Crash die Dunkel­heit über das Bild des Grau­ens. Da die Limou­sine zu­dem von der Straße ab­gekom­men war, blieb über Nacht alles un­ent­deckt.

Nach­denk­lich schau­te Stan auf die langen weißen Kunst­faser­sträh­nen, die von dem beim Auf­prall ge­platz­ten Air­bag übrig ge­blie­ben waren. Sie hingen trau­rig über den Resten des Fahrer­sitzes und über der Lenk­säule.

Dann wandte sich der Police Offi­cer auf die Bei­fahrer­seite, wo das zweite Luft­kissen in Strei­fen hing, eben­falls ge­platzt und ohne realen Nutz- oder Schutz­wert für den ande­ren Wagen­insas­sen.

Hier gab es keine ver­zogene Wagen­tür zwi­schen ihm und dem Opfer, denn die Tür lag ab­geris­sen ein paar Meter weiter außer­halb des Gra­bens im dich­ten Ge­büsch.

Grö­ßere und klei­nere Flie­gen surr­ten. Ein wider­wärti­ger Ge­ruch stieg von dem Leich­nam auf. Es stank nach Blut und Exkre­menten. Stan zog es den Magen zu­sammen.

Er scheu­te sich davor, den Toten an­zu­rühren. Der lag mit dem Kopf auf dem Arma­turen­brett, das Ge­sicht nach unten, sodass der Be­trach­ter genau auf seinen Hinter­kopf blick­te. Dass es sich um eine Person männ­lichen Ge­schlechts han­delte, ließ sich aus dem schüt­teren Haar­kranz und der Klei­dung schlie­ßen.

Der würde wohl von vorne über­haupt nicht mehr er­kenn­bar sein. Wie er so da­lag, war sein Ge­sicht nach mensch­lichem Er­messen nur noch Brei. Wro­zeck konnte es sich zu­min­dest nicht anders vor­stel­len. Nein, das wollte er nicht sehen.

Der Mann schien mit Kopf und Ober­körper durch die Front­schei­be ge­gangen zu sein. Dann – halb­wegs zurück­geschleu­dert – wurde er so­gleich durch die zer­bers­tenden Blech­teile im unte­ren Körper­be­reich ein­ge­keilt.

Sein wieder nach vorne ge­worfe­ner Kopf lag nun in­mitten einer schwärz­lich ge­färb­ten Lache von ge­ronne­nem Blut. Da­zwi­schen fun­kelten zahl­reiche Split­ter des Sicher­heits­glases auf dem zu­sammen­gedrück­ten Arma­turen­brett.

Der linke Arm war ihm fast ab­ge­trennt worden. Den hatte er wahr­schein­lich in einem Reflex schüt­zend zum Kopf hoch­gezo­gen. Sein rech­ter Arm hing schlaff herab, wirkte dabei aber un­natür­lich ver­dreht, wie aus­geku­gelt.

Stan starr­te auf den Ärmel seines Ja­cketts, unter dem die Man­schette des Hemdes hervor­guckte, die ein­zige Nor­mali­tät in all dem Chaos drum herum.

Am Hand­gelenk trug der Tote eine Arm­band­uhr der Marke Breit­ling und am Ring­finger einen golde­nen Ehe­ring. Die Nägel seiner flei­schigen und kurzen Finger er­schie­nen ge­pflegt und frisch mani­kürt.

»Ein etwas unter­setz­ter Mann mitt­leren Alters«, mut­maßte er. »Viel­leicht ein Links­händer, wo er die Arm­band­uhr doch rechts trägt.«

Die noch funktio­nierende Uhr nahm er ihm be­hut­sam ab – gerade so, als wolle er ihn nicht stören oder er­schre­cken. Es be­fand sich keine Gravur auf ihrer Rück­seite. Den Ring konnte er nicht so ohne Weite­res ab­strei­fen, also ließ er die Finger lieber davon.

Die Bei­fahrer­tür lag, völlig aus den Schar­nieren ge­rissen, neben dem Wagen auf dem Wald­boden. Der In­sasse war offen­bar nicht an­ge­schnallt ge­wesen. Die Schnal­le des Gurts bau­melte lose in ihrer Be­festi­gung am oberen Tür­rahmen.

Heraus­geschleu­dert wurde er nicht, wahr­schein­lich weil der Wagen sich un­mittel­bar vor­her im gegen­läufi­gen Dreh­moment be­fand. Mit dem Auf­prall wurde er dann augen­blick­lich ein­ge­klemmt.

»Der hat ver­sucht, aus dem havarie­renden Wagen heraus­zu­sprin­gen«, schoss es Wro­zeck durch den Kopf. »Er musste die Türe be­reits ge­öffnet haben, sonst läge sie jetzt nicht ab­geris­sen neben dem Wrack.«

»Es hätte ihm auch wenig ge­nutzt, wenn er denn noch an­ge­schnallt ge­wesen wäre«, kommen­tierte eine weib­liche Stimme hinter ihm. Stan wandte sich rasch um und blick­te auf Lucy Mor­gan, die Patho­login, die er selbst herbei­tele­fo­niert hatte. »Genau­so wenig, wie Air­bag und An­schnall­gurt dem Fahrer ge­holfen haben. Zer­quetscht worden sind die beiden nun so oder so«, fuhr sie un­ge­rührt fort.

Sie deu­tete mit einer vagen Hand­bewe­gung auf das, was vom Unter­körper des Bei­fah­rers übrig war. Ein fürch­ter­licher An­blick!

Teile der Karos­serie und zer­bors­tener Metall­schie­nen ragten aus einem hetero­genen Clus­ter von Ge­weben, Orga­nen und Kno­chen­split­tern. Da­zu das all­gegen­wär­tige Ge­brö­sel von Sicher­heits­glas.

Da hatte ein Mensch ge­sessen, dessen Körper und Ge­sicht jetzt eine un­defi­nier­bare Masse dar­stell­ten. Dass der rechte Arm rela­tiv un­ver­sehrt herab­hing, machte das Gesamt­bild nicht er­träg­licher.

»Der landet letzt­end­lich als Konglo­merat im Zink­sarg, wenn man ihn da heraus­geschnit­ten hat«, be­merkte Lucy zu einem der Un­fall­exper­ten, und zu Stan ge­wandt: »Wenn ich Blut- und DNA-Proben ge­nommen habe, bin ich mit ihm fertig. Er kommt mir nicht auf den Tisch. Bei mehr als hun­dert Todes­ursa­chen auf ein­mal fühle ich mich nicht mehr zu­stän­dig für eine Aut­opsie.«

Lucy konnte das so be­stim­men. Sie war von Haus aus Patho­login und als Chief Coro­ner mit Lei­chen­be­schau und Er­mitt­lung der Todes­ursa­chen be­auf­tragt. Sie agier­te in einer eigen­stän­digen Be­hörde des County-Dis­trikts und unter­stand nicht wie Wro­zeck dem She­riff, son­dern be­rich­tete direkt an die Staats­anwalt­schaft.

Was die hun­dert Todes­ursa­chen im Falle des zer­quetsch­ten Bei­fah­rers an­ging, da zwei­felte Stan nicht eine Se­kunde an ihrer Ein­schät­zung.

Warum er Lucy be­nachrich­tigt und her­gebe­ten hatte, konnte er nicht so recht sagen. Es han­delte sich schließ­lich nur um eine Un­fall­auf­nahme, wenn auch die Auf­nahme eines be­son­ders gräss­lichen Un­falls. Um den Her­gang ab­zu­klären, waren ja eigent­lich die üb­lichen Exper­ten vor Ort.

Doch wollte er diese Kolle­gin aus der Ab­tei­lung Foren­sik gerne dabei­haben. Sie ver­fügte über eine gute Intui­tion und eine gerade­zu de­tekti­vische Spür­nase, ent­deckte Dinge vor Ort, die andere mög­licher­weise über­sehen hätten.

Außer­dem wusste Stan, dass er sie heute am Sonn­tag­vor­mittag nicht von irgend­wel­chen fami­liären Pflich­ten ab­hielt. Sie war Single und hatte ihm schon mehr als ein­mal ge­sagt, dass ihr der Sonn­tag immer als der lang­wei­ligste Tag der Woche er­schien.

»Der tote Fahrer ist Co­rey Grant aus Eureka«, merkte der Poli­zei­foto­graf an. Einer der Un­fall­ermitt­ler be­stä­tigte das. Auch Lucy er­kannte den­jeni­gen der beiden Toten, der immer­hin noch rein äußer­lich identi­fizier­bar war.

Sie hatten die ver­klemm­te linke Wagen­tür mit ver­einten Kräf­ten schließ­lich doch noch öffnen können und nicht auf den Ein­satz von schwe­rem Ge­rät durch die Feuer­wehr warten müssen.

Den lose baumeln­den Kopf des Un­fall­opfers hatte Lucy be­hut­sam vom Brust­be­reich hoch­geho­ben und auf der Sitz­polste­rung nach hinten ge­lehnt. Er kippte ihr etwas zu weit zurück, weil die Nacken­stütze ja fehlte.

Stan trat hinzu. Das Ge­sicht des Toten, das un­mittel­bar über der klaf­fenden Brust­wunde ge­legen hatte, war blut­be­sudelt. Immer­hin konnte man es noch ein Ant­litz nennen, nicht von Ver­let­zungen ent­stellt, aller­dings ver­zerrt durch Horror und Grauen.

Seine auf­geris­senen Augen starr­ten nun senk­recht nach oben. Der Mund war eben­falls weit ge­öffnet.

In dieser Drama­tik sah er fast noch lebend aus, als würde er gleich heftig mit den bluti­gen Händen um sich schla­gen, den Kopf auf­rich­ten und dabei ganz furcht­bar brül­len.

»Viel­leicht hat er das ja noch ge­tan, vor Angst ge­schrien«, dachte Stan be­klom­men.

»Nach dem Auf­prall hat der gar nichts mehr ge­spürt«, sagte Lucy in seine Ge­danken hinein. »Er ist so hart mit dem Hinter­kopf auf die Nacken­stütze auf­geschla­gen, dass sie ab­fiel, nach­dem sie ihm zuvor noch das Ge­nick brach«, fuhr sie fort. »Gleich­zeitig durch­stieß ihm die vor­schie­ßende Lenk­säule wahr­schein­lich das Herz, zer­riss zu­min­dest die Aorta. Das kann ich dir dann nach der Obduk­tion ge­nauer sagen.«

»Das meinst du jetzt aber nur iro­nisch«, er­wi­derte Stan. »Du fin­dest doch so­wieso immer nur das, was du eh schon ver­mutet hast.«

Im Gegen­satz zu vielen ihrer Berufs­kolle­gen äu­ßerte sie ihre Ver­mutun­gen stets gern an Ort und Stelle und nicht erst nach dem Sezie­ren der Leiche im Insti­tut.

Dort an ihrem Tisch be­stä­tigte sie bei der gründ­lichen Unter­su­chung all die Dinge, die sie vor­her schon ge­wusst, ge­ahnt und – auf jeden Fall – be­reits ge­äußert hatte.

Manch­mal fragte sich Stan, ob das wirk­lich die rich­tige wissen­schaft­liche Arbeits­weise sei, sich alles genau vor­zu­stel­len und dann darauf hin­zu­arbei­ten, es bei der Obduk­tion mög­lichst zu be­stäti­gen.

Doch er ver­traute ihren guten Instink­ten, ihrem spezi­fi­schen Bauch­gefühl, wie sie es selbst nannte. Sie er­ahnte eben alles rich­tig. Was machte es da für einen Unter­schied, wenn sie stets den zwei­ten Schritt vor dem ersten nahm?

2) Co-Lateralschäden

Den Holz­indus­triellen Co­rey Grant kannte Wro­zeck nicht etwa persön­lich, son­dern ledig­lich aus den Zei­tungs­berich­ten des Regio­nal­blatts heraus. Seinen Dienst als Police Offi­cer in der nord­kalifor­nischen Küsten­stadt Eureka ver­sah Stan zwar be­reits seit einem knap­pen Jahr, doch war ihm der Mann nie in per­sona be­gegnet.

Grant be­saß das größte Säge­werk vor Ort, stand somit an der Spitze der Holz­barone, die Eureka einst regier­ten und die zum Teil auch heute noch großen Ein­fluss und er­kleck­lichen Reich­tum be­saßen.

»Außer Co­rey und seinem Be­glei­ter be­fand sich sonst keiner im Wagen«, ließ sich gerade Gerry, einer der Un­fall­ermitt­ler, ver­nehmen.

»Ist auch besser so«, meinte Stan tro­cken. Die Rück­sitze waren als solche immer­hin noch gut er­kenn­bar. Ganz offen­sicht­lich hatte da nie­mand ge­sessen.

»Im Fond an­ge­schnallt hätten sie durch­aus eine Über­lebens­chance ge­habt, bei einer so stabi­len Limou­sine«, musste Lucy mal wieder an­merken. »Ein Ge­müt wie ein Metz­ger­hund«, dachte Wro­zeck, »ob­wohl sie nicht so aus­sieht wie einer.«

Die Patho­login war von zier­licher Statur mit großen reh­brau­nen Augen unter dunkel­blon­den Locken. Sie be­fand sich meist in Be­wegung, wu­selte auch hier eifrig herum. Fast schon hyper­kine­tisch, wie Stan fand.

Sie ent­sprach nicht seinem idea­len Frauen­bild, ließ sie doch als sehr schlan­ke Person die von ihm ge­schätz­ten weib­lichen Run­dungen ver­missen.

»Regel­recht dürr ist sie. Trotz­dem achtet sie stän­dig auf ihre Figur. Viel­leicht leidet sie unter Ess­stö­rungen«, sin­nierte er, ob­wohl es ihn natür­lich nichts an­ging.

Jedoch ihre fach­liche Kompe­tenz, ver­bunden mit – recht zu­ver­lässi­gen – intui­tiven Ein­gebun­gen, mach­ten sie zu seiner konge­nialen Part­nerin – in beruf­lichen Be­langen.

Ihre Be­mer­kung zur Sta­bili­tät des Bent­le­ys schien ihm zu­tref­fend. Schließ­lich war der so robust, dass ordent­licher Scha­den auch an dem Mammut­baum ent­stand, in den er sich hinein­ge­bohrt hatte.

Stan schau­te trau­rig auf den Baum. Als Natur­lieb­haber be­dau­erte er die Co-Late­ral­schä­den, die ein sol­ches Un­glück mit sich brach­te.

Wie mochte die Rinde dieser 500 Jahre alten Se­quoia aus­sehen, wenn man das Blech aus ihr heraus­geschnit­ten hatte? Ein Baum­chir­urg könnte es sicher wieder rich­ten, ver­suchte er, sich zu be­ruhi­gen.

Doch es gab auch einen ir­repara­blen Scha­den – nicht an dem Riesen, son­dern eher am Mikro­kosmos, wenn man es so aus­drü­cken wollte.

Den hatte er be­reits zuvor be­merkt, und es ging ihm nicht aus dem Kopf, trotz des grau­samen An­blicks der beiden toten Wagen­insas­sen.

Es war eben diese Be­obach­tung, die ihn zu seinem Selbst­ge­spräch und der geis­tes­abwe­senden Äuße­rung über Grab, Gräben und Gruben ver­anlass­te.

Schon has­tete er wieder um das Auto herum, um seine Ent­de­ckung noch ein­mal ge­nauer zu in­spi­zieren. Er stand nun am Heck des Fahr­zeugs und starr­te auf die Spur, die das rechte Hinter­rad tief durch den sump­figen Unter­grund ge­zogen hatte, auf einer Länge von knapp zwan­zig Metern.

»Treten Sie doch bitte mal zur Seite, Stan«, bet­telte der Poli­zei­foto­graf. Aber Wro­zeck mochte im Moment so gar nicht seine Posi­tion am Wagen­heck auf­geben, wo er sich tief hinab­bückte.

In all dem Chaos mur­melte er in­zwi­schen wieder still und von all den ande­ren un­ver­stan­den vor sich hin.

Unter dem rech­ten Hinter­rad be­fand sich eine Mulde im immer feuch­ten Stra­ßen­graben. Genau die Stelle interes­sierte ihn be­son­ders und ließ ihn zeit­weilig seine dienst­lichen Pflich­ten ver­gessen.

Da sahen einige läng­liche, schup­pig-silb­rige Strei­fen unter dem schwar­zen Reifen­profil hervor, wie ganz dünne, auf­ge­platzte Schläu­che. Die schim­merten dort im Halb­dunkel, und Stan waren sie eben be­reits auf­gefal­len.

Sein fach­männi­scher Blick hatte ihn so­gleich er­kennen lassen, was er hier vor sich hatte, und diese Er­kennt­nis be­küm­merte ihn als Natur­freund zu­tiefst. Es han­delte sich näm­lich um zer­quetsch­te Repti­lien- und Amphi­bien­leiber.

Jetzt ging er zur nähe­ren Be­gut­ach­tung gänz­lich in die Hocke und konnte alles ge­nauer be­trach­ten: Es hatte wohl drei bis vier kleine Nat­tern und eben­falls einige Lurche und Molche er­wischt. Bei Erste­ren han­delte es sich vor allem um so­genann­te Gar­ter Sna­kes, zier­liche, mit auf­fälli­gen Strei­fen ge­mus­terte Schlan­gen, eine in Kali­fornien ver­brei­tet vor­kom­mende Art.

Ein Exem­plar mit röt­lichen Krin­geln auf seiner an­sons­ten anthra­zit­farbe­nen Schup­pen­haut ge­hörte aller­dings zu den Strumpf­band­nat­tern, in dieser Region ganz selten zu finden. Ihr Tod be­trübte ihn be­son­ders.

Der Wagen war mit der Hinter­achse – tat­säch­lich und aus­gerech­net – in eine Schlan­gen­grube ab­ge­rutscht.

Trau­rig sah er auf die Reste der glit­zernden, klei­nen Leiber.

Solche Erd­löcher, in denen di­verse Arten neben­einan­der lebten, stell­ten eine Rari­tät dar, zu­min­dest in dieser Gegend. Die Mono­kultur der ur­zeit­lichen Nadel­wälder bot eigent­lich wenig an Chan­cen für Wesen, die Sumpf und moras­tiges Wasser lieb­ten.

Das hie­sige Feucht­bio­top war allein dem High­way zu ver­danken, weil man beim Stra­ßen­bau eine Schnei­se durch die Red­wood Groves schla­gen musste, die Ent­wässe­rungs­gräben er­forder­lich machte.

Das darin ste­hende Brack­wasser bil­dete einen Lebens­raum für eine Viel­zahl an Klein- und Kleinst­tieren, die es sonst eher nicht in diese Wälder ver­schla­gen hätte. Und jetzt waren sie zu Opfern des High­ways ge­worden, die Be­wohner dieses winzi­gen Refu­giums.

Das ging ihm nun un­sinni­ger­weise durch den Kopf, als er am Hinter­rad des Bent­le­ys hockte, wo er soeben die zweite Schlan­gen­grube seines Lebens ent­deckt hatte – viel­leicht auch die Letzte über­haupt, wo man die so selten fand. Wer konnte das schon wissen?

Mög­licher­weise winden sich in der Mulde unter dem Rad noch wei­tere der klei­nen, schup­pigen Krea­turen in Agonie, so bil­dete er sich ein.

Da tippte ihn jemand von hinten auf die Schul­ter.

Er er­schrak und fuhr wie elektri­siert herum: Es war nur wieder ein­mal Lucy, seine »ge­schätz­te Frau Kolle­gin«, wie er sie gerne ge­stelzt-iro­nisch titu­lierte. Er rich­tete sich auf.

»Ich habe hier soeben eine wei­tere Schlan­gen­grube ent­deckt, die zweite, die ich bis­lang zu Ge­sicht be­kam«, meinte er lako­nisch, denn den Ort seiner ersten Ent­de­ckung dieser Art, den kannte sie auch.

Hilf­los und resi­gniert wies er auf seinen aktu­ellen Fund. »Die Mulde ist jetzt leider total zer­stört, und ihre Be­wohner taugen wohl nur noch für deine Kada­ver­samm­lung.«

Lucy war wie er Rep­ti­lien­freun­din, mit dem Unter­schied, dass sie die diver­sen Schup­pen­träger gerne präpa­rierte und sorg­fältig etiket­tiert in Apo­theker­fla­schen mit Form­alde­hyd­lösung auf­be­wahrte. »Die mag Totes lieber als Leben­des«, pfleg­te Stan ihr gerne zu unter­stel­len.

Sie ging nun selbst in die Knie und in­spi­zierte die Reste der silb­rigen Leiber. »So ein ver­damm­ter Mist«, ent­fuhr es ihr. »Die sind alle dahin, das reins­te Schlan­gen-Grab.«

Stan regis­trierte, dass sie einen Be­griff ver­wen­dete, der ihm eben selbst im Kopf herum­spukte.

»Ent­gegen meiner Ver­mutun­gen und Ver­dächti­gungen hätte sie die Tier­chen wohl doch lieber leben­dig vor­gefun­den«, so dachte er auch. Viel­leicht tat er ihr Un­recht, was ihre un­appe­tit­liche Lust an Ein­weck­ver­fahren in Forma­lin und Co an­ging, und sie nahm dies­mal davon Ab­stand. Doch ihre nächs­te Be­mer­kung machte seine Hoff­nung wieder zu­nichte.

»Ich werde später, wenn sie den Wagen weg­ge­bracht haben, einige mit­nehmen, damit sie wenigs­tens noch der Wissen­schaft zu­gute­kommen.«

Natür­lich musste sie die armen, klei­nen Silber­lei­chen ihrer be­rühmt-be­rüch­tigten Samm­lung ein­ver­leiben. Sie würde sie wieder zu­sammen­setzen und in Brenn­spiri­tus – oder was auch immer – ein­legen. Ein­fach wider­lich, auch wenn man es unter diesen Um­stän­den als »Scha­dens­begren­zung« sehen konnte.

»Hast du die beiden toten Gelb­band­sala­mander schon ge­sehen?«, riss sie Wro­zeck aus seinen Ge­danken und wies zu einem be­son­ders tiefen Reifen­ab­druck im Graben hin, den die rechts­seiti­gen Auto­räder ge­fräst hatten.

Sie zeigte auf eine Stelle, die sich etwa fünf Meter hinter dem Wrack be­fand. Die hatte Stan nicht unter­sucht, in­so­fern war ihm da auch noch nichts auf­gefal­len.

Eilig trat er hinzu und schau­te eben­falls an­ge­strengt dort­hin, wo sie mit ihrer Nase nun fast über das Gras schnüf­felte.

»Die waren wohl ein Stück­chen außer­halb der Grube, als es pas­sierte«, meinte Lucy, »leider aber nicht außer­halb der Ge­fahren­zone.«

Stan beugte sich herab und er­kannte nun das erste Exem­plar. Zwar hatte er soeben noch zwei fürch­ter­lich ent­stell­te mensch­liche Leich­name an­schau­en müssen, den­noch wurde es ihm jetzt fast spei­übel.

Eines der Tiere lag genau in der Rad­spur, also vom Reifen in voller Länge über­rollt. Trotz oder wegen des nach­geben­den Gras­unter­grunds waren ihm seine Inne­reien aus allen natür­lichen Körper­öff­nungen hervor­gequol­len.

Lucy stell­te das gleich mal klar: »Wegen der wei­chen Unter­lage ist seine Außen­haut nicht ge­platzt, sonst wäre der Sala­mander nur noch Brei.«

Wro­zeck hätte das vor­gezo­gen, eine kaum noch kennt­liche schlei­mige Masse, unter der man sich nichts mehr vor­stel­len konnte.

»Sie wird ihn doch nicht etwa präpa­rieren wollen?«, kam es ihm ent­setzt in den Sinn.

»Der Zweite ist zum Glück besser er­halten. Den nehme ich mir mit«, be­antwor­tete Lucy seine nicht ge­äu­ßerte Be­fürch­tung.

Das zweite Sala­mander-Opfer be­fand sich etwa einen Meter vom ersten ent­fernt, dabei etwas höher, wie auf einem leich­ten Ab­satz lie­gend, auf einer Art schma­ler Ter­rasse des tiefen Stra­ßen­gra­bens. So brauch­te sie sich beim Be­trach­ten nicht gerade so tief zu bücken.

Dieser Sala­mander lag auf dem Rücken, die Beine gleich­mäßig weg­ge­streckt. Man hätte glatt eine Symme­trie­achse durch ihn legen können.

Er war wohl durch den Auf­prall bei­seite ge­schleu­dert worden und eben­falls mause­tot, wenn man das von einer Amphi­bie so sagen kann. Längs seines weißen Bauchs ver­lief eine Art dunk­ler Schleim­spur, häss­lich-schmie­rig-ölig.

Nun griff Lucy mit der poly­äthy­len-be­hand­schuh­ten Rech­ten be­herzt zu und ließ die Echse dicht vor Stans Nase am Schwanz herab­bau­meln.

»Sieht so deren Blut aus?«, fragte er und wies auf den Bauch­strei­fen der öligen Flüs­sig­keit.

»Nein, keines­wegs. Ihr Blut ist grün­lich. Diese Schmie­re ist etwas völlig ande­res. Ich könnte mir schon denken, um was es sich han­delt. Ich werde es auf jeden Fall ana­lysie­ren«, tönte sie wich­tig­tue­risch und ließ den über 30 Zenti­meter langen Sala­mander ge­schwind in eine durch­sich­tige Plas­tik­tüte glei­ten – in eine mittel­große ihres reich­halti­gen Sorti­ments.

Merkwür­diger­weise sprach sie ihren Ver­dacht nicht aus, wo sie doch sonst so gerne speku­lierte. Doch Stan glaub­te schon zu wissen, was sie meinte.

3) Der Platzhirsch

»Wer sind die beiden Toten?«, don­nerte es plötz­lich hinter und über ihnen. Stan kam rasch aus seiner ge­bück­ten Hal­tung hoch und drehte sich um. Er wusste be­reits vom Klang der Stimme her, wer sich da in seinem Rücken auf­gebaut hatte.

Lucy ließ sich in­des beim Ein­tüten nicht stören, blick­te nicht ein­mal auf. Auch sie wusste, wer das war, und sie wusste auch, dass die Frage in erster Linie Wro­zeck galt und sie sich erst ein­mal nicht zu küm­mern brauch­te.

Stans Vor­gesetz­ter, She­riff Craig O’Con­nor, stand breit­beinig im Graben und starr­te jetzt an­gewi­dert auf den Inhalt des Plas­tik­beu­tels in Lucys Händen.

Stan folgte seinem Blick und antwor­tete ganz mecha­nisch: »Zwei Gelb­band­sala­mander. Einen davon stel­len wir gerade sicher.«

Die Ant­wort war da­zu an­getan, bei O’Con­nor augen­blick­lich einen Tob­suchts­anfall aus­zu­lösen, und das tat sie dann auch.

Sein Ge­sicht rötete sich be­ängsti­gend, die Augen traten ihm fast aus den Höhlen, und seine Mund­winkel ver­zogen sich noch be­acht­lich tiefer nach unten als ohne­hin schon.

Jetzt riss er sein Maul auf und schrie los: »Was soll die ge­quirl­te Schei­ße, Stan? Wer die Ver­unglück­ten im Wagen sind, will ich wissen!«

»Zu ihrer Identi­fika­tion kann ich noch nichts sagen«, antwor­tete Wro­zeck knapp. »Einer wurde von einem Kolle­gen der Spuren­siche­rung als Co­rey Grant be­nannt. Das muss ich aber noch veri­fizie­ren, weil ich Grant nicht persön­lich kenne.« O’Con­nor kannte den Holz­mogul, der mit ihm fast gleich­alt­rig war. Sogar von Kindes­beinen an kannte er den. Wenn ihn sein Tod ent­setzte, ließ er es sich aber keines­wegs an­merken. »Muss wohl so sein. Es ist sein Bent­ley, das sah ich gleich«, knurr­te er nur.

»Die zweite männ­liche Leiche ist bis zur Un­kennt­lich­keit ent­stellt. Der Mann trug diese Breit­ling-Uhr«, be­rich­tete Stan weiter.

Sein Chef riss ihm das dar­gebo­tene Plas­tik­säck­chen mit der Arm­band­uhr un­wirsch aus der Hand, be­trach­tete es kurz und nahm es dann wie selbst­ver­ständ­lich an sich.

Er war weiter­hin wütend auf Wro­zeck, seinen De­pu­ty, stampf­te sogar in der Rinne ste­hend mit seinem Stie­fel auf.

Dass er dabei genau in den Über­resten des zwei­ten Gelb­band­sala­manders stand, be­merk­ten Stan und Lucy sehr wohl, der She­riff selbst aber nicht.

»Ich er­warte Ihr aus­führ­liches Proto­koll zum Un­fall­her­gang – und zwar noch heute Nach­mittag«, herrsch­te er seinen Stell­ver­treter an.

Um seinen Worten Nach­druck zu ver­leihen, drehte er sich ab­rupt um die eigene Achse, stieg ent­schlos­sen aus dem Graben und ging zurück zum Stra­ßen­rand.

Von dort schau­te er sich dann doch noch ein­mal um: »Ich ver­stän­dige Co­rey Grants Witwe. Die weiß wahr­schein­lich auch, wer bei der Fahrt neben ihm saß.«

Sprach es, stapf­te mit den schmut­zigen Stie­feln in sein Dienst­fahr­zeug, einen schwar­zen SUV der Marke Chev­rolet Ta­hoe, und braus­te rasch davon.

»Er ist kein fein­fühli­ger Mann, dein Chef. Du hät­test es besser selbst der Witwe mit­ge­teilt«, sagte Lucy mit Be­stimmt­heit.

Stan nickte ihr be­stäti­gend zu, war aber ins­geheim froh, dass ihm sein Vor­gesetz­ter diese un­an­ge­nehme Auf­gabe ab­nahm. Er über­legte noch, warum O’Con­nor die Breit­ling-Arm­band­uhr ein­fach so mit­nahm. Viel­leicht hatte er be­reits eine Ver­mutung, wem sie ge­hörte.

»Wie hältst du es nur mit ihm aus?«, sprach Lucy in seine Ge­danken hinein. Das fragte sich Stan bis­weilen auch.

Ein Lösch­zug der Feuer­wehr und ein Not­arzt­wagen waren von vorne­herein mit aus­ge­rückt. Als es keine Ver­letz­ten zu bergen gab, fuhr der Not­arzt­wagen als­bald wieder ab.

Nun stan­den schon zwei Zink­särge bereit für die Lei­chen, die die Feuer­wehr­leute aus dem Wagen schnit­ten, nach­dem die Un­fall­ermitt­ler grünes Licht dafür ge­geben hatten.

Die Fräse kreisch­te durch die Waldes­stille, als würden Bäume um­gesägt.

Der High­way, der hier als so­genann­te »Avenue of Gi­ants« durch den Wald von Mammut­bäumen führte, musste für die Ber­gungs­arbei­ten ge­sperrt werden.

Da es sich nur um einen so­genann­ten Sce­nic Bypass, eine land­schaft­lich schöne Neben­stre­cke, han­delte und die US-101 in eini­ger Ent­fer­nung paral­lel ver­lief, gab es dabei kein Ver­kehrs­chaos, son­dern nur einige ent­täusch­te Ge­sich­ter von Tou­risten, denen die Fahrt über die be­rühmte Straße der Baum­riesen ver­wehrt wurde.

An den Zu­fahr­ten halfen die Ranger des Natur­schutz­gebie­tes den Motor­rad­poli­zisten bei der Um­lei­tung des Ver­kehrs.

Einige Presse­leute warte­ten schon un­gedul­dig hinter den Ab­sperr­bän­dern, doch Stan als Stell­ver­treter des She­riffs er­laubte erst, dass sie näher­kamen, nach­dem die Lei­chen in den Zink­särgen ge­borgen und diese ge­schlos­sen waren.

All­zu nahe ans Auto­wrack ließ er sie so­wieso nicht heran.

Die beiden Repor­ter vom Eureka Star und von den Gar­ber­vil­le Daily News, die je­weils ihre Foto­grafen mit­ge­bracht hatten, waren Stan be­reits be­kannt.

Sie hießen beide Jeff, wobei der Ältere, der Eureka-Jeff, mit An­fang 40 in etwa in Wro­zecks Alter war.

Den kannte er persön­lich und hatte einen guten Ein­druck von ihm ge­wonnen. Seine Zei­tungs­berich­te er­schie­nen Stan stets aus­gewo­gen, im Grund­ton libe­ral – und das in einer Stadt, wo mehr­heit­lich republi­kanisch ge­wählt wurde.

Sein Heraus­geber, im Übri­gen ein Freund und Ge­sin­nungs­ge­nosse von She­riff O’Con­nor, war als äu­ßerst konser­vativ ein­zu­stufen, eher rech­ter Flügel der Republi­kaner.

Beim Ge­danken an seinen Chef ver­wun­derte es Wro­zeck kurz, warum der nicht hier­geblie­ben war, um den Zei­tungs­leuten und dem Team vom regio­nalen TV ein Inter­view zu geben. Der She­riff zeigte sich doch sonst so publi­city-geil.

Doch wahr­schein­lich plante O’Con­nor an diesem Sonn­tag, nach­dem er die Sache mit Grants Witwe erle­digt hatte, noch andere Dinge, die ihm sogar wich­tiger er­schie­nen, als sein Auf­tritt in der Öffent­lich­keit: Das Flie­gen­fi­schen im Kla­math oder im Tri­ni­ty Ri­ver be­trieb er sonn- und feier­tags mit Leiden­schaft.

Jetzt dräng­ten sich die Be­richt­erstat­ter um den De­pu­ty, hiel­ten ihm ein paar Mikro­fone vor die Nase. Blitz­lich­ter der Foto­grafen, eine Kamera. Lästig war das!

Egal, Stan gab nun Presse und TV Aus­künfte zum Un­fall­her­gang. Nur so knapp wie mög­lich, denn er tat das alles andere als gern.

Viel war da so­wieso nicht zu sagen: Der Bent­ley ver­un­glückte aus der Fahrt­rich­tung Eureka kom­mend. Es gab zwei männ­liche Lei­chen, deren Identi­tät noch ge­klärt werden musste. Punk­tum.

»Das scheint mir der Bent­ley von Co­rey Grant, dem Säge­werks­besit­zer, zu sein«, meinte einer der Journa­listen. »Das sagt aber noch nichts dar­über aus, wer drin­geses­sen hat«, blieb Stan hart. Ende der Durch­sage. End­lich zer­streu­te sich die Meute.

»Der Bei­fahrer von Co­rey Grant heißt Hugh Wilson«, schnarr­te O’Con­nors Stimme zwei Stun­den später aus Stans Handy, als dieser sich gerade selbst auf der Heim­fahrt be­fand.

Der She­riff hatte es von Grants Witwe Emily er­fahren.

Be­vor die total scho­ckierte Ehe­frau von ihrem Haus­arzt mit einem Be­ruhi­gungs­mittel be­han­delt wurde, konnte sie noch zu diesem wich­tigen Punkt aus­sagen: Ihr Mann Co­rey war wie jeden Sams­tag­abend mit Hugh zur Poker­runde nach Mi­ran­da unter­wegs, einem klei­nen Ort, der circa 50 Meilen süd­lich von Eureka in­mitten der Red­woods lag.

O’Con­nor sah sich darauf­hin ver­an­lasst, gleich zu Wil­sons Frau Ka­thleen weiter­zu­fahren, die ihm ent­setzt be­stä­tigte, dass ihr Gatte am Sams­tag­abend wie jede Woche von Co­rey ab­geholt worden sei.

Dann identi­fizier­te sie wei­nend seine Arm­band­uhr, die Breit­ling, die O’Con­nor mit­genom­men hatte und ihr nun zeigte.

Damit musste es sich bei dem zwei­ten Toten mit an Sicher­heit gren­zender Wahr­schein­lich­keit um Hugh Wilson han­deln.

Beide Frauen hatten ihre Männer bis dato noch nicht ver­misst, weil es manch­mal vor­kam, dass sie nach dem Pokern spät in der Nacht nicht mehr nach Hause fuhren, son­dern im Mi­ran­da Gar­dens Resort über­nach­teten.

Stan war über­aus er­leich­tert, dass ihm der She­riff auf diese Art die Be­nachrich­tigung der An­gehö­rigen ab­genom­men hatte.

Jetzt drück­te der ihm nur noch die un­an­ge­nehme Pflicht aufs Auge, die Witwen näher zu be­fragen.

»Das kann aber bis morgen in der Frühe warten, Stan«, tönte die Stimme seines Chefs jovial. Seine Wut auf den De­pu­ty schien mal wieder rasch ver­raucht zu sein. Man konnte She­riff O’Con­nor immer­hin nicht als nach­tra­gend be­zeich­nen.

»Ich habe die beiden Frauen erst ein­mal in Ruhe ge­lassen, damit sie Ge­legen­heit haben, ihre An­gehö­rigen zu infor­mieren und Trauer­arbeit zu leis­ten«, ver­kün­dete er sal­bungs­voll und fügte in eher konspi­rativem Ton­fall hinzu: »Schließ­lich habe ich mit meinem freien Sonn­tag­nach­mittag auch noch was ande­res vor, als Witwen zu trös­ten.«

Klar, Flie­gen­fi­schen.

»Denken Sie mir an das Proto­koll, Stan«, hielt er für nötig an­zu­mahnen, be­vor er das Ge­spräch be­endete. Er wusste näm­lich genau, dass sein De­pu­ty läs­tige Rou­tine­arbei­ten schrift­licher Natur nicht sonder­lich schätz­te.

»Das Proto­koll kann jetzt eben­falls bis morgen warten«, dachte Stan im Stil­len.

4) Die beiden Witwen

Am frühen Montag­morgen machte Wro­zeck sich in seinem Olds­mobile auf den Weg, um die beiden Ehe­frauen der Toten auf­zu­suchen.

Das ge­hörte zu­nächst noch ganz zur rou­tine­mäßi­gen Auf­nahme eines Un­falls mit fata­len Folgen, dass die An­gehö­rigen zu den nähe­ren Um­stän­den ver­nommen wurden.

Weit musste er nicht fahren. Beide Holz­mo­guln be­saßen zwei ganz ähn­lich aus­se­hende Villen im besse­ren Wohn­vier­tel Eu­re­kas, jede mit einem großen Park von altem Baum­be­stand um­geben und nur wenige Blocks von­einan­der ent­fernt.

Hier stan­den noch viele der hoch­herr­schaft­lichen Häuser im viktoria­nischen Bau­stil in­mitten von ge­pfleg­ten Park­anla­gen. Als »Man­si­ons« wurden diese groß­zügi­gen Wohn­sitze land­läufig be­zeich­net.

Sie lagen ab­ge­rückt von der Straße und mit eige­nen Zu­fahr­ten, deren ver­schließ­bare Gatter in der Regel weit offen­stan­den. Hin­sicht­lich Ein­bruchs­krimi­nali­tät war Eureka im Norden Kalifor­niens als rela­tiv si­chere Stadt ein­zu­stufen.

Stan steuer­te zu­nächst Hugh Wil­sons Villa an, wo ihm unter säulen­geschmück­tem Portal ein Haus­bediens­teter öff­nete, bei dem er sich an­melden musste, ein verita­bler engli­scher Butler. Bei Wil­sons ging alles offen­bar »ve­ry Bri­tish« zu.

So zeigte sich Mrs. Ka­thleen Wilson, die Stan al­leine in ihrem Tee­salon emp­fing, auch sehr um Hal­tung be­müht. Sie ver­suchte, trotz des plötz­lichen und un­erwar­teten Todes ihres Gatten die Fas­sung zu be­wahren.

Bei seinem Ein­treten er­hob sie sich und kam ihm in ge­messe­nem Schritt ent­gegen, eine groß­gewach­sene und irgend­wie grob­kno­chig und kantig er­schei­nende Mitt­fünfzi­gerin. Sie trug einen dunkel­anthra­zit­farbe­nen Rock und eine weiße Bluse. Ihre Kostüm­jacke hing über ihrer Stuhl­lehne, und das war dann auch die ein­zige Lässig­keit, die sie sich er­laubte.

Im Ge­spräch be­stä­tigte sie ihm, dass es zu den Ge­wohn­heiten der beiden Männer zählte, sams­tags gegen 20 Uhr ge­mein­sam los­zu­fahren, immer in Grants Bent­ley. »Dessen Chauf­feur hat am Wochen­ende frei, daher fuhr Co­rey auch stets persön­lich.«

»Es kam also nie vor, dass ihr Gatte mit seinem Wagen fuhr und Mr. Grant mit­nahm?«, wollte Stan von ihr wissen.

Sie schüt­telte mit Be­stimmt­heit den Kopf. »Unser Fahrer hat am Sams­tag­abend eben­falls frei, und Hugh mochte nicht selbst Auto fahren.«

Sie machte eine kleine, ver­legene Pause, ent­schied sich dann aber noch zu er­klären: »Bei diesen Poker­runden wurde immer viel ge­trun­ken. Da machte Hugh keine Aus­nahme. Nur Co­rey, der war alko­hol­absti­nent. Des­halb fuhr er.«

»Kam Mr. Grant immer mit dem­selben Wagen vor­gefah­ren?« Ka­thleen Wilson be­jahte die Frage.

»Seine Frau Emily wollte ihren eige­nen Wagen zur Ver­fügung haben. Sie be­nö­tigte ihn in der Regel Sonn­tag­früh, um in die Kirche zu fahren. Zu dem Zeit­punkt waren Co­rey und Hugh ja bis­weilen noch gar nicht zurück, wenn es be­son­ders spät wurde und die beiden vor Ort über­nach­teten.«

Un­will­kür­lich seufz­te sie leise auf und tupfte sich mit einem Ta­schen­tüch­lein die unte­ren Augen­ränder ab, doch es schien ihr un­an­genehm und pein­lich zu sein, ihre Ge­fühle zu zeigen.

Stan ver­mutete, dass sie sich sehr be­herr­schen musste, war ihr irgend­wie auch dank­bar dafür, dass sie sich so be­mühte, Conte­nance zu wahren. Als er vor­sich­tig an­fragte, ob er ihr irgend­wie be­hilf­lich sein könnte, hatte sie sich be­reits wieder im Griff.

»Nein, danke. Ich er­warte meinen Sohn heute noch aus San Fran­cisco zurück«, antwor­tete sie nur ruhig und er­läu­terte kurz darauf: »Harold stu­diert näm­lich an der Berke­ley Uni­ver­sity.« Und es hörte sich sogar ein wenig stolz an.

»Harry hat mich am Sams­tag hier in Eureka be­sucht, blieb über Nacht in der Stadt und fuhr erst ges­tern Morgen wieder ab.«

Stan regis­trierte bei­läufig, dass sie in der Ein­zahl sprach, als sei der Sohn nicht wegen seiner Eltern, son­dern nur wegen seiner Mutter am Wochen­ende vorbei­gekom­men. Auch sagte sie, er habe »in der Stadt« und nicht etwa »bei uns« über­nach­tet. Aber das musste ja nichts heißen.

»Er war wohl gerade in seiner Stu­denten­woh­nung in San Fran­cisco an­gekom­men, als ich ihn an­rief und ihm mit­teilen musste, dass Hugh ver­un­glückt ist«, sprach sie in seine Ge­danken hinein. »Er wollte post­wen­dend wieder auf­bre­chen, um mir bei­zu­stehen, doch ich über­zeugte ihn, nach der langen Fahrt erst noch eine Nacht aus­zu­ruhen. Er kommt heute zurück und wird mir eine große Hilfe sein«, be­tonte sie.

Stan nickte ver­ständ­nis­voll. Die Fahrt­stre­cke bis San Fran­cisco be­trug immer­hin fast 300 Meilen.

Gleich­zeitig ver­merkte er sich im Hinter­kopf, dass der Sohn in seinem Heimat­ort war, als der Vater ver­un­glückte, mochte aber nun keine nähe­ren Nach­for­schungen mehr an­stel­len, nicht ein­mal Ge­danken dar­über ver­lieren. Es han­delte sich schließ­lich um einen Un­fall, »dem äuße­ren An­schein nach«, wie Stan sich im Stil­len korri­gierte; es er­schien ihm ver­früht, einem vagen Ge­fühl nach­zu­gehen.

Es war für ihn er­sicht­lich, dass sich hinter der Fas­sade von Selbst­beherr­schung und Höf­lich­keit bei Ka­thleen Wilson doch Be­trof­fen­heit, Trauer und mög­licher­weise auch eine ge­wisse Hilf­losig­keit ver­barg.

»Kann ich Ihnen – falls nötig – später noch einige Fragen stel­len?«, fragte Stan sie beim Ab­schied.

»Ja, jeder­zeit«, be­eilte sie sich zu ant­worten. »Nur im Moment bin ich dank­bar für etwas Ruhe.«

Das leuch­tete ihm ein, und er war er­leich­tert, sich rasch zurück­ziehen zu können.

Co­rey Grants Frau Emily re­agierte bei seinem Be­such schon spür­bar emotio­naler. Sie emp­fing ihn eben­falls al­leine in ihrem Salon.

Nach­dem sie ihm die Hand ge­geben und sein Kondo­lieren ent­gegen­genom­men hatte, kau­erte sie sich wieder in ihren Sessel und weinte, ver­gaß sogar, dem Be­sucher einen Platz an­zu­bieten. Stan stand ganz hilf­los dane­ben.

Die zier­liche Person in ihrem schwar­zen Seiden­kleid machte einen zer­brech­lichen Ein­druck auf ihn. Sie wirkte wie ein trau­riger, klei­ner Vogel.

Der De­pu­ty fühlte sich heil­froh, dass sie es schon wusste und dass nicht er der Über­brin­ger der schlim­men Nach­richt war.

Nach­dem sie ihn schließ­lich fahrig auf einen nächst­ste­henden Stuhl ge­wunken hatte, ver­suchte sie zu­min­dest, mit ihm zu reden: »Die beiden waren doch nur wie ge­wöhn­lich auf dem Weg zu ihrer wö­chent­lichen Poker­runde in Mi­ran­da, und jetzt …«, sie schluchz­te auf »… kehren sie nie mehr zurück.«

Stan hatte sich auf dem sehr un­beque­men Stuhl mit hoher Lehne nieder­gelas­sen und rutsch­te ein wenig hin und her.

Sie wisch­te sich die Tränen mit dem Hand­rücken ab und machte in diesem Augen­blick An­stal­ten, sich un­behol­fen aus ihrem Sessel auf­zu­rich­ten.

»Möch­ten Sie eine Tasse Tee trin­ken, Offi­cer«, fragte sie mit zitt­riger Stimme, sich an so etwas wie Gast­geber­pflicht er­in­nernd, aber er wehrte ab.

»Nein danke, machen Sie sich bitte keine Um­stände«, antwor­tete er rasch. Sie hätte ledig­lich nach dem Dienst­mäd­chen zu klin­geln brau­chen. Er sah die kleine sil­berne Schel­le am Ende des langen Couch­tischs stehen. Doch so müh­sam, wie sie eben ver­sucht hatte, aus ihrem Sessel auf­zu­kommen, wäre selbst das sehr an­stren­gend für sie ge­wesen, über­legte Wro­zeck. »Sie be­wegt sich nicht gut«, dachte er. »Mög­licher­weise ist sie krank.«

Sie be­stä­tigte ihm dann im Ge­spräch alles, was er von Ka­thleen Wilson be­reits über die sams­tag­abend­lichen Ge­pflo­gen­heiten der beiden Männer ge­hört hatte.

Sie kamen offen­bar mit Be­kann­ten aus einem weite­ren Um­kreis zu­sammen, und ihr Treff­punkt lag in etwa in der Mitte der ver­schie­denen Wohn­orte.

Stan ver­suchte erst gar nicht, be­son­ders ins Detail zu gehen, um die Witwe wei­test­gehend zu scho­nen. So er­kun­digte er sich nicht bei ihr, ob ihr Mann ein um­sich­tiger Fahrer ge­wesen sei. »Co­rey war am Steuer be­sonnen und in all den Jahren noch nie in einen Auto­unfall mit Perso­nen­scha­den ver­wi­ckelt«, hatte ihm O’Con­nor ge­sagt, der es wissen musste, und das ge­nügte ihm momen­tan. Nur eine zu­sätz­liche Frage er­schien ihm noch wich­tig.

»Können Sie mir etwas zum techni­schen Zu­stand des Bent­le­ys sagen«, hob er an. »Hatte Ihr Gatte im Vor­feld irgend­welche Pro­bleme mit dem Wagen?«

Sie sah ihn an und schien zu über­legen. Dann fiel ihr ein: »Nein, der war doch gerade noch in einer gründ­lichen Inspek­tion ge­wesen, in Hank Mar­shalls Werk­statt hier am Ort. Erst am Frei­tag hatte Co­rey ihn da ab­geholt.« Sobald sie den Namen ihres Mannes nur aus­sprach, musste sie schon wieder weinen.

»Das hat im Moment alles keinen Zweck«, dachte sich Stan und ver­zich­tete auf zu­sätz­liche Fragen.

Mit eini­ger Wahr­schein­lich­keit musste er beide Witwen später noch ein­mal spre­chen, aber das hatte Zeit. Man würde viel besser dar­über reden können, wenn sich die Frauen wenigs­tens wieder ein wenig ge­fasst hatten.

Er stand auf und ging auf Emilys Sessel zu, hätte ihr gern trös­tend die Hand auf die Schul­ter ge­legt, doch das er­schien ihm zu dis­tanz­los und als nicht an­ge­bracht in seiner Posi­tion. Er war schließ­lich kein Freund oder Ver­trau­ter der Fami­lie.

So ver­abschie­dete er sich förm­lich und streck­te ihr nur die Rechte hin.

Er sah auf sie herab. Sie mochte wie Ka­thleen Wilson Mitte 50 sein. Früh er­graut und hager, wie sie aus­sah, er­schien sie ihm aber eher wie eine über 60-jäh­rige. Sie und Co­rey waren wohl kinder­los ge­blie­ben.

Sie tat Stan in ihrer Ein­sam­keit und ihrem Kummer un­end­lich leid.

5) Erste Indizien

Nun fuhr Stan gar nicht erst ins Police Depart­ment zurück, wo ihn die un­an­ge­nehme Auf­gabe des Proto­koll­schrei­bens er­wartet hätte, son­dern er machte sich gleich auf den Weg in Lucys Labor, das in der Klein­stadt Gar­ber­vil­le lag, eine gute Fahrt­stunde von Eureka ent­fernt in süd­licher Rich­tung.

Die drei Coun­ties Del Nor­te, Hum­boldt und Men­do­ci­no teil­ten sich ein forensi­sches Insti­tut, dessen Team aus Lucy und ihren beiden Ge­hilfen Cecil und Louis be­stand.

Cecil Sparks war ein Me­di­cal Ex­aminer und ihr Stell­ver­treter. Sie hielt nicht wirk­lich viel von ihm. Er arbei­tete zwar pinge­lig und akku­rat, aber ohne einen Hauch von Intui­tion.

Louis Finch er­schien Stan als ein recht intelli­genter, junger Mann, der aber noch etwas mehr An­lei­tung ge­braucht hätte, um eigen­stän­diger zu werden.

Lucy brach­te in ihrer Hektik nicht die nötige Ge­duld da­zu auf, den neuen Mit­arbei­ter gründ­lich ein­zu­arbeiten. Als Labor­chefin war sie nicht wirk­lich team­fähig.

Doch schließ­lich und letzt­end­lich konnte sie nicht alles selber machen, auch wenn es ihr so am liebs­ten ge­wesen wäre.

Wro­zeck nahm auf seiner Fahrt den Ab­zweig zum Sce­nic Bypass, um noch ein­mal an der Un­glücks­stelle vorbei­zu­kommen.

Wieder fragte er sich, warum dieser Un­fall, der am Sams­tag­abend ge­schah, erst Sonn­tag­früh ge­meldet wurde.

Das Sträß­chen war in den Abend­stun­den so­wieso wenig be­fahren, und zu­dem konn­ten Leute, aus Rich­tung Eureka nach Süd­westen unter­wegs, nichts sehen, denn ihnen stand der mäch­tige Mammut­baum im Blick­feld, in den der Wagen von der ande­ren Seite hinein­gerast war.

Auto­mobi­listen, die von Gar­ber­vil­le kom­mend die »Allee der Gigan­ten« in nörd­licher Rich­tung fuhren, die hätten aller­dings etwas sehen können.

Viel­leicht fiel ihnen der hava­rierte Wagen auf, doch sie hiel­ten es nicht für einen gerade passier­ten Un­fall. Da lief schließ­lich kein Mensch auf dem High­way herum, win­kend und um Hilfe schrei­end. Und das Aus­maß der Zer­stö­rung war von der Heck­an­sicht des Wagens nicht ein­schätz­bar.

So hatten Durch­fah­rende mög­licher­weise ge­glaubt, es sei über den Tag irgend­wann jemand im Graben ge­landet, die In­sassen be­reits weg und ein Ab­schlepp­dienst be­nachrich­tigt.

Die Un­fall­opfer im total zer­stör­ten Bug konnte man im Vor­über­fahren wohl kaum aus­machen, und kurz darauf wurde es eh stock­dunkel.

Einer Intui­tion fol­gend hielt er am Stra­ßen­rand. Auf der Fahr­bahn hatten die Un­fall­ermitt­ler keine Brems­spuren ge­funden, jeden­falls in der Nähe des Unfall­ortes nicht. Es gab auch keiner­lei andere Auf­fällig­keiten, bis auf … ja, bis auf den öligen Sprit­zer auf dem Körper des toten Sala­manders.

Stan ahnte von Beginn an, worum es sich dabei han­delte und dass es dem Fall even­tuell eine ganz andere Dimen­sion ver­leihen könnte.

»Die Spuren­siche­rung hat die ur­sprüng­liche Fahrt­stre­cke des Bent­le­ys viel­leicht nicht weit genug ab­ge­sucht«, über­legte er. Und das holte er nun nach.

Erst in der fol­genden Kurve fand er, was er suchte.

Der Fahrer hatte es ge­schafft, um diese Stra­ßen­win­dung noch un­bescha­det herum­zu­schleu­dern, und hier sah der De­pu­ty Spuren einer dunkel­bräun­lich-öligen Flüs­sig­keit, bis an den Fahr­bahn­rand ge­spritzt.

Stan nahm ge­übt eine Probe per Spatel, die er auf ein Uhr­gläs­chen ab­strich und dieses in einer der klei­nen Plas­tik­tüten ver­senkte, die er rou­tine­mäßig bei sich führte. Das musste Lucy unter­suchen.

Er hatte es jetzt sehr eilig, sie zu spre­chen, voller Un­geduld, für seinen Ver­dacht eine Ge­wiss­heit zu er­halten.

Die Patho­login emp­fing Stan in ihrem Büro und bot ihm zu­nächst einen Becher Kaffee an.

Er sah ihr schon an der Nasen­spitze an, dass sie etwas Wich­tiges heraus­gefun­den hatte, doch sie ließ ihn erst ein­mal vor­sich­tig einen ersten Schluck nehmen, wollte ihn wohl auf die Folter span­nen. Trotz seiner inne­ren An­span­nung spiel­te er mit.

»Der Ver­dacht er­härtet sich, dass es sich um einen An­schlag han­delte«, er­klärte sie dann so un­ver­mit­telt wie be­deu­tungs­voll, und er tat ihr den Ge­fallen, er­staunt auf­zu­bli­cken.

Lucy hatte die ge­nom­mene Probe, den Ab­strich vom Bauch des Gelb­band­sala­manders, zu­ver­lässig und ein­deutig ana­ly­siert.

»Laut Gas­chro­mato­gra­phie stimmt sie che­misch völlig über­ein mit einer Ver­gleichs­probe, die ich mir in einer Auto­repa­ratur­werk­statt vor Ort als Refe­renz be­sorgen ließ. Es han­delt sich um Brems­flüs­sig­keit.«

»Sie wird auch iden­tisch sein mit der Probe, die ich eben in der Nähe der Un­fall­stelle vom As­phalt ab­kratz­te«, meinte Stan und über­gab ihr das Plas­tik­tüt­chen mit dem Uhren­glas.

»Es war mir schon klar, dass man dort noch was davon finden musste«, konsta­tierte Lucy. »Ich war schon drauf und dran, die Kolle­gen wieder hinaus­zu­schi­cken. Das hat sich nun ja er­übrigt.« Sie brach­te die Probe un­ver­züg­lich zu ihrem Assis­tenten Sparks ins Labor her­über.

Als sie zurück­kam, meinte Stan: »Bei dieser Limou­sine, die gut ge­wartet und ge­pflegt wurde, noch da­zu gerade aus einer Inspek­tion kam, ist nun die Frage, ob man in der Werk­statt ge­schlu­dert oder ob jemand ab­sicht­lich das Brems­system manipu­liert hat.«

»Und das wird am Wrack be­reits von der Spuren­siche­rung unter­sucht«, trumpf­te sie auf, denn sie hatte ihren Be­fund be­reits den Kolle­gen mit­ge­teilt, be­vor die Staats­anwalt­schaft es er­fuhr. Lucy war halt eine Be­fürwor­terin des klei­nen Dienst­wegs.

Dass der zweite Tote eben­falls identi­fi­ziert war, stand so ziem­lich außer Frage. Die Namen der In­sassen konnte man in­zwi­schen auch in deren mit­geführ­ten Papie­ren lesen, die sich nach ex­tensi­ven Säube­rungs­arbei­ten ent­zif­fern ließen.

Die Patho­login war­tete, was die Leiche von Hugh Wilson an­ging, noch auf den DNA-Ab­gleich, doch nur der guten Ord­nung halber.

»Schon ko­misch, dass es zwei Holz­mo­guln er­wischt hat«, mur­melte Stan so vor sich hin, »dabei noch die beiden be­deu­tendsten vor Ort, die Be­sitzer der größ­ten und der zweit­größ­ten Säge­mühle des Hum­boldt County.«

Lucy nickte. Sie waren ihr wohl­be­kannt, zähl­ten in Eureka beide zur Promi­nenz, wie sie sagte.

»Falls wir es in der Tat mit einem Atten­tat zu tun haben, stellt sich die Frage, ob es einem oder beiden galt. Und wer wollte den oder die wohl aus dem Weg räumen?«, sin­nierte Wro­zeck und gab damit seiner Kolle­gin ein­mal mehr eine Steil­vor­lage für Spekula­tionen.

»Da sind viele, die sie nicht aus­stehen konn­ten. Die er­freu­ten sich nicht ein­mal in ihrer Poker­runde be­sonde­rer Be­liebt­heit«, kommen­tierte sie.

Neu­gierig, wie Lucy nun mal war, kannte sie nicht nur das so­ziale Ge­füge ihrer eige­nen Ge­meinde, son­dern auch das der Nach­bar­stadt Eureka detail­liert. Sie musste doch in alles ihre Nase ste­cken.

»Die hatten in ihrem Um­feld eigent­lich nur Feinde: bei ihren Be­schäf­tigten wegen mieser Arbeits­bedin­gungen. Nach­barn rede­ten schlecht über sie, weil sich beide recht­habe­risch und streit­bar gaben, und andere Mit­glie­der der Commu­nity moch­ten sie nicht, zum Teil wohl auch aus Miss­gunst und sozia­lem Neid heraus.«