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Es passiert auf einer schmalen, gewundenen Straße durch nordkalifornischen Mammutbaumwald: Crash einer Bentley-Limousine gegen einen der Baumgiganten. Grässlich verstümmelt findet Police Officer Stan Wrozeck die Leichen der Wageninsassen vor, zweier Holzbarone aus der nahe gelegenen Stadt Eureka. Das Auto wurde manipuliert, stellt sich heraus - eigentlich eine Sache für das FBI. Doch Wrozeck verbeißt sich in den Fall und lässt sich nicht abdrängen. Die Spur führt ihn dann noch tiefer in die Wälder …
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Seitenzahl: 389
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Schlangen-Grab
Stan Wrozecks erster Fall
Kriminalroman aus Nordkalifornien
Jeff Sailor
Fehnland-Verlag
Erstausgabe im April 2019
Alle Rechte beim Verlag
Copyright © 2019
Fehnland-Verlag
26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
Coverdesign: Tom Jay (www.tomjay.de)
Über den Autor
Teil I: Stan blickt nicht durch
1) Fatal
2) Co-Lateralschäden
3) Der Platzhirsch
4) Die beiden Witwen
5) Erste Indizien
6) Sein weiter Weg nach Eureka
7) Ihr großer Schwarm
8) Beutestücke
9) Fenster mit Aussicht
10) Wirrwarr und Ärgernisse
11) Schwindeleien
12) Vergangenes Unrecht
13) Gesuch auf Amtshilfe
14) Dienstfahrt ins Gefängnis
15) Schlaflos, lustlos
16) Wrozeck got the Blues
Teil II: Stan ermittelt
1) Im Wald der Giganten
2) Segwoya, der Schriftgelehrte
3) Eine noch vage Idee
4) Auf der Spur
5) Wer ist der Sonnyboy?
6) Die letzte Fahrt des Bentleys
7) Kein Fall für Stan?
8) Das Spektrum weitet sich
9) Das Mädchen Lulla
10) Marthas Missgeschick
11. Am Goldenen Tor
12) Harry und Freddy
13) Und Wishu schweigt
14) Philosophenstunde
Teil III: Stan sucht in der Vergangenheit
1) Die Sache mit Lenny
2) Die Geschichte der Rose
3) Über alte Zeiten reden
4) Ein Pfeil für Pluto
5) Fort Ross
6) Falsch verbunden
7) Aussortiert
8) Elsie
9) In einem Punkt Gewissheit
10) Rache für was?
11) Vergangenes ist nie vorbei
12) Begegnung im Wald
13) Aus anderer Perspektive
Teil IV: Stan steht vor einem Rätsel
1) Ermittlungsfehler
2) Einer so gut wie der andere
3) Der Abschiedsbrief
4) Das Geständnis
5) Vor dem Prozess
6) Als alles seinen Lauf nahm
7) Das belauschte Gespräch
8) Stans Vision
9) Wie es dann weiterging
10) Der Parkplatz im Wald
11) Enigma
12) Schlangengrube
Anmerkung des Verfassers
Register
Aufzählung der handelnden Personen
Kleines Brevier von großen Bäumen
Vorankündigung
Jeff Sailor wurde am 31.8.1956 in Salinas, Kalifornien, als Sohn eines US-amerikanischen Ozeanologen und einer deutschen Chemikerin geboren.
Nach der Trennung seiner Eltern zog er bereits als Fünfjähriger mit seiner Mutter nach Deutschland und lebte mit ihr in Düsseldorf. Er studierte Germanistik an der Universität zu Köln, brach das Studium nach einigen Jahren aber ohne Abschluss ab und kehrte zurück in den Westen der USA zur Familie seines Vaters.
Dort nahm er im Folgenden etliche Gelegenheitsjobs an. So betätigte er sich als Erntehelfer im Steinbeck Country, als Werftarbeiter in Monterey sowie als Zeitungsredakteur in Astoria, Oregon.
Als freier Schriftsteller schrieb er unter anderem die Romane »Jenseits von Jenen«, »Stark-Sturm«, »Salamander-Chor«, »Tot-Schlaf« und »Fern-Endlichkeit«. Außerdem verfasste er die Kurzgeschichtensammlung der »Tossing Tales« sowie zahlreiche weitere Storys, Gedichte, Essays, Theaterstücke und Satiren.
Er schreibt in deutscher Sprache und übersetzt hin und wieder eines seiner Werke ins Englische. Häufig publiziert er unter Pseudonym.
Nach fünf gescheiterten Ehen, unter anderem mit einigen Protagonistinnen seiner Romane, lebt er inzwischen zurückgezogen und Pfeife rauchend, in der vom Vater ererbten Villa in Carmel bei Monterey. Sein apricot-farbener Pudel heißt Carli V.
»I´m just a human being trying to make it in a world that is very rapidly losing its understanding of being human.«
»Ich bin nur ein Mensch, der versucht, in einer Welt klarzukommen, die sehr rasch ihr eigenes Verständnis von Menschlichkeit verliert.«
John Trudell
Polizeioffizier Stanislaw Wrozeck umkreiste das Autowrack des weinroten Bentleys, stapfte dabei in seinen Westernboots durch Feucht-Morastiges.
»Schlangen-Grube, Schlangen-Gruft, Schlangen-Grab«, murmelte er vor sich hin. Es hörte sich an wie eine Deklination. Er wusste, dass man so nicht dekliniert. Schließlich war es auch mehr eine Art von freier Assoziation, die ihm selbst schon seltsam genug erschien. Aber er hatte ja zum Glück keine Zuhörer.
Da gab es zwar die Experten der Unfallermittlung, die hier im sumpfigen Straßengraben inmitten eines nordkalifornischen Redwood-Waldes herumwuselten, aber sie kümmerten sich nicht um ihn, während sie ihrer Arbeit nachgingen. Sie schienen alle drei sehr beschäftigt und wären sicherlich heilfroh gewesen, wenn sie den Police Officer aus den Füßen gehabt hätten.
Der störte doch nur, wenn er genau in der Rinne herumspazierte, in den der Bentley mit seinem Heck abgerutscht war – nachdem sein Bug sich in eine 500 Jahre alte, riesige Weißsequoie gebohrt hatte.
Von einem Bug konnte man bei dem Wagen im Übrigen gar nicht mehr sprechen. Zusammengepresst wie eine Ziehharmonika sah der aus.
Die Lage des Fahrzeugs wirkte bizarr. Es bedurfte einiger Denkanstrengungen, sich daraus den Unfallhergang zu rekonstruieren. Dabei kam man letztendlich zu dem Schluss, dass es sich wie folgt zutrug: Der Fahrer bekam – wohl wegen überhöhter Geschwindigkeit – die ausgeprägte Rechtskurve nicht mehr. Er sah sein Heil im Verreißen des Steuerrads nach links, was den Wagen um die eigene Achse riss.
So schleuderte er in den Graben auf der anderen Straßenseite, schlingerte in dieser Rinne mit seinen rechtsseitigen Reifen entlang und schleuderte – noch immer mit erheblichem Schwung – frontal gegen den Stamm des Mammutbaums.
Der Bentley stand nun umgekehrt zu seiner eigentlichen Fahrtrichtung. Er wirkte wie in die Sequoie hineingefräst.
Auf der ursprünglichen Route des Wagens war der schmale Highway an der Unfallstelle leicht abschüssig, und da gab es keine Bremsspur.
»Man bremst doch ab, wenn man merkt, dass man die Kurve nicht mehr kriegt«, überlegten sich die Unfallermittler. »Oder man versucht es zumindest noch.«
Die Rechtskurve war per Warnschild angezeigt mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 Meilen pro Stunde. So wie der Wagen jetzt ausschaute, musste er ein Mehrfaches davon draufgehabt haben. Warum keine Bremsspur, sondern nur ein missglücktes Ausweichmanöver?
Nun, den beiden Wageninsassen, dem Fahrer und seinem Beifahrer, musste man diese Frage nicht mehr stellen. Die waren so tot, wie man nur sein kann. Und sie sahen in all den Splittertrümmern des Wracks auch so grässlich aus, wie man nur aussehen kann.
Dem Fahrer wurde der Oberbauchbereich vom Steuerrad eingequetscht, durch dessen Mitte die Lenksäule hervorgeschossen war. Sie hatte sich mit Vehemenz schräg von unten kommend in seinen Brustkorb gebohrt und ihn quasi aufgespießt.
Nicht genug damit brach ihm der Ruck des Aufpralls vermutlich das Genick. Sein Schädel schlug dabei zunächst nach vorne und wurde mit solcher Gewalt zurückgeschleudert, dass die Nackenlehne abbrach.
Gleich im Anschluss fiel der Kopf wieder vornüber. Da lag er jetzt über dem Brustbein, nur wenig oberhalb des Eintrittslochs der Lenksäule. Daraus war Blut gequollen, viel Blut, das sogar unter der völlig verzogenen, aber noch geschlossenen Fahrertür durchsickerte.
»Fast wie ein Lavastrom«, dachte Stan Wrozeck, »zunächst wohl hellrot, doch nun dunkel verkrustet.« Ständig drängten sich ihm solche Naturvergleiche auf.
Immerhin hatte er sich inzwischen auf seine Pflicht zurückbesonnen und inspizierte das verunglückte Fahrzeug.
Als er am Griff der Tür zog und ruckte, um sie zu öffnen – so gewaltsam wie vergeblich –, baumelte drinnen der Kopf des Leichnams hin und her.
Der Unfall hatte sich wahrscheinlich bereits am Vorabend ereignet. Er war aber erst heute, am frühen Sonntagmorgen, von einem anderen Autofahrer gemeldet worden.
Die Avenue of Giants, wie man diese Waldstrecke wegen ihrer Riesenbäume nannte, wurde ab dem Abend nur noch wenig befahren. Sie stellte eine Touristenattraktion des nordkalifornischen küstennahen Highways 101 dar, auf dem zu später Stunde kaum noch Leute unterwegs waren.
Außerdem senkte sich wohl bald nach dem gestrigen Crash die Dunkelheit über das Bild des Grauens. Da die Limousine zudem von der Straße abgekommen war, blieb über Nacht alles unentdeckt.
Nachdenklich schaute Stan auf die langen weißen Kunstfasersträhnen, die von dem beim Aufprall geplatzten Airbag übrig geblieben waren. Sie hingen traurig über den Resten des Fahrersitzes und über der Lenksäule.
Dann wandte sich der Police Officer auf die Beifahrerseite, wo das zweite Luftkissen in Streifen hing, ebenfalls geplatzt und ohne realen Nutz- oder Schutzwert für den anderen Wageninsassen.
Hier gab es keine verzogene Wagentür zwischen ihm und dem Opfer, denn die Tür lag abgerissen ein paar Meter weiter außerhalb des Grabens im dichten Gebüsch.
Größere und kleinere Fliegen surrten. Ein widerwärtiger Geruch stieg von dem Leichnam auf. Es stank nach Blut und Exkrementen. Stan zog es den Magen zusammen.
Er scheute sich davor, den Toten anzurühren. Der lag mit dem Kopf auf dem Armaturenbrett, das Gesicht nach unten, sodass der Betrachter genau auf seinen Hinterkopf blickte. Dass es sich um eine Person männlichen Geschlechts handelte, ließ sich aus dem schütteren Haarkranz und der Kleidung schließen.
Der würde wohl von vorne überhaupt nicht mehr erkennbar sein. Wie er so dalag, war sein Gesicht nach menschlichem Ermessen nur noch Brei. Wrozeck konnte es sich zumindest nicht anders vorstellen. Nein, das wollte er nicht sehen.
Der Mann schien mit Kopf und Oberkörper durch die Frontscheibe gegangen zu sein. Dann – halbwegs zurückgeschleudert – wurde er sogleich durch die zerberstenden Blechteile im unteren Körperbereich eingekeilt.
Sein wieder nach vorne geworfener Kopf lag nun inmitten einer schwärzlich gefärbten Lache von geronnenem Blut. Dazwischen funkelten zahlreiche Splitter des Sicherheitsglases auf dem zusammengedrückten Armaturenbrett.
Der linke Arm war ihm fast abgetrennt worden. Den hatte er wahrscheinlich in einem Reflex schützend zum Kopf hochgezogen. Sein rechter Arm hing schlaff herab, wirkte dabei aber unnatürlich verdreht, wie ausgekugelt.
Stan starrte auf den Ärmel seines Jacketts, unter dem die Manschette des Hemdes hervorguckte, die einzige Normalität in all dem Chaos drum herum.
Am Handgelenk trug der Tote eine Armbanduhr der Marke Breitling und am Ringfinger einen goldenen Ehering. Die Nägel seiner fleischigen und kurzen Finger erschienen gepflegt und frisch manikürt.
»Ein etwas untersetzter Mann mittleren Alters«, mutmaßte er. »Vielleicht ein Linkshänder, wo er die Armbanduhr doch rechts trägt.«
Die noch funktionierende Uhr nahm er ihm behutsam ab – gerade so, als wolle er ihn nicht stören oder erschrecken. Es befand sich keine Gravur auf ihrer Rückseite. Den Ring konnte er nicht so ohne Weiteres abstreifen, also ließ er die Finger lieber davon.
Die Beifahrertür lag, völlig aus den Scharnieren gerissen, neben dem Wagen auf dem Waldboden. Der Insasse war offenbar nicht angeschnallt gewesen. Die Schnalle des Gurts baumelte lose in ihrer Befestigung am oberen Türrahmen.
Herausgeschleudert wurde er nicht, wahrscheinlich weil der Wagen sich unmittelbar vorher im gegenläufigen Drehmoment befand. Mit dem Aufprall wurde er dann augenblicklich eingeklemmt.
»Der hat versucht, aus dem havarierenden Wagen herauszuspringen«, schoss es Wrozeck durch den Kopf. »Er musste die Türe bereits geöffnet haben, sonst läge sie jetzt nicht abgerissen neben dem Wrack.«
»Es hätte ihm auch wenig genutzt, wenn er denn noch angeschnallt gewesen wäre«, kommentierte eine weibliche Stimme hinter ihm. Stan wandte sich rasch um und blickte auf Lucy Morgan, die Pathologin, die er selbst herbeitelefoniert hatte. »Genauso wenig, wie Airbag und Anschnallgurt dem Fahrer geholfen haben. Zerquetscht worden sind die beiden nun so oder so«, fuhr sie ungerührt fort.
Sie deutete mit einer vagen Handbewegung auf das, was vom Unterkörper des Beifahrers übrig war. Ein fürchterlicher Anblick!
Teile der Karosserie und zerborstener Metallschienen ragten aus einem heterogenen Cluster von Geweben, Organen und Knochensplittern. Dazu das allgegenwärtige Gebrösel von Sicherheitsglas.
Da hatte ein Mensch gesessen, dessen Körper und Gesicht jetzt eine undefinierbare Masse darstellten. Dass der rechte Arm relativ unversehrt herabhing, machte das Gesamtbild nicht erträglicher.
»Der landet letztendlich als Konglomerat im Zinksarg, wenn man ihn da herausgeschnitten hat«, bemerkte Lucy zu einem der Unfallexperten, und zu Stan gewandt: »Wenn ich Blut- und DNA-Proben genommen habe, bin ich mit ihm fertig. Er kommt mir nicht auf den Tisch. Bei mehr als hundert Todesursachen auf einmal fühle ich mich nicht mehr zuständig für eine Autopsie.«
Lucy konnte das so bestimmen. Sie war von Haus aus Pathologin und als Chief Coroner mit Leichenbeschau und Ermittlung der Todesursachen beauftragt. Sie agierte in einer eigenständigen Behörde des County-Distrikts und unterstand nicht wie Wrozeck dem Sheriff, sondern berichtete direkt an die Staatsanwaltschaft.
Was die hundert Todesursachen im Falle des zerquetschten Beifahrers anging, da zweifelte Stan nicht eine Sekunde an ihrer Einschätzung.
Warum er Lucy benachrichtigt und hergebeten hatte, konnte er nicht so recht sagen. Es handelte sich schließlich nur um eine Unfallaufnahme, wenn auch die Aufnahme eines besonders grässlichen Unfalls. Um den Hergang abzuklären, waren ja eigentlich die üblichen Experten vor Ort.
Doch wollte er diese Kollegin aus der Abteilung Forensik gerne dabeihaben. Sie verfügte über eine gute Intuition und eine geradezu detektivische Spürnase, entdeckte Dinge vor Ort, die andere möglicherweise übersehen hätten.
Außerdem wusste Stan, dass er sie heute am Sonntagvormittag nicht von irgendwelchen familiären Pflichten abhielt. Sie war Single und hatte ihm schon mehr als einmal gesagt, dass ihr der Sonntag immer als der langweiligste Tag der Woche erschien.
»Der tote Fahrer ist Corey Grant aus Eureka«, merkte der Polizeifotograf an. Einer der Unfallermittler bestätigte das. Auch Lucy erkannte denjenigen der beiden Toten, der immerhin noch rein äußerlich identifizierbar war.
Sie hatten die verklemmte linke Wagentür mit vereinten Kräften schließlich doch noch öffnen können und nicht auf den Einsatz von schwerem Gerät durch die Feuerwehr warten müssen.
Den lose baumelnden Kopf des Unfallopfers hatte Lucy behutsam vom Brustbereich hochgehoben und auf der Sitzpolsterung nach hinten gelehnt. Er kippte ihr etwas zu weit zurück, weil die Nackenstütze ja fehlte.
Stan trat hinzu. Das Gesicht des Toten, das unmittelbar über der klaffenden Brustwunde gelegen hatte, war blutbesudelt. Immerhin konnte man es noch ein Antlitz nennen, nicht von Verletzungen entstellt, allerdings verzerrt durch Horror und Grauen.
Seine aufgerissenen Augen starrten nun senkrecht nach oben. Der Mund war ebenfalls weit geöffnet.
In dieser Dramatik sah er fast noch lebend aus, als würde er gleich heftig mit den blutigen Händen um sich schlagen, den Kopf aufrichten und dabei ganz furchtbar brüllen.
»Vielleicht hat er das ja noch getan, vor Angst geschrien«, dachte Stan beklommen.
»Nach dem Aufprall hat der gar nichts mehr gespürt«, sagte Lucy in seine Gedanken hinein. »Er ist so hart mit dem Hinterkopf auf die Nackenstütze aufgeschlagen, dass sie abfiel, nachdem sie ihm zuvor noch das Genick brach«, fuhr sie fort. »Gleichzeitig durchstieß ihm die vorschießende Lenksäule wahrscheinlich das Herz, zerriss zumindest die Aorta. Das kann ich dir dann nach der Obduktion genauer sagen.«
»Das meinst du jetzt aber nur ironisch«, erwiderte Stan. »Du findest doch sowieso immer nur das, was du eh schon vermutet hast.«
Im Gegensatz zu vielen ihrer Berufskollegen äußerte sie ihre Vermutungen stets gern an Ort und Stelle und nicht erst nach dem Sezieren der Leiche im Institut.
Dort an ihrem Tisch bestätigte sie bei der gründlichen Untersuchung all die Dinge, die sie vorher schon gewusst, geahnt und – auf jeden Fall – bereits geäußert hatte.
Manchmal fragte sich Stan, ob das wirklich die richtige wissenschaftliche Arbeitsweise sei, sich alles genau vorzustellen und dann darauf hinzuarbeiten, es bei der Obduktion möglichst zu bestätigen.
Doch er vertraute ihren guten Instinkten, ihrem spezifischen Bauchgefühl, wie sie es selbst nannte. Sie erahnte eben alles richtig. Was machte es da für einen Unterschied, wenn sie stets den zweiten Schritt vor dem ersten nahm?
Den Holzindustriellen Corey Grant kannte Wrozeck nicht etwa persönlich, sondern lediglich aus den Zeitungsberichten des Regionalblatts heraus. Seinen Dienst als Police Officer in der nordkalifornischen Küstenstadt Eureka versah Stan zwar bereits seit einem knappen Jahr, doch war ihm der Mann nie in persona begegnet.
Grant besaß das größte Sägewerk vor Ort, stand somit an der Spitze der Holzbarone, die Eureka einst regierten und die zum Teil auch heute noch großen Einfluss und erklecklichen Reichtum besaßen.
»Außer Corey und seinem Begleiter befand sich sonst keiner im Wagen«, ließ sich gerade Gerry, einer der Unfallermittler, vernehmen.
»Ist auch besser so«, meinte Stan trocken. Die Rücksitze waren als solche immerhin noch gut erkennbar. Ganz offensichtlich hatte da niemand gesessen.
»Im Fond angeschnallt hätten sie durchaus eine Überlebenschance gehabt, bei einer so stabilen Limousine«, musste Lucy mal wieder anmerken. »Ein Gemüt wie ein Metzgerhund«, dachte Wrozeck, »obwohl sie nicht so aussieht wie einer.«
Die Pathologin war von zierlicher Statur mit großen rehbraunen Augen unter dunkelblonden Locken. Sie befand sich meist in Bewegung, wuselte auch hier eifrig herum. Fast schon hyperkinetisch, wie Stan fand.
Sie entsprach nicht seinem idealen Frauenbild, ließ sie doch als sehr schlanke Person die von ihm geschätzten weiblichen Rundungen vermissen.
»Regelrecht dürr ist sie. Trotzdem achtet sie ständig auf ihre Figur. Vielleicht leidet sie unter Essstörungen«, sinnierte er, obwohl es ihn natürlich nichts anging.
Jedoch ihre fachliche Kompetenz, verbunden mit – recht zuverlässigen – intuitiven Eingebungen, machten sie zu seiner kongenialen Partnerin – in beruflichen Belangen.
Ihre Bemerkung zur Stabilität des Bentleys schien ihm zutreffend. Schließlich war der so robust, dass ordentlicher Schaden auch an dem Mammutbaum entstand, in den er sich hineingebohrt hatte.
Stan schaute traurig auf den Baum. Als Naturliebhaber bedauerte er die Co-Lateralschäden, die ein solches Unglück mit sich brachte.
Wie mochte die Rinde dieser 500 Jahre alten Sequoia aussehen, wenn man das Blech aus ihr herausgeschnitten hatte? Ein Baumchirurg könnte es sicher wieder richten, versuchte er, sich zu beruhigen.
Doch es gab auch einen irreparablen Schaden – nicht an dem Riesen, sondern eher am Mikrokosmos, wenn man es so ausdrücken wollte.
Den hatte er bereits zuvor bemerkt, und es ging ihm nicht aus dem Kopf, trotz des grausamen Anblicks der beiden toten Wageninsassen.
Es war eben diese Beobachtung, die ihn zu seinem Selbstgespräch und der geistesabwesenden Äußerung über Grab, Gräben und Gruben veranlasste.
Schon hastete er wieder um das Auto herum, um seine Entdeckung noch einmal genauer zu inspizieren. Er stand nun am Heck des Fahrzeugs und starrte auf die Spur, die das rechte Hinterrad tief durch den sumpfigen Untergrund gezogen hatte, auf einer Länge von knapp zwanzig Metern.
»Treten Sie doch bitte mal zur Seite, Stan«, bettelte der Polizeifotograf. Aber Wrozeck mochte im Moment so gar nicht seine Position am Wagenheck aufgeben, wo er sich tief hinabbückte.
In all dem Chaos murmelte er inzwischen wieder still und von all den anderen unverstanden vor sich hin.
Unter dem rechten Hinterrad befand sich eine Mulde im immer feuchten Straßengraben. Genau die Stelle interessierte ihn besonders und ließ ihn zeitweilig seine dienstlichen Pflichten vergessen.
Da sahen einige längliche, schuppig-silbrige Streifen unter dem schwarzen Reifenprofil hervor, wie ganz dünne, aufgeplatzte Schläuche. Die schimmerten dort im Halbdunkel, und Stan waren sie eben bereits aufgefallen.
Sein fachmännischer Blick hatte ihn sogleich erkennen lassen, was er hier vor sich hatte, und diese Erkenntnis bekümmerte ihn als Naturfreund zutiefst. Es handelte sich nämlich um zerquetschte Reptilien- und Amphibienleiber.
Jetzt ging er zur näheren Begutachtung gänzlich in die Hocke und konnte alles genauer betrachten: Es hatte wohl drei bis vier kleine Nattern und ebenfalls einige Lurche und Molche erwischt. Bei Ersteren handelte es sich vor allem um sogenannte Garter Snakes, zierliche, mit auffälligen Streifen gemusterte Schlangen, eine in Kalifornien verbreitet vorkommende Art.
Ein Exemplar mit rötlichen Kringeln auf seiner ansonsten anthrazitfarbenen Schuppenhaut gehörte allerdings zu den Strumpfbandnattern, in dieser Region ganz selten zu finden. Ihr Tod betrübte ihn besonders.
Der Wagen war mit der Hinterachse – tatsächlich und ausgerechnet – in eine Schlangengrube abgerutscht.
Traurig sah er auf die Reste der glitzernden, kleinen Leiber.
Solche Erdlöcher, in denen diverse Arten nebeneinander lebten, stellten eine Rarität dar, zumindest in dieser Gegend. Die Monokultur der urzeitlichen Nadelwälder bot eigentlich wenig an Chancen für Wesen, die Sumpf und morastiges Wasser liebten.
Das hiesige Feuchtbiotop war allein dem Highway zu verdanken, weil man beim Straßenbau eine Schneise durch die Redwood Groves schlagen musste, die Entwässerungsgräben erforderlich machte.
Das darin stehende Brackwasser bildete einen Lebensraum für eine Vielzahl an Klein- und Kleinsttieren, die es sonst eher nicht in diese Wälder verschlagen hätte. Und jetzt waren sie zu Opfern des Highways geworden, die Bewohner dieses winzigen Refugiums.
Das ging ihm nun unsinnigerweise durch den Kopf, als er am Hinterrad des Bentleys hockte, wo er soeben die zweite Schlangengrube seines Lebens entdeckt hatte – vielleicht auch die Letzte überhaupt, wo man die so selten fand. Wer konnte das schon wissen?
Möglicherweise winden sich in der Mulde unter dem Rad noch weitere der kleinen, schuppigen Kreaturen in Agonie, so bildete er sich ein.
Da tippte ihn jemand von hinten auf die Schulter.
Er erschrak und fuhr wie elektrisiert herum: Es war nur wieder einmal Lucy, seine »geschätzte Frau Kollegin«, wie er sie gerne gestelzt-ironisch titulierte. Er richtete sich auf.
»Ich habe hier soeben eine weitere Schlangengrube entdeckt, die zweite, die ich bislang zu Gesicht bekam«, meinte er lakonisch, denn den Ort seiner ersten Entdeckung dieser Art, den kannte sie auch.
Hilflos und resigniert wies er auf seinen aktuellen Fund. »Die Mulde ist jetzt leider total zerstört, und ihre Bewohner taugen wohl nur noch für deine Kadaversammlung.«
Lucy war wie er Reptilienfreundin, mit dem Unterschied, dass sie die diversen Schuppenträger gerne präparierte und sorgfältig etikettiert in Apothekerflaschen mit Formaldehydlösung aufbewahrte. »Die mag Totes lieber als Lebendes«, pflegte Stan ihr gerne zu unterstellen.
Sie ging nun selbst in die Knie und inspizierte die Reste der silbrigen Leiber. »So ein verdammter Mist«, entfuhr es ihr. »Die sind alle dahin, das reinste Schlangen-Grab.«
Stan registrierte, dass sie einen Begriff verwendete, der ihm eben selbst im Kopf herumspukte.
»Entgegen meiner Vermutungen und Verdächtigungen hätte sie die Tierchen wohl doch lieber lebendig vorgefunden«, so dachte er auch. Vielleicht tat er ihr Unrecht, was ihre unappetitliche Lust an Einweckverfahren in Formalin und Co anging, und sie nahm diesmal davon Abstand. Doch ihre nächste Bemerkung machte seine Hoffnung wieder zunichte.
»Ich werde später, wenn sie den Wagen weggebracht haben, einige mitnehmen, damit sie wenigstens noch der Wissenschaft zugutekommen.«
Natürlich musste sie die armen, kleinen Silberleichen ihrer berühmt-berüchtigten Sammlung einverleiben. Sie würde sie wieder zusammensetzen und in Brennspiritus – oder was auch immer – einlegen. Einfach widerlich, auch wenn man es unter diesen Umständen als »Schadensbegrenzung« sehen konnte.
»Hast du die beiden toten Gelbbandsalamander schon gesehen?«, riss sie Wrozeck aus seinen Gedanken und wies zu einem besonders tiefen Reifenabdruck im Graben hin, den die rechtsseitigen Autoräder gefräst hatten.
Sie zeigte auf eine Stelle, die sich etwa fünf Meter hinter dem Wrack befand. Die hatte Stan nicht untersucht, insofern war ihm da auch noch nichts aufgefallen.
Eilig trat er hinzu und schaute ebenfalls angestrengt dorthin, wo sie mit ihrer Nase nun fast über das Gras schnüffelte.
»Die waren wohl ein Stückchen außerhalb der Grube, als es passierte«, meinte Lucy, »leider aber nicht außerhalb der Gefahrenzone.«
Stan beugte sich herab und erkannte nun das erste Exemplar. Zwar hatte er soeben noch zwei fürchterlich entstellte menschliche Leichname anschauen müssen, dennoch wurde es ihm jetzt fast speiübel.
Eines der Tiere lag genau in der Radspur, also vom Reifen in voller Länge überrollt. Trotz oder wegen des nachgebenden Grasuntergrunds waren ihm seine Innereien aus allen natürlichen Körperöffnungen hervorgequollen.
Lucy stellte das gleich mal klar: »Wegen der weichen Unterlage ist seine Außenhaut nicht geplatzt, sonst wäre der Salamander nur noch Brei.«
Wrozeck hätte das vorgezogen, eine kaum noch kenntliche schleimige Masse, unter der man sich nichts mehr vorstellen konnte.
»Sie wird ihn doch nicht etwa präparieren wollen?«, kam es ihm entsetzt in den Sinn.
»Der Zweite ist zum Glück besser erhalten. Den nehme ich mir mit«, beantwortete Lucy seine nicht geäußerte Befürchtung.
Das zweite Salamander-Opfer befand sich etwa einen Meter vom ersten entfernt, dabei etwas höher, wie auf einem leichten Absatz liegend, auf einer Art schmaler Terrasse des tiefen Straßengrabens. So brauchte sie sich beim Betrachten nicht gerade so tief zu bücken.
Dieser Salamander lag auf dem Rücken, die Beine gleichmäßig weggestreckt. Man hätte glatt eine Symmetrieachse durch ihn legen können.
Er war wohl durch den Aufprall beiseite geschleudert worden und ebenfalls mausetot, wenn man das von einer Amphibie so sagen kann. Längs seines weißen Bauchs verlief eine Art dunkler Schleimspur, hässlich-schmierig-ölig.
Nun griff Lucy mit der polyäthylen-behandschuhten Rechten beherzt zu und ließ die Echse dicht vor Stans Nase am Schwanz herabbaumeln.
»Sieht so deren Blut aus?«, fragte er und wies auf den Bauchstreifen der öligen Flüssigkeit.
»Nein, keineswegs. Ihr Blut ist grünlich. Diese Schmiere ist etwas völlig anderes. Ich könnte mir schon denken, um was es sich handelt. Ich werde es auf jeden Fall analysieren«, tönte sie wichtigtuerisch und ließ den über 30 Zentimeter langen Salamander geschwind in eine durchsichtige Plastiktüte gleiten – in eine mittelgroße ihres reichhaltigen Sortiments.
Merkwürdigerweise sprach sie ihren Verdacht nicht aus, wo sie doch sonst so gerne spekulierte. Doch Stan glaubte schon zu wissen, was sie meinte.
»Wer sind die beiden Toten?«, donnerte es plötzlich hinter und über ihnen. Stan kam rasch aus seiner gebückten Haltung hoch und drehte sich um. Er wusste bereits vom Klang der Stimme her, wer sich da in seinem Rücken aufgebaut hatte.
Lucy ließ sich indes beim Eintüten nicht stören, blickte nicht einmal auf. Auch sie wusste, wer das war, und sie wusste auch, dass die Frage in erster Linie Wrozeck galt und sie sich erst einmal nicht zu kümmern brauchte.
Stans Vorgesetzter, Sheriff Craig O’Connor, stand breitbeinig im Graben und starrte jetzt angewidert auf den Inhalt des Plastikbeutels in Lucys Händen.
Stan folgte seinem Blick und antwortete ganz mechanisch: »Zwei Gelbbandsalamander. Einen davon stellen wir gerade sicher.«
Die Antwort war dazu angetan, bei O’Connor augenblicklich einen Tobsuchtsanfall auszulösen, und das tat sie dann auch.
Sein Gesicht rötete sich beängstigend, die Augen traten ihm fast aus den Höhlen, und seine Mundwinkel verzogen sich noch beachtlich tiefer nach unten als ohnehin schon.
Jetzt riss er sein Maul auf und schrie los: »Was soll die gequirlte Scheiße, Stan? Wer die Verunglückten im Wagen sind, will ich wissen!«
»Zu ihrer Identifikation kann ich noch nichts sagen«, antwortete Wrozeck knapp. »Einer wurde von einem Kollegen der Spurensicherung als Corey Grant benannt. Das muss ich aber noch verifizieren, weil ich Grant nicht persönlich kenne.« O’Connor kannte den Holzmogul, der mit ihm fast gleichaltrig war. Sogar von Kindesbeinen an kannte er den. Wenn ihn sein Tod entsetzte, ließ er es sich aber keineswegs anmerken. »Muss wohl so sein. Es ist sein Bentley, das sah ich gleich«, knurrte er nur.
»Die zweite männliche Leiche ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Mann trug diese Breitling-Uhr«, berichtete Stan weiter.
Sein Chef riss ihm das dargebotene Plastiksäckchen mit der Armbanduhr unwirsch aus der Hand, betrachtete es kurz und nahm es dann wie selbstverständlich an sich.
Er war weiterhin wütend auf Wrozeck, seinen Deputy, stampfte sogar in der Rinne stehend mit seinem Stiefel auf.
Dass er dabei genau in den Überresten des zweiten Gelbbandsalamanders stand, bemerkten Stan und Lucy sehr wohl, der Sheriff selbst aber nicht.
»Ich erwarte Ihr ausführliches Protokoll zum Unfallhergang – und zwar noch heute Nachmittag«, herrschte er seinen Stellvertreter an.
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, drehte er sich abrupt um die eigene Achse, stieg entschlossen aus dem Graben und ging zurück zum Straßenrand.
Von dort schaute er sich dann doch noch einmal um: »Ich verständige Corey Grants Witwe. Die weiß wahrscheinlich auch, wer bei der Fahrt neben ihm saß.«
Sprach es, stapfte mit den schmutzigen Stiefeln in sein Dienstfahrzeug, einen schwarzen SUV der Marke Chevrolet Tahoe, und brauste rasch davon.
»Er ist kein feinfühliger Mann, dein Chef. Du hättest es besser selbst der Witwe mitgeteilt«, sagte Lucy mit Bestimmtheit.
Stan nickte ihr bestätigend zu, war aber insgeheim froh, dass ihm sein Vorgesetzter diese unangenehme Aufgabe abnahm. Er überlegte noch, warum O’Connor die Breitling-Armbanduhr einfach so mitnahm. Vielleicht hatte er bereits eine Vermutung, wem sie gehörte.
»Wie hältst du es nur mit ihm aus?«, sprach Lucy in seine Gedanken hinein. Das fragte sich Stan bisweilen auch.
Ein Löschzug der Feuerwehr und ein Notarztwagen waren von vorneherein mit ausgerückt. Als es keine Verletzten zu bergen gab, fuhr der Notarztwagen alsbald wieder ab.
Nun standen schon zwei Zinksärge bereit für die Leichen, die die Feuerwehrleute aus dem Wagen schnitten, nachdem die Unfallermittler grünes Licht dafür gegeben hatten.
Die Fräse kreischte durch die Waldesstille, als würden Bäume umgesägt.
Der Highway, der hier als sogenannte »Avenue of Giants« durch den Wald von Mammutbäumen führte, musste für die Bergungsarbeiten gesperrt werden.
Da es sich nur um einen sogenannten Scenic Bypass, eine landschaftlich schöne Nebenstrecke, handelte und die US-101 in einiger Entfernung parallel verlief, gab es dabei kein Verkehrschaos, sondern nur einige enttäuschte Gesichter von Touristen, denen die Fahrt über die berühmte Straße der Baumriesen verwehrt wurde.
An den Zufahrten halfen die Ranger des Naturschutzgebietes den Motorradpolizisten bei der Umleitung des Verkehrs.
Einige Presseleute warteten schon ungeduldig hinter den Absperrbändern, doch Stan als Stellvertreter des Sheriffs erlaubte erst, dass sie näherkamen, nachdem die Leichen in den Zinksärgen geborgen und diese geschlossen waren.
Allzu nahe ans Autowrack ließ er sie sowieso nicht heran.
Die beiden Reporter vom Eureka Star und von den Garberville Daily News, die jeweils ihre Fotografen mitgebracht hatten, waren Stan bereits bekannt.
Sie hießen beide Jeff, wobei der Ältere, der Eureka-Jeff, mit Anfang 40 in etwa in Wrozecks Alter war.
Den kannte er persönlich und hatte einen guten Eindruck von ihm gewonnen. Seine Zeitungsberichte erschienen Stan stets ausgewogen, im Grundton liberal – und das in einer Stadt, wo mehrheitlich republikanisch gewählt wurde.
Sein Herausgeber, im Übrigen ein Freund und Gesinnungsgenosse von Sheriff O’Connor, war als äußerst konservativ einzustufen, eher rechter Flügel der Republikaner.
Beim Gedanken an seinen Chef verwunderte es Wrozeck kurz, warum der nicht hiergeblieben war, um den Zeitungsleuten und dem Team vom regionalen TV ein Interview zu geben. Der Sheriff zeigte sich doch sonst so publicity-geil.
Doch wahrscheinlich plante O’Connor an diesem Sonntag, nachdem er die Sache mit Grants Witwe erledigt hatte, noch andere Dinge, die ihm sogar wichtiger erschienen, als sein Auftritt in der Öffentlichkeit: Das Fliegenfischen im Klamath oder im Trinity River betrieb er sonn- und feiertags mit Leidenschaft.
Jetzt drängten sich die Berichterstatter um den Deputy, hielten ihm ein paar Mikrofone vor die Nase. Blitzlichter der Fotografen, eine Kamera. Lästig war das!
Egal, Stan gab nun Presse und TV Auskünfte zum Unfallhergang. Nur so knapp wie möglich, denn er tat das alles andere als gern.
Viel war da sowieso nicht zu sagen: Der Bentley verunglückte aus der Fahrtrichtung Eureka kommend. Es gab zwei männliche Leichen, deren Identität noch geklärt werden musste. Punktum.
»Das scheint mir der Bentley von Corey Grant, dem Sägewerksbesitzer, zu sein«, meinte einer der Journalisten. »Das sagt aber noch nichts darüber aus, wer dringesessen hat«, blieb Stan hart. Ende der Durchsage. Endlich zerstreute sich die Meute.
»Der Beifahrer von Corey Grant heißt Hugh Wilson«, schnarrte O’Connors Stimme zwei Stunden später aus Stans Handy, als dieser sich gerade selbst auf der Heimfahrt befand.
Der Sheriff hatte es von Grants Witwe Emily erfahren.
Bevor die total schockierte Ehefrau von ihrem Hausarzt mit einem Beruhigungsmittel behandelt wurde, konnte sie noch zu diesem wichtigen Punkt aussagen: Ihr Mann Corey war wie jeden Samstagabend mit Hugh zur Pokerrunde nach Miranda unterwegs, einem kleinen Ort, der circa 50 Meilen südlich von Eureka inmitten der Redwoods lag.
O’Connor sah sich daraufhin veranlasst, gleich zu Wilsons Frau Kathleen weiterzufahren, die ihm entsetzt bestätigte, dass ihr Gatte am Samstagabend wie jede Woche von Corey abgeholt worden sei.
Dann identifizierte sie weinend seine Armbanduhr, die Breitling, die O’Connor mitgenommen hatte und ihr nun zeigte.
Damit musste es sich bei dem zweiten Toten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um Hugh Wilson handeln.
Beide Frauen hatten ihre Männer bis dato noch nicht vermisst, weil es manchmal vorkam, dass sie nach dem Pokern spät in der Nacht nicht mehr nach Hause fuhren, sondern im Miranda Gardens Resort übernachteten.
Stan war überaus erleichtert, dass ihm der Sheriff auf diese Art die Benachrichtigung der Angehörigen abgenommen hatte.
Jetzt drückte der ihm nur noch die unangenehme Pflicht aufs Auge, die Witwen näher zu befragen.
»Das kann aber bis morgen in der Frühe warten, Stan«, tönte die Stimme seines Chefs jovial. Seine Wut auf den Deputy schien mal wieder rasch verraucht zu sein. Man konnte Sheriff O’Connor immerhin nicht als nachtragend bezeichnen.
»Ich habe die beiden Frauen erst einmal in Ruhe gelassen, damit sie Gelegenheit haben, ihre Angehörigen zu informieren und Trauerarbeit zu leisten«, verkündete er salbungsvoll und fügte in eher konspirativem Tonfall hinzu: »Schließlich habe ich mit meinem freien Sonntagnachmittag auch noch was anderes vor, als Witwen zu trösten.«
Klar, Fliegenfischen.
»Denken Sie mir an das Protokoll, Stan«, hielt er für nötig anzumahnen, bevor er das Gespräch beendete. Er wusste nämlich genau, dass sein Deputy lästige Routinearbeiten schriftlicher Natur nicht sonderlich schätzte.
»Das Protokoll kann jetzt ebenfalls bis morgen warten«, dachte Stan im Stillen.
Am frühen Montagmorgen machte Wrozeck sich in seinem Oldsmobile auf den Weg, um die beiden Ehefrauen der Toten aufzusuchen.
Das gehörte zunächst noch ganz zur routinemäßigen Aufnahme eines Unfalls mit fatalen Folgen, dass die Angehörigen zu den näheren Umständen vernommen wurden.
Weit musste er nicht fahren. Beide Holzmoguln besaßen zwei ganz ähnlich aussehende Villen im besseren Wohnviertel Eurekas, jede mit einem großen Park von altem Baumbestand umgeben und nur wenige Blocks voneinander entfernt.
Hier standen noch viele der hochherrschaftlichen Häuser im viktorianischen Baustil inmitten von gepflegten Parkanlagen. Als »Mansions« wurden diese großzügigen Wohnsitze landläufig bezeichnet.
Sie lagen abgerückt von der Straße und mit eigenen Zufahrten, deren verschließbare Gatter in der Regel weit offenstanden. Hinsichtlich Einbruchskriminalität war Eureka im Norden Kaliforniens als relativ sichere Stadt einzustufen.
Stan steuerte zunächst Hugh Wilsons Villa an, wo ihm unter säulengeschmücktem Portal ein Hausbediensteter öffnete, bei dem er sich anmelden musste, ein veritabler englischer Butler. Bei Wilsons ging alles offenbar »very British« zu.
So zeigte sich Mrs. Kathleen Wilson, die Stan alleine in ihrem Teesalon empfing, auch sehr um Haltung bemüht. Sie versuchte, trotz des plötzlichen und unerwarteten Todes ihres Gatten die Fassung zu bewahren.
Bei seinem Eintreten erhob sie sich und kam ihm in gemessenem Schritt entgegen, eine großgewachsene und irgendwie grobknochig und kantig erscheinende Mittfünfzigerin. Sie trug einen dunkelanthrazitfarbenen Rock und eine weiße Bluse. Ihre Kostümjacke hing über ihrer Stuhllehne, und das war dann auch die einzige Lässigkeit, die sie sich erlaubte.
Im Gespräch bestätigte sie ihm, dass es zu den Gewohnheiten der beiden Männer zählte, samstags gegen 20 Uhr gemeinsam loszufahren, immer in Grants Bentley. »Dessen Chauffeur hat am Wochenende frei, daher fuhr Corey auch stets persönlich.«
»Es kam also nie vor, dass ihr Gatte mit seinem Wagen fuhr und Mr. Grant mitnahm?«, wollte Stan von ihr wissen.
Sie schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. »Unser Fahrer hat am Samstagabend ebenfalls frei, und Hugh mochte nicht selbst Auto fahren.«
Sie machte eine kleine, verlegene Pause, entschied sich dann aber noch zu erklären: »Bei diesen Pokerrunden wurde immer viel getrunken. Da machte Hugh keine Ausnahme. Nur Corey, der war alkoholabstinent. Deshalb fuhr er.«
»Kam Mr. Grant immer mit demselben Wagen vorgefahren?« Kathleen Wilson bejahte die Frage.
»Seine Frau Emily wollte ihren eigenen Wagen zur Verfügung haben. Sie benötigte ihn in der Regel Sonntagfrüh, um in die Kirche zu fahren. Zu dem Zeitpunkt waren Corey und Hugh ja bisweilen noch gar nicht zurück, wenn es besonders spät wurde und die beiden vor Ort übernachteten.«
Unwillkürlich seufzte sie leise auf und tupfte sich mit einem Taschentüchlein die unteren Augenränder ab, doch es schien ihr unangenehm und peinlich zu sein, ihre Gefühle zu zeigen.
Stan vermutete, dass sie sich sehr beherrschen musste, war ihr irgendwie auch dankbar dafür, dass sie sich so bemühte, Contenance zu wahren. Als er vorsichtig anfragte, ob er ihr irgendwie behilflich sein könnte, hatte sie sich bereits wieder im Griff.
»Nein, danke. Ich erwarte meinen Sohn heute noch aus San Francisco zurück«, antwortete sie nur ruhig und erläuterte kurz darauf: »Harold studiert nämlich an der Berkeley University.« Und es hörte sich sogar ein wenig stolz an.
»Harry hat mich am Samstag hier in Eureka besucht, blieb über Nacht in der Stadt und fuhr erst gestern Morgen wieder ab.«
Stan registrierte beiläufig, dass sie in der Einzahl sprach, als sei der Sohn nicht wegen seiner Eltern, sondern nur wegen seiner Mutter am Wochenende vorbeigekommen. Auch sagte sie, er habe »in der Stadt« und nicht etwa »bei uns« übernachtet. Aber das musste ja nichts heißen.
»Er war wohl gerade in seiner Studentenwohnung in San Francisco angekommen, als ich ihn anrief und ihm mitteilen musste, dass Hugh verunglückt ist«, sprach sie in seine Gedanken hinein. »Er wollte postwendend wieder aufbrechen, um mir beizustehen, doch ich überzeugte ihn, nach der langen Fahrt erst noch eine Nacht auszuruhen. Er kommt heute zurück und wird mir eine große Hilfe sein«, betonte sie.
Stan nickte verständnisvoll. Die Fahrtstrecke bis San Francisco betrug immerhin fast 300 Meilen.
Gleichzeitig vermerkte er sich im Hinterkopf, dass der Sohn in seinem Heimatort war, als der Vater verunglückte, mochte aber nun keine näheren Nachforschungen mehr anstellen, nicht einmal Gedanken darüber verlieren. Es handelte sich schließlich um einen Unfall, »dem äußeren Anschein nach«, wie Stan sich im Stillen korrigierte; es erschien ihm verfrüht, einem vagen Gefühl nachzugehen.
Es war für ihn ersichtlich, dass sich hinter der Fassade von Selbstbeherrschung und Höflichkeit bei Kathleen Wilson doch Betroffenheit, Trauer und möglicherweise auch eine gewisse Hilflosigkeit verbarg.
»Kann ich Ihnen – falls nötig – später noch einige Fragen stellen?«, fragte Stan sie beim Abschied.
»Ja, jederzeit«, beeilte sie sich zu antworten. »Nur im Moment bin ich dankbar für etwas Ruhe.«
Das leuchtete ihm ein, und er war erleichtert, sich rasch zurückziehen zu können.
Corey Grants Frau Emily reagierte bei seinem Besuch schon spürbar emotionaler. Sie empfing ihn ebenfalls alleine in ihrem Salon.
Nachdem sie ihm die Hand gegeben und sein Kondolieren entgegengenommen hatte, kauerte sie sich wieder in ihren Sessel und weinte, vergaß sogar, dem Besucher einen Platz anzubieten. Stan stand ganz hilflos daneben.
Die zierliche Person in ihrem schwarzen Seidenkleid machte einen zerbrechlichen Eindruck auf ihn. Sie wirkte wie ein trauriger, kleiner Vogel.
Der Deputy fühlte sich heilfroh, dass sie es schon wusste und dass nicht er der Überbringer der schlimmen Nachricht war.
Nachdem sie ihn schließlich fahrig auf einen nächststehenden Stuhl gewunken hatte, versuchte sie zumindest, mit ihm zu reden: »Die beiden waren doch nur wie gewöhnlich auf dem Weg zu ihrer wöchentlichen Pokerrunde in Miranda, und jetzt …«, sie schluchzte auf »… kehren sie nie mehr zurück.«
Stan hatte sich auf dem sehr unbequemen Stuhl mit hoher Lehne niedergelassen und rutschte ein wenig hin und her.
Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab und machte in diesem Augenblick Anstalten, sich unbeholfen aus ihrem Sessel aufzurichten.
»Möchten Sie eine Tasse Tee trinken, Officer«, fragte sie mit zittriger Stimme, sich an so etwas wie Gastgeberpflicht erinnernd, aber er wehrte ab.
»Nein danke, machen Sie sich bitte keine Umstände«, antwortete er rasch. Sie hätte lediglich nach dem Dienstmädchen zu klingeln brauchen. Er sah die kleine silberne Schelle am Ende des langen Couchtischs stehen. Doch so mühsam, wie sie eben versucht hatte, aus ihrem Sessel aufzukommen, wäre selbst das sehr anstrengend für sie gewesen, überlegte Wrozeck. »Sie bewegt sich nicht gut«, dachte er. »Möglicherweise ist sie krank.«
Sie bestätigte ihm dann im Gespräch alles, was er von Kathleen Wilson bereits über die samstagabendlichen Gepflogenheiten der beiden Männer gehört hatte.
Sie kamen offenbar mit Bekannten aus einem weiteren Umkreis zusammen, und ihr Treffpunkt lag in etwa in der Mitte der verschiedenen Wohnorte.
Stan versuchte erst gar nicht, besonders ins Detail zu gehen, um die Witwe weitestgehend zu schonen. So erkundigte er sich nicht bei ihr, ob ihr Mann ein umsichtiger Fahrer gewesen sei. »Corey war am Steuer besonnen und in all den Jahren noch nie in einen Autounfall mit Personenschaden verwickelt«, hatte ihm O’Connor gesagt, der es wissen musste, und das genügte ihm momentan. Nur eine zusätzliche Frage erschien ihm noch wichtig.
»Können Sie mir etwas zum technischen Zustand des Bentleys sagen«, hob er an. »Hatte Ihr Gatte im Vorfeld irgendwelche Probleme mit dem Wagen?«
Sie sah ihn an und schien zu überlegen. Dann fiel ihr ein: »Nein, der war doch gerade noch in einer gründlichen Inspektion gewesen, in Hank Marshalls Werkstatt hier am Ort. Erst am Freitag hatte Corey ihn da abgeholt.« Sobald sie den Namen ihres Mannes nur aussprach, musste sie schon wieder weinen.
»Das hat im Moment alles keinen Zweck«, dachte sich Stan und verzichtete auf zusätzliche Fragen.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit musste er beide Witwen später noch einmal sprechen, aber das hatte Zeit. Man würde viel besser darüber reden können, wenn sich die Frauen wenigstens wieder ein wenig gefasst hatten.
Er stand auf und ging auf Emilys Sessel zu, hätte ihr gern tröstend die Hand auf die Schulter gelegt, doch das erschien ihm zu distanzlos und als nicht angebracht in seiner Position. Er war schließlich kein Freund oder Vertrauter der Familie.
So verabschiedete er sich förmlich und streckte ihr nur die Rechte hin.
Er sah auf sie herab. Sie mochte wie Kathleen Wilson Mitte 50 sein. Früh ergraut und hager, wie sie aussah, erschien sie ihm aber eher wie eine über 60-jährige. Sie und Corey waren wohl kinderlos geblieben.
Sie tat Stan in ihrer Einsamkeit und ihrem Kummer unendlich leid.
Nun fuhr Stan gar nicht erst ins Police Department zurück, wo ihn die unangenehme Aufgabe des Protokollschreibens erwartet hätte, sondern er machte sich gleich auf den Weg in Lucys Labor, das in der Kleinstadt Garberville lag, eine gute Fahrtstunde von Eureka entfernt in südlicher Richtung.
Die drei Counties Del Norte, Humboldt und Mendocino teilten sich ein forensisches Institut, dessen Team aus Lucy und ihren beiden Gehilfen Cecil und Louis bestand.
Cecil Sparks war ein Medical Examiner und ihr Stellvertreter. Sie hielt nicht wirklich viel von ihm. Er arbeitete zwar pingelig und akkurat, aber ohne einen Hauch von Intuition.
Louis Finch erschien Stan als ein recht intelligenter, junger Mann, der aber noch etwas mehr Anleitung gebraucht hätte, um eigenständiger zu werden.
Lucy brachte in ihrer Hektik nicht die nötige Geduld dazu auf, den neuen Mitarbeiter gründlich einzuarbeiten. Als Laborchefin war sie nicht wirklich teamfähig.
Doch schließlich und letztendlich konnte sie nicht alles selber machen, auch wenn es ihr so am liebsten gewesen wäre.
Wrozeck nahm auf seiner Fahrt den Abzweig zum Scenic Bypass, um noch einmal an der Unglücksstelle vorbeizukommen.
Wieder fragte er sich, warum dieser Unfall, der am Samstagabend geschah, erst Sonntagfrüh gemeldet wurde.
Das Sträßchen war in den Abendstunden sowieso wenig befahren, und zudem konnten Leute, aus Richtung Eureka nach Südwesten unterwegs, nichts sehen, denn ihnen stand der mächtige Mammutbaum im Blickfeld, in den der Wagen von der anderen Seite hineingerast war.
Automobilisten, die von Garberville kommend die »Allee der Giganten« in nördlicher Richtung fuhren, die hätten allerdings etwas sehen können.
Vielleicht fiel ihnen der havarierte Wagen auf, doch sie hielten es nicht für einen gerade passierten Unfall. Da lief schließlich kein Mensch auf dem Highway herum, winkend und um Hilfe schreiend. Und das Ausmaß der Zerstörung war von der Heckansicht des Wagens nicht einschätzbar.
So hatten Durchfahrende möglicherweise geglaubt, es sei über den Tag irgendwann jemand im Graben gelandet, die Insassen bereits weg und ein Abschleppdienst benachrichtigt.
Die Unfallopfer im total zerstörten Bug konnte man im Vorüberfahren wohl kaum ausmachen, und kurz darauf wurde es eh stockdunkel.
Einer Intuition folgend hielt er am Straßenrand. Auf der Fahrbahn hatten die Unfallermittler keine Bremsspuren gefunden, jedenfalls in der Nähe des Unfallortes nicht. Es gab auch keinerlei andere Auffälligkeiten, bis auf … ja, bis auf den öligen Spritzer auf dem Körper des toten Salamanders.
Stan ahnte von Beginn an, worum es sich dabei handelte und dass es dem Fall eventuell eine ganz andere Dimension verleihen könnte.
»Die Spurensicherung hat die ursprüngliche Fahrtstrecke des Bentleys vielleicht nicht weit genug abgesucht«, überlegte er. Und das holte er nun nach.
Erst in der folgenden Kurve fand er, was er suchte.
Der Fahrer hatte es geschafft, um diese Straßenwindung noch unbeschadet herumzuschleudern, und hier sah der Deputy Spuren einer dunkelbräunlich-öligen Flüssigkeit, bis an den Fahrbahnrand gespritzt.
Stan nahm geübt eine Probe per Spatel, die er auf ein Uhrgläschen abstrich und dieses in einer der kleinen Plastiktüten versenkte, die er routinemäßig bei sich führte. Das musste Lucy untersuchen.
Er hatte es jetzt sehr eilig, sie zu sprechen, voller Ungeduld, für seinen Verdacht eine Gewissheit zu erhalten.
Die Pathologin empfing Stan in ihrem Büro und bot ihm zunächst einen Becher Kaffee an.
Er sah ihr schon an der Nasenspitze an, dass sie etwas Wichtiges herausgefunden hatte, doch sie ließ ihn erst einmal vorsichtig einen ersten Schluck nehmen, wollte ihn wohl auf die Folter spannen. Trotz seiner inneren Anspannung spielte er mit.
»Der Verdacht erhärtet sich, dass es sich um einen Anschlag handelte«, erklärte sie dann so unvermittelt wie bedeutungsvoll, und er tat ihr den Gefallen, erstaunt aufzublicken.
Lucy hatte die genommene Probe, den Abstrich vom Bauch des Gelbbandsalamanders, zuverlässig und eindeutig analysiert.
»Laut Gaschromatographie stimmt sie chemisch völlig überein mit einer Vergleichsprobe, die ich mir in einer Autoreparaturwerkstatt vor Ort als Referenz besorgen ließ. Es handelt sich um Bremsflüssigkeit.«
»Sie wird auch identisch sein mit der Probe, die ich eben in der Nähe der Unfallstelle vom Asphalt abkratzte«, meinte Stan und übergab ihr das Plastiktütchen mit dem Uhrenglas.
»Es war mir schon klar, dass man dort noch was davon finden musste«, konstatierte Lucy. »Ich war schon drauf und dran, die Kollegen wieder hinauszuschicken. Das hat sich nun ja erübrigt.« Sie brachte die Probe unverzüglich zu ihrem Assistenten Sparks ins Labor herüber.
Als sie zurückkam, meinte Stan: »Bei dieser Limousine, die gut gewartet und gepflegt wurde, noch dazu gerade aus einer Inspektion kam, ist nun die Frage, ob man in der Werkstatt geschludert oder ob jemand absichtlich das Bremssystem manipuliert hat.«
»Und das wird am Wrack bereits von der Spurensicherung untersucht«, trumpfte sie auf, denn sie hatte ihren Befund bereits den Kollegen mitgeteilt, bevor die Staatsanwaltschaft es erfuhr. Lucy war halt eine Befürworterin des kleinen Dienstwegs.
Dass der zweite Tote ebenfalls identifiziert war, stand so ziemlich außer Frage. Die Namen der Insassen konnte man inzwischen auch in deren mitgeführten Papieren lesen, die sich nach extensiven Säuberungsarbeiten entziffern ließen.
Die Pathologin wartete, was die Leiche von Hugh Wilson anging, noch auf den DNA-Abgleich, doch nur der guten Ordnung halber.
»Schon komisch, dass es zwei Holzmoguln erwischt hat«, murmelte Stan so vor sich hin, »dabei noch die beiden bedeutendsten vor Ort, die Besitzer der größten und der zweitgrößten Sägemühle des Humboldt County.«
Lucy nickte. Sie waren ihr wohlbekannt, zählten in Eureka beide zur Prominenz, wie sie sagte.
»Falls wir es in der Tat mit einem Attentat zu tun haben, stellt sich die Frage, ob es einem oder beiden galt. Und wer wollte den oder die wohl aus dem Weg räumen?«, sinnierte Wrozeck und gab damit seiner Kollegin einmal mehr eine Steilvorlage für Spekulationen.
»Da sind viele, die sie nicht ausstehen konnten. Die erfreuten sich nicht einmal in ihrer Pokerrunde besonderer Beliebtheit«, kommentierte sie.
Neugierig, wie Lucy nun mal war, kannte sie nicht nur das soziale Gefüge ihrer eigenen Gemeinde, sondern auch das der Nachbarstadt Eureka detailliert. Sie musste doch in alles ihre Nase stecken.
»Die hatten in ihrem Umfeld eigentlich nur Feinde: bei ihren Beschäftigten wegen mieser Arbeitsbedingungen. Nachbarn redeten schlecht über sie, weil sich beide rechthaberisch und streitbar gaben, und andere Mitglieder der Community mochten sie nicht, zum Teil wohl auch aus Missgunst und sozialem Neid heraus.«