Wechsel-Blut - Kriminaler Roman von der Olympic Peninsula - Jeff Sailor - E-Book

Wechsel-Blut - Kriminaler Roman von der Olympic Peninsula E-Book

Jeff Sailor

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Beschreibung

Im Herbst 2007 nutzt der berühmte Hollywood-Regisseur Budd Coleman die Regenwälder der Washington Peninsula für die Außenaufnahmen seines neuen Vampirfilms mit dem Titel ´Wechselblut`. Während des Drehs ereignen sich grausame Morde. Police-Officer Stan Wrozeck ermittelt hier in seinem inzwischen dritten Fall, da die kapriziöse FBI-Agentin Alice wieder einmal auf seine Unterstützung angewiesen ist.

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Jeff Sailor

Wechsel-Blut

Kriminaler Roman

© 2022 Jeff Sailor

Lektorat: Norbert Tossing

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Softcover: 978-3-347-61584-7

ISBN Hardcover: 978-3-347-61585-4

ISBN E-Book: 978-3-347-61586-1

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Über den Autor

Teil I: Stan wundert sich

Teil II: Stan trifft auf Vampire

Teil III: Stan wird sich fremd

Teil IV: Stan sucht und findet

Anmerkung des Verfassers

Register

Vorankündigung

Über den Autor

Jeff Sailor wurde am 31.8.1956 in Salinas, Kalifornien, als Sohn eines US-amerikanischen Ozeanologen und einer deutschen Chemikerin geboren. Nach der Trennung seiner Eltern zog er bereits als Fünfjähriger mit seiner Mutter nach Deutschland und lebte mit ihr in Düsseldorf. Er studierte Germanistik an der Universität zu Köln, brach das Studium nach einigen Jahren aber ohne Abschluss ab und kehrte zurück in den Westen der USA zur Familie seines Vaters. Dort nahm er im Folgenden etliche Gelegenheitsjobs an. So betätigte er sich als Erntehelfer im Steinbeck Country, als Werftarbeiter in Monterey sowie als Zeitungsredakteur in Astoria, Oregon. Als freier Schriftsteller verfasste er unter anderen die Romane Jenseits von Jenen, Stark-Sturm, Schlangen-Grab, Salamander-Chor und So kühl im Grunde. Außerdem veröffentlichte er die mehrbändige Kurzgeschichtensammlung der Tossing Tales sowie weitere Storys, Poeme und Satiren. Er schreibt in deutscher Sprache und übersetzt hin und wieder eines seiner Werke ins Englische. Häufig publiziert er unter Heteronym, nennt sich dabei Alissa Carpentier oder Gudrun Tossing. Nach fünf gescheiterten Ehen, zumeist mit Protagonistinnen seiner Romane, lebt er inzwischen zurückgezogen und Pfeife rauchend in seiner vom Vater ererbten Villa in Carmel bei Monterey. Sein apricot-farbener Pudel heißt Carli V.

Wechsel-Blut

Jeff Sailor

Kriminalroman von der Pazifikküste Washingtons

Stan Wrozeck und die Toten im Regenwald

Das Singen der Wälder vom Sturm überschallt,

Zerrupft wie der Wildrose zarte Gestalt.

Komm, sei meine Liebe im Regenwald,

Komm, wenn das Krachen von Ästen wüst hallt.

(Aus: ´Ein Gewittersturm-Lied`,

Robert Frost, übersetzt von GT)

Teil I: Stan wundert sich

1) Viel Blut

Stan war entsetzt. So viel Blut hatte er ja noch nie gesehen. Wie auf einem Schlachthof, fiel ihm dazu ein, nur in einer völlig anderen Szenerie. Ein Bild des Grauens, das sich ihm da mitten im grünen Forst bot - ihm und den Leuten der Spurensicherung. Die verrichteten aber in ihren weißen Ganzkörperanzügen bereits stoisch ihre Arbeit, und der Pathologe Frank Miles beugte sich tief über den Toten, dessen Blut dort den Waldboden getränkt hatte.

Stan Wrozeck als Deputy und Stellvertreter des County Sheriffs empfand es als eine Art von trauriger Pflicht, sich zunächst alles genau anzusehen und es im gesamten Umfeld auf sich wirken zu lassen. Nach seinem ersten Entsetzen beim Anblick der blutüberströmten Leiche gab es für Wrozeck nun Anlass zur Verwunderung. „Es sieht aus, als seien es viele oberflächliche Schnitte“, murmelte er vor sich hin, Hände und Unterarme des Toten betrachtend.

Der Pathologe hörte die leise Bemerkung und blickte kurz zum Deputy auf. „Ja, ich habe bisher in der Tat nur einen einzigen tieferen Einstich an seinem linken Oberschenkel entdeckt“, antwortete er. Nachdem alle Fotos geschossen waren, hatte Miles den Leichnam behutsam hin und her bewegt, um sich einzelne Läsionen näher anzuschauen. Genauer ging das natürlich erst auf dem Obduktionstisch, das verstand sich von selbst. Doch eine erste Einschätzung war wichtig, um die Spurenermittler wissen zu lassen, worauf sie ihr Augenmerk richten sollten.

Stan, der erst vor einigen Monaten seinen Dienst im Städtchen Forks auf der Washington Peninsula angetreten hatte, kannte Miles bereits und empfand ihn als nüchternen Bürokraten. Wehmütig erinnerte er sich an Lucy Morgan zurück, die engagierte und clevere Pathologin, die dem Forensiker-Team seiner früheren Arbeitsstelle im nordkalifornischen Eureka vorgestanden hatte. Sie war stets mit Tatendrang und untrüglicher Intuition bei der Sache gewesen. Hier gab es nun diesen Frank als Chef der kleinen Forensik, dem nicht einmal ein Pathologiegehilfe zur Verfügung stand. Für die Obduktionen musste der sich bei Bedarf einen zweiten Mann aus Seattle anfordern. Na ja, vielleicht wurde da mal einer mit etwas mehr Fantasie und Verve geschickt.

Eine circa 150 Meter lange Blutspur ließ sich offenbar von der Unglücksstelle bis hierher zum Fundort verfolgen. „Schier unglaublich, wie viel Blut ein Mensch in sich hat“, dachte der Deputy. Vielleicht sprach er das auch aus, denn Frank sah ihn mal wieder so komisch an. „Der wollte sich zur Straße schleppen. Fast hätte er es geschafft, aber rechtzeitige Hilfe war wohl sowieso nicht zu erwarten“, kommentierte der Pathologe lediglich und lag damit richtig. Auf dem gewundenen Sträßchen, das hier mitten durch die Regenwälder zum Olympic National Park führte, sah man jetzt Anfang November nur ganz wenige Autos. Touristen bereisten die Washington Peninsula bevorzugt im Sommer oder Frühherbst.

Ein alter roter Buick stand am Straßenrand unmittelbar am Beginn des Waldwegs geparkt, auf dem der Tote lag. Somit war der junge Mann nur circa 100 Fuß von seinem Fahrzeug entfernt zusammengebrochen. Doch selbst wenn es dem Schwerverletzten gelungen wäre, das Auto zu erreichen und mit seinem Handy, das er darin zurückgelassen hatte, einen Notruf abzusetzen, hätte ihm das nicht mehr geholfen. In dieser Abgeschiedenheit wäre bis zum Eintreffen eines Notarztes sowieso zu viel Zeit verstrichen. Außerdem gab es hier je nach Wetterlage häufig gar keinen Handy-Empfang mehr.

Momentan regnete es zum Glück nicht, zumindest nicht in Strömen. Das Nieseln stand eher in der Luft, so dass man die Feuchtigkeit einatmete. Stan war froh, dass er sich eben, als er aus dem Wagen stieg, noch seinen Stetson vom Rücksitz geangelt und aufgesetzt hatte.

Weiße Nebelschwaden stiegen ganz langsam aus den dicht bewaldeten Hügeln, hoben sich empor aus diesem dunkelgrünen Pelz von Nadelwäldern. Einige Parzellen, wo Ahornbäume standen, leuchteten gelb aus all dem sonstigen Grün hervor. Die trugen ihr Herbstlaub, solange kein Nachtfrost einsetzte. „Unter anderen Umständen ein schönes Bild“, dachte Wrozeck traurig.

Ohne es eigentlich zu wollen, starrte er weiterhin auf die Leiche. So ein junger Mensch, nicht viel älter als 20.

Alles an ihm war blutbesudelt, auch sein Gesicht und sein blondes Haar, eine Kurzhaarfrisur, eigentlich nur helle Stoppeln. Der Kopf schien nicht direkt verletzt. Er hatte sich wohl mit seinen blutigen Händen darübergewischt. Er musste einen scheußlichen Tod gehabt haben. Seine Augen starrten weit geöffnet - groß und blau - in die Baumkronen. Sein Mund stand leicht offen: ein Gesichtsausdruck, als könne er es einfach nicht fassen, was ihm da passiert war.

An der Oberbekleidung waren die vielen Blutflecken nicht verkrustet. Das mochte dem steten Nieselwetter geschuldet sein. Allerdings sahen seine Blue Jeans sowie das hellblaue T-Shirt unter einem offenen Blouson so gründlich durchfeuchtet aus, dass die Nässe nicht allein von Nieselregen oder Körperflüssigkeiten herrühren konnte. Auch seine Sportschuhe und Socken schienen geradezu von Wasser getränkt.

„Er war ja schließlich in den Bach gefallen“, konstatierte Stan wie im Selbstgespräch, und Frank Miles nickte: „Das stimmt, die Spurensucher gingen zunächst dem Weg nach. In circa 400 Fuß kreuzt der Beaver Creek. Da gibt es ein kleines Behelfsbrückchen, eine Querung, eigentlich nur zwei nebeneinandergelegte Holzplanken. Und die waren am Rande angesägt, zusätzlich noch mit Schmierseife präpariert. Da wollte einer auf Nummer sicher gehen.“

Das hatte Stan von den Kollegen schon gehört, auch die Tatsache, dass das Bachbett rechts und links des provisorischen Plankenübergangs mit Glasscherben gespickt war. „Dennoch, ein solcher Sturz ins Wasser aus nur knapp einem Meter Höhe hätte nicht unbedingt tödlich enden müssen“, überlegte Stan und wurde sich dabei bewusst, dass er nach wie vor in metrischen Einheiten dachte. „Ich bin eben gedanklich immer noch in Europa. Vielleicht komme ich auch nie hier an.“ Er blickte dabei seltsam berührt auf das Gesicht des toten Jungen, seine etwas kantig vorstehenden Wangenknochen. „Ein Osteuropäer wie ich“, schoss es ihm da durch den Kopf. Vielleicht war der ebenfalls nie hier angekommen. „Der Junge sieht slawisch aus“, sagte er laut.

„Ja, gemäß den Papieren, die man eben im Buick fand, handelt es sich um einen Russen. Er heißt Kolja Bojar und wurde am 2. August 87 in Nowosibirsk geboren, ist also gerade mal 20 Jahre alt“, ließ Frank sich vernehmen. Er hatte sich erhoben und stand nun neben Wrozeck. „Er gleicht Ihnen ein bisschen, finde ich“, fügte er tatsächlich hinzu und sah den Deputy von der Seite an.

„Wie kommt der denn jetzt zu so einem persönlichen Statement? Das passt doch gar nicht zu seiner sachlich-drögen Art“, dachte Stan etwas unbehaglich und schaute dem Pathologen prüfend ins Gesicht: „Finden Sie?“ Der wandte rasch den Blick ab und konzentrierte sich lieber wieder auf seinen Toten. „Entschuldigen Sie, Deputy, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten“, murmelte er.

Stan selbst war Halbrusse mit einer Mutter aus St. Petersburg und einem Vater aus Warschau. Von Russland kannte er – außer der Sprache - allerdings nur wenig. Er lebte während der Zeit des Eisernen Vorhangs mit seinen Eltern in Polen. Weil ihm plötzlich seine verflossene Musikerkarriere als Flügelhornist bei den Warschauer Symphonikern durchs Hirn spukte, seufzte er gedankenverloren auf, an unpassender Stelle, wie ihm sogleich bewusst wurde.

Miles hatte seinen Stoßseufzer als Mitleidsbekundung für den toten Jungen aufgefasst und stimmte ein: „Mir will auch nicht in den Kopf, dass so ein junger Kerl hier so elendig krepieren musste.“ Durch seine spontane Gefühlsäußerung erschien Stan der Pathologe jetzt doch ein wenig sympathischer.

Nun wollte er sich die Stelle, wo es passierte, selbst ansehen, und ging auf dem schmalen Waldpfad zunächst der Blutspur nach. Da gab es etliche der rostfarbenen Flecken auf dem Herbstlaub und auf Pflanzen am Wegrand – größere bereits mit Fähnchen markiert.

Baumriesen säumten den schmalen Pfad. Neben den allgegenwärtigen Douglasien und Hemlocktannen fanden sich in dieser besonders wasserreichen Senke Ahornbäume von gigantischem Wuchs. Sie waren mit einer zyangrünen Moosflechte namens Cat-tail Moss beladen, die metertief von den weit ausladenden Ästen herabfiel, ein geradezu mystischer Anblick.

Unter anderen Umständen hätte Stan den Gang durch den Regenwald genossen. Doch leider konnte er sich nun nicht an den Naturschönheiten erfreuen. Die Blutspur schien ihm die Majestät des Hains zerstört zu haben. Selbst die Vögel ließen sich momentan nicht hören. „Es ist 11 Uhr vormittags. Um diese Zeit legen sie wohl eine Pause ein“, dachte Wrozeck bekümmert.

Dann sah er schon wieder einige Männer in weißen Anzügen zwischen den Baumstämmen im Unterholz wuseln. Obwohl berufsmäßig längst an ihren Anblick gewöhnt, empfand er den „Astronautenlook im Urwald“ als befremdlich und störend. Nein, hier gab es keinen Waldfrieden mehr.

Bald erkannte er den Lauf des kleinen Bachs, der sich zwischen Stauden von hohem Schwertfarn entlangschlängelte. Die Blutspur ging nicht auf dem Trail weiter, sondern nach rechts durch niedriges Gesträuch des Unterholzes. Die Fährte des Bluts markierte schließlich den Rückweg des Opfers und nicht dessen Hinweg zur Unglücksstelle. Der Deputy ging zunächst geradeaus weiter.

Kurz darauf stand er an dem provisorischen Brückchen. „Nur nicht betreten!“, rief ihm einer der Männer als Warnung zu. „Für wie blöd hält der mich?“, dachte Wrozeck missmutig, aber der Kollege meinte es schließlich nur gut. Mit ein paar Schritten stieg der aus dem Bachbett die leichte Böschung hinauf, und schon stand er neben dem Deputy. „Ach, Sie sind es, Hank“, meinte Stan etwas freundlicher. Jetzt, wo er ihm unter der weißen Kapuze her ins Gesicht schaute, erkannte er ihn wieder: Hank Grossner, ein umsichtiger und verlässlicher Mann, der nun auf das Brückchen wies: „Die angesägten Planken haben seinen Tritt wohl noch ausgehalten. Doch sie müssen so höllisch glatt gewesen sein, dass der junge Mann sofort ausglitt und der Länge nach zur Rechten ins Bachbett fiel.“

Stan konnte einen weißgrauen Schleim ausmachen, der sich schlierig über die beiden parallel liegenden Planken zog. Da das Holz ebenfalls hell war, konnte man ihn auf diesem Untergrund sehr leicht übersehen. Wer rechnete auf einem harmlosen Spaziergang durch die Natur auch mit solcher Tücke? „Ich wäre da wohl ebenfalls unbedacht weitergegangen“, meinte Stan, und Hank stimmte zu: „Wohl jeder von uns. So eine gemeine Falle! Und das schlimmste ist, dass der Wasserlauf rechts und links dieser Quere voll mit Glasscherben liegt.“ Er machte eine ausladende Bewegung mit beiden Armen. „Was Sie nicht für einen unglücklichen Zufall halten?“, fragte der Deputy. Der andere verneinte mit Bestimmtheit.

Man sah die Glasstücke zwischen den hellen, runden Quarzkieseln im Wasser liegen: bräunlich glänzende Splitter und Scherben, an ihren scharfen Kanten bösartig glitzernd. Insbesondere die abgebrochenen Flaschenhälse sahen gefährlich aus.

„Das haben keine Unbedarften hinterlassen, die hier ein Picknick abhielten und dabei die geleerten Flaschen einfach in das Kiesbett des Baches schmissen“, erklärte Grossner und schüttelte verständnislos den Kopf. „Will sagen: Leute, die leere Glasflaschen zerdeppern wollen, damit es richtig schön scheppert, schleudern sie einfach weiter weg. Hier sieht es so aus, als seien sie absichtlich genau um das Brückchen herum platziert worden. Es sind äußerst viele Scherben, und die scheinen sorgfältig links und rechts der Querung verteilt worden zu sein.“

Hank hielt einen Moment inne, fuhr sich mit der Rechten an den Kopf, um sich wie ratlos durchs Haar zu fahren. Sobald er sich dabei seines groben Schutzhandschuhs bewusst wurde, ließ er den Arm hilflos sinken.

„Sie meinen, die sind bereits als Scherben vom Steg aus hinuntergekippt worden?“, nahm Stan den Gedanken auf. Der andere nickte und fuhr fort: „Dann hat man die Planken eingeseift und auf unserer Bachseite auch noch angesägt. Letzteres ist jetzt schon offensichtlich. Die Buntglasscherben müssen überprüft werden. Es handelt sich wohl um Bierflaschen, nach erstem Eindruck immer die gleiche Sorte und zwar von der Marke Dos XX.“ Stan kannte Dos XX, ein mexikanisches Bier, das auch er bisweilen gerne trank. Doch in der Regel kaufte er das preiswertere US-amerikanische Dosenbier.

„Wir müssen bei der Spurensuche besonders aufpassen, um uns nicht selbst zu verletzen“, merkte Hank an und wies auf zwei seiner Kollegen, die zurzeit noch im Bachbett beschäftigt waren. Sie gingen mit ihren Fotoapparaten tief gebückt umher und machten Aufnahmen von der Lage der Scherben, einer mit einer Unterwasserkamera. Schwere Gummistiefel mit Schäften trugen sie, die bis zu den Oberschenkeln reichten. Das Wasser, durch das sie stapften, war in etwa knietief.

„Wenn die Aufnahmen gemacht sind, sammeln wir alle Scherben ein, um sie zu analysieren. Wir werden sogar versuchen, einige Bierflaschen wie ein Puzzle wieder zusammensetzen, um herauszubekommen, auf welche Art sie zu Bruch geschlagen wurden.“

„Gut“, stimmte Stan zu. „Denken Sie bitte auch daran, weiter unten im Bachlauf zu schauen, ob sich da noch abgelöste Reste von Flaschenetiketten finden, die abgetrieben sind und sich eventuell im Ufergebüsch verfangen haben. Da könnten wir Hinweise auf Haltbarkeitsdaten oder Chargennummern erhalten und mit etwas Glück sogar auf den Ort schließen, wo das Bier verkauft wurde.“

„Klar, ein Kollege sucht dort schon“, versicherte ihm Hank. „Dos XX ist hier allerdings fast überall zu haben. In Supermärkten werden die Flaschen meist als Sixpacks verkauft und in Kneipen und Restaurants als Kästen angeliefert. Zumindest das kann man von der Chargennummer her unterscheiden.“

Dann berührte er Stan leicht am Arm und bat ihn, ihm zu folgen. Sie gingen eine kurze Strecke oberhalb des Bachbetts durch die Botanik, und Hank erklärte: „Es muss für den Verletzten sehr schwer gewesen sein, wieder aus dem Wasser zu gelangen. In seinem geschwächten Zustand erwies sich die Böschung als zu steil. Wir fanden eine blutbesudelte Stelle beim Steg, wo er es vergeblich versuchte. Also ist er notgedrungen gewatet, um einen flacheren Ausstieg zu finden.“ Ein kleines Stück weiter bachaufwärts blieben sie stehen. „Hier ist der arme Kerl aus dem Bett des Creeks nach oben gekrochen.“ Ja, das war nicht zu übersehen. Überall gab es rotbraune Flecken von verschmiertem Blut an Zweigen des Gestrüpps, wo er Halt gesucht hatte. Einmal sah man gar an einem dickeren Ast, den Abdruck seiner rechten Hand. Oberhalb der Uferböschung führte eine Fußspur zwischen Farnstauden durch leicht morastigen Grund weiter. Hank wies auf Markierungsfähnchen mit Nummerierungen im Waldboden hin und blieb daneben stehen: „An dieser Stelle stellten wir zwei Fundstücke sicher“, erklärte er und zeigte Stan die Fotos ihrer ursprünglichen Lage auf seinem Handydisplay.

Es handelte sich dabei um ein Fernglas sowie einen stark beschädigten Fotoapparat, beide mit Lederriemen versehen und wie achtlos weggeworfen zwischen Schwertfarn liegend. „Diese Gegenstände hatte er wohl um den Hals hängen und daher beim Sturz nicht verloren. Er streifte sie letztendlich ab, weil sie ihn auf seinem mühsamen Weiterweg nur behinderten“, kommentierte Hank.

Stan schaute sich die Aufnahmen genau an, sah auf der ersten einen recht guten Feldstecher und auf der zweiten eine zerstörte Spiegelreflexkamera, ein sehr professionelles Teil der Marke Nikon. Der Deputy versuchte, sich in den armen Teufel hineinzudenken, der hier am frühen Morgen wohl Tiere beobachten und fotografieren wollte.

„Der Feldstecher ist kein hiesiges Fabrikat“, sprach Grossner in seine Gedanken herein. „Ich würde es für ein russisches halten. Oder eines aus einem anderen osteuropäischen Land, vielleicht aus Polen. Das kriegen wir anhand der Gravur dann schnell heraus.“

Wrozeck betrachtete daraufhin die Aufnahme auf dem Display gründlicher und konnte trotz der augenscheinlichen Verschmutzung des Fernglases den Teil einer Gravur in Kyrillisch ausmachen. „Es ist auf jeden Fall kein polnisches Modell“, merkte er an. „Ich denke, es gehörte zu einer russischen Militärausrüstung.“

„Wieso hatte der einen Soldatenfeldstecher dabei? Ob er zuvor in Russland Militärdienst absolviert hat, wo er doch schließlich russischer Staatsbürger war?“, überlegte sein Kollege von der Spurensicherung.

„Das muss nichts heißen, dass er ein Fernglas aus deren Armeebeständen besaß. An solche Ausrüstungsgegenstände konnte man nach Fall des Eisernen Vorhangs leicht drankommen“, erklärte der Deputy. „Die wurden von ehemaligen sowjetischen Militärangehörigen unter der Hand verscherbelt.“ Nun guckte Hank groß.

„Da konnte man sich bei uns in Warschau noch mit ganz anderen Sachen als mit harmlosen Ferngläsern eindecken“, fuhr Wrozeck fort, mochte dem Kollegen aber jetzt nicht auseinandersetzen, dass damals in den Wirrnissen der politischen Wende manch eine Kalaschnikow für schmales Geld den Besitzer wechselte.

2) Erste Zeugenbefragung

Als Stan die kurze Strecke durch den Wald zum Fundort der Leiche zurückging, fiel ihm auf, dass die Vögel in den Wipfeln inzwischen munter zwitscherten und tirilierten. Ihre Schweigeminuten für den toten jungen Mann waren definitiv zu Ende.

Der wurde gerade in einen Zinksarg gelegt. „Alles Weitere dann in der Pathologie“, merkte Frank Miles an und grinste ein wenig schief. „Ist mir klar“, erwiderte der Deputy wortkarg und überlegte im Stillen: „Vielleicht war mir Miles bislang nur deshalb unsympathisch, weil er im Vergleich zu meiner früheren Kollegin Lucy so schlecht abschneidet.“

Verstohlen betrachtete er den Mann mit seiner dicklichen Gestalt und dem hellen, blassen Teint, der gerade seine Tasche einräumte: Sommersprossen rings um den Ansatz einer Stupsnase, blau-wässrige Augen hinter einer Nickelbrille und darüber dann das zum Bürstenschnitt gestutzte rötliche Haar. Wie ein kurzsichtiges, zu früh gealtertes irisches Kind sah der aus.

Doch seine despektierliche Betrachtungsweise erschien dem Deputy dann ungerecht gegenüber einem Menschen, der ihm rein gar nichts getan hatte. Wrozeck bemühte sich also um einen freundlichen Tonfall, als er ergänzte: „Das ist für mich schon okay, Frank, dass Sie noch nichts Genaueres sagen können. Ich muss nun eh zunächst ins Ranger-Hauptquartier, um den Zeugen zu vernehmen. Wir sehen uns also morgen früh bei Ihnen.“ Er hob kurz die Hand zum Gruß, bevor er weitergehen wollte.

Miles fühlte sich aber durch die Geste ermuntert, dem Deputy noch etwas zu sagen: „Wahrscheinlich stoßen Sie bei den Rangern bereits auf den Sheriff. Der war nämlich eben hier und hatte es nach einem Blick auf den Toten dann eilig, mit seinem privaten BMW in Richtung Nationalpark abzurauschen, ebenfalls wegen Zeugenbefragung, wie er sagte.“ Stan tippte im Weggehen dankend mit dem Finger an die Krempe seines Stetsons. Frank hatte ihn offenbar vorwarnen wollen, dass sein Vorgesetzter bereits vor Ort sei.

Im Übrigen passte es sowieso ins Bild, dass Roger Darney, es nicht lange in der Nähe einer so übel zugerichteten Leiche aushielt. Der zog es vor, schnell abzuhauen und sich dem Zeugen zuzuwenden: dem Mann, der den Toten gefunden hatte und nun auf seine Vernehmung wartete.

Es war noch eine Fahrt von circa zwölf Meilen, die Stan mit seinem Dienstwagen, einem geländegängigen Dodge, zurücklegte. Ihm und dem Sheriff stand dieser Wagen für ihre dienstlichen Belange zu, und sie hatten sich den eigentlich zu teilen. Doch Darney benutzte lieber eines seiner eigenen Autos, so dass Wrozeck den Dodge in der Regel für sich beanspruchen konnte.

Stan passierte das kleine Holzhaus des Parkeingangs, das er unbesetzt und mit geöffneter Schranke vorfand. Ein Schild wies die Besucher darauf hin, dass die Eintrittsgebühr von zehn Dollar für die Nutzung des Nationalparks nun am Visitor Center zu entrichten sei. Das war ab Ende Oktober so üblich, dass man das Eingangshäuschen nicht besetzte, weil es da kaum noch Touristenverkehr gab.

Stan als Naturliebhaber fand, dass der Hoh Rain Forest selbst in dieser trüben Jahreszeit durchaus seine Reize hatte. Während der Fahrt erfreute er sich an der landschaftlichen Schönheit: das Märchenreich der Regenwälder.

Man durchfuhr eine Senke von Ahornbäumen, die dem feuchten Boden ihren ausladenden Wuchs und auch ihren dekorativen Astbehang verdankten. „Draperies“ nannte man diese eleganten, oft meterlangen Vorhänge aus Moosflechten, die bei der Durchfahrt bisweilen sogar das Dach des hochgelegten Dodge streiften. Stan hielt sich im Park an die Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 Meilen pro Stunde, obwohl das bei einem dienstlichen Einsatz nicht unbedingt erforderlich gewesen wäre. Er tat es einfach aus Ehrfurcht vor der Natur.

Gerade erstreckte sich ein ausgedehntes Feuchtgebiet zu seiner Linken, und plötzlich passierte es: Ein großer rotbrauner Roosevelt Elk stand vor ihm, wie aus dem Erdboden gewachsen.

Wrozecks sofortige Vollbremsung verhinderte aber den Zusammenstoß. Ärgerlich warf der Hirsch seinen Kopf in den Nacken und trabte neben der Straße ins dichte Unterholz. „Das wäre noch was gewesen, wenn ich eines dieser seltenen Tiere verletzt hätte“, dachte Stan sich. Wie gut, dass er langsam gefahren war.

Kurz darauf sah er bereits einige Gebäude durch das Grün des Waldes schimmern. Die schmale Straße weitete sich nach einer Biegung zu einem riesigen Besucherparkplatz aus. Heute stand der bis auf ein Dutzend Autos praktisch leer, und Wrozeck parkte dann auch nicht vor dem größeren Bau des Visitor Centers, sondern direkt vor dem etwas abseits liegenden Hauptquartier der Ranger, wo einige Jeeps der hier Beschäftigten standen, außerdem ein weißer BMW, den er als den Privatwagen seines Vorgesetzten erkannte - besser gesagt, als eines von dessen Autos. Roger Darney, aus wohlhabenden Verhältnissen stammend, fuhr auch noch einen dunkelgrünen Oldtimer-Jaguar und einen schweren beigefarbenen Bentley. Ein Polizeimotorrad parkte ebenfalls dort.

Rasch wandte Wrozeck sich dem Eingang zu, denn wahrscheinlich wurde er drinnen schon erwartet. Am Empfang wies ihm der Diensthabende sogleich den Weg zu einem hinteren Büroraum. Dort fand er seinen Chef mit dem Streifenpolizisten Tim Oppenheimer und einem Nationalpark-Ranger. Letzterer war wohl der Zeuge, der heute Morgen um halb 9 die Leiche des jungen Manns gefunden und den Notruf abgesetzt hatte. Die drei saßen an einem Besprechungstisch, wobei der Polizeibeamte das Gespräch fürs Protokoll aufnahm.

Als Stan sich nach kurzem Gruß neben dem Sheriff niederließ und dem Ranger nun direkt ins Gesicht schaute, erkannte er ihn wieder. Es handelte sich um Sequi, einen jungen Indianer vom Stamm der hiesigen Quieleute. Im August hatte sich Wrozeck privat einer geführten Touristentour durch den Nationalpark angeschlossen, um seine neue Umgebung besser kennenzulernen. Der indianische Ranger war ihrer Gruppe da ein sachkundiger Führer gewesen. Seinen Namen hätte Wrozeck nicht erinnert, las ihn aber jetzt wieder am Namensschildchen seines Revers: Sequi Kemela. Der Sheriff stellte seinen Deputy dem Zeugen kurz vor und setzte die Befragung fort.

Der Ranger hatte morgens an der Wegeinmündung das Auto des Opfers stehen sehen: diesen alten roten Buick, mit dem der junge Mann wohl hinausgefahren war, um in aller Frühe Tiere zu beobachten. Sequi konnte ebenfalls aufklären, was es da um diese Tageszeit zu sehen gab. „Es waren die Roosevelt Elks, die ihn wahrscheinlich zu so früher Stunde hinausgetrieben haben“, meinte er gerade, auf eine diesbezügliche Frage Rogers antwortend. Stan merkte an, dass er auch einen gesehen habe, gar nicht weit vom Visitor Center entfernt.

„Ja, da gibt es ein paar vereinzelte Tiere im Sumpfgebiet“, bestätigte Sequi. „Aber die große Attraktion ist die Herde, die morgens bei erster Dämmerung in den Wiesen beim Hoh River äst, genau da, wo der Mann wohl hinwollte“, erklärte er. Der kleine Pfad mit dem provisorischen Brückchen führe nämlich in seinem weiteren Verlauf zu einer hölzernen Aussichtsplattform, von wo aus man das Flusstal weit überblicken könne. „Täglich sind da um die 60 Tiere unterwegs, das größte Rudel weit und breit“, berichtete er weiter.

„Wenn er rechtzeitig Position beziehen wollte, musste er spätestens gegen 7 vor Ort sein“, überlegte Stan im Stillen. Als Sequi ihn circa anderthalb Stunden später auffand, war er nach dessen Aussage schon tot gewesen. Da Stan nicht wusste, was Roger den jungen Indianer bereits gefragt hatte, begnügte er sich erst einmal damit, zuzuhören und die Reaktionen des Rangers auf die einzelnen Fragen zu beobachten.

Der Quieleute erinnerte ihn vom Aussehen her an eine wohlbekannte, historische Persönlichkeit. Insbesondere im Profil glich Sequi mit leicht gekrümmter Nase, markantem Kinn sowie den etwas vorstehenden Wangenknochen dem berühmten Häuptling Seattle. Nur eben in jungen Jahren, in einer Parkranger-Uniform und mit modischer Kurzhaarfrisur, dachte Wrozeck.

Das Abbild des großen Häuptlings war in den USA nicht nur als Münzprägung zu sehen. Besonders in der Metropole, die ihm ihren Namen verdankte, ehrte man ihn als klug und weise. Neben diversen Denkmälern auf Plätzen und Alleen gab es auch auf dem Pioneer Square im Herzen der Innenstadt eine Büste Häuptling Seattles. Angelegentlich ging es Stan durch den Kopf, dass der Häuptling nicht dem Stamm der Quieleute, sondern dem der Crew-Indianer angehört hatte, soweit er sich entsann.

Das Gespräch rief den Deputy aber rasch in die Gegenwart zurück. „Warum hielten Sie bei dem geparkten Buick an und gingen zu dem Waldweg?“, wollte Roger gerade von Sequi wissen. „Hatten Sie irgendeine Beobachtung gemacht?“

„Nein, ich sah nur den Wagen am Rand stehen und zog wohl aus einem vagen Gefühl heraus los“, gab der junge Ranger an. „Ich konnte mir eigentlich denken, dass jemand zu dieser frühen Morgenstunde die Elks sehen wollte, doch in letzter Zeit parkten praktisch nie Touristenautos am Trailhead. Und diesen roten Buick, den hatte ich schon einmal gesehen, als er mir nämlich zwei Tage zuvor um die gleiche Zeit auf dem einsamen Highway entgegenkam.“ Er überlegte kurz und ergänzte dann: „Ich wollte mich nur vergewissern, ob es sich wirklich um einen harmlosen Naturfreund handelte.“ Der junge Mann starrte dabei auf seine Hände, die gefaltet vor ihm auf der Tischplatte lagen. Er sah konzentriert und etwas angespannt aus, so als horche er in sich hinein.

„Ich würde nun nachhaken, was er denn sonst erwartet hätte“, dachte Stan, sagte aber nichts, wo dieses Verhör doch Roger bereits an sich gezogen hatte. Und der hakte nicht nach, sondern ging nahtlos zum nächsten Punkt über.

„Ist Ihnen heute früh noch irgendetwas anderes am Unglücksort aufgefallen, vielleicht ein Wagen auf der Zufahrtsstraße zum Park, der Ihnen entgegenkam?“, fragte er den Zeugen jetzt.

Sequi gab an, er habe zwei- oder dreimal einen Wagen gehört, als er in der Nähe des Toten ausharrte, um auf die Polizei zu warten. „Dabei handelte es sich wohl um ein paar Autos meiner Kollegen, die vorbeifuhren, weil deren Dienstbeginn im Park nun ebenfalls begann“, mutmaßte er. Er war sich sicher, dass da niemand in die andere Richtung herausgefahren kam, sagte er aus. „Das wäre mir vom Fahrgeräusch her aufgefallen.“

Sie dankten schließlich dem jungen Mann und verabschiedeten sich vorerst von ihm. Natürlich würde er ihnen noch für weitere Fragen zur Verfügung stehen. „Was auch nötig sein wird“, überlegte sich Stan, als er Sequi vor dem Hinausgehen die Hand reichte.

Draußen auf dem Weg zu ihren Autos redeten der Sheriff und sein Deputy kurz miteinander.

„Welchen Eindruck hatten Sie von ihm, Stan?“, wollte Roger wissen. „Ich kam ja erst später dazu“, bemerkte Wrozeck etwas mürrisch. Es ärgerte ihn insgeheim, dass sein Vorgesetzter ihm mit der Befragung zuvorgekommen war. „Hat er sich eigentlich entsetzt über den Zustand des Toten geäußert, den er da fand?“, wollte er von Darney wissen.

„Allerdings“, bestätigte der. „Wie abgeschlachtet habe er auf ihn gewirkt, und natürlich hat er auch gefragt, was da genau passiert sei. Ich habe ihm lediglich gesagt, das werde gerade ermittelt.“ Nach kurzem Zögern fügte Roger hinzu: „Im weiteren Verlauf schien es mir, als halte er mit irgendetwas hinter dem Berg.“

Wrozeck zuckte nur gleichmütig die Achseln, obwohl er dieselbe Vermutung hegte, aber das sprach er nicht aus. „Du hast ihm eben nicht die richtigen Fragen gestellt, mein Lieber, und schon gar nicht nachgehakt“, dachte er im Stillen über seinen Chef.

Er kannte ihn noch nicht gut genug, um seine Taktik bei Zeugenverhören zu beurteilen. Vielleicht blieb Darney zu Beginn absichtlich so oberflächlich. Aber was sollte das bringen? Stan hatte seinen Vorgesetzten bislang nie bei der Ermittlung in einem rätselhaften Todesfall erlebt und konnte sich von daher kein rechtes Bild von dessen Methoden machen.

Außerdem wäre es nach seinem Dafürhalten an der Zeit, das FBI heranzuziehen, denn da war augenscheinlich böse Absicht mit im Spiel gewesen – also handelte es sich um ein Verbrechen. Wrozeck wunderte sich, dass Darney keine Anstalten machte, das FBI-Office in Seattle zu informieren, aber auch das sprach er nicht an. Ihm persönlich konnte es nämlich nur recht sein.

Wenn das FBI die Sache übernahm, wären Roger und er wahrscheinlich ganz schnell außen vor, und Wrozeck lag daran, solange wie möglich involviert zu bleiben. Zunächst einmal musste er weiteres über das Todesopfer in Erfahrung bringen, um schleunigst Verwandte zu ermitteln, die es zu benachrichtigen und zu befragen galt.

3) Im Leichenkeller

Anderntags fuhr Stan in Forks das Institut für Kriminalistik an, welches in einer - gründlich umgebauten - früheren Schule der Stadt untergebracht war. Dort befanden sich im Hauptgebäude Büroräume mit modernen Computern, das Archiv und eine kleine kriminalwissenschaftliche Handbibliothek. In den Flügelanbauten von ehemaliger Aula und Turnhalle lagen heutzutage Labortrakte. Gängige Analysen von anorganischen und organischen Materialien, DNA- sowie ballistische Bestimmungen, all das konnte hinter diesen grauen Mauern am nördlichen Stadtrand von Forks untersucht werden.

Und die Leichen, die lagen - wie in der Pathologie üblich - im Keller. Das Untergeschoss empfand der Institutleiter Frank Miles als sein eigentliches Reich. Hierhin hatte er bei Amtseintritt auch kurzerhand sein Büro verlegt, wo er Stan heute erwartete. Da hingen einige Poster mit dem Aufbau des menschlichen Körpers an der Wand: Skelett, Blutkreislauf, Muskeln, Organe. Man erhielt den Eindruck, als gingen hier Medizinstudenten ein und aus. Dabei war dieses forensische Institut nicht einmal der Universität angeschlossen. Nun, es wurden immerhin Praktikanten ausgebildet, und das machte Frank sicherlich gerne, so wie Wrozeck ihn einschätzte. Aufgaben, für die man viel Routine und wenig Intuition benötigte, kamen dem bestimmt entgegen.

Hinter dem Schreibtisch befand sich ein hohes Regal mit Fachliteratur und daneben an der Wand, sorgfältig gerahmt, Franks Urkunden und Zertifikate, die von seinem Status als Arzt im Allgemeinen und als Facharzt für Pathologie im Besonderen Kunde taten. Auf einen Knochenmann aus Plastik oder gar in echt verzichtete er offenbar. Auch gab es keine Gläser mit eingelegten Körperteilen in Formalin, mit denen Lucy so gerne ihre Amtsräume geschmückt hatte.

Persönliches, wie Familienfotos auf dem Schreibtisch oder ein paar Grünpflanzen im Raum, sah man hier schon gar nicht. Pflanzen wären allerdings auch völlig von künstlicher Beleuchtung mit Speziallampen abhängig gewesen. Lediglich durch zwei schmale Fensterschächte fiel natürliches Licht von oben. Insgesamt sah alles sehr zweckmäßig und spartanisch aus, kurz gesagt: todlangweilig.

Miles saß hinter dem Schreibtisch und ordnete pedantisch seinen ausgedruckten Bericht in einen Schnellhefter. „Wir gehen gleich hinüber zur Leiche“, kündete er wenigstens an.

Für 11 a.m. war eine Kusine des Toten angemeldet. Die Angehörige hatte Wrozeck erst gestern Abend telefonisch benachrichtigen können, nachdem polizeilich ermittelt worden war, wo der junge Mann gewohnt und gearbeitet hatte und dass es da eine Verwandte gab.

„Ist der Leichnam inzwischen in einem einigermaßen passablen Zustand?“, fragte Stan. Frank schaute prüfend auf die Uhr, die erst kurz vor 10 anzeigte. Dabei schien ihm einzufallen, dass alles in Ordnung war mit seiner Leiche und er die Frage des Deputy guten Gewissens bejahen konnte. „Sein Kopf sieht weitgehend normal aus, weil er nicht mit dem Gesicht in die Scherben gefallen ist. Kommen Sie mit und überzeugen Sie sich selbst. Ich muss Ihnen doch berichten, was die Untersuchung ergeben hat.“ „Ob ich mich je an seine umständliche Art gewöhnen kann?“, überlegte Stan bei dieser Ansprache.

Im Obduktionsraum trat er hinter Frank zu einer Liege, auf der der Tote mit einem weißen Laken abgedeckt war. Das zog der Pathologe gleich ganz zurück. Außer von der langen OP-Naht der Obduktion war der Körper lediglich von etlichen schmalen rötlichen Rissen und Schrammen verunstaltet, die medizinisch eher harmlos ausschauten.

„Von seinem Rumpf hat die Kleidung so einiges abgehalten“, dozierte Frank dazu. „An den Extremitäten sieht das schon ganz anders aus.“ Und er drehte die Rechte des Toten, so dass Stan die arg ramponierte Handinnenfläche sehen konnte.

„Der musste sich aufstützten, um wieder auf die Beine zu kommen. Dabei kam es zur Verletzung der linken Pulsader, was eine stärkere Blutung nach sich zog. Auch Ellbogen und Unterarme wurden arg in Mitleidenschaft gezogen. Ebenso wie die Knie.“

Das sah Wrozeck selbst, wurde aber sofort aufmerksam, als Miles nun auf eine Wunde am linken Oberschenkel wies: „Dieser Schnitt war von allen der Schlimmste. Er muss beim Sturz von dem Brückchen voll mit dem Oberschenkel in eine besonders scharfe Scherbe gefallen sein, womöglich in einen hochragenden, abgebrochenen Flaschenhals. Anders ist die Eindringtiefe kaum zu erklären. Sogar der robuste Jeansstoff hat ihm da nichts mehr genützt. Das ging glatt durch und ritzte die Beinarterie auf.“

Bei seiner Erklärung schaute der Pathologe etwas nachdenklich drein und fügte hinzu: „Es ist aber schon merkwürdig, dass der abgebrochene Flaschenhals nicht irgendwie seitlich weggerutscht ist. Wohl ein besonders unglücklicher Umstand.“

Stan schaute sich die prekäre Verletzung näher an. „Es sieht fast wie ein Einstich aus, mit diesen sauberen Wundrändern“, äußerte er. Miles nickte dazu und runzelte kurz die Stirn. Doch dann ging er nahtlos zum Höhepunkt seiner Ausführungen über: „Wie auch immer, die eigentliche Todesursache kam erst bei der Laboruntersuchung heraus.“ Stan blickte erstaunt in Franks wasserblaue Augen. Baute der jetzt doch so etwas wie einen Spannungsbogen auf?

„Da gab es eine enorm niedrige Plättchenzahl in seinem Blutbild“, sagte der Pathologe bedeutsam und blickte Stan von der Seite an. Der atmete hörbar aus. Das erklärte natürlich alles, vor allem die Unmenge an verlorenem Lebenssaft.

„Den Begriff ´Granulozyten` hätte ich auch noch so gerade verstanden“, dachte Wrozeck. Aber vielleicht bemühte sich Miles aus Erfahrung heraus um eine Ausdrucksweise, die auch ein Nichtmediziner verstand.

„Der junge Mann war Bluter“, fuhr der Doc jetzt fort, „sonst wären seine Verletzungen vermutlich kaum tödlich gewesen. Die verletzte Beinarterie hätte er sich allerdings abbinden müssen, doch dafür war er durch den anderwärtigen Blutverlust wahrscheinlich schon zu schwach. Von seiner körperlichen Entwicklung her gibt es sonst keine Besonderheiten: alles, wie man es bei einem Zwanzigjährigen erwartet.“

Wrozeck hatte gestern gleich an eine Gerinnungsstörung gedacht, als er das viele Blut sah, aber eine solche hätte ja auch durch die Einnahme bestimmter Medikamente verursacht sein können. Vorsichtshalber fragte er nach, und Miles schaltete etwas pikiert auf Fachsprache um: „Nein, es handelt sich klar um einen relativ schweren Grad einer Hämophilie B, die durch einen Mangel des Gerinnungsfaktors IX ausgelöst wird. Das ging im Übrigen auch aus seinem Patientenpass hervor, den wir bei seinen Ausweispapieren fanden. Der war von einem hämatologischen Zentrum in Los Angeles ausgestellt, wo ich dann anrief und erfuhr, dass er dort regelmäßig eine Substitutionstherapie erhielt. Möglicherweise wurde die während seines hiesigen Aufenthalts unterbrochen. In seinem Blut konnte ich den Gerinnungsfaktor nämlich kaum mehr nachweisen.“ „Dem wäre also noch nachzugehen“, überlegte Stan und resümierte: „Der junge Mann ist also an den Folgen seiner genetisch bedingten Grunderkrankung gestorben.“ „So sieht es aus“, bekräftigte der Pathologe und deckte die Leiche wieder ab.

Wrozeck blickte angelegentlich auf seine Armbanduhr: noch keine halb elf. Irgendwie galt es nun, die Zeitspanne bis zum Eintreffen der Kusine zu überbrücken, doch was sollte er mit dem Doc weiter bereden? Ihm fiel zumindest nichts ein, keine Frage, die ihm aktuell auf den Nägeln brannte. Er hätte etwas Ruhe gebraucht, um nach diesen Informationen seine Gedanken zu ordnen. Da gab es noch das vage Gefühl einer Unstimmigkeit, aber das vermochte der Deputy momentan nicht zu artikulieren.

Sie kehrten ins Büro zurück und setzten sich wieder. Miles bemühte sich nicht um Small Talk, und der gebürtige Osteuropäer Wrozeck hatte diese sonst hier übliche Kommunikationsform sowieso nie verinnerlicht. Er tauschte sich in der Regel gern mit Menschen über Themen aus, die ihn interessierten. Doch den Pathologen empfand er als einen Langweiler, was bei ihm stets ein Gefühl von schlechtem Gewissen hervorrief. Wahrscheinlich beurteilte er ihn einfach zu streng.

„Wir wissen ja nicht viel mehr, als dass er Russe war“, ließ sich Frank nun vernehmen. „Und dass er offenbar an der sogenannten Zarenkrankheit litt, wahrscheinlich vom Großvater über die Mutter auf ihn übertragen.“

Stan empfand den Ausdruck „Zarenkrankheit“ als Plattitüde, sagte aber nichts. Auch Miles war verstummt. Der Junge hatte ihm gestern leidgetan, als er in seinem Blut auf dem Waldweg lag. Aber im Anschluss gab es für ihn nur noch seine alltägliche Routine: den Toten aufschneiden, sämtliche Verletzungen dokumentieren, die Blutanalyse veranlassen. Mit dem abschließenden schriftlichen Bericht war er aus dem Fall heraus.

Für die Ermittler fing die eigentliche Arbeit erst an, und Wrozeck dachte gerade daran, dass seine frühere Team-Kollegin Lucy da liebend gern mitgemischt und sich mit ihren Ideen eingebracht hätte.

Von Miles war in dieser Hinsicht nicht viel zu erwarten. Der lud den Deputy lediglich ein, mit ihm einen Kaffee zu trinken, bis die Verwandte zur endgültigen Identifizierung eintraf.

„Bojar stammte aus St. Petersburg“, nahm Stan den Faden wieder auf, nur um etwas zu sagen. „Er war noch nicht lange in den USA, erst seit ein paar Wochen. Seine Kusine hatte ihm einen Job besorgen können, als Beleuchter beim Filmteam.“ Und weil Frank nur mit dem Kopf so vor sich hinwackelte, sprach er weiter: „Bei der handelt es sich übrigens um Larissa Petrowa. Sie ist eine junge russische Schauspielerin, die offenbar die weibliche Hauptrolle im Dreh mit dem schönen Namen ´Wechselblut` spielt.“

Zu dem Streifen brauchte er sonst nichts zu erklären. Das machte hier in Forks ja schließlich seit Wochen die Runde, dieser neue Vampirfilm vom Regisseur Buddy Coleman. Dass die Hauptdarstellerin, eine attraktive Blondine, aus Russland stammte, war ebenfalls aus den Presseberichten bekannt, mit allen dazugehörigen Spekulationen, warum gerade sie die Rolle ergattert habe und nicht eine der üblichen Hollywood-Diven.

Wrozeck schaute Frank Miles bei dieser Ankündigung ins Gesicht. Nein, auch die Aussicht, dass gleich ein Filmstar als Gast in seinem Leichenkeller aufschlagen würde, bewegte ihn nicht sonderlich. „Wechselblut“, echote er. „So ein blöder Titel. Ich finde ´Twilight` besser“, meinte er dann nur trocken. Stan grinste in sich hinein. Die genannte Filmproduktion lief gerade an, und natürlich erschien ihm persönlich die Namenswahl auch viel gelungener. Wenn Miles Recht hatte, dann hatte er Recht.

4) Die Lichtgestalt

Endlich klopfte es an die Tür, was das eher zähe Gespräch der beiden Männer beendete. „Herein“, rief Miles und erhob sich höflich. Stan machte zunächst auf lässig, bewegte sich im Drehsessel um 180 Grad Richtung Tür, ohne sich zu erheben, stand dann aber rasch auf, als er sah, wer dort über die Schwelle trat.

Die Petrowa war ja wirklich ein erfreulicher Anblick. Mitten im Raum blieb sie wie unschlüssig stehen, eine junge Frau mit blonden Locken, die ihr über den Kragen eines dunkelgrünen Tweeds fielen. Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge, war schlank, hochgewachsen und bewegte sich grazil. Sie wies eine gewisse Ähnlichkeit zur jungen Grace Kelly auf, so empfand es Wrozeck. Nur ihr Haar trug sie länger und etwas wilder gewellt. „Wahrscheinlich naturblond“, schloss er von ihrem nordischen Typus her. Wie ihr Cousin hatte sie blaue Augen und hohe Wangenknochen. Ihr Gesicht schien kaum geschminkt, und mit Tweedmantel, flachen Wildlederschuhen und einer braunledernen Umhängetasche trug sie dezente Kleidung, was dem Anlass schließlich auch angemessen war. So wirkte sie nicht wie ein Star, sondern lediglich wie eine Frau von natürlicher Schönheit, eine recht traurige, schöne Frau.

Nach einer knappen Begrüßung schlug sie die Augen nieder und sagte schlicht: „Ich bin gekommen, um meinen toten Vetter zu sehen.“ Sie machte sich offenbar so gar keine Hoffnung mehr, dass es sich um eine Verwechslung handeln könnte, wo der junge Mann doch seit gestern als spurlos verschwunden galt. Schließlich war ja auch der Buick mit seinen Papieren an der Unglücksstelle aufgefunden worden. Sie selbst hatte gestern drehfrei gehabt, ihn bei seiner Arbeit geglaubt und ihn von daher über den Tag nicht vermisst.

„Sind Sie bereit, Ihren Cousin sofort zu identifizieren?“, fragte Miles nun knapp. „Den kann auch gar nichts erschüttern“, dachte Stan. Als sie nickte, meinte der Pathologe: „Dann lassen Sie uns gleich hinübergehen.“

Im Autopsieraum lupfte er das Laken diesmal vorsichtiger und zog es nur vom Kopf zurück, damit die Angehörige den malträtierten Körper nicht sah. Dennoch, die Schauspielerin schrak zurück, als sie das bleiche Antlitz erblickte. Sie musste sich dann zwingen, sich etwas nach vorne zu beugen, um sein Gesicht besser zu erkennen. „Ja, es ist mein Vetter Kolja“, sagte sie tonlos und drehte sich ab. Frank deckte den Kopf schweigend wieder mit dem Laken zu.

Sie nahm das Angebot an, in Miles Büro noch einen Kaffee zu trinken. „Ich muss mich erst einmal setzen“, sagte sie nur. Wrozeck kam es sehr gelegen, dass sie blieb und nicht gleich zu ihrem Dreh zurückeilte. Sonst hätte er sie zu einem etwas späteren Zeitpunkt in die Polizeipräfektur vorladen müssen, denn es gab natürlich einige Fragen an sie zu stellen.

Als sie zu dritt um einen Tisch in der Ecke des Büros saßen, nippte sie an dem sehr starken und bitteren Kaffee und bat dann zusätzlich noch um ein Glas Wasser. Frank erhob sich, um ihr das Gewünschte zu bringen. Etwas scheu sah sie ihm nach.

„Es ist ihr peinlich, jemandem Umstände zu machen“, registrierte Stan. „Sie legt keinesfalls das übliche Gehabe einer Diva an den Tag.“ Eigentlich hätte der Deputy ebenfalls ein Glas Wasser brauchen können. Das war schließlich ein furchtbares Gebräu, das ihnen Frank da kredenzte. Es schien bereits Stunden auf der Warmhalteplatte seiner Kaffeemaschine vor sich hin geköchelt zu haben und war dabei gehörig eingedünstet.

„Kam das öfters vor, dass ihr Vetter so früh in den Wald und genau zu dieser Stelle ging?“, stellte Wrozeck seine erste Frage, denn er wusste durch den Ranger, dass der rote Buick schon zweimal dort gesichtet worden war.

„Kolja liebte die Natur. Er wollte Wild beobachten, eine seltene Hirschsorte, und diese Tiere vor allem fotografieren“, erklärte die Petrowa. Stan musterte sie. Die Frau war wirklich außerordentlich attraktiv. Unter dem Tweed, den sie nun ausgezogen und einfach über ihre Stuhllehne gehängt hatte, war ein elegant geschnittenes cremefarbenes Kostüm zum Vorschein gekommen. Der Deputy verstand nicht viel von Mode, doch das sah geschmackvoll und gediegen aus, war wohl aus einem ganz leichten und feinen Wollstoff gefertigt und für die jetzige herbstliche Jahreszeit unter einem soliden Mantel getragen ganz perfekt.

Sie hatte sich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt und schlug nun ihre langen, schlanken Beine übereinander, als sie seine Fragen beantwortete. Den vor ihr auf dem Tisch stehenden Pappbecher mit Kaffee rührte sie nicht mehr an, nahm nur ab und an einen Schluck aus dem Wasserglas, das sie eine Weile in der Hand behielt und es dabei hin- und herdrehte. Dass sie sich nervös fühlte, konnte Wrozeck gut nachvollziehen. Die Frau hatte schließlich auf grausame Art einen Verwandten verloren.

„Wir vom Dreh wussten, dass er in aller Herrgottsfrühe bereits die 40 Meilen zum Nationalpark fuhr. Er erzählte schließlich jedem davon, zeigte auch gern seine Aufnahmen. Die Tierfotografie war wirklich seine ganz große Leidenschaft.“

Nun schlug sie die Augen nieder und fügte betrübt hinzu: „Bereits in unserer Heimat, in den Wäldern bei Petersburg strich er immer mit seiner Kamera herum.“ Sie hielt inne und seufzte dann wie in Erinnerung auf: „Und ich habe ihn dort weggeholt, habe ihm diesen Job als Beleuchter verschafft. Aber er hat mich ja schließlich so sehr darum gebeten. Geradezu angebettelt hat er mich. Er glaubte, dass könne für ihn ein Sprungbrett sein, um eventuell Kameramann beim Film zu werden.“

Sie schaute sehr traurig drein, aber sie weinte nicht. Im nächsten Moment schien sie Stan sogar recht konzentriert und sich Mühe zu geben, möglichst ausführlich zu antworten: „Ich wusste aus seinen Schilderungen nur, dass er bis zum Eingang des Nationalparks fuhr, um die Hirsche zu sehen, eine ganze Herde, wie er sagte. Er erwähnte auch, dass sie in der Frühdämmerung auftauchten und immer an der gleichen Stelle ästen. Aber wo er seinen Beobachtungsposten genau bezog, war mir nicht bekannt.“

„Sie wussten sicherlich, dass Ihr Vetter ein Bluter war?“, setzte Stan die Befragung fort. Sie nickte diesmal nur kurz, und er fragte weiter: „Wussten es auch andere? Kollegen am Dreh zum Beispiel?“ Sie blickte erstaunt auf: „Nein, das glaube ich kaum, dass Kolja es anderen gegenüber erwähnte. Das beredete er nicht einmal mit seinen früheren Freunden in St. Petersburg. Er versuchte, trotz seiner Krankheit mithilfe einer Medikation ein ganz normales Leben zu führen, und erzählen mochte er wohl niemandem davon.“

„Wissen Sie darüber bescheid, wie er es mit seinen Medikamenten handhabte?“, fragte Stan weiter.

„Doch, auf jeden Fall“, beeilte sie sich zu versichern. „Er war auf ein aktuelles Präparat eingestellt, das sehr neu auf dem Markt ist, einen rekombinanten Wachstumsfaktor, der die