Unsere Kinder in der digitalen Welt - Lukas Wagner - E-Book

Unsere Kinder in der digitalen Welt E-Book

Lukas Wagner

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  • Herausgeber: Leykam
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eltern-Guide: Verstehen ist besser als Verbieten Welche Apps und Spiele sind bei den Kids gerade "in" und weswegen? Wann ist es wichtig, Grenzen zu setzen? Und wo braucht es mehr Verständnis statt Kontrolle? Für die sogenannten Digital Natives ist die virtuelle Welt ein normaler Teil ihrer Lebensrealität. Für die Eltern, meist noch ohne Smartphone aufgewachsen, stellen sich häufig Fragen zum "richtigen" Umgang mit dem Nutzungsverhalten ihrer Kinder. Digitale Kompetenz ist wesentlich. Lukas Wagner, Medienpädagoge und selbst Vater einer Tochter, ist mit den Fragen von Eltern vertraut. Praktisch und humorvoll bietet Wagner pädagogisch wertvolle Tipps und einen Überblick zu neuen Technologien, Apps und Sozialen Netzwerken. Er thematisiert Internetsucht und Cybermobbing. Und er lenkt den Blick auch auf neue Potenziale: professionelles Gaming und selbstgesteuertes Lernen über Videos als ernstzunehmende Entfaltungsmöglichkeiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 254

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Willkommen in der digitalen Welt der Kinder
Begreifen. Warum verstehen besser ist als verbieten
Eine neue Welt
Virtuelle Beziehungen sind real
Der geheime Garten
Das digitale Baumhaus
Eine Frage des Vertrauens
Was passiert da im Internet?
Information ist Belohnung
Naturalisierung von Technik
Die eigene kritische Haltung
So nah wie noch nie
Passt perfekt zu mir
Was ist heute noch privat?
Jugendkultur ist Digitalkultur
Lernen im digitalen Zeitalter
Vom Zuschauen zum Begleiten
Die wichtigste Frage
Wer sind unsere Vorbilder?
Der Zeitpunkt für ein eigenes Smartphone
Neugierde als Eintrittskarte
Die wichtigsten Dienste
Hauptberuflich spielen
Was ist heute noch wahr?
Grenzen in der digitalen Welt
Regeln und Grenzen
Der Medienvertrag
Wiedergutmachung
Technische Sperren
Wie viel ist zu viel?
Digitalisierte Gewalt
Und wie geht’s weiter?
Eine Anmerkung zu Links, Apps und Verweisen im Internet
Copyright

Vorwort

In meiner täglichen Arbeit als Psychotherapeut und Medienpädagoge bin ich immer wieder mit den unterschiedlichsten Fragen in Bezug auf Smartphone und Co konfrontiert. Wie viel ist zu viel? Was ist gefährlich? Wie kann ich mein Kind unterstützen? In der Rolle als Experte ist es meine Aufgabe, bei diesen Fragen zu helfen und Familien zu unterstützen. In meiner Rolle als Vater stehe ich plötzlich auf der anderen Seite. Auch meine Tochter ist fasziniert von Laptop und Tablet und hat schon früh ein eigenes Wort für Computer entwickelt. Sie weiß, dass sie mit diesen Geräten Kontakt mit den Großeltern aufnehmen kann, auch wenn diese gerade nicht da sind. Wir können Fotos und Videos anschauen und gemeinsam Musik hören. Plötzlich bin ich nicht Medienexperte, sondern ein Vater, der das eigene Kind begleitet, gelegentlich nachsichtig ist und doch auch immer wieder auf Regeln und Grenzen besteht.

Wie kann es uns gelingen, Kinder in eine digitalisierte Welt zu begleiten? Eine Welt, in der Smartphone, Bildschirm und Internet allgegenwärtig sind? Digitaler Kindergarten, E-Learning, Tabletklassen und digitale Kompetenzen sind Wörter, die in unseren Sprachgebrauch eingezogen sind. In den letzten Jahren ist meine Arbeit zunehmend komplexer geworden. Ich spreche mit anderen Pädagoginnen und Pädagogen, mit Kinderpsychiaterinnen und Kinderpsychiatern und beobachte so gut wie möglich die globale Medien- und Technologieszene. Am wichtigsten für mich aber: In Workshops und Therapie arbeite ich täglich mit Kindern und Jugendlichen und lasse mir von ihnen im wahrsten Sinne des Wortes »die Welt erklären«. So kann ich Lernender bleiben, kritisch hinterfragen und unterstützen, wo es Probleme gibt.

Dieses Buch ist die Sammlung meiner Erfahrungen der letzten Jahre. Es basiert auf hunderten Vorträgen, Workshops, Gesprächen mit Familien und Therapiestunden, auf Expertengesprächen und Beobachtungen – und auf den Erfahrungen, die ich selbst als Vater gemacht habe. Mein Ziel ist es, Eltern und Familien etwas in die Hand zu geben, was Licht in den digitalen Dschungel bringt. Ein Buch, das sowohl kritisch hinterfragt als auch konkrete Anleitungen und Ideen liefert. Ich bin mir sicher, dass wir es als Gesellschaft, als Familien und als Eltern gemeinsam schaffen, gute Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche im digitalen Raum zu schaffen, damit diese sich entfalten und ihr Potenzial verwirklichen können. Dabei sehe ich uns als Wegbegleiter und Unterstützer, kritisch hinterfragend und gleichzeitig immer dabei, Orientierung zu geben. Unsere Kinder sind immer ihre eigenen Wege gegangen. Die digitale Welt ist auf diesem Weg nur eine weitere Abzweigung.

Willkommen in der digitalen Welt der Kinder

»Das einzige Gerät, das sie jemals brauchen werden.« So könnten Smartphones beworben werden. Apple brachte 2007 das erste iPhone auf den Markt. In keiner Form war absehbar, was dies für die Welt bedeuten würde. Das Smartphone war als Technologie in erster Linie für den Arbeits- und Businessbereich gedacht. Es sollte Telefon, E-Mail, Kalender, Musikplayer und Internetbrowser in einem Gerät vereinen. Durch die sinkenden Preise und die zahlreichen Möglichkeiten dieser Technologie erwarben immer mehr Menschen ein Smartphone. Im Zuge dieser Verbreitung sickerten Smartphones vom High-End-­Bereich zunehmend in den Alltag von Erwachsenen. Ab 2010 verbreiteten sich die digitalen Alleskönner unter Jugendlichen, ab 2015 dann zunehmend auch unter Kindern. Die Entwicklung passierte quasi von »null auf hundert«: 2019 besaßen bereits 95 Prozent der 11- bis 13-Jährigen in Österreich und Deutschland ein Smartphone (OÖ Kinder- und Jugendmedienstudie und Bitkom Research Deutschland), in der Gruppe der 8-bis 9-Jährigen immerhin 33 Prozent.

Kinder, die nach 2007 geboren sind, haben eine Welt ohne ständige mobile Vernetzung niemals erlebt. Während die heutige Großelterngeneration von Vierteltelefonen erzählt (wo man immer hoffen musste, dass die Nachbarn nicht gerade telefonierten) oder von einer Zeit, in der es nicht rund um die Uhr unterschiedlichstes Fernsehprogramm gab, müssen wir der neuen Generation von einer Zeit berichten, in der nicht jede Information jederzeit auf Knopfdruck verfügbar war. Wir erzählen von einer Zeit, in der nicht jeder immer sofort erreichbar war und in der es vielleicht noch gar keine Mobiltelefone gab. Damals (also vor 2007), als Google Maps als Navigationssystem nicht auf jedem Smartphone verfügbar war. Oder damals, als es eigene Geräte zum Musikhören gab. Der Walkman, der Discman und der MP3-Player sind ganze Gerätetypen, die durch das Smartphone nahtlos ersetzt wurden.

Von Eltern wird ein pädagogisch sicheres Handeln mit Technologien erwartet, die sie selbst vielleicht nie hatten, und in digitalen Lebenswelten, die sie nicht verstehen oder noch nicht kennengelernt haben. Von Lehrerinnen und Lehrern wird gefordert, neue Medien im Unterricht zu verwenden und über diese zu informieren und zu sprechen, auch wenn dieses Thema kaum oder gar nicht Teil ihrer Ausbildung war. Die sogenannte digitale Revolution hat uns überholt und wir suchen laufend nach Antworten. Apps und Computerspiele können im Monatstakt wechseln, und während ein Trend erforscht wird, wurde er schon vom nächsten abgelöst. Wir bestaunen moderne 3D-Grafik, und der nächste angebliche Trend, die virtuelle Realität mittels Virtual-Reality-Brille, steht schon in den Startlöchern.

Wie viel ist zu viel? Wie kann ich etwas begleiten, was ich selbst nicht verstehe? Wie kann ich mein Kind unterstützen, wenn es selbst das Gerät weitaus besser bedienen kann als ich? Was ist die Faszination dieser Videos und Spiele? Warum fällt es so schwer, abzuschalten, und wie kann das trotzdem gelingen? Wie kann ich mein Kind vor möglichen Gefahren im Internet schützen? Wie kann es gelingen, ein mündiger und verantwortungsvoller Internetnutzer zu werden?

Dieses Buch soll dabei unterstützen, auf diese Fragen Antworten zu finden. Wichtig ist hierbei, dass es keine Standard­antworten gibt, die für alle Familien passen. Alle Kinder und Jugendlichen sind unterschiedlich und ebenso alle Familien. Die digitalen Technologien und Trends ändern sich rasend schnell und die Forschung zur Wirkung digitaler Medien auf Erwachsene, aber noch mehr auf Kinder und Jugendliche, hinkt durch das hohe Tempo der Entwicklung hinterher. Das Buch soll eine Begleitung durch den digitalen Dschungel darstellen und dabei helfen, eigene Lösungen als Familie zu erarbeiten. Mit meiner Arbeit will ich Eltern, Bezugspersonen und Pädagoginnen und Pädagogen helfen, Kindern und Jugendlichen in ihren digitalen Lebenswelten zu begegnen, sie zu verstehen und zu begleiten. Damit soll dieses Buch eine unterstützende Funktion bei der Erfüllung unserer Aufgabe als Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen haben, Kindern sichere Rahmenbedingungen zu bieten, damit diese selbstständig die Welt um sie herum entdecken können.

Heranwachsen in einer vernetzten Welt sieht heutzutage anders aus als die Medienerfahrungen der 90er-Jahre und des frühen neuen Jahrtausends. Als Neugeborener wurde er bereits von den Eltern mit der Handykamera fotografiert. Die Bilder wurden stolz in der Whats­App-Familiengruppe geteilt und an Freunde verschickt. In diesem Stil werden auch die ersten Wochen und Monate von Klaus von Medien geprägt sein, von jeder Bildaufnahme, vom Videotelefonat über Skype mit den Großeltern und dem Läuten des Handys der Eltern, wenn Freunde telefonisch zu seiner Geburt gratulieren wollen. Selfies mit Klaus, süße Videos und vielleicht auch Fotos für den eigenen Blog oder Instagram-Account sind die früheste Form der Mediengestaltung, an der er, wenn auch noch passiv, teilnimmt.

Klaus sieht seine Eltern täglich mit diesen magischen Geräten interagieren. Sie leuchten, piepen, läuten, blinken und üben damit eine unglaubliche Anziehung aus. Gleichzeitig haben sie oft auch den Ruf des Verbotenen. Der Zugang zu diesen Geräten wird häufig durch die Eltern limitiert. Diese Verhaltensweise macht die Anziehung noch größer. Mit zwei oder drei Jahren beginnt Klaus, mit Kinder-Apps am Tablet zu spielen und gemeinsam mit der Mutter Fotos am Handy anzuschauen. YouTube-Videos ersetzen das Nachmittagsfernsehen, da hier alles immer auf Wunsch (möglichst kindergerecht) abrufbar ist. Auf »Shaun das Schaf« muss nicht gewartet werden, denn Shaun ist immer mit dabei. Beim Besuch der Freunde ist Ruhe, denn die Kinder schauen gemeinsam YouTube-Videos und haben dabei längst entdeckt, dass jede Berührung des Bildschirms eine direkte Reaktion des Geräts bewirkt. Neugierig, wie Klaus ist, beginnt er bereits, diese digitale Welt zu erforschen. In seinem Umgang mit der di­gitalen Welt ist Klaus dabei viel natürlicher als Erwachsene. Während die Generation der »Digital Immi­grants«, also der digitalen Immigranten, die vor 1980 geboren wurden, mehr über Folgen und Komplikationen, Bezahlabos oder pornografische Inhalte nachdenkt, tippt Klaus fröhlich auf das erste blinkende Bild, um zu schauen, was passiert. Klaus ist ein sogenannter »Digital Native«, ein digitaler Eingeborener. Während die Digital Immigrants in eine digitale Welt erst nach und nach eingezogen sind, wurde Klaus als Digital Native bereits in diese Welt hineingeboren.

Mit sieben Jahren hat Klaus ein eigenes Tablet. Natürlich ist der Zugang zu diesem Gerät zeitlich limitiert, doch Klaus kann davon kaum genug bekommen. Um jede weitere Runde im Spiel und jedes weitere YouTube-Video wird mit den Eltern ver­handelt: Noch eine Runde spielen, noch ein Video schauen, dann ist aber wirklich Schluss. Zur Erstkommunion bekommt Klaus ein eigenes Smartphone. Damit wird für ihn der Einstieg in die schon lange angekündigte Welt von Whats­App und anderen Messengern möglich. Vorher hatte Klaus jahrelang Zeit, die Eltern im Umgang mit diesen Medien zu beobachten: Bilder verschicken, Nachrichten versenden, in Gruppen aktiv sein. Beim Essen läutet das Handy und der Vater erzählt von seiner Freundesgruppe, die sich zum Volleyball verabredet. Selbstverständlich will Klaus an dieser Welt der ständigen Verfügbarkeit und Kommunikation teilnehmen. Mit dem eigenen Handy werden Klaus endlich diese digitale Welt und die mit ihr verbundenen Möglichkeiten, wie Fotos und Videos zu verschicken, den eigenen Standort zu teilen und vieles mehr, eröffnet. Eine der größten Herausforderungen wird für ihn sein, von dieser Welt bewusst Abstand zu nehmen und Abgrenzung zu erlernen. Welchen Druck es bedeutet, ständig erreichbar zu sein, wird Klaus nun kennenlernen.

Spätestens mit Eintritt in die Unterstufe ist ein eigener Computer notwendig. Zunehmend werden auch in Volksschulen bereits Computer verwendet. E-Homework will erledigt werden, die Lehrerinnen und Lehrer schreiben E-Mails mit Zusatz­aufgaben und Informationen zum Klassenausflug und Hausübungen dürfen statt mit Hand und Füllfeder mit Microsoft Word geschrieben werden. Die Zeiten von COVID-19 haben deutlich gemacht, wie sehr gesellschaftlich und politisch davon ausgegangen wird, dass alle Kinder Laptop und Internetanschluss besitzen und diese Technologien auch entsprechend bedienen können. Mit dem eigenen Computer wird auch die Spielewelt vom Handy auf den großen Bildschirm erweitert. Seine Freunde haben schon lange Spielkonsolen wie Xbox oder Play­Station, also möchte auch Klaus langsam eine eigene. Manche Freunde wollen nicht mehr zu Besuch kommen, da er keine Konsole besitzt.

Nach Whats­App folgt ein Snapchat-Account, welcherdie Kommunikation mit Freundinnen und Freunden weiter beschleunigt. Darauf folgt der Instagram-Account. Klaus ist inzwischen zu einem Jugendlichen geworden und nutzt das Internet mit 14 Jahren etwa sechs Stunden pro Tag (ARD-ZDF-Onlinestudie 2019). Die durchschnittliche Nutzungsdauer ist 2019 im Vergleich zum Vorjahr um weitere 15 Minuten angestiegen. Fließend wechselt er zwischen Whats­App, Snapchat, Instagram, Handy- und Konsolenspielen. Abgeschaltet wird ungern. Es gibt immer noch etwas, was wichtig ist – und selbstverständlich haben angeblich alle Klassenkolleginnen und Klassenkollegen unbegrenzten Zugriff auf ihre Geräte und viel weniger strenge Eltern.

Die Eltern von Klaus sind manchmal ratlos. Sie selbst hatten in ihrer eigenen Kindheit vielleicht einen Super Nintendo als Spielkonsole, aber diese modernen Geräte mit ständiger Internetverbindung hatten sie nicht. Sie verstehen manchmal nicht, worin die Faszination für Klaus liegt. Ihnen fällt jedoch auf, dass Regeln oft ignoriert werden und ständig über die Nutzungsdauer verhandelt werden muss. Das neue Handy ist schnell nicht mehr gut genug und überhaupt will Klaus einen umfassenderen Handyvertrag, da das Downloadvolumen von mehreren Gigabyte schon wieder aufgebraucht ist. Gleichzeitig sind sie der Überzeugung, dass diese Technologien nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart sind. Klaus muss lernen, sie zu bedienen, in beinahe jedem Job wird eine Vertrautheit im Umgang mit neuen Medien als selbstverständliche Voraussetzung gesehen.

Die neuen Generationen aber wachsen in Bezug auf Technologie vollkommen anders auf als noch ihre Eltern. Das Internet war immer Teil ihrer Lebenswelt. Fernseher, Beamer, Tablet und Smartphone sind Technologien und Geräte, die für sie immer da waren. Kleinkinder behandeln Printmagazine wie Ta­blets und versuchen, von einer Seite auf die nächste zu wischen. Kinder im Alter von vier Jahren nutzen Videotelefonie ganz selbstverständlich am Telefon der Eltern, spielen Spiele oder sehen Fotos an.

Für diesen Generationenwechsel lässt sich kein genauer Zeitpunkt festmachen. Die Kinder der späten 80er und frühen 90er Jahre sind eine Art Sandwich-Generation. Viele hatten in ihrer Teenagerzeit bereits Mobiltelefone, jedoch keine Smartphones. Die Spät-80er und 90er kauften ihr erstes Smartphone mit Anfang 20. Momentan findet der Einstieg in die Welt der Smartphones mehr als zehn Jahre früher statt. Das Smartphone ist zum beliebtesten Geschenk zur Erstkommunion geworden, al­so für Kinder im Alter von circa 8 bis 9 Jahren. Die Zahlen für Deutschland sprechen eine klare Sprache: Bereits 33 % der Kinder im Alter zwischen 8 und 9 besitzen ein eigenes Smartphone, im Alter von 10 bis 11 Jahren sind es dann schon 75 %. Eine Studie des Vereins Safer Internet Österreich berichtet davon, dass 33 % der Kinder zwischen null und sechs täglich internetfähige Geräte nutzen weitere 46 % der Kinder mehrmals pro Woche. Im Durchschnitt waren die Kinder bei ihren ersten Versuchen ein Jahr alt. Der Großteil der Kinder hat zum Zeitpunkt des ersten Eigenbesitzes also schon über sechs Jahre Medienerfahrung.

Mit den technologischen Möglichkeiten haben Smartphones für Kinder immens an Anziehung gewonnen. Kleine Kinder sind fasziniert vom Smartphone der Eltern. Viele Jugendliche sind technologisch voll ausgestattet – Smartphone, Tablet, Smartwatch, eBook-Reader, Laptop. Sie wachsen in einer vernetzen Welt auf.

Welche Geräte hatten Sie in Ihrer Jugend?Was hat Sie an diesen Geräten fasziniert?

Das vorliegende Buch gliedert sich in drei große Abschnitte: Begreifen, Begleiten und Begrenzen. Im ersten Abschnitt wollen wir gemeinsam die Faszination und Magie des Internets und der digitalen Geräte verstehen und herausfinden, wie sie funktionieren und welche Mechanismen sie so attraktiv für uns Menschen machen. Nur das, was ich verstehe, kann ich reflektieren und ändern. Im zweiten Abschnitt – Begleiten – wird es darum gehen, wie wir Kinder und Jugendliche in der digitalen Welt unterstützen können. Wie viel müssen wir wirklich wissen? Wie können erste Schritte gelingen? Welche Rolle spielt Kontrolle? Wie kann die digitale Welt gemeinsam erschlossen werden? Der letzte Abschnitt – Begrenzen – widmet sich der Frage, wie ein Rahmen für Kinder und Jugendliche geschaffen werden kann. Welche Grenzen oder Regeln sind notwendig und wie können wir sie durchsetzen? Sind technische Sperren sinnvoll?

Im Lauf des Buches finden Sie immer wieder Reflexionsfragen. Diese Fragen sollen Ihnen helfen, sich an eigene Er­lebnisse zu erinnern, die eigenen Positionen zu hinterfragen und eine Haltung zum Thema Neue Medien zu entwickeln. Sie sind eine Einladung, zu reflektieren und mit Freundinnen und Freunden oder der Partnerin oder dem Partner zu diskutieren.

Das Buch will Mut machen und dazu anregen, die digitale Welt (gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen) zu entdecken und sich diesen neuen Herausforderungen in unterschiedlichsten Kontexten zu stellen. Das Internet bietet gegenüber älteren und digitalen Technologien wie dem Fernsehen einen großen Vorteil: Es ist ein partizipatives Medium. Wir alle können es mitgestalten. Durch unsere Nutzung, durch Inhalte, die wir hochladen, durch das Akzeptieren oder Verneinen von Geschäftspraktiken und durch Regeln und Grenzen. Wenn wir uns diesen neuen Herausforderungen der Mitgestaltung in der digitalen Welt stellen, kann es uns gelingen, dieses Medium nach unseren Wünschen zu formen und die neuen digitalen Generationen gut in diese spannende Welt voller Wunder zu begleiten.

Begreifen. Warum verstehen besser ist als verbieten

Eine neue Welt

»Mama, Lisa und ich sind jetzt bei Discord. Und nachher spielen wir wieder LOL oder Minecraft PvP.« Verstehen Sie auch manchmal nur Bahnhof?

Unseren eigenen Garten oder den Lieblingsspielplatz unseres Kindes kennen wir gut. Vielleicht haben wir den Garten sogar selbst angelegt, verbringen in den warmen Jahreszeiten täglich mehrere Stunden dort und kennen alle Winkel und Verstecke. Den Spielplatz haben wir jahrelang ohne Kind im Vorbeifahren gesehen und dann gemeinsam mit unserem Kind erforscht. Wir sitzen auf der Bank und schauen beim Spielen zu oder beobachten durch das Küchenfenster, was unsere Kinder im Grünen gerade entdecken.

Auch wir sind möglicherweise draußen groß geworden. Der Garten oder der Spielplatz sind Welten, in denen wir selbst Erfahrungen gesammelt haben, die uns vielleicht noch über­raschen, uns aber nicht gänzlich unbekannt sind. Der Garten wurde nicht erfunden, als wir 30 Jahre alt waren, und wir haben nicht mit 18 Jahren das erste Mal einen Spielplatz gesehen. Mit dem Smartphone verhält sich das anders. Nicht nur weil wir später mit diesen Technologien in Kontakt gekommen sind, sondern weil sie für sich abgeschlossener sind. Das Handy bedienen wir eher alleine; es ist ein Mikrokosmos, der nur ein kleines Fenster hat und gleichzeitig wenig oder gar keine Grenzen. Jedes Smartphone öffnet automatisch ein Fenster in die unbegrenzten Weiten des Internets.

Mit dem Einzug der Smartphones ab dem Jahr 2007 ist eine neue Welt entstanden. Diese gab es in der Kindheit und Jugend der meisten Eltern noch nicht. Ihre damalige digitale Welt war eine des Fernsehens (und das war oft noch analog). Als der Fernseher zunehmend in die Haushalte einzog, gab es große Aufregung. Fernsehen mache angeblich dumm oder süchtig, außerdem auch kurzsichtig und führe dazu, dass Kinder die Welt draußen vernachlässigen würden. Es gab eine Phase der Überforderung mit und Angst vor dieser damals neuen Technologie. Das, obwohl das Angebot an Sendern beschränkt war. Erst das Satellitenfernsehen Anfang der 90er-Jahre machte eine sehr große Sendervielfalt für mehr Menschen zugänglich. Die große Aufregung um Fernseher legte sich mit den Jahren. Die Geräte wurden Teil unserer Lebenswelt und Familien entwickelten unterschiedliche Strategien, um mit dem Fernsehkonsum ihrer Kinder umzugehen. Der Fernseher ist damit eine Technologie, an die die jetzige Elterngeneration gewöhnt ist. Die Frage nach dem angebrachten Fernsehkonsum taucht zwar nach wie vor auf, aber sie baut auf einer Vertrautheit mit dem Medium auf.

Können Sie sich an Ihre erste Fernsehsendung erinnern? War Fernsehen damals noch etwas Besonderes oder war die Grenze zum Alltäglichen schon überschritten?

Hier ist es wichtig, die technologische Verbreitung in Betracht zu ziehen. Die Verbreitung des Fernsehens im Haushalt ist an einer Statistik aus Deutschland ablesbar. Während 1956 4 % der Haushalte einen Fernseher hatten, waren es 1965 64 % und im Jahr 1971 schon 88%. Bei Kindern und Jugendlichen war 2007 circa 1 % in Besitz eines eigenen Smartphones. 2015 waren es laut der deutschen QIM-Studie 97,5 % der befragten Jugendlichen. Wir erleben somit eine Technologie, die von 0 % auf beinahe 100 % in weniger als zehn Jahren gesprungen ist. Dies ist in der Geschichte der Menschheit die schnellste Verbreitung einer Technologie, die es jemals gab. Im Vergleich dazu: Die ersten Telefongespräche in Österreich mit damals 154 Anschlüssen fanden 1881 statt, 1972 gab es die letzte Handvermittlung in einer Telefonzentrale. Das Telefonsystem war ab dann vollständig automatisiert. Im Jahr 1958 gab es 369 626 Hauptanschlüsse für Telefone in Österreich, wie das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung 1959 erhob. 2018 gab es in Österreich knapp 11 Millionen Mobilfunkanschlüsse. Das bedeutet, dass jede Österreicherin und jeder Österreicher zum aktuellen Zeitpunkt im Schnitt 1,5 SIM-Karten besitzt.

Die Folge davon: Wir können uns mit rasant wachsenden Technologien nicht vollständig auskennen. Smartphones sind ein Phänomen der letzten zehn Jahre. Sie haben in unserer Kindheit und Jugend nicht existiert und ihre stetige Veränderung und Verbreitung machen es beinahe unmöglich, auf dem Laufenden zu bleiben. Während die Zeilen für dieses Buch entstehen, ist das Bildschirmspiel Fortnite (in dem es darum geht, alle Gegenspieler abzuschießen und als Letzter zu überleben) noch ein großer internationaler Trend, aber bereits leicht rückgängig in den absoluten Nutzungszahlen. Virtual-Reality-Brillen sind nicht im täglichen Einsatz, aber die Entwickler von Bildschirmspielen zeigen mehr und mehr Interesse an dieser Technologie. Hunderte Hersteller veröffentlichen beinahe wöchentlich neue Smartphones, die sich technologisch jedoch immer ähnlich werden und selbst für Expertinnen und Experten Unterschiede zwischen den Modellen schwer erkennbar machen. Die Verkaufszahlen für Laptops und PCs sind leicht rückgängig, da die Nutzerinnen und Nutzer ihre Geräte länger besitzen und nicht so schnell austauschen. Facebook ist für junge Userinnen und User uninteressant geworden (zumindest in Österreich, nicht so in den USA), Instagram und Whats­App sind alltäglich, Snapchat ist es in den letzten beiden Jahren auch geworden. Discord wird zur Kommunikation bei Bildschirmspielen genutzt. Micro­soft und Sony haben bereits ihre nächste Generation an Spielkonsolen angekündigt, während Google eine Art »Netflix für Computerspiele« entwickelt, unter dem Namen Stadia. Mit Stadia wird es möglich sein, modernste Spiele auf dem Computer zu streamen, sie sind damit ohne Installation spielbar und werden – ähnlich wie Netflix – im Abo erworben. Ein solches Spiel-Streaming würde den gesamten High-End-Markt bei Computern verändern. Der ständige Austausch von Technologie würde endgültig überflüssig werden, selbst ältere Computer könnten modernste Spiele darstellen.

5 G löst das deutlich langsamer LTE-Netz zunehmend ab, in Ballungszentren in Österreich wird es bereits als Alternative angeboten. Die durchschnittliche Internetgeschwindigkeit wird damit um ein Vielfaches steigen. Durch COVID-19 sind Onlinekonferenzen von einem Tag auf den anderen allgegenwärtig geworden. Früher noch als Telework bezeichnet ist das Homeoffice plötzlich weit verbreitet. Unterschiedliche Tools kommen hier zum Einsatz, Schulen setzten anfangs noch auf Zoom, dann zunehmend auf datenschutzfreundlichere Systeme. Die Office-Produkte von Microsoft gibt es nur noch vereinzelt als lebenslange Lizenz, größtenteils werden sie per Onlineabo gemietet. Die letzte Videothek hat in Österreich im Jahr 2017 zugesperrt. Im Jahr 2020 startete Disney mit dem Streamingangebot Disney+ einen direkten Konkurrenten für Netflix. In den ersten drei Monaten konnte Disney+ weltweit 50 Millionen Kundinnen und Kunden aufbauen.

Diese schnell aufgezählten Beispiele sollen noch einmal deutlich machen, dass es für uns als Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen unmöglich geworden ist, mit dieser Verbreitung und rasanten Entwicklung Schritt zu halten. Bis Sie dieses Buch in den Händen halten, werden wieder neue Plattformen und Technologien die alten abgelöst haben. Die Digitalisierung ist ein ständiger Sprint geworden und das Tempo wird laufend höher.

Smartphone und Tablet sind eine Entwicklung der letzten zehn Jahre. Durch die rasante Verbreitung sind mehr als 90 % der über 11-Jährigen in Österreich mit einem oder mehreren Geräten ausgestattet. Die Forschung darüber hinkt hinterher und die aktuelle Entwicklung und weitere Verbreitung legt tendenziell an Tempo zu.

Virtuelle Beziehungen sind real

Klaus hat durch sein Lieblingscomputerspiel ein nettes Mädchen kennengelernt. Sie haben ein paar Wochen lang immer wieder im Voice Chat im Spiel geplaudert, vielleicht sogar ein bisschen geflirtet. Jetzt plötzlich ist sie weg und Klaus ist am Boden zerstört.

Was bei Eltern manchmal auf Unverständnis stößt, ist eine der wichtigsten Entwicklungen, die es zu verstehen gilt. »Virtuell ist real« bedeutet nämlich vor allem, dass Kinder und Jugendliche zwischen »Online-Beziehungen« (freundschaftliche, romantische und andere Beziehungen) und »Offline-Beziehungen« viel weniger Unterschied machen als die vorhergegangenen Generationen. Die digitale Generation lebt ihre Beziehungen nahtlos online und offline. Mit dem besten Freund kann am Heimweg im Schulbus noch der Tag besprochen werden und nach dem Aussteigen geht das Gespräch direkt auf Whats­App weiter. Wo Instant-Messaging-Dienste für die Elterngeneration eher dem Informationsaustausch dienen, sind sie für Jugendliche ein Weg, um Beziehungen digital weiter zu leben. »Ich hab’ gestern mit meiner Freundin geredet – auf Whats­App.« Dieser typische Satz von Jugendlichen bringt es auf den Punkt.

Jugendliche können digital Freundschaften schließen und sich online verlieben. Diese »digitalen« Beziehungen sind nicht weniger real als die »Offline-Beziehungen«, die Erwachsene leben. Das bedeutet auch, dass der dort erlebte Schmerz über Streit und Trennung ebenso real ist. Manchmal gibt es bei älteren Generationen die Vorstellung, dass dies ohnehin nur »virtuell« sei; dass Beziehungen im digitalen Raum nicht so »echt« seien wie die zu unserem besten Freund, mit dem wir schon in den Kindergarten gegangenen sind. Die digitale Welt begreifen bedeutet auch, sich von dieser Vorstellung zu trennen. Ein Vergleich, der manchmal hilfreich ist: Eine Brieffreundschaft (eine Form der Freundschaft, die inzwischen so gut wie verschwunden ist) war in unserem Verständnis auch eine Freundschaft. Ein Telefonat ist auch ein »echtes« Gespräch, selbst wenn die Person nicht unmittelbar anwesend ist. So sind alle Beziehungserfahrungen, die Kinder und Jugendliche im digitalen Raum machen, ebenfalls echt.

Hatten Sie früher eine Brieffreundschaft? Oder eine E-Mailfreundschaft? Haben Sie schon einmal online jemanden kennengelernt? Wenn ja, wie hat sich das angefühlt?

Für uns als Eltern bedeutet dies, dass wir mit den Online-Erfahrungen unserer Kinder respektvoll umgehen müssen. Wir müssen uns bewusst sein, dass das, was dort passiert, nicht nur virtuell oder simuliert ist. Es sind echte Erfahrungen, die Freude auslösen oder verletzend sein können, die Kränkungen zur Folge haben oder Bauchkribbeln verursachen.

Mit diesem Verständnis im Hinterkopf wird auch klarer, warum für viele Kinder das Wegnehmen des Smartphones als Konsequenz so schlimm ist. Smartphone-Entzug ist der neue Hausarrest. Hier schneiden wir den Kindern und Jugendlichen die Nabelschnur zu ihrer digitalen Welt ab und setzen Freundschaften auf Pause. Diese Maßnahme löst daher oft eine sehr starke Reaktion aus. Jugendliche werden wütend, schmeißen vielleicht die Tür zu oder schreien die Eltern an. Manchmal sind wir durch diese Reaktion verstört und haben Angst, sie sei ein Zeichen, dass unser Kind süchtig nach der Technologie ist. Glücklicher­­weise kommt eine Internetsucht nur sehr selten vor (und hat meist Gründe, die viel eher in der Familie als im Internet liegen). Der plötzliche Abbruch der digitalen Kommunikation ist vergleichbar mit Isolationshaft – auch wenn es für uns manchmal unverständlich wirken mag. Kinder sind – wie alle Menschen auf der Welt – also viel eher süchtig nach Beziehungen. Ohne Beziehungen zu anderen Menschen können wir nicht überleben und der Smartphone-Entzug kappt eben diese so wichtigen Beziehungen manchmal radikal. Besonders im Teenager-Alter werden dann die Beziehungen zu Freundinnen und Freunden noch einmal wichtiger. Teenager brauchen Rückmeldung und Bestätigung aus der Peergroup, der Aufbau eines Netzwerks an Beziehungen außerhalb der Familie ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe. Der Smartphone-Entzug unterbricht diese Entwicklung radikal. Alternative Handlungsmöglichkeiten finden Sie im dritten Teil des Buches.

Hinzu kommt, dass bestimmte Apps (beispielsweise Snapchat) massiv auf einem Belohnungs- / Bestrafungssystem aufbauen. Dieses System macht es notwendig, spätestens alle 24 Stunden einen Blick in die App zu werfen und bestimmte Nachrichten (sogenannte Snaps) zu beantworten. Macht man das nicht, »bestraft« die App sowohl mich als auch die Person, mit der keine Snaps ausgetauscht wurden. Für jeden Tag, an dem ein Snap hin- und hergeschickt wird, zählt die App einen Punkt dazu. Ein sogenannter Snapstreak hat die Form einer Flamme, in der eine immer höhere Zahl steht. Nach 30 aktiven Tagen beispielsweise »30«. Wenn aber an einem Tag ausgesetzt wird, verschwindet die Flamme bei mir und meinem Chatpartner und wir starten wieder bei null. Es entsteht so­mit auch ein sozialer Druck, möglichst oft die App zu öffnen und Nachrichten auszutauschen. Diese Wirkmechanismen werden uns im Laufe des Buches noch beschäftigen – wir treffen im Internet ständig auf sie. Manche Jugendliche in meiner psycho­­therapeutischen Praxis haben einen Snapstreak von 200 oder 300. Die persönlichen und sozialen Kosten diesen zu verlieren, steigen also zunehmend an. Snapchat visualisiert damit genau so wunderbar, wie trickreich soziale Beziehungen und die bereits getätigte Investition an Zeit und Aufwand sein können. Mit der Zeit wird es somit immer schwieriger, aus dem System auszusteigen.

Tobias kam auf Wunsch der Eltern zu mir in Therapie. Die Eltern waren sehr besorgt: Tobias war von seinem Smartphone fast nicht mehr zu trennen, verbrachte täglich acht bis neun Stunden an seinem Gerät und auch die Schulnoten waren schon schlechter geworden. Die Eltern hatten bereits probiert, ihm sein Smartphone wegzunehmen. Ihre Idee war, dass ein radikaler Entzug Tobias helfen könnte, in die Realität zurückzufinden. Im Erstgespräch mit den Eltern war Tobias sehr still und wirkte leicht genervt auf mich. Die Eltern überlegten lange und laut, was wohl der Grund für die mögliche Smartphonesucht sein konnte und wollten von mir konkrete Ideen, wie sie Tobias vom Smartphone trennen konnten. Den täglichen Streit über das Gerät hatten sichtlich alle Familienmitglieder satt. In der zweiten Stunde – wie eigentlich immer – kam Tobias dann ohne seine Eltern. Kaum war er ohne Eltern, begann er von seinen digitalen Abenteuern zu erzählen und dem Freundeskreis, den er auf unterschiedlichen Plattformen gefunden hatte. In der Klasse war es immer wieder schwierig für ihn, Anschluss zu finden, und er war sich nicht sicher, ob die Schule wohl die richtige für ihn sei. Die digitale Welt aber, die war in Ordnung. Dort konnte er Freundschaften und Hobbys leben. In der nächsten Stunde holten wir die Eltern wieder dazu. Gemeinsam gelang es uns, ein bisschen von dieser digitalen Welt zu erzählen. Den Eltern gelang es im Gegenzug, ehrliches Interesse für die für sie anfangs unverständliche Lebenswelt von Tobias zu entwickeln. Plötzlich war wieder ein Gespräch über Medien möglich, das nicht von Streit geprägt war. Tobias fühlte sich zunehmend verstanden und für ihn wurde es möglich, auch die Ängste der Eltern zu verstehen. Unsere Arbeit endete an dieser Stelle – von Sucht war keine Rede mehr.

»Virtuell ist real« bedeutet jedoch nicht, dass Kinder nicht zwischen Realität und Computerspiel unterscheiden können. Zahlreiche Studien (Sie finden einige davon unter www.lukas-wagner.at/links) zeigen eindeutig, dass Jugendliche, die gewalttätige Computerspiele spielen, nicht automatisch zu Amokläufern werden. Kinder und Jugendliche wissen sehr wohl, was Realität und was nur im Computerspiel möglich ist. Die aufgehobene Unterscheidung zwischen real und virtuell betrifft ausschließlich den Bereich der Beziehungen zu Freundinnen und Freunden, zu den Eltern oder Partnerinnen und Partnern. Der Streit mittels Whats­App ist genauso real, aufwühlend und wirkungsvoll wie das Schreiduell am Schulhof. Im späteren Teil dieses Buches finden Sie noch ein ausführliches Kapitel unter dem Titel »Hauptberuflich Spielen« zum Thema Bildschirmspiele und der Abgrenzung von digitalen Abenteuern, Gewaltbereitschaft und Sucht.

Für uns als Eltern bedeutet dies vor allem, dass wir das, was im digitalen Raum passiert, mindestens genauso ernst nehmen müssen, wie das, was analog passiert. Würde unser Kind in der Schule mit dem besten Freund furchtbar streiten, kämen wir nicht auf die Idee, ihm zu erklären, dass das ohnehin nicht echt war und nicht so schlimm ist. Wir geben uns Mühe, liebevoll zuzuhören, nehmen es vielleicht in den Arm und helfen ihm, sich zu beruhigen und den Streit aus dem Weg zu räumen. Das gleiche sollten wir im digitalen Raum machen, ganz egal ob es sich um Streit, Verliebtheit, Liebeskummer oder Ärger handelt. Es ist eben doch alles nicht weniger echt.

Kinder unterscheiden bei Beziehungen viel weniger zwischen virtuell (»nur online«) und real als die Eltern­generation. Onlinebeziehungen sind genauso echt wie die Freundschaft zu Klassenkolleginnen und Klassenkollegen. Dies müssen wir als Eltern würdigen und ernst nehmen und die Kinder in ihren neuen Beziehungsideen respektieren. Dennoch bedeutet dies nicht, dass Kinder Computerspiele und Realität nicht auseinanderhalten können.

Der geheime Garten