Unsere Mutter - Allan Knoll - E-Book

Unsere Mutter E-Book

Allan Knoll

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Beschreibung

Ein Plädoyer gegen Hass und Antisemitismus – „Unsere Mutter“ ist ein warmherziges Porträt über die ermordete Jüdin Mireille Knoll

Sie hat ihnen die Tür geöffnet, und sie haben sie getötet, weil sie Jüdin war. Sie hieß Mireille Knoll und wurde im Alter von 85 Jahren in ihrem Appartement in Paris durch elf Messerstiche ermordet. Als bekannt wird, dass es sich um einen antisemitischen Akt handelt, finden im ganzen Land Kundgebungen statt.
Allan und Daniel Knoll zeichnen das einfühlsame Porträt ihrer Mutter, einer lebensbejahenden Kosmopolitin, die den Holocaust überlebt hat und deren Tür stets offen für verschiedene Menschen, Religionen und Weltanschauungen stand. Sie erzählen ihre außergewöhnliche Familiengeschichte von Paris und Wien über Deutschland und Portugal bis nach Brasilien. Vor allem aber setzen sie ein Zeichen gegen den Hass.

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Das ist das Cover des Buches »Unsere Mutter« von Allan Knoll, Daniel Knoll

Über das Buch

Ein Plädoyer gegen Hass und Antisemitismus — »Unsere Mutter« ist ein warmherziges Porträt über die ermordete Jüdin Mireille KnollSie hat ihnen die Tür geöffnet, und sie haben sie getötet, weil sie Jüdin war. Sie hieß Mireille Knoll und wurde im Alter von 85 Jahren in ihrem Appartement in Paris durch elf Messerstiche ermordet. Als bekannt wird, dass es sich um einen antisemitischen Akt handelt, finden im ganzen Land Kundgebungen statt.Allan und Daniel Knoll zeichnen das einfühlsame Porträt ihrer Mutter, einer lebensbejahenden Kosmopolitin, die den Holocaust überlebt hat und deren Tür stets offen für verschiedene Menschen, Religionen und Weltanschauungen stand. Sie erzählen ihre außergewöhnliche Familiengeschichte von Paris und Wien über Deutschland und Portugal bis nach Brasilien. Vor allem aber setzen sie ein Zeichen gegen den Hass.

Allan und Daniel Knoll

Unsere Mutter

Die Jüdin, die nicht hassen wollte

Aus dem Französischen von Isolde Schmitt

Mit einem Nachwort von Michaela Wiegel

Paul Zsolnay Verlag

Für unser geliebtes Veigele.

Für unsere Mutter.

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Fußnoten

Über Allan Knoll, Daniel Knoll

Impressum

Inhalt

Einführung

Mireille Kerbel — von der Kindheit bis zur Heirat

Oma Sarah, unser »Bonbon«

Opa Émile, ein richtiger Held

1940: Mireille ist acht Jahre alt — das Ende einer unbeschwerten Kindheit

Portugal und Kanada: das Leben unserer Mutter im Zeichen von Reisen

Mireille Kerbel — ein junges Mädchen in Paris

Mireille heiratet Kurt Knoll

Liebe auf den ersten Blick

Kurt Knoll — eine Kindheit in Wien in bescheidenen Verhältnissen

Die Knolls — unerwünscht und ewig auf der Flucht

Konvoi n° 33 — die Deportation unseres Vaters

Veigele — die ersten gemeinsamen Jahre des Ehepaars Knoll

Eine Ehe im Zeichen der Fröhlichkeit

Unsere Großeltern — jüdisch, aber so unterschiedlich, unsere Eltern — ein klein wenig wie sie

Zurück zu Papas Ursprüngen — und zu seiner Sprache

Unsere Jugend — ohne irgendwelche Vorschriften

Das Erwachen unseres jüdischen Bewusstseins

Die Scheidung — eine zweite Jugend

Heirat der Kinder, Scheidung der Eltern

Liebesgeschichten

Die israelischen Enkeltöchter einer kosmopolitischen Großmutter

David — die große Liebe

75 Jahre und kein bisschen weise: Mutters zweiter Frühling

Jovita — Mutters rettender Engel

Die Zeit ohne David

Mutter, eine alte gebrechliche Dame

Der verfluchte Y — erster Teil

Die Rückkehr des verfluchten Y

Der verfluchte Y — ein tödlicher Besuch

Die Schockstarre

Mittwoch, der 28. März, der turbulente Tag der Beerdigung

Von der Pflicht, Überlegungen anzustellen, ohne je wirklich zu verstehen

Eine Stellungnahme

Das Trauma

Gibt es eine Zukunft für Juden in Frankreich?

Warum?

Zum Abschied

Danksagung

Nachwort — von Michaela Wiegel

Einführung

Unsere Mutter hatte immer eine romantische Ader. Außerdem war sie eine Kosmopolitin, wovon die Männer, die sie liebte, ihre Träume, ihre Bekanntschaften und ihr Lebensweg zeugen. Dennoch hätte der Name Mireille Knoll niemals einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden, niemals ihr Bild in den Zeitungen, auf den Fernsehbildschirmen, auf Plakaten oder der Fassade von Gebäuden aufscheinen sollen. Unsere Mutter hatte niemals große Aufmerksamkeit auf sich gezogen und keinerlei besondere Rolle in der Öffentlichkeit gespielt. Das war ihr zuwider, und wir hätten es vorgezogen, wenn dies so geblieben wäre, wenn der Name Mireille Knoll niemals Symbolcharakter angenommen, niemals für einen Kampf gestanden hätte. Es wäre schön gewesen, wenn er einfach nur der Name unserer Mutter geblieben wäre, den nur wir, ihre beiden Söhne, der Rest der Familie sowie ihre Freundinnen und Freunde kannten.

Am Freitag, den 23. März 2018 wurde unsere Mutter im Alter von 85 Jahren durch elf Messerstiche — einen mitten in die Kehle — ermordet. Dann wurde Feuer in ihrer Wohnung gelegt, um sie zu verbrennen — ganz wie in den Konzentrationslagern, denen sie 76 Jahre zuvor knapp entkommen war. Das hatte sie zwar geschafft, nicht jedoch ihr Onkel Nathan, der in Auschwitz vergast und verbrannt worden war. Ihr Mann, unser Vater, hatte das Konzentrationslager zwar überlebt, er war jedoch auf immer davon gezeichnet. Auch die Menschen, die in ihrem Pariser Wohnhaus gewohnt hatten, und ihre Freunde hatten nicht überlebt. Anfangs wollten wir keinerlei Zusammenhang zwischen diesen beiden Tatsachen herstellen. Wir lebten nicht mehr in diesen barbarischen Zeiten. Wir hatten die Zeit der Nazis längst hinter uns gelassen. Es war undenkbar, dass man in Frankreich, diesem für die Aufklärung berühmten Land, im Jahr 2018 noch ermordet und verbrannt wurde, weil man Jüdin war. Wer würde das hinnehmen? Wir weigerten uns, es zu glauben. Während der nächsten drei Tage, die von albtraumhaften Schreckensbildern, Schlaflosigkeit und quälenden Fragen gekennzeichnet waren, ließen wir das Leben unserer Mutter vor unseren Augen Revue passieren, weil wir verstehen wollten. Jedoch fanden wir nichts, was uns irgendeine Erklärung für ihre Ermordung hätte geben können. Aufgrund ihrer Freundlichkeit hatte sie nie irgendeinen Feind gehabt und sich niemals mit irgendjemandem gestritten. Sie lebte ein sehr bescheidenes Leben und wohnte seit fast sechzig Jahren in der gleichen Gemeindewohnung, umgeben von Nachbarn, mit denen sie ein herzliches Verhältnis hatte, und ohne irgendwelche Besitztümer, die eines Diebstahls wert gewesen wären.

Am 26. März 2018 mussten wir geschockt zur Kenntnis nehmen, dass man bei der Ermordung unserer Mutter den Schrei Allahu akbar! gehört hatte und dass die Behörden von einem antisemitischen Verbrechen ausgingen. Nicht Nazis, sondern eine andere Art von Barbaren lebt hier und jetzt in Frankreich. Unsere Mutter war an dem gestorben, was sie gelebt hatte. Sie stand für das, was man das »Zusammenleben vieler Kulturen« nennt, sie war zwar Jüdin, aber es war ihr egal, welchen Glauben oder welche Kultur ihre Freunde und Besucher hatten. Und dennoch hatten ihre beiden Mörder*1 sie wohl aufgrund ihrer »Religionszugehörigkeit« getötet. Sie gehörte der jüdischen, die beiden Männer der muslimischen Kultur an. Unsere Mutter mochte diese Leute, sie war vertrauensselig, hatte keinerlei Vorurteile und empfing sie mit offenen Armen. Doch selbst wenn sie misstrauisch gewesen wäre — wem wäre es in den Sinn gekommen, dass ein Mann, den sie kennengelernt hatte, als er sieben Jahre alt war und den sie als ihren Freund betrachtete, den Körper einer alten, schwachen Dame zwanzig Jahre später zusammen mit einem Komplizen durchlöchern und verbrennen würde? Wo sie ihm freiwillig, und wie schon so viele Male zuvor, die Tür geöffnet hatte? Wer hätte sich eine solche Monstrosität vorstellen können? Um nicht verrückt zu werden, denken wir täglich nicht nur an das Leben unserer Mutter, sondern an das Beispiel, das sie uns gab. Das ist äußert wichtig, damit wir uns nicht von Zorn und Hass, den Vorurteilen und der Radikalität anstecken lassen, die wir an anderen so abstoßend finden. Es ist viel Kraft nötig, um ein solches Trauma zu überleben. Selbst jetzt, vier Monate nach diesem Ereignis, können wir die immer noch versiegelte Wohnung unserer Mutter nicht betreten. Uns war der Zutritt zu allem verwehrt, was uns an sie erinnerte — zu dem Raum, wo sie wohnte, zu dem Ort, an dem wir groß geworden waren, denn sie bewohnte immer noch die Gemeindewohnung unserer Kindheit. Nicht einmal ihr Gesicht konnten wir ein letztes Mal sehen, konnten nicht gemeinsam vor ihrem Körper stehen; daher bestand für uns die einzige Möglichkeit, am Leben festzuhalten, darin, ihr Leben Revue passieren zu lassen, wir, die wir in der Gegenwart und für die Zukunft lebten. Wurzeln werden sehr wichtig, wenn man nicht mehr die Möglichkeit hat, sie zurückzuverfolgen, und wenn man so tief in seinen Ursprüngen verletzt wird. Nach diesen zu suchen, Aufzeichnungen zu machen und uns ihrer zu erinnern half uns, nicht ins Wanken zu geraten und nicht möglichst vielen Leuten entgegenzuschreien, dass Jude ein Universalismus ist, kein Ausschließungsgrund, wie das Leben unserer Mutter und unsere Leben zeigen. »Zusammenleben« könnte der Titel unseres Familienalbums sein.

Polen, die Ukraine, Brasilien, vielleicht Shanghai, Portugal und Kanada waren Stationen auf dem Lebensweg unserer Mutter. Sie verliebte sich Hals über Kopf in unseren Vater, einen gebürtigen Österreicher, der in Belgien gelebt, in Polen gelitten und seinen Lebensabend in Deutschland verbracht hat. Zusammen bereisten sie alle Länder Europas, ebenso wie wir, ihre Kinder, in allen möglichen Gegenden der Erde zu Hause sind. Mein Bruder Allan arbeitet für eine Hilfsorganisation in Mali, ich*2 bin mit einer sehr katholischen Philippinerin verheiratet, meine Töchter leben in Israel. Unsere Eltern haben uns einen Grundsatz beigebracht, der naiv erscheinen mag, den wir jedoch weiterhin hochhalten: Das Herz kennt keine Grenzen und keine Religion.

Unsere Mutter lebte für die Liebe wie kaum jemand sonst. Zuerst war da unser Vater Kurt Knoll, aber auch nach ihrer Trennung stand die Liebe im Mittelpunkt ihres Lebens. Lieben und geliebt werden. Ganz beschäftigt mit der Suche nach ihrer besseren Hälfte, achtete unsere Mutter nie darauf, woher der andere kam, ober er jung oder alt, arm oder reich, Jude oder nicht Jude war. Für sie zählte das Herz, die Gefühle, nicht die Herkunft des anderen. Die Entscheidungen, die sie auf ihrem Lebensweg traf, zeigen das besser als lange Erklärungen. Mutter führte kein religiöses Leben. Sie zeigte uns, was Lebensfreude ist. Sie feierte die Feste, wie sie fielen, egal, ob sie religiös waren oder nicht. Sie liebte das Lamm, das zum jüdischen Paschafest gegessen wurde, aß den traditionellen Kuchen zum christlichen Dreikönigsfest und das Gebäck anlässlich des muslimischen Fest des Fastenbrechens. Sie hätte auch buddhistische Feste gefeiert, wenn sich die Gelegenheit dazu geboten hätte. Doch vor allem liebte sie es, zu sprechen, Menschen zu begegnen, zu lachen, zu tanzen, und bis zuletzt sang sie gerne. Natürlich waren wir auch Juden, aber diese Eigenschaft wurde erst seit dem Tod unserer Mutter zu einem Thema, zu dem wir uns Fragen stellen und wo wir genealogische Nachforschungen durchführen. Wenn einem mitgeteilt wird, dass die eigene Mutter Opfer eines antisemitischen Verbrechens wurde, dann kann man nicht umhin, sich zu fragen, was denn nun eigentlich das Jüdische am eigenen Leben ist, was es heißt, Jude zu sein, und was es für die vorangehenden Generationen bedeutete. Es war uns wichtig zu zeigen, dass Jude alles sein kann, außer ein Grund zu sterben, dass unsere Kultur eine lebensbejahende ist. Lebensfreude ist ein Muss — insofern war unsere Mutter uns ein Vorbild. Dieses Buch handelt in erster Linie von einem Leben, nicht vom Antisemitismus. Man muss verstehen, dass es sich, wenn man die Schlagzeile »Alte jüdische Dame ermordet« liest, dabei nicht nur um eine »alte jüdische Dame« handelt. Es geht um ein ganzes Leben voller Hindernisse, voller Wunder und mit viel Herz — und umringt von vielen Herzen —, wie man sie so zahlreich rund um die Bilder von Mireille Knoll nach deren Tod sah. Mireille Knoll steht für ein Leben — als Symbol einer universellen Freiheit. Sie war ein kleines Mädchen, eine Jugendliche, Frau, Ehefrau, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter, eine Freundin und vor allem eine Liebende. Die »alte jüdische Dame«, die ermordet wurde, war Maman.

Mireille Kerbel — von der Kindheit bis zur Heirat

Mutter wurde am 28. Dezember 1932 geboren. Ihre Eltern waren Émilio und Sarah Kerbel, geborene Finkel. Émilio war Schneider, und die Familie wohnte im Marais, im Zentrum von Paris, das damals ein Viertel war, in dem Menschen aus bescheidenen Verhältnissen wohnten. Es war jener Ort, an dem mittellose, aus Osteuropa eingewanderte Juden begannen, sich im Textilbereich unter ärmlichsten Bedingungen eine Existenz aufzubauen. Doch Émilio schlug einen anderen Weg ein. Der Vorname, der auf den Ausweispapieren stand, stammte aus der Zeit, die Émilio in Brasilien verbracht hatte. Kurz vor der Geburt unserer Mutter hatte er eine Fabrik für Regenmäntel und warme Bekleidung eröffnet, die sehr erfolgreich war. Das waren zwei Dinge, auf die Mutter zeit ihres Lebens stolz war.

Oma Sarah, unser »Bonbon«

Die Mutter unserer Mutter, Oma Sarah, kam 1907 in Warschau zur Welt. Sie war im Alter von zehn Jahren nach Paris gekommen, den Grund dafür kennen wir nicht. Die Geschichte von Juden ist, wohl mehr noch als jene anderer Menschen, von vielen Lücken gekennzeichnet: Manchmal mussten sie fliehen, es kam zu brutalen Todesfällen, oder es »verschwanden« Personen, dann wieder starben Menschen, ohne dass dies angezeigt wurde und ohne dass sie begraben wurden. Vor der Shoah gab es in Russland, Polen, dann in Österreich und ganz besonders in Rumänien Pogrome. Die Bevölkerung, die gegen die »Christusmörder« aufgehetzt worden war, die für tausend Übel wie die Pest, die Cholera, Verbrechen an Kindern, Zauberei und vieles andere verantwortlich gemacht wurden, die man dem »gottesmordenden« Volk unterstellte, attackierte die jüdischen Viertel stunden- oder tagelang. Zuerst zerstörte sie Werkzeuge und Hab und Gut der Bewohner, dann ermordete sie diese — und all dies mit dem Einverständnis der Behörden, die manchmal sogar noch mitmachten. Pogrome hatte es zwar in den früheren Jahrhunderten immer wieder gegeben, doch sie waren seltener gewesen als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Jedes Mal verfolgten die lokalen Behörden das gleiche Ziel: Bekehrung, Ermordung oder Vertreibung der Juden ins Exil. Zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und 1939 flohen 130.000 Juden nach Frankreich. Wir nehmen an, dass Oma Sarah ein Waisenkind war, weil sie im Alter von zehn Jahren allein aus Russland zu einem bereits zuvor emigrierten Onkel fuhr. Niemand hat sie jemals von ihren Eltern sprechen hören. Selbst als sehr viel später ein Bruder und eine Schwester zu ihr stießen, wurde über dieses Thema nicht gesprochen. Offensichtlich versuchten sie, sich nicht zu erinnern. Im Gegensatz zu Opa Émile — sein Vorname wurde nur in der französischen Form benutzt — war die Geschichte von Oma Sarah sehr typisch für die damalige Zeit. Wenn diese Flüchtlinge, die kein Geld hatten und der Landessprache nicht mächtig waren, ankamen, drängten sie sich in den Wohnungen von Mitgliedern ihrer Familie oder Bekannten in den oft alten Gebäuden des Marais zusammen. In allen Etagen gab es Läden und Werkstätten, woher auch die Witze mit den jüdischen Protagonisten stammen, die meist Schneider waren. Sie waren im schmattes*3 tätig, wie man sagte, im Textilgewerbe. Das Wort stammt aus dem Jiddischen, einer Mischung aus Hebräisch und Deutsch, das die Juden aus dem Osten neben ihrer Landessprache sprachen, die manche von ihnen schlecht beherrschten. Unsere Mutter hatte Jiddisch von ihrer Mutter gelernt, es war somit ihre erste Sprache. Man darf sich fragen, ob die Juden bessere Schneider waren, weil sie alle den gleichen Beruf ausübten. Man könnte mit einem anderen Scherz antworten: Es ist leichter, mit einer Nähmaschine zu fliehen, als eine ganze Fabrik unter den Arm zu nehmen — und die aschkenasischen Juden*4 waren vorsichtig geworden.

1917 traf also die kleine Sarah bei einem Bruder ihres Vaters ein, einem gewissen Salomon Finkel, der Schneider war. Sarah half ihm in der Schneiderei und machte all jene Arbeiten, die er nicht erledigen wollte. Angeblich war er ein schroffer Mann. Oma Sarah erzählte uns, dass sie dort nicht glücklich gewesen sei, vielleicht hatten die beiden ein ganz unterschiedliches Temperament, wahrscheinlicher jedoch ist, dass der Onkel alles andere als glücklich war, noch ein Kind durchfüttern zu müssen. Er schaffte es schon so kaum zu überleben. Vielleicht nahm er deshalb nur eines der Kinder bei sich auf, obwohl er wusste, dass das Mädchen noch einen Bruder und eine Schwester hatte. Sarahs Bruder Nathan war zwei Jahre älter als sie, ihre Schwester Lola zwei Jahre jünger. Die beiden stießen 1934 zu ihr, also siebzehn Jahre nach Sarahs Ankunft in Paris.

Sarah gehorchte ihrem Onkel Salomon und wartete auf bessere Zeiten. Sie lernte, »brav« zu sein, wie man damals sagte. Sie wurde zu einer Frau, die sich durchzusetzen verstand und die schwierigsten Situationen immer sanft und taktvoll meisterte, niemals brüsk. Wir, die wir sie als Großmutter kennengelernt hatten, würden sie, wenn wir ihre Persönlichkeit beschreiben müssten, als »Bonbon« bezeichnen. Nach ihrem schwierigen Lebensbeginn führte sie ein glückliches Leben. 1923 trat das Glück in Form ihres zukünftigen Mannes Émile in ihr Leben. Er arbeitete in einer Schneiderei nebenan. 1924 heiratete sie mit siebzehn Jahren in Paris den Mann, der ihr ein schönes Leben bieten würde, ein Leben, wie sie es nie gekannt hatte und das sie sich wohl nie zu erträumen gewagt hätte.

Opa Émile, ein richtiger Held

Émile hatte wohl alles, was es brauchte, um ein alleinstehendes junges Mädchen zu beeindrucken, denn er konnte bereits auf eine Vergangenheit zurückblicken wie ein richtiger Held. Er war 27 Jahre alt, also ein »echter Mann«, der Sicherheit und Schutz bot und bereits einen Lebensweg hinter sich hatte, der einer Jugendlichen, die nichts als ein polnisches Ghetto und später dann die Mauern einer schäbigen und kaltherzigen Schneiderei kannte, überaus exotisch erscheinen musste.

Émile war am 31. August 1897 in Wosnessensk in der Ukraine, achtzig Kilometer von Uman entfernt, auf die Welt gekommen. Doch er schlug nicht den normalen Weg der aschkenasischen Juden ein, die oft nach Westeuropa auswanderten, das vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus als günstiges Gebiet galt. Seine Stadt befand sich auch in einer Entfernung von nur 130 Kilometern von der Stadt Odessa — und Odessa hatte einen Hafen voller Schiffe. Odessa war somit ein Ort der Hoffnung und des Exils für viele russische Juden, die von Pogromen vertrieben wurden und vom sozialen Leben ausgeschlossen waren. Von Odessa aus überquerte man das Schwarze Meer und fuhr über den Bosporus, der die beiden Meere verband, ins Mittelmeergebiet. Dort waren die Auswanderer frei, was jedoch relativ ist, weil sie noch ein Land finden mussten, das sie aufnahm. Die Bilder von Booten voller Flüchtlinge kommen uns leider nur allzu bekannt vor, auch wenn die Menschen, die damals eine neue Heimat suchten, weniger zahlreich und ihre Integration in ein westeuropäisches Land leichter war: Es gab Arbeit und einen Arbeitsmarkt, auf dem keine besondere Ausbildung, bestimmte Adressen oder Empfehlungen verlangt wurden. Manche beschlossen, viel weiter weg zu gehen, in die Vereinigten Staaten, wo Yes, we can! schon damals eine bekannte Devise war. Doch Émiles Eltern, Zalkind und Asana Kerbel, hatten einen Onkel — von welcher Seite ist unbekannt —, der in Brasilien reich geworden war. Sie beschlossen also, zu ihm zu fahren. So verließ Émile im Jahr 1912 mit fünfzehn Jahren sein unwirtliches und kaltes Heimatland, um sich mit seinen Eltern und seinem siebenjährigen Bruder Isaac nach Rio aufzumachen. Man kann sich leicht vorstellen, wie sehr sie von Heimweh geplagt wurden.

Die weiteren Ereignisse kennen wir erst seit dem Tod unserer Mutter. Wir hatten nur eine sehr bruchstückhafte Vorstellung von Opa Émiles Vergangenheit, bis uns Menschen aus aller Welt nach den Medienberichten über das Drama kontaktierten. Man brachte uns Mitgefühl entgegen, das uns in diesen furchtbaren Augenblicken sehr willkommen war, aber wir erkannten auch ein aufrichtiges Bedürfnis, uns alles zu geben, was möglich war, um uns zu trösten und unsere Fassung wiederzuerlangen, nachdem man gerade unsere Mutter ermordet hatte. So kontaktierte mich eine Brasilianerin, die über die Presse von den Ursprüngen meiner Mutter gehört hatte. Sie bot an, Nachforschungen anzustellen, was ich natürlich gerne annahm. So erfuhren wir, was unsere Mutter selbst niemals über ihre Großeltern väterlicherseits gewusst hatte. Sie hätte sich so gefreut …

Es war uns einzig und allein bekannt, dass Opa Émile mit siebzehn Jahren seine Familie in Brasilien verließ, weil seine Mutter erneut geheiratet hatte und er das nicht ertrug. Erst heute wissen wir, warum seine Mutter wieder geheiratet hatte. Scheidungen gab es damals kaum. Die Sache wurde klarer, als wir erfuhren, dass Émile sehr unter dem Tod seines Vaters Zalkind im Jahr 1915, also zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Brasilien, gelitten hatte. Die Frau, der wir diese Information verdanken, fand sein Grab auf einem Friedhof in Rio wieder und schickte uns ein Foto davon. Das Geburtsjahr ist nicht vermerkt, dafür jedoch das Sterbejahr. Wahrscheinlich heiratete Émiles Mutter nach dem Ableben ihres ersten Mannes wieder. Damals war Émile achtzehn Jahre alt und machte sich nach Frankreich auf, in dem gerade Krieg herrschte. Offensichtlich blieb er jedoch nicht lange dort, denn im Laufe der darauffolgenden Jahre finden sich Spuren von ihm in Brasilien, sowohl 1920 als auch viel später. Er dürfte oft zwischen Rio und Paris hin- und hergereist sein, was damals selten war. Im Jahr 1923, immerhin elf Jahre nach seiner Ankunft in Brasilien, erhielt er die brasilianische Staatsbürgerschaft. Klarerweise kehrte er oft in dieses Land zurück, weil er neben seiner Mutter auch noch seinen Bruder Isaac dort hatte. 1924 lernte Émile seine Frau in Paris kennen. Auch Sarah sollte, sicherlich aufgrund ihrer Heirat mit Émile, die brasilianische Staatsbürgerschaft erhalten, obwohl sie meines Wissens nie mit ihm in diesem Land war. Unsere begeisterte Forscherin teilte uns mit, dass Émile das letzte Mal im Jahr 1938 in Brasilien war, was heißt, dass er auch noch während der Zeit, als er schon mit Oma Sarah verheiratet war, dorthin gefahren sein muss — vielleicht wegen seiner Regenmäntel, obwohl das Wetter in Brasilien keineswegs Regenmäntel erfordert.

Unsere Mutter hatte uns nie von den Reisen ihres Vaters erzählt, aber er stellte sie auch bereits ein, als sie erst sechs Jahre alt war. Wir wissen auch nicht, ob Opa Émile sich wieder mit seiner Mutter Osna, der Kurzform von Osana, versöhnt hatte, doch unsere Kontaktperson vor Ort fand ihr Grab. Demzufolge war sie eine gebürtige Acnicz Balaban. Sie starb am 25. Juli 1930 in Rio und ist auf einem anderen Friedhof begraben als ihr zuvor verstorbener Mann.

Wir werden es nie mehr schaffen, die Ursprünge der Mutter unserer Mutter so zurückzuverfolgen, wie wir das im Falle ihres Vaters taten. Oma Sarah trug den Familiennamen Finkel, aber wer war ihre Mutter? Ein kleines Mädchen auf der Flucht hat keine Papiere. Personenregister gab es damals kaum, und die Behörden in Osteuropa betrachteten die Juden ohnehin nicht als vollwertige Bürgerinnen und Bürger.

Von Émile weiß man, dass er auch andere Berufe als den eines Schneiders ausübte. Das muss zwischen 1924 und 1932 gewesen sein, denn als Mutter 1932 auf die Welt kam, gab es die Regenmantelfabrik bereits. Unter Umständen war er Holzfäller oder Arbeiter im Kautschukbereich oder vielleicht etwas ganz anderes — damals musste man jede Arbeit nehmen, die man bekam, weil es kaum staatliche Unterstützung gab und man sich sein Brot verdienen musste. Schließlich mietete unser Großvater in der ersten Etage auf der Nummer 71 der Rue d’Aboukir ein Lokal, das Laden und Werkstatt zugleich war. Die Geschäfte liefen gut an, weil er mutig war und überlegt handelte. Er kam zwar ohne Geld an, und sein weiteres Leben gab ihm nicht die Möglichkeit, seine Studien fortzusetzen, aber er hatte eine gute Grundausbildung, denn sein Vater war der Direktor der Schule in Wosnessensk gewesen. Sowohl Oma Sarah als auch Mutter beschrieben ihn voller Stolz als einen klugen Mann, der seine Aufgabe als Familienvorstand aufs Vortrefflichste erfüllte und sehr gut für seine Frau und seine Kinder sorgte: Émile war ein Citoyen geworden.

Der Bruder unserer Mutter, Jacques, kam am 23. Januar 1927, fünf Jahre vor Mutter, auf die Welt — und das war dann schon die ganze Nachkommenschaft. Zwei Kinder waren sehr wenig für eine typische jüdische Familie der damaligen Zeit, aber unsere Großeltern mütterlicherseits waren keine typische jüdische Familie. Sie waren fortschrittlich, modern, und ihre religiöse Praxis war sehr verwässert, weil sie nicht direkt vom Ghetto zum Pariser Pletzl gekommen waren. Die Juden teilten eine Kultur und die gleichen (schlechten) Erinnerungen, die sie dazu bewogen, sich an einem Ort zusammenzuscharen, sodass man noch heute jene Ecke des Marais rund um die Rue des Rosiers bis zu Sentier das Pletzl nennt, was auf Jiddisch kleiner Platz oder das Dorf heißt. Das religiöse Leben war bei den meisten Einwanderern nicht sehr ausgeprägt. Man feierte die großen Feste, aber die meisten waren in ritueller Hinsicht nicht strenggläubig. Die Juden aus Osteuropa hatten lange um ihr Überleben kämpfen müssen, bevor sie in Paris ankamen, und nicht wirklich die Möglichkeit gehabt, die unzähligen Vorschriften der rabbinischen Texte einzuhalten, wie zum Beispiel, dass man zwei Arten von Geschirr brauchte, eines für das Fleisch und eines für die Milch, dass man unterschiedliche Segenssprüche für jede Art von Lebensmitteln zu sprechen hatte und andere Details, die in Zeiten von Pogromen nicht das sind, was die Menschen am meisten beschäftigt. Die oberste Notwendigkeit — noch vor jeder religiösen Vorschrift — besteht darin, zu überleben. Die Tatsache, dass mein Großvater Émile besonders in Brasilien unter Christen gelebt und mit vielen Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen verkehrt hatte, tat das ihre dazu, dass meine Großeltern mütterlicherseits es mit der Religion nicht mehr so genau nahmen. Unsere Mutter war nicht zufällig durch und durch Kosmopolitin — diese Eigenschaft war ihr in die Wiege gelegt worden.

Selbst wenn die Erinnerungen an unsere Großeltern nur auf die 1950er Jahre, also auf die Zeit nach der Shoah, zurückgehen, so war die religiöse Praxis seit der Kindheit unserer Mutter unverändert geblieben: Als Kinder feierten wir Jom Kippur und das Pessachmahl. Aber die Kerbels, die Familie unserer Mutter, die in der Synagogue Tournelles ihren Platz hatten, gingen nur selten dorthin und hielten den Sabbat nicht ein, zündeten also am Freitagabend nicht die Kerzen an und sprachen nicht den Kiddusch, den Segensspruch über dem Wein. Das Essen war insofern koscher, als man in den Läden des Viertels einkaufte, wo das Fleisch ganz sicher koscher war. Schweinefleisch wurde nicht gegessen, denn dagegen hatte man seit Jahrhunderten Vorbehalte. Aber manche Geschäfte in jüdischer Hand waren nicht koscher, wie zum Beispiel das berühmte Restaurant Goldenberg, das am Samstag, dem Tag des Sabbats, bis auf den letzten Platz besetzt war. Opa Émile liebte gutes Essen und Wein. Wenn die Familie nicht zu Hause war, aßen sie alles, selbst Austern, mit Ausnahme von Schweinefleisch natürlich. Jedenfalls glaube ich nicht, dass es damals viele Juden gab, die überprüft hätten, ob auf ihren Lebensmitteln der Stempel des Konsistoriums prangte, mit dem koscheres Essen gekennzeichnet wurde. Auf den wenigen Fotos, die meine Mutter aus ihrer Kindheit hatte, habe ich nie jemanden gesehen, der eine religiöse Funktion bekleidet hätte. Die Familie hatte einige Gebräuche beibehalten, glaubte aber einfach nicht an Gott. Das, was an Oma Sarah jüdisch — und typisch Oma war —, war die Tatsache, dass sie uns mit aschkenasischen Köstlichkeiten verwöhnte. Unter den Rezepten, die unsere Mutter aus ihrer Kindheit mitgebracht hatte, waren Gefillte Fisch (gefüllter Karpfen), Kneidlersuppe (Hühnersuppe mit Matzeknödeln) und Lekech (Kuchen auf der Grundlage von Kartoffelstärkemehl mit etwas Zitrone). Außerdem liebte unsere Mutter fette Fische, Hering und Lachs, die Köstlichkeiten ihrer — und in der Folge auch unserer — Kindheit.

Émile war nicht nur der Vater unserer Mutter, er war auch ihr Held. Er liebte sie heiß, mehr als seinen Sohn Jacques, dem das nicht verborgen bleiben konnte und der diese Tatsache mit einer gewissen Bitterkeit kommentierte. Mireille war die kleine Prinzessin des Hauses. Ihr Vater schenkte ihr schöne Spielzeuge, insbesondere Puppen, was damals selten war. Mit den Auswüchsen der späteren Konsumgesellschaft hatte das allerdings nichts zu tun. Wenn man damals drei Puppen, zwei Bären, Wasserfarben und schönes Papier zum Malen hatte, dann war das bereits ein Luxus, eine besondere Stellung, die eine ganze Gruppe von Freundinnen anzog. Als »richtiges Mädchen« zog Mutter die Gesellschaft anderer Mädchen jener ihres Bruders vor, mit dem sie nur selten spielte. Schon damals war sie gern von vielen Menschen umgeben und entwickelte dabei eine Fröhlichkeit und einen Sinn für gemeinsame Unternehmungen, die ihr nie verloren gingen. Wenn das Wetter es erlaubte, spielte man zu Hause im Hof oder in der Schule »Himmel und Hölle«, »Mauerball« oder »Springschnurspringen«. Mutter war sehr fröhlich und brav — kein Wunder, ihr Vater verweigerte ihr nichts! Die beiden kuschelten viel miteinander, und angeblich konnte man sie mit sechzehn Jahren noch auf seinen Knien sitzend vorfinden. Mutter erzählte uns, dass sie es liebte, von ihrem Vater beschützt zu werden, so, wie sie später danach strebte und es liebte, von Männern beschützt zu werden, die dies ihrer Ansicht nach jedoch nie so gut schafften wie ihr Vater.

Émile wurde nach und nach zu einem richtigen Citoyen, er schaffte es sogar, für seine Familie eine jener wenigen Pariser Wohnungen ausfindig zu machen, in der es ein Badezimmer und eine Badewanne gab! Eine derart privilegierte Kindheit kann zwei Arten von Menschen hervorbringen: unverbesserliche und hochmütige Egoisten oder Menschen, die das Leben immer durch die rosarote Brille sehen. Unsere Mutter gehörte zur zweiten Sorte. In ihren Augen waren alle nett. Die Welt war gut — wie ihr Papa und ihre Mama. In gewisser Hinsicht wurde sie nie ganz erwachsen.

Im Jahr 1934 wurde die Familie größer, und es kamen Cousins dazu. Émile stellte sich als Bürge für die Immigration von Nathan und Lola zu Verfügung, wie aus ihrer Unterbringungsbestätigung hervorgeht. Bereits damals musste man, wenn man in das Land einreisen wollte, beweisen, dass man eine Wohnung und einen Arbeitsplatz hatte. Nathan arbeitete bei Émile. Mutter genoss die Gegenwart eines Onkels und einer Tante, aber vor allem der Cousins und Cousinen, allen voran die Gesellschaft Huguettes, Nathans Tochter, die zwei Jahre jünger war als sie. Huguette war 1934 geboren, Mutter 1932. Sie sollte bis zum letzten Tag ihre Vertraute bleiben. Tragischerweise war sie es, die uns, da sie in der Nachbarschaft wohnte, an diesem schrecklichen 23. März 2018 anrief, weil sie den Brand sah. 1937 bekam Tante Lola Zwillinge, Nathan und Jacques. Sonntags traf sich die ganze Familie bei Émile und Sarah, die einen höheren Lebensstandard hatten. Huguette war die Cousine, die unserer Mutter am nächsten stand. Sie führten ein Leben wie alle Kinder auf der Welt, abgesehen von der Tatsache, dass sie keine Großeltern hatten. Mutter hatte nie welche gehabt: Väterlicherseits waren sie verstorben und in Brasilien begraben, mütterlicherseits war da die Leere.

Blieb noch Émiles Bruder, Onkel Isaac, an den Mutter sich erinnerte, weil er sporadisch in Frankreich auftauchte. Er war ein geheimnisvoller, revolutionärer Kommunist, wie man munkelte, weit gereist, jemand, der ein kleines Mädchen schwer beeindruckte. Unsere Mutter erzählte uns, dass der nicht verheiratete Onkel Isaac beschlossen hatte, das Prinzip der Tsedaka wortwörtlich in seinem Leben umzusetzen (Wiederherstellung der Gerechtigkeit, das Äquivalent zu Barmherzigkeit). So hatte Émile Isaac eines Tages einen im eigenen Haus hergestellten Regenmantel gegeben und war erstaunt, ihn einige Stunden später vollkommen durchnässt und ohne Regenmantel wiederzusehen. Onkel Isaac erklärte, dass er ihn verschenkt habe — an jemanden, der keinen Regenmantel besaß.

Offensichtlich war unsere Mutter sehr verträumt, sie fühlte sich sicher und geliebt in ihrer Familie. Niemals verlor sie ihre romantische Ader und die Freude an außerordentlichen Erlebnissen. Sie wuchs in diesem glücklichen, wohlhabenden Haus in der Rue de Turenne 41 auf, umgeben von Liebe und verwöhnt mit gutem Essen. Auch wir sollten diesen Ort später kennenlernen. Und plötzlich war dann alles vorbei, das Familienleben, der Wohlstand, die Ruhe, die Freundinnen aus dem Viertel, die Schule — der Krieg hatte begonnen.

1940: Mireille ist acht Jahre alt — das Ende einer unbeschwerten Kindheit

Bis zum Krieg wusste unsere Mutter nicht, dass sie Jüdin war.

Wie hätte sie es wissen sollen? Zwischen ihr und den anderen kleinen Mädchen ihrer Schule wurden zu Hause keinerlei Unterschiede gemacht. Damals gab es auch für christliche Kinder zu Weihnachten weder einen Weihnachtsbaum noch Berge von Geschenken. Bei ihr gab es theoretisch den Jom-Kippur-Tag im September, aber ich bin nicht überzeugt, dass man fastete. Bei Opa Émile bin ich mir fast sicher, dass er nicht fastete, und Kinder unter dreizehn Jahren, dem Alter der religiösen Reife, sind vom Fasten befreit. Das Pessachmahl bei unseren Großeltern bestand aus einem großen Ostermahl, das die Christen praktisch zur gleichen Zeit feiern, weil das Fest im gemeinsamen Text der Bibel wurzelt und die jüdische Thora das christliche Alte Testament ist. Unsere Mutter stellte sich keinerlei Fragen zu ihrer »besonderen« Identität. Daher war sie bass erstaunt, als sie eines Tages als »schmutzige Jüdin« beschimpft wurde. Sie bekam einen Wutanfall und verprügelte das Mädchen. Ob unsere Mutter in ihrer jüdischen Identität gekränkt war? Keineswegs! Als die Direktorin sie aufforderte, ihr unrechtmäßiges Verhalten zu erklären, sagte unsere Mutter: »Sie hat gesagt, dass ich schmutzig sei!« Das Wort »Jüdin« hatte sie noch nie gehört. Das Mädchen korrigierte sie und wiederholte die Worte, die sie gesagt — und sicherlich von ihren Eltern — gehört hatte. Da verstand die Direktorin. Meine Großeltern machten keine Affäre aus der Sache. Eine kleine Beschimpfung war nichts im Vergleich zu den schrecklichen Ausschreitungen, vor denen sie geflohen waren. Für Juden war Frankreich ein Paradies. Es gab sogar den Ausdruck »glücklich wie ein Jude in Frankreich«, weil Napoleon unter dem Einfluss der Aufklärung Juden das volle Bürgerrecht verliehen hatte.

Im Juni 1940 meldete Opa Émile, wahrscheinlich nach dem zwischen Pétain und dem Dritten Reich unterzeichneten Waffenstillstand, an die Botschaft von Brasilien, dass die Juden selbst in Frankreich Grund zur Sorge hätten. Er befürchtete, dass die siegreichen Nazis ihre antisemitische Obsession auf Frankreich ausweiten und die Juden in Etappen vollständig ausrotten würden. Opa Émile und Oma Sarah beschlossen daher, ihre Kinder Jacques und Mireille vorsichtshalber aufs Land zu einer Kinderfrau zu schicken, die allerdings noch nicht einmal dreißig Jahre alt war. Das war ein großer Fehler, denn Jacques war dreizehn Jahre alt und frühreif, sodass die Kinderfrau letzten Endes keine Kinder mehr hütete … Jacques war bis über beide Ohren verliebt, verlor den Kopf, die Kinderfrau ebenso, und Mireille war ratlos. Also lüftete sie dieses Geheimnis. Die beiden »Kinder« wurden schleunigst wieder nach Paris gebracht, und Jacques wurden die Leviten gelesen. Es war angeblich der größte Kummer seines Lebens, eine Staatsaffäre, mit der Oma Sarah mehr schlecht als recht umging. Sie hatte schwerwiegendere Dinge, die sie in Anspruch nahmen. Ab Oktober 1940 mussten sich Juden in der besetzten Zone registrieren lassen.

Die meisten Juden meldeten sich tatsächlich bei der Präfektur, weil sie unbegrenztes Vertrauen in die Republik Frankreich hatten. Die erste Aufgabe eines Juden ist es, wie in den Gebeten in der Synagoge definiert wird, das Gastgeberland zu ehren. Das »Gebet für Frankreich« (in diesem Fall) wird oft am Samstagmorgen beim Sabbatgebet gesprochen. Darin heißt es insbesondere: »Blicke mit Wohlwollen aus Deiner heiligen Wohnstätte auf unser Land, die französische Republik, und segne das französische Volk. Möge Frankreich ein glückliches und blühendes Land sein. Es sei stark und groß durch Zusammenhalt und Einigkeit. Mögen die Strahlen Deines Lichtes jene erleuchten, die das Schicksal des Staates in den Händen halten und für Ordnung und Gerechtigkeit sorgen. Möge Frankreich ein dauerhafter Frieden zuteilwerden und es seinen glorreichen Platz unter den Nationen behalten. Möge Frankreich seiner edlen Tradition treu bleiben und immer Recht und Freiheit verteidigen.«