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Nur sie kann die Menschheit retten
Unsere Welt ist in Dunkelheit getaucht. Die Menschen sind zu Gefangenen geworden. Nur wer sich an die Regeln hält, hat eine Chance zu überleben. Doch die junge Allison will sich nicht mehr an diese Regeln halten. Sie fordert das Schicksal heraus und lehnt sich gegen ihre Unterdrücker auf – mit ungeahnten Folgen.
Grenzen, Mauern und Verbote gehören zum Alltag der 17-jährigen Allison, seit sie denken kann. Denn sie wächst in einer Stadt auf, in der die Menschen von den Vampiren regiert werden, grausamen Fürsten der Nacht. Sie haben sich eine Luxuscity errichtet und lassen ihre Gefangenen, die ihnen regelmäßig Blutzoll schulden, für sich schuften. Jeder kleinste Verstoß gegen die Regeln wird geahndet, und Allison erfährt schon früh, dass ihr Leben nicht viel wert ist. Als sie vor die Wahl gestellt wird, zu sterben oder ihren Unterdrückern gleich zu werden, entscheidet sie sich für den Weg der Unsterblichkeit – und hoff t, nun endlich unangreifbar zu sein. Doch vor den Toren der festungsartig abgeriegelten Stadt lauert etwas, vor dem sich sogar die Vampire fürchten …
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Seitenzahl: 754
Julie Kagawa
Unsterblich
TOR DER DÄMMERUNG
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Charlotte Lungstraß
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel
TheImmortal Rules – Blood of Eden 1 bei Harlequin Teen, Ontario
Copyright © 2012 by Julie Kagawa
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Petra Müller
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-10014-8
www.heyne-fliegt.de
Für Nick,
der immer mit mir Vampire jagen wird.
ERSTER TEIL – Mensch
1
Sie hängten die Unregistrierten in der alten Speicherstadt, es war eine öffentliche Hinrichtung, die sich jeder ansehen konnte.
Ich stand ganz hinten, ein namenloses Gesicht in der Menge. Zu nah am Galgen, um mich wohlzufühlen, aber zugleich unfähig, den Blick abzuwenden. Diesmal gab es drei Verurteilte: zwei Jungen und ein Mädchen. Der Älteste war ungefähr in meinem Alter, ein dünner Siebzehnjähriger mit riesigen, angsterfüllten Augen und fettigen dunklen Haaren, die ihm bis auf die Schultern fielen. Die beiden anderen waren sogar noch jünger, schätzungsweise vierzehn und fünfzehn. Sie mussten Geschwister sein, denn ihre strähnigen Haare wiesen genau denselben Blondton auf. Ich kannte sie nicht; keiner von ihnen gehörte zu meinen Leuten. Aber sie sahen aus wie alle Unregistrierten: dünn und abgerissen, mit dem wilden Blick gefangener Tiere. Ich spürte ihre Verzweiflung so deutlich, dass ich schützend die Arme vor der Brust verschränkte. Es war vorbei. Die Falle war zugeschnappt, die Jäger hatten sie erwischt und es gab keinen Ort mehr, an den sie sich flüchten konnten.
Der Lakai stand arrogant und aufgeplustert am Rand der Plattform, so stolz als hätte er die drei eigenhändig gefangen. Immer wieder marschierte er hin und her, zeigte auf die Verurteilten und betete die Liste ihrer Verbrechen herunter. Seine hellen Augen funkelten triumphierend.
»… Angriff auf einen Bürger der Inneren Stadt, Raub, Hausfriedensbruch und Widerstand gegen die Festnahme. Diese Kriminellen haben versucht, aus einem privaten Lagerhaus der Inneren Stadt Nahrungsmittel der Klasse eins zu stehlen. Dies stellt ein Verbrechen gegen euch dar und, was noch viel schwerwiegender ist, ein Verbrechen gegen unsere gütigen Meister.«
Ich schnaubte abfällig. Hochtrabendes Gefasel und Rechtsverdreherei änderten nichts an der Tatsache, dass diese »Kriminellen« genau dasselbe taten wie alle Unregistrierten, die überleben wollten. Aus welchen Gründen auch immer – sei es Schicksal, Stolz oder Sturheit – trugen wir nicht registrierten Menschen kein Zeichen unserer vampirischen Meister auf der Haut, kein Brandmal, das verriet, wer man war, wo man lebte und zu wem man gehörte. Die Vampire behaupteten natürlich, ein solches Zeichen diene nur unserer Sicherheit, damit sie jeden Stadtbewohner im Auge behalten und sich einen Überblick darüber verschaffen konnten, wie viel Nahrung bereitgestellt werden musste. Alles zu unserem eigenen Wohl. Na klar doch! Nennt es, wie ihr wollt, es war lediglich eine weitere Strategie, um ihr menschliches Vieh zu versklaven. Genauso gut könnte jeder von uns ein Hundehalsband tragen.
Ein Unregistrierter zu sein hatte einige Vorteile: Offiziell existierte man nicht, man tauchte in keiner Akte auf, war ein Geist in ihrem System. Denn wessen Name nicht auf den Listen erschien, der musste auch nicht zum monatlichen Aderlass erscheinen, der musste sich nicht von menschlichen Lakaien in gestärkten weißen Laborkitteln eine Kanüle in den Arm jagen und sein Blut in Plastikbeutel pumpen lassen, die dann in Kühlschränken verstaut und zu den Meistern geschafft wurden. Wer den Aderlass ein paar Mal versäumte, bekam Besuch von den Wachen, die dann das überfällige Blut einforderten, auch wenn der Spender anschließend als leere Hülle zurückblieb. Die Vampire bekamen ihr Blut immer, so oder so.
Als Unregistrierter schlüpfte man durch die Maschen, die Blutsauger hatten keine Möglichkeit, einen an die Leine zu legen. Und da dies genau genommen kein Verbrechen darstellte, hätte man annehmen müssen, dass sich fast jeder der Registrierung verweigern würde. Aber unglücklicherweise forderte diese Freiheit einen hohen Preis: Registrierte Menschen bekamen Essensmarken, Unregistrierte nicht. Und die Tatsache, dass die Vampire über sämtliche Lebensmittel der Stadt geboten, machte es so verdammt schwierig, genug zu essen zu finden.
Deshalb taten wir das, was jeder in unserer Situation getan hätte. Wir bettelten. Wir stahlen. Wir rissen uns alles, was wir an Essbarem finden konnten, unter den Nagel – wir taten alles, um zu überleben. Draußen im Saum, dem äußersten Randbezirk der Vampirmetropole, war das Essen selbst dann knapp, wenn man kein Unregistrierter war. Die Lkws mit den Nahrungslieferungen kamen zweimal im Monat, immer schwer bewacht. Ich hatte schon gesehen, wie registrierte Bürger allein deswegen verprügelt wurden, weil sie nicht korrekt in der Warteschlange standen. Ohne Registrierung zu leben, war also nicht illegal, aber wurde man dabei erwischt, wie man die Blutsauger bestahl, und hatte das verfluchte Zeichen des Prinzen nicht auf der Haut, dann konnte man mit keinerlei Gnade rechnen.
Diese Lektion hatte ich schnell gelernt. Zu traurig, dass die drei dort oben das offenbar nicht getan hatten.
»… zweihundert Gramm Sojakerne, zwei Kartoffeln und einen viertel Laib Brot.« Der Lakai setzte seine Litanei fort, während sein Publikum voll morbider Faszination auf den Galgen starrte. Ich schob mich durch die Menge, immer weiter fort von der Plattform, die arrogante Stimme unentwegt im Rücken. Ich ballte die Fäuste und wünschte mir, ich könnte sie ihm in seine grinsende Fresse hauen. Verdammte Lakaien! In gewisser Weise waren sie noch schlimmer als die Blutsauger. Immerhin hatten sie sich bewusst dafür entschieden, den Vampiren zu dienen, hatten ihre Mitmenschen verraten für die Sicherheit und den Luxus, den sie dafür bekamen. Jeder hasste sie und beneidete sie zugleich.
»Die Rechtslage bezüglich unregistrierter Bürger ist eindeutig«, sagte der Lakai gedehnt, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen. »Gemäß Paragraf zweiundzwanzig, Abschnitt sechsundvierzig des Stadtgesetzes von New Covington wird jeder Mensch, der innerhalb der Stadtgrenzen des Diebstahls überführt wird und nicht das schützende Siegel des Prinzen trägt, zum Tod durch den Strang verurteilt. Möchten die Verurteilten noch letzte Worte äußern?«
Ich hörte gedämpfte Stimmen, als der Älteste der drei Diebe den Lakaien beschimpfte und ihm riet, etwas anatomisch Unmögliches anzustellen. Das entlockte mir nur ein trauriges Kopfschütteln. Tapfere Worte würden ihm auch nicht helfen. Nichts konnte ihm jetzt noch helfen. Widerstand bis zum bitteren Ende war ja gut und schön, aber noch besser war es, sich gar nicht erst erwischen zu lassen. Dies war sein erster Fehler gewesen und unumstößlich auch sein letzter. Halte dir immer einen Fluchtweg offen, so lautete die oberste Regel aller Unregistrierten. Tu, was du willst, hasse die Vampire, verfluche die Lakaien, aber lass dich niemals erwischen. Ich beschleunigte meine Schritte, und als ich den Rand der Menge erreicht hatte, lief ich los.
Der dumpfe Knall der sich lösenden Falltüren dröhnte in meinen Ohren und übertönte das Stöhnen der Menge. Die nachfolgende Stille war so greifbar, dass ich in Versuchung geriet, mich noch einmal umzudrehen. Ich ignorierte den drückenden Knoten in meinem Bauch und bog um die nächste Ecke, sodass eine Mauer zwischen mir und dem Galgen lag und jeden Blick zurück unmöglich machte.
Das Leben im Saum ist schlicht, genau wie die Menschen, die dort wohnen. Sie müssen nicht arbeiten, obwohl es ein paar »Handelsposten« gibt, bei denen die Leute abliefern, was sie finden, und es gegen andere Dinge eintauschen. Sie müssen nicht lesen, denn es gibt keine Jobs, in denen das erforderlich wäre, außerdem ist der Besitz von Büchern illegal – warum also das Risiko eingehen? Ihre Sorge gilt nichts anderem als ihrer Verpflegung, der Instandhaltung ihrer Kleidung und den Reparaturen an dem Loch, dem Pappkarton oder dem heruntergekommenen Gebäude, das sie ihr Heim nennen, damit es nicht reinregnet.
Fast jeder Saumbewohner träumt heimlich davon, es irgendwann in die Innere Stadt zu schaffen, hinter die Mauer, die jene zivilisierte Welt vom menschlichen Abfall trennt, in jenes funkelnde Zentrum, dessen riesige Türme sich irgendwie dem Verfall widersetzen und unerschütterlich über unseren Köpfen in die Höhe ragen. Jeder kennt jemanden, der jemanden kennt, der in die Innere Stadt gebracht wurde – vielleicht wegen seines brillanten Verstandes oder seiner umwerfenden Schönheit, eben jemand, der zu einzigartig oder besonders war, um hier draußen bei uns Tieren zu bleiben. Man munkelt, dass die Vampire dort drinnen Menschen »züchten« und deren Kinder zu Leibeigenen machen, die ihren Meistern bedingungslos ergeben sind. Doch da niemand, der in die Stadt gebracht wird, je wieder zurückkehrt – abgesehen von den Lakaien und ihren Wachen, von denen man nichts erfährt – weiß niemand, wie es dort wirklich ist.
Was die Gerüchteküche natürlich nur umso mehr anheizt.
»Hast du’s schon gehört?«, fragte Stick, als wir uns an dem Maschendrahtzaun begegneten, der die Grenze zu unserem Revier markierte. Hinter diesem Zaun erstreckte sich ein grasbewachsener und mit Scherben übersäter Platz, an dessen anderem Ende ein massiges altes Gebäude aufragte, das meine Leute und ich unser Zuhause nannten. Lucas, der nominelle Anführer unserer Gruppe, behauptete, es wäre früher eine sogenannte »Schule« gewesen, ein Ort, an dem Jugendliche wie wir jeden Tag in großer Zahl zusammenkamen, um etwas zu lernen – lange bevor die Vampire es ausgehöhlt, niedergebrannt und sein gesamtes Inventar zerstört hatten. Heute diente es immerhin noch einer Gruppe magerer Straßenkids als Unterschlupf. Die Ziegelmauern des dreistöckigen Baus wurden langsam brüchig, das Obergeschoss war bereits eingestürzt und in den Gängen türmte sich schimmeliger Schutt. Die verkohlten Flure und Zimmer waren feucht, kalt und düster, und jedes Jahr stürzten weitere Mauern ein, aber es war unser Heim, unser sicherer Hafen, den wir verteidigten bis aufs Blut.
»Was denn?«, fragte ich zurück, während wir uns durch ein Loch in den rostigen Maschen schoben und über Gras, Unkraut und zerbrochene Flaschen hinwegstiegen, um zu unserem geliebten Zuhause zu kommen.
»Letzte Nacht haben sie Gracie verschleppt. In die Stadt. Sie haben gesagt, dass irgendein Vampir seinen Harem vergrößern will und sie sie deshalb geholt haben.«
Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. »Was? Wer hat dir das erzählt?«
»Kyle und Travis.«
Angewidert verdrehte ich die Augen. Kyle und Travis gehörten einer Bande Unregistrierter an, die zu unseren größten Rivalen zählte. Normalerweise ließ man sich gegenseitig in Ruhe, aber diese Geschichte klang so, als hätten unsere Konkurrenten sie sich ausgedacht, damit wir uns nicht mehr auf die Straße trauten. »Und den beiden glaubst du? Die verarschen dich doch nur, Stick. Sie wollen dir Angst machen, mehr nicht.«
Wie ein Schatten huschte er hinter mir über den Platz, die wässrig blauen Augen wanderten ruhelos umher. Eigentlich hieß Stick ja Stephen, aber niemand nannte ihn mehr bei seinem richtigen Namen. Er war einige Zentimeter größer als ich, was angesichts meiner gut ein Meter fünfzig jedoch nicht besonders beeindruckend war. Stick sah aus wie eine klassische Vogelscheuche, mit strohblonden Haaren und verängstigtem Blick. Irgendwie schaffte er es, auf der Straße zu überleben, aber nur gerade so. »Sie sind ja nicht die Einzigen, die darüber reden«, beharrte er. »Cooper behauptet, er hat einige Blocks weiter ihre Schreie gehört. Was sagt dir das?«
»Falls das stimmt? Dass sie dämlich genug war, nachts in der Stadt herumzuwandern, und wahrscheinlich gefressen wurde.«
»Allie!«
»Was denn?« Wir traten durch die kaputte Eingangstür in die nasskalten Flure der Schule. An einer der Wände waren verrostete Metallspinde aufgereiht, nur wenige standen noch aufrecht, die meisten waren verbeult und zertrümmert. Zielstrebig ging ich auf einen der unversehrten Schränke zu und riss mit einem Ruck die quietschende Tür auf. »Die Vampire hocken eben nicht ständig in ihren kostbaren Türmen. Manchmal machen sie auch Jagd auf lebende Beute, das weiß doch jeder.« Ich schnappte mir die Haarbürste, die ich hier aufbewahrte, weil in diesem Schrank der einzig brauchbare Spiegel des ganzen Gebäudes hing. Aus dem Glas starrte mir ein Mädchen mit schmutzigem Gesicht, glatten schwarzen Haaren und »Schweinsäuglein« entgegen, wie Rat so gern sagte. Wenigstens hatte ich nicht das Gebiss eines Nagetiers.
Vorsichtig fuhr ich mir mit der Bürste durch die Haare, zuckte aber trotzdem jedes Mal zusammen, wenn sie an einem Knoten hängen blieb. Stick beobachtete mich missbilligend und entsetzt, bis ich schließlich erneut die Augen verdrehte. »Sieh mich nicht so an, Stephen«, wehrte ich stirnrunzelnd ab. »Wenn man nach Sonnenuntergang draußen unterwegs ist und von einem Blutsauger erwischt wird, ist man selber schuld, weil man besser drin geblieben wäre oder wenigstens besser aufgepasst hätte.« Ich legte die Bürste weg und schlug krachend den Schrank zu. »Gracie hat gedacht, nur weil sie registriert ist und ihr Bruder an der Mauer Wache schiebt, wäre sie vor den Vampiren sicher. Dabei sind sie gerade dann hinter dir her, wenn du dich sicher fühlst.«
»Marc ist deswegen ziemlich fertig«, berichtete Stick fast schon mürrisch. »Seit dem Tod ihrer Eltern war Gracie alles, was er noch an Familie hatte.«
»Nicht unser Problem.« Es kam mir gemein vor, das zu sagen, aber genau so war es. Im Saum kümmerte man sich um sich selbst und die engsten Familienangehörigen, aber mehr auch nicht. Meine Sorge galt ganz allein mir, Stick und dem Rest unserer kleinen Schar. Sie waren meine Familie, so seltsam das auch sein mochte. Ich konnte mich nicht um die Nöte jedes einzelnen Saumbewohners kümmern. Nein danke, ich hatte selbst genug um die Ohren.
»Vielleicht …« Stick zögerte. »Vielleicht ist sie jetzt ja … glücklicher«, fuhr er schließlich fort. »Vielleicht ist es etwas Gutes, in die Innere Stadt verschleppt zu werden. Die Vampire werden sich dort besser um sie kümmern, meinst du nicht?«
Ich verzichtete auf ein abfälliges Schnauben. Sie sind Vampire, Stick, wollte ich sagen. Monster. Sie sehen in uns nur zwei Dinge: Sklaven und Nahrung. Blutsauger bringen nie etwas Gutes, das weißt du doch.
Aber wenn ich Stick das sagte, würde er sich nur noch mehr aufregen, also tat ich so, als hätte ich nicht zugehört. »Wo sind die anderen?«, fragte ich, während wir uns einen Weg zwischen Mauerbrocken und Glasscherben hindurch bahnten. Missmutig stapfte Stick hinter mir den Gang entlang, schlurfte mit den Füßen und kickte bei jedem Schritt kleine Steine und Putzbrocken vor sich her. Ich hatte Lust, ihm eine runterzuhauen. Marc war ein anständiger Kerl; obwohl er registriert war, behandelte er uns Unregistrierte nicht wie Ungeziefer, sondern unterhielt sich sogar manchmal mit uns, wenn er seine Runden an der Mauer drehte. Außerdem wusste ich, dass Stick etwas für Gracie empfand, auch wenn er in dieser Hinsicht niemals etwas unternehmen würde. Schließlich war ich diejenige, die ihr Essen mit ihm teilte, weil er normalerweise zu feige war, um selbst plündern zu gehen. Undankbarer kleiner Scheißer! Ich konnte mich nicht um alle kümmern, und das wusste er ganz genau.
»Lucas ist noch nicht zurück«, murmelte Stick schließlich, als wir mein Zimmer erreichten, einen der vielen leeren Räume in diesem Gang. Im Laufe der Jahre hatte ich es so gut wie möglich hergerichtet. Die zerbrochenen Fensterscheiben waren mit Plastiktüten abgedeckt, um Regen und Feuchtigkeit draußen zu halten. In einer Ecke lag eine alte Matratze, darauf meine Decke und mein Kissen. Es war mir sogar gelungen, einen Klapptisch, ein paar Stühle und ein Plastikregal aufzutreiben, auf dem dies und das aufgereiht war, diverse Kleinigkeiten, die ich gerne behalten wollte. Ich hatte mir eine gemütliche kleine Höhle eingerichtet. Aber das Beste daran war, dass sich meine Tür noch immer von innen abschließen ließ, sodass ich etwas Privatsphäre haben konnte, wann immer mir danach war.
»Was ist mit Rat?«, fragte ich und öffnete die Zimmertür.
Das Quietschen der Tür scheuchte einen drahtigen Jungen mit strähnigen braunen Haaren auf, der bei dem Geräusch erschrocken herumfuhr und die dunklen Knopfaugen aufriss. Er war älter als Stick und ich, hatte ein kantiges Gesicht und einen Schneidezahn, der wie ein Fangzahn aus seinem Mund hervorragte und es so aussehen ließ, als würde er ständig höhnisch grinsen.
Rat fluchte, als er mich sah, was mich sofort auf hundertachtzig brachte. Das war mein Zimmer, mein Territorium. Er hatte kein Recht, hier zu sein. »Rat.« Mit einem wütenden Fauchen stürmte ich in den Raum. »Was schnüffelst du in meinem Zimmer herum? Suchst du nach Sachen, die du klauen kannst?«
Als Rat den Arm hob, wurde mir übel. In seiner schmutzigen Hand hielt er ein altes Buch mit vergilbten, zerknitterten Seiten, dessen Deckel schon halb abgefallen war. Ich erkannte es sofort. Es handelte sich um eine erfundene Geschichte, ein fantastisches Abenteuer von vier Kindern, die durch einen magischen Kleiderschrank in eine seltsame, neue Welt gelangten. Ich hatte sie öfter gelesen, als ich zählen konnte, und auch wenn die Vorstellung eines magischen Landes mit freundlichen, sprechenden Tieren mir lediglich ein müdes Lächeln entlockte, so wünschte ich mir hin und wieder klammheimlich so eine verborgene Tür, die uns alle von hier fortbringen würde.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Rat, während er das Buch hochhielt. Da ich ihn auf frischer Tat ertappt hatte, ging er sofort in die Offensive. »Bücher? Warum sammelst du denn so einen Schrott? Als ob du überhaupt lesen könntest!« Er schnaubte abfällig und schleuderte das Buch auf den Boden. »Ist dir eigentlich klar, was die Vampire mit uns machen, wenn sie das rausfinden? Weiß Lucas von deiner kleinen Müllsammlung hier?«
»Das geht dich gar nichts an«, fauchte ich und ging drohend auf ihn zu. »Das ist mein Zimmer, und hier kann ich aufbewahren, was immer ich will. Und jetzt verzieh dich, bevor ich Lucas sage, er soll dich mit einem Tritt in deinen dürren weißen Arsch hier rausbefördern.«
Rat kicherte hämisch. Er war noch nicht lange Teil unserer Gruppe, erst seit ein paar Monaten. Angeblich war er aus einem anderen Sektor gekommen und seine alte Gang hatte ihn rausgeworfen, den Grund dafür hatte er aber nie verraten. Meiner Meinung nach lag es daran, dass er ein verlogener, diebischer Mistkerl war. Hätten wir im letzten Winter nicht zwei unserer Mitglieder verloren, wäre Lucas wohl nie auf die Idee gekommen, dass er bleiben durfte. Patrick und Geoffrey, zwei nicht registrierte Brüder, waren so wagemutig gewesen, dass es schon an Dummheit grenzte. Sie hatten immer damit geprahlt, dass die Vampire sie niemals erwischen würden. Sie seien zu schnell, behaupteten sie immer. Kannten all die guten Fluchttunnel. Und dann, eines Nachts, gingen sie auf die Suche nach Essen, wie immer eben … und kehrten nie mehr zurück.
Rat schob mit dem Fuß das Buch aus dem Weg, kam zu mir rüber und baute sich drohend vor mir auf. »Du hast eine ganz schön große Klappe, Allie«, stellte er leise fest. Sein heißer Atem roch faulig. »Pass bloß auf. Lucas kann nicht ständig da sein, um dich zu beschützen. Vergiss das nicht.« Er beugte sich so weit vor, dass er mir eindeutig zu nahe kam. »Und jetzt verschwinde, bevor ich dir eine runterhaue, dass du quer durch den Raum fliegst. Wäre doch schade, wenn du vor deinem Freund das Heulen anfängst.«
Er versuchte, mich beiseitezuschieben. Ich wich ihm aus, machte einen Schritt nach vorne und rammte ihm so fest ich konnte die Faust auf die Nase.
Kreischend wich Rat zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Stick hinter mir schrie auf. Rat blinzelte die Tränen weg, fluchte derb und versuchte es mit einem ungeschickten, laschen Schlag gegen meinen Kopf. Wieder wich ich aus und schubste ihn gegen die Wand. Mit einem dumpfen Knall schlug sein Kopf gegen den Putz.
»Verschwinde aus meinem Zimmer«, knurrte ich, als Rat benommen an der Wand herabglitt. Stick hatte sich in eine Ecke geflüchtet und war hinter dem Tisch in Deckung gegangen. »Verschwinde und bleib weg, Rat. Wenn ich dich noch einmal hier drin erwische, wirst du dich den Rest deines Lebens durch einen Strohhalm ernähren, das schwöre ich dir.«
Rat rappelte sich auf, wobei er einen roten Fleck an der Wand hinterließ. Er wischte sich die Nase ab, schleuderte mir noch ein paar Beleidigungen entgegen und taumelte Richtung Tür; dabei konnte er es sich nicht verkneifen, noch einen Stuhl umzutreten. Sobald er draußen war, knallte ich die Tür hinter ihm zu und schloss ab.
»Arschloch. Widerlicher, verlogener Dieb. Aua.« Stirnrunzelnd musterte ich meine Faust. Ich hatte mir an Rats Zahn die Knöchel aufgerissen, es fing schon an zu bluten. »Igitt. Na großartig, hoffentlich habe ich mir nicht irgendwas Ekliges eingefangen.«
»Er wird stinksauer sein«, stellte Stick in seinem Versteck hinter dem Tisch fest. Er war bleich und wirkte völlig verängstigt. Ich schnaubte nur.
»Na und? Soll er doch irgendwas versuchen. Dann breche ich ihm eben noch mal die Nase.« Ich holte einen Lappen aus dem Regal und drückte ihn auf die Wunde. »Ich habe es satt, mir seinen Mist anzuhören, der glaubt doch, er könnte sich alles erlauben, nur weil er größer ist als ich. Das war schon längst überfällig.«
»Aber er könnte es an mir auslassen«, sagte Stick, und sein vorwurfsvoller Ton brachte mich sofort wieder auf die Palme. Als hätte ich vor allem daran denken sollen, welche Auswirkungen das auf ihn hatte.
»Dann verpass ihm einen Tritt vors Schienbein und sag ihm, er soll sich verpissen«, erwiderte ich, schleuderte den Lappen ins Regal zurück und hob vorsichtig das malträtierte Buch auf. Der Deckel hatte sich vollständig abgelöst und die erste Seite war zerrissen, doch ansonsten schien es intakt zu sein. »Rat hat es auf dich abgesehen, weil du es dir gefallen lässt. Wehr dich, dann lässt er dich auch in Ruhe.«
Stick verfiel in brütendes Schweigen und ich schluckte meinen Zorn hinunter. Er würde sich niemals wehren. Stattdessen würde er das tun, was er immer tat: zu mir gerannt kommen und erwarten, dass ich ihm half. Seufzend ging ich neben einer Plastikbox an der Rückwand des Zimmers auf die Knie. Normalerweise verbarg ich sie unter einem alten Laken, aber Rat hatte es in eine Ecke geschleudert. Wahrscheinlich hatte er Lebensmittel oder irgendetwas anderes gesucht, das sich zu stehlen lohnte. Ich schob den Deckel von der Kiste und musterte ihren Inhalt.
Sie war zur Hälfte mit Büchern gefüllt, einige Taschenbücher wie das in meiner Hand, andere größer mit stabilem Einband. Manche Exemplare waren halb vermodert, andere angekokelt. Ich kannte sie alle, jede Seite, von vorne bis hinten. Sie stellten meinen wertvollsten und geheimsten Besitz dar. Wüssten die Vampire, dass ich einen solchen Schatz hortete, würden sie uns alle erschießen lassen und das Gebäude dem Erdboden gleichmachen. Aber ich fand, es war das Risiko wert. Nach ihrer Machtübernahme hatten die Vampire Bücher im Saum verboten und jede Schule oder Bibliothek systematisch ausgeräumt, und ich wusste auch ganz genau, warum. Weil zwischen den Deckeln jedes Buches Informationen über eine andere Welt zu finden waren – eine Welt vor dieser hier, in der die Menschen nicht in Angst vor Vampiren, Mauern und nächtlichen Schrecken lebten. Einer Welt, in der wir frei waren.
Sorgfältig legte ich das Taschenbuch zurück an seinen Platz, wobei mein Blick von einem anderen, ebenfalls ziemlich zerlesenen Buch angezogen wurde. Das Bild auf dem Deckel war verblasst und an einer Ecke breitete sich ein Stockfleck aus. Es war ein Bilderbuch für Kinder, größer als die anderen, mit grellbunten Tieren, die fröhlich über den Einband tanzten. Sanft strich ich mit dem Finger darüber und seufzte.
Mom.
Stick hatte sich aus seinem Versteck hervorgewagt und spähte mir über die Schulter. »Hat Rat irgendwas mitgenommen?«, fragte er leise.
»Nein«, murmelte ich und schob den Deckel wieder zu, um meine Schätze zu verstecken. »Aber du solltest besser auch in deinem Zimmer nachsehen. Und bring alles zurück, was du dir in letzter Zeit geborgt hast, nur vorsichtshalber.«
»Ich habe mir schon seit Monaten nichts mehr ausgeliehen«, protestierte Stick. Wieder klang er ängstlich und abwehrend, und automatisch biss ich mir auf die Lippe, um eine scharfe Antwort zu unterdrücken. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte ich Stick oft dabei erwischt, wie er in seinem Zimmer hockte, sich gegen eine Wand kauerte und völlig versunken war in eines meiner Bücher – das war allerdings vor Rats Ankunft gewesen. Ich selbst hatte ihm das Lesen beigebracht. Lange, quälende Stunden hatten wir zusammen auf meiner Matratze gesessen und waren die Wörter, Buchstaben und Laute durchgegangen. Es hatte eine Weile gedauert, bis Stick es begriff, doch sobald er lesen konnte, wurde es zu seinem liebsten Fluchtmittel, denn so konnte er alles um sich herum vergessen.
Aber nachdem Patrick ihm erzählt hatte, was Vampire mit Saumbewohnern anstellten, die Bücher lasen, rührte er sie nicht mehr an. Die ganze Arbeit, die ganze Zeit völlig verschwendet. Es machte mich wütend, dass Stick sich bloß aus Angst vor den Vampiren weigerte, etwas Neues zu lernen. Ich hatte auch Lucas angeboten, ihm das Lesen beizubringen, aber der hatte schlicht und einfach kein Interesse daran. Und bei Rat würde ich es bestimmt nicht versuchen.
Bin auch selber blöd, wenn ich glaube, ich könnte diesem Haufen irgendetwas Nützliches vermitteln.
Doch ich war nicht nur wegen Sticks Angst und Lucas’ Ignoranz so verärgert. Hauptsächlich wollte ich, dass sie etwas lernten und mehr aus sich machten, weil das eines der Dinge war, die uns die Vampire genommen hatten. Ihren Lakaien und Leibeigenen brachten sie das Lesen bei, doch den Rest der Bevölkerung wollten sie ganz bewusst im Dunklen lassen, blind und unwissend. Wir sollten hirnlose, duldsame Tiere sein. Wenn genügend Leute wüssten, wie das Leben … davor war, wie lange würde es dann wohl dauern, bis sie sich gegen die Blutsauger erhoben und sich alles zurückholten?
Doch über diesen Traum sprach ich nicht mehr, nicht einmal mit mir selbst. Ich konnte die Leute nicht dazu zwingen, etwas lernen zu wollen. Aber mich selbst würde das nicht davon abhalten, es zu versuchen.
Als ich aufstand und das Laken wieder über die Kiste warf, wich Stick hastig zurück. »Meinst du, er hat die andere Stelle auch gefunden?«, fragte er zögernd. »Vielleicht solltest du sie besser überprüfen.«
Resigniert musterte ich ihn. »Hast du Hunger? Willst du das damit sagen?«
Stick zuckte mit den Schultern, warf mir aber einen hoffnungsvollen Blick zu. »Du nicht?«
Ich verdrehte nur die Augen und ließ mich vor meiner Matratze erneut auf die Knie fallen. Nachdem ich meine Schlafstätte hochgestemmt hatte, kamen darunter einige lose Bodendielen zum Vorschein, die ich sorgfältig beiseitelegte, um in das dunkle Loch darunter spähen zu können.
»Verdammt«, murmelte ich, während ich in dem kleinen Versteck herumtastete. Nicht mehr viel übrig: ein trockener Klumpen Brot, zwei Erdnüsse und eine Kartoffel, die bereits auszutreiben begann. Das hier war vermutlich das Ziel von Rats Suche, mein privater Vorrat. Jeder hatte etwas in der Art und versteckte es vor dem Rest der Welt. Unregistrierte bestahlen einander nicht, oder zumindest sollten sie das nicht. Das war eines unserer ungeschriebenen Gesetze. Doch tief in unserem Inneren waren wir eben alle Diebe, und der Hunger trieb die Leute manchmal zu Verzweiflungstaten. Ich hatte nicht so lange überlebt, weil ich ein Naivling war. Der einzige andere Mensch, der von diesem Versteck wusste, war Stick, und ihm vertraute ich. Er würde nicht alles, was er noch hatte, riskieren, nur um mich zu beklauen.
Mit einem tiefen Seufzer musterte ich die kümmerlichen Reste. »Nicht gut«, murmelte ich kopfschüttelnd. »Und in letzter Zeit drehen die da draußen echt durch. Niemand handelt mehr mit Essensmarken, egal zu welchem Preis.«
Während ich die Dielen wieder an ihren Platz legte und das Brot mit Stick teilte, spürte ich das altbekannte Loch in meinem Magen. In irgendeiner Form meldete sich der Hunger ständig, aber das hier wurde langsam ernst. Seit letzter Nacht hatte ich nichts mehr gegessen. Mein Raubzug heute Morgen war nicht besonders gut gelaufen. Stundenlang hatte ich meine üblichen Punkte abgeklappert, aber am Ende nichts als eine aufgerissene Handfläche und einen immer noch leeren Magen vorweisen können. Die Rattenfallen des alten Thompson hatten nichts eingebracht; entweder wurden die Viecher langsam schlauer, oder er hatte es tatsächlich geschafft, die Nagetierpopulation drastisch zu verkleinern. Anschließend war ich über die Feuerleiter zum Dachgarten von Witwe Tanner hinaufgestiegen und hatte mich vorsichtig unter dem Stacheldrahtzaun hindurchgeschoben, nur um dann festzustellen, dass die durchtriebene Alte ihre Ernte verfrüht eingebracht und nur einige leere Kästen mit Erde zurückgelassen hatte. Ich hatte den Müllcontainer in der Gasse hinter Hurleys Tauschladen durchforstet, denn manchmal, wenn auch sehr selten, fand sich dort ein Brotlaib, der selbst den Ratten zu schimmelig war, oder ein Sack verdorbener Sojabohnen oder eine faule Kartoffel. Da war ich wirklich nicht wählerisch, mein Magen war darauf gedrillt, so ziemlich alles bei sich zu behalten, ganz egal wie ekelhaft es war. Insekten, Ratten, von Maden durchsetztes Brot – das war mir ganz egal, solange es noch eine entfernte Ähnlichkeit mit Nahrung hatte. Ich vertrug auch das, was die meisten Menschen nicht runterbekamen, doch heute schien das launische Schicksal mich noch mehr zu hassen als sonst.
Und nach der Hinrichtung war es unmöglich, die Jagd fortzusetzen. Die Gegenwart des Lakaien machte die Leute im Saum nervös. Auch ich wollte keinen Diebstahl riskieren, wenn so viele Wachen unterwegs waren. Außerdem schrie das geradezu nach Ärger, wenn man Lebensmittel klaute, direkt nachdem drei Menschen deswegen gehängt worden waren.
Das vertraute Gebiet abzugrasen brachte mich nicht weiter. Hier hatte ich alle Ressourcen ausgeschöpft, obendrein kannten die Registrierten inzwischen meine Tricks. Und selbst wenn ich in andere Sektoren vordrang – der Saum war schon seit langer Zeit fast völlig leergefegt. In einer Stadt voller Plünderer und Trittbrettfahrer gab es irgendwann nichts mehr zu holen. Wenn wir etwas zu essen haben wollten, blieb mir nichts anderes übrig, als mich weiter vorzuwagen.
Ich würde die Stadt verlassen müssen.
Nach einem prüfenden Blick auf das grelle Licht, das durch meine mit Plastik verklebten Fenster drang, verzog ich das Gesicht. Der Vormittag war bereits vorbei, und der Nachmittag war kurz. Sobald ich auf der anderen Seite der Mauer war, blieben mir nur wenige Stunden für die Jagd nach etwas Essbarem. Denn falls ich es nicht schaffte, vor Sonnenuntergang zurückzukommen, würden andere Kreaturen auf die Jagd gehen. Sobald das Licht vom Himmel schwand, brach ihre Zeit an. Die Zeit der Meister. Der Vampire.
Der Tag ist noch lang, beruhigte ich mich, während ich im Kopf die verbleibenden Stunden überschlug. Das Wetter ist gut. Ich könnte unter der Mauer durch, die Ruinen absuchen und vor Sonnenuntergang zurück sein.
»Wo willst du hin?«, fragte Stick, als ich die Tür aufschloss und wieder Richtung Ausgang stiefelte, immer auf der Hut vor Rat. »Allie? Warte mal, wo gehst du denn hin? Nimm mich mit, ich kann helfen!«
»Nein, Stick.« Ruckartig drehte ich mich zu ihm um und schüttelte den Kopf. »Diesmal gehe ich nicht zu den üblichen Stellen. Es sind zu viele Wachen unterwegs, außerdem ist der Lakai noch da draußen und macht alle nervös.« Seufzend schirmte ich die Augen vor der Sonne ab und ließ den Blick über den leeren Platz schweifen. »Ich muss es in den Ruinen versuchen.«
Er stieß ein erschrockenes Quieken aus. »Du verlässt die Stadt?«
»Vor Sonnenuntergang bin ich zurück, keine Sorge.«
»Wenn sie dich erwischen …«
»Werden sie nicht.« Grinsend beugte ich mich zu ihm. »Haben sie mich denn jemals gekriegt? Die wissen ja nicht einmal, dass diese Tunnel existieren.«
»Jetzt klingst du schon wie Patrick und Geoffrey.«
Das saß. Ich blinzelte irritiert. »Findest du das nicht etwas gemein?« Als er nur mit den Schultern zuckte, verschränkte ich grimmig die Arme vor der Brust. »Wenn du so denkst, werde ich mir noch einmal genau überlegen, ob ich meine Beute mit dir teile. Vielleicht solltest du dir zur Abwechslung dein Essen einmal selbst besorgen.«
»Tut mir leid«, sagte er hastig und schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln. »Ehrlich, Allie. Ich mache mir doch nur Sorgen um dich. Und ich habe Angst, dass du mich allein hier zurücklässt. Versprichst du mir, dass du zurückkommen wirst?«
»Das weißt du doch.«
»Alles klar.« Er zog sich in die Eingangshalle zurück, sodass die Schatten sein Gesicht verbargen. »Viel Glück.«
Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber es klang fast so, als hoffte er, dass ich in Schwierigkeiten geraten würde. Als sollte ich ruhig sehen, wie gefährlich es dort draußen war, damit klar wurde, dass er von Anfang an recht gehabt hatte. Aber das war doch blöd, sagte ich mir, während ich über den Platz rannte, zurück zum Zaun und zur Straße. Stick brauchte mich, ich war sein einziger Freund. Und er war nicht so nachtragend, dass er mir etwas Schlechtes wünschte, nur weil er sich wegen Marc und Gracie geärgert hatte.
Oder?
Ich verdrängte den Gedanken, schob mich durch den Zaun und huschte in die stille Stadt hinaus. Über Stick konnte ich mir immer noch den Kopf zerbrechen, jetzt ging es erstmal darum, genug Nahrung zu finden, um uns beide am Leben zu erhalten.
Die Sonne stand direkt über den skelettähnlichen Gebäuden und tauchte die Straßen in helles Licht. Bleib einfach noch ein wenig da hängen, wies ich sie an, als ich in den Himmel hinaufblickte. Rühr dich für ein paar Stunden nicht vom Fleck. Und wenn du magst, kannst du auch ganz aufhören, dich zu bewegen.
Gemeinerweise schien sie genau in diesem Moment ein wenig tiefer zu sinken und sie verspottete mich, indem sie hinter einer Wolke verschwand. Die Schatten wurden länger, glitten über den Boden und schienen wie dürre Finger nach mir zu greifen. Zitternd wandte ich mich ab und hastete durch die Straßen.
2
Die Leute sagen immer, es sei unmöglich, New Covington zu verlassen, die Äußere Mauer sei unüberwindbar und niemand käme rein oder raus, selbst wenn er es wollte.
Die Leute irren sich.
Der Saum ist ein echter Betondschungel: Schluchten voller Glasscherben und rostigem Metallschrott, Häusergerippe, die von Schlingpflanzen überwuchert werden, Moder und Rost. Abgesehen vom innersten Stadtkern, wo die mächtigen Vampirtürme ihren finsteren Glanz verströmen, wirken die Gebäude kränklich, sie sind ausgeschlachtet und stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Unter dieser zerklüfteten Skyline breitet sich mehr und mehr die Wildnis aus, da es nur wenige Menschen gibt, die sie im Zaum halten könnten. Überall auf den Straßen stehen die verrosteten Karosserien ehemaliger Autos, deren brüchige Rahmen von Pflanzen verschlungen werden. Bäume, Wurzeln und Ranken bohren sich durch die Bürgersteige und sogar durch die Dächer, brechen das Pflaster auf und verbiegen den Stahl, während sich die Natur langsam aber sicher die Stadt wieder einverleibt. In den letzten Jahren haben sich einige der verbliebenen Wolkenkratzer endlich Zeit und Verfall ergeben und sind mit brüllendem Lärm in einem Staub-, Beton- und Scherbenregen eingestürzt, wobei jeder getötet wurde, der das Pech hatte, sich gerade in der Nähe aufzuhalten. Inzwischen gehört auch das zum Alltag. Betritt man heutzutage ein Gebäude, hört man stets das Ächzen und Quietschen über sich; es können noch Jahrzehnte bis zum Einsturz vergehen oder nur wenige Sekunden.
Die Stadt fällt auseinander. Jeder Saumbewohner weiß das, aber man denkt besser nicht darüber nach. Wozu soll man sich den Kopf über etwas zerbrechen, was man doch nicht ändern kann?
Ich zerbrach mir den Kopf vor allem darüber, den Vampiren aus dem Weg zu gehen, nicht erwischt zu werden und genug Essen zu beschaffen, um den nächsten Tag zu überstehen.
Manchmal erforderte das, so wie heute, drastische Maßnahmen. Was ich vorhatte, war hochriskant und verdammt gefährlich. Aber wer das Risiko scheut, lebt sicher nicht als Unregistrierter, richtig?
Der Saum war in verschiedene Gebiete aufgeteilt, die wir als Sektoren bezeichneten, jeder säuberlich eingezäunt, damit der Waren- und Menschenfluss kontrolliert werden konnte. Wieder eine Maßnahme »zu unserem Schutz«. Nennt es wie ihr wollt: Ein Käfig ist und bleibt ein Käfig. Meines Wissens nach gab es fünf oder sechs Sektoren, die sich in einem lockeren Halbkreis um die Innere Stadt zogen. Wir lebten in Sektor 4. Hätte ich ein Registrierungsmal, würde der Scanner Folgendes auslesen: Allison Sekemoto, Anwohnernummer 7229, Sektor 4, New Covington. Eigentum von Prinz Salazar. Technisch gesehen gehörte jeder Mensch in dieser Stadt dem Prinzen, aber seine Obersten verfügten auch über eigene Harems und Leibeigene – also Blutsklaven. Die Saumbewohner hingegen, zumindest die Registrierten unter ihnen, waren »öffentliches Eigentum«. Was nichts anderes hieß, als dass jeder Vampir mit ihnen tun konnte, was immer ihm beliebte.
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