Unter dem Regenbogenbanner - Yvonne Bauer - E-Book

Unter dem Regenbogenbanner E-Book

Yvonne Bauer

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Beschreibung

Die Flucht vor der Leibeigenschaft führt Anna und ihre Mutter Gertrudis in das Weißfrauenkloster auf der Brücke in Mühlhausen. Im Schutz der Klostermauern den Sorgen des Alltags entledigt und mitgerissen von der Arbeit des Krankenpflegeordens macht Anna sich mit der Heilkraft der Pflanzen vertraut. In Jacob, der eines Tages in ihr Leben stolpert, findet sie einen treuen Freund. Doch dann schlägt das Schicksal erneut zu und das Mädchen wird der Obhut ihres Oheims in Diedorf anvertraut. Viele Jahre später kehrt Anna in die Reichsstadt zurück. Dort hört Anna die flammende Rede eines Predigers, der die Menschen dazu aufruft, sich gegen die Obrigkeit und den Klerus zu erheben. Berauscht von den Worten des Thomas Müntzer schließt sie sich der Rebellion an, die ihr Leben für immer verändern soll.

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Seitenzahl: 449

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Yvonne Bauer

 

Unter dem Regenbogenbanner

 

Die Saat der Reformation

 

 

 

Impressum

 

August 2024

© Telescope Verlag

 

www.telescope-verlag.de

www.telivision.de

 

Covergestaltung: Danilo Schreiter

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen wäre zufällig und nicht beabsichtigt.

Was historische Persönlichkeiten und die Ereignisse im Bauernkrieg betrifft, gilt dies jedoch nicht. Um einen spannenden Roman zu schreiben, habe ich mir erlaubt, einige Fakten um Fiktion zu ergänzen. Nennen Sie es künstlerische Freiheit, um den heute Lebenden die Vergangenheit näher bringen zu können.

„Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun. Wie kann es die Länge gut werden? So ich das sage, muss ich aufrührerisch sein.“

 

 

Thomas Müntzer (1489 – 1525)Hochverursachte Schutzrede, 1524

 

 

Charaktere

(* Personen der Stadtgeschichte und der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation)

 

Gertrudis Hiertz: Magd auf einem Freihof in Herbsleben

Anna Hiertz: Gertrudis Tochter

Jacob Hofmann: Waise aus Dachrieden, Ehemann von Anna, Schmied

Herta und Gertrud: Annas und Jacobs Töchter

Aloysius Hiertz: Annas Oheim in Diedorf

Jutta Hiertz: Frau von Aloysius

Anastasius Hiertz: Annas Großvater

Bartholomäus (Barthel): Freibauer in Herbsleben, Annas Vater

Elisabeth Koch / Schwester Maria Gabriela: Gertrudis Muhme, Nonne im Brückenkloster

Schwester Justina: Novizin im Brückenkloster

Schwester Maria Coelestina: Nonne im Brückenkloster

Schwester Maria Raffaela: Äbtissin des Brückenklosters

Johannes Görlich: Freund Jacobs, Gerber in Mühlhausen

Barbara Görlich, geb. Färber: Frau von Johannes

Justus Färber: Händler, Vater von Barbara

Kaspar Färber *: Achtmann, Bruder von Justus

Dietterich Ziegeler *: ehemaliger in Ungnade gefallener Baumeister in Mühlhausen, Mordbrenner

Georg Andreas *: Feuerteufel von 1487

Bernardus Rodemann*: Propst des Brückenklosters

Meister Gerhard: Schmiedemeister vor dem Erfurter Tor

Hilde: Schwester des Schmiedemeisters

Caspar Marx: Sohn eines Freibauers in Diedorf

Elisabeth Fischer: Caspars Weib

Hieronymus Fischer: Elisabeths Vater, Knecht auf dem Marxschen Hof

Katharina Schwerdtfeger *: Krämerin in Mühlhausen, Mutter von Heinrich Schwerdtfeger / Pfeiffer

Heinrich Schwerdtfeger / Pfeiffer*: entlaufener Mönch aus dem Kloster Reifenstein, Reformator

Georg Schwerdtfeger *: Sohn von Katharina, Bruder von Heinrich Schwerdtfeger / Pfeiffer

Tela Hopfner *: Muhme von Heinrich Pfeiffer, Frau von Heinze

Heinze Hopfner *: Krämer in der Wahlgasse, Mann von Tela

Johann Gödicke *: Ratsmeister

Sebastian Künemund *: Fleischer, Achtmann, Bürgermeister des Ewigen Rates

Griseldis Künemund: Frau des Fleischers

Michael Koch *: Wollwebermeister in der Linsengasse, Achtmann

Hannes Koch: Sohn von Michael

Margareta Koch *: Frau von Michael

Hans Ludolph *: Achtmann

Hans Hartung: Torwächter an der Eigenriedener Warte

Claus Kreutter *: Gerber, Achtmann

Katharina Kreutter *: Frau von Claus

Diederich Weißmehler *: Goldschmied am Untermarkt, Achtmann

Heinrich Froß *: Bäcker in der Görmargasse, Ratsmann

Johann Wettich *: Ratsmeister, Schultheiß

Heinrich Baumgart *: Ratsmeister

Johann Griesbach *: Pfaffe im Antoniushospital

Christiana: Köchin am Harstallhof

Hans Schalbe *: Barbier in der unteren Wahlgasse

Matthaeus Hisolidus (Herr Matthes) *: evangelischer Prediger in der Jakobikirche, vorher Mönch im Benediktinerkloster Heldrungen

Heinemann Ludwig *: Weißgerber bei Allerheiligen

Claus Fuhlstich *: Bäckermeister, Achtmann

Margaretha Damme *: Nonne im Weißfrauenkloster

Diedrich Damme *: Vater von Margaretha

Caspar Decker *: Ackerbürger

Hans Becke *: Gerber

Hans Schmidt *: Metzger aus der Holzgasse, Achtmann

Heinrich Baumgart *: RatsmannHans Dopfer *: Achtmann

Thomas Müntzer 1489 - 1525 *: Reformator

Ottilie Müntzer *: Frau von Thomas Müntzer

Ambrosius Emmen *: Famulus und Diener von Thomas Müntzer Martin Luther 1483 – 1546 *: Doktor der Theologie, Reformator Eberhard von Bodungen *: Stadthauptmann

Hans von Berlepsch *: Amtmann zu Eisenach auf der Wartburg

Sittich von Berlepsch *: Amtmann in Salza und Thamsbrück, Erbkämmerer zu Hessen

Sachsenherzöge:

Friedrich III. (der Weise) 1473 – 1525 *: Kurfürst von Sachsen, Unterstützer Martin Luthers

Johann (der Beständige) 1468 – 1532 *: Herzog von Weimar, Bruder von Friedrich

Georg (der Bärtige) 1471 – 1537 *: Herzog von Sachsen, Vetter von Friedrich, Gegner der Reformation

Philipp I. 1504 – 1567 *: Landgraf von Hessen Schutzherr von Mühlhausen

 

Prolog – Frankenhausen, 15. Mai 1525

 

»Wir müssen hier weg!«

 

Vollkommen außer Atem sah Anna auf Jacob hinunter, der auf einem umgefallenen Baumstamm saß, blicklos vor sich hinstarrte und sie nicht zu hören schien. Hektisch, nach möglichen Verfolgern suchend, sah sie sich um, ehe sie ihn erneut ansprach. »Komm schon! Wir müssen fliehen, bevor sie uns auch noch verhaften.« Um ihre Not zu unterstreichen, griff sie ihn am Arm und versuchte, ihn auf die Beine zu ziehen. Erst jetzt hatte Jacob mitbekommen, dass Anna da war. Fragend sah er zu ihr auf, machte aber immer noch keinen Versuch, sich zu erheben. Neben der Angst, die der jungen Frau kalt den Rücken hinaufkroch, machte sich Ärger in ihr breit. »Was ist denn nur los mit dir? Wenn wir nicht schnellstens von hier verschwinden, legen sie uns in Ketten!« Verzweiflung überkam sie, als Jacob immer noch nicht reagierte. Ob er verletzt war? Hastig ließ Anna den Blick über den dreckverkrusteten Körper ihres Mannes gleiten. Das Blut, das an ihm klebte, war nicht seines und mittlerweile genauso eingetrocknet wie der Matsch an Kleidern und Haut.

»Sie haben uns überrannt.«

Anna glaubte zunächst, sich verhört zu haben, aber die Worte waren tatsächlich aus seinem Mund gekommen. Wegen der Erleichterung, die sie erfasste, als er endlich sprach, hatte sie gar nicht auf die Bedeutung seiner Worte geachtet. Langsam ging die Frau vor ihm in die Hocke und sah ihm in die vor Entsetzen geweiteten Augen. Dann griff sie mit beiden Händen seine Oberarme und versuchte erneut, zu ihm durchzudringen. »Jacob, egal, was dort auf dem Berg geschehen ist, wir müssen jetzt los. Nach Frankenhausen können wir nicht. Dorthin sind die anderen Bauern geflohen. Bevor ich dich gefunden habe, konnte ich sehen, wie die Männer des Fürsten ihnen auf den Fersen waren. Sie werden jeden Winkel in der Stadt durchkämmen, bis sie alle Aufständischen aufgespürt haben. Der Herr sei ihrer armen Seelen gnädig.« Anna sah ihn durchdringend an, bevor sie weitersprach. »Wir sollten sehen, ob wir uns zu meinen Verwandten nach Diedorf durchschlagen können. Dort sind wir mit einem bisschen Glück wenigstens für eine Weile sicher.«

»Die Sache ist verloren«, flüsterte Jacob. »Ich war so ein Narr, zu glauben, dass ein Haufen Bauern es mit den Fürsten aufnehmen kann.« Nach einem verbitterten Schnauben fuhr er fort. »Thomas war ein noch größerer Narr als wir alle zusammen.«

 

Erster Teil: Mühlhausen AD 1509

 

 

Kapitel 1 - Flucht

 

Jemand rüttelte an Annas Schulter. Erschrocken setzte das Mädchen sich hin. Es war dunkel, sodass sie nicht sehen konnte, was los war. »Mama?«

»Still! Sonst hört man uns noch!«

In der Ecke ihrer winzigen Kammer raschelte es. »Wer hört uns?«

»Die Herrin.«

»Aber wieso ...?«

Ihre Mutter zog die Neunjährige unsanft am Arm. »Meine Güte, ich erkläre es dir später. Jetzt zieh dich an und frag nicht so viel!«

Müde stand die Kleine auf und verließ das warme Bett, das sie sich in den dunklen Nächten teilten. Das Herdfeuer in der Küche nebenan sorgte dafür, dass die Kammer nicht so kalt war wie die der anderen Knechte und Mägde. Anna wollte nicht aufstehen und die behagliche Stube verlassen, war sie auch noch so klein. Mürrisch befolgte sie jedoch die Anweisung ihrer Mutter, auch wenn sie lieber wieder in die Kissen krabbeln würde. »Ich bin müde.«

»Quengele nicht! Wickel dein gutes Kleid in dein Schultertuch und dann komm!«

Das Mädchen sah, wie seine Mutter die Tür vorsichtig einen Spalt weit öffnete und in die Küche lugte, bevor sie sich durch den Türspalt schob, der gerade so breit war, dass sie selbst hindurch passte.

Nachdem sie den Raum zur Hälfte durchquert hatte, winkte sie Anna, ihr zu folgen. »Pass auf, dass du keinen Lärm machst!« Dann verschwand sie im Flur.

Auf leisen Sohlen schlich das Kind hinter ihr her, noch immer verwundert, was hier vor sich ging. Mittlerweile war sie auch gar nicht mehr müde. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, aber ebenso vor Angst wie wild in der Brust. Anna lief leise weiter, trat hinter ihrer Mutter auf den Hof und tat es ihr gleich, als diese am Rande des mit einem Holzzaun eingefassten Innenhofs im Schatten Schutz suchte. Instinktiv wusste sie, dass sie nicht das kleinste Geräusch machen durfte.

Das Mädchen wartete ab, bis seine Mutter sich erneut in Bewegung setzte, und heftete sich an ihre Fersen. Leichtfüßig platzierte sie einen Schritt vor den anderen und blieb stehen, als ihre Mutter dies ebenfalls tat, um sich umzusehen. Niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen, auch nicht die beiden Männer, die in der Mitte des Hofes neben dem Feuer saßen, das dort brannte.

Anna hätte beinahe aufgeschrien, als eine massige Gestalt vor ihnen auftauchte. Im letzten Moment erkannte sie den obersten Stallknecht Hans, mit dessen Sohn sie befreundet war. Keuchend ließ sie die Luft aus ihren Lungen entweichen. »Du hast mich aber erschreckt«, flüsterte Anna, als sie feststellte, dass der Mann ihnen nichts Böses wollte.

Er beugte sich zu ihr hinunter und hielt den Zeigefinger vor seine Lippen. Dann bedeutete er Anna und ihrer Mutter, ihm zu folgen. Dabei hoffte sie inständig, dass die Hunde nicht anschlugen und sie verrieten, denn an ihnen mussten sie vorbei, wenn sie zum Tor hinauswollten. Je weiter sie sich von den Waffenknechten entfernten, umso größer wurde Annas Unruhe. Wo wollte ihre Mutter nur hin und warum? Sie hatte nicht ein Wort darüber verloren. Aber das Mädchen vertraute darauf, dass sie das Richtige tat, und folgte den beiden Schatten, die in dieser fast vollkommenen Dunkelheit nur in der Nähe auszumachen waren. Als sie den Verschlag mit den Hunden erreichten, blieb ihre Mutter so unvermittelt stehen, dass Anna beinahe mit ihr zusammengestoßen wäre. Schemenhaft nahm sie wahr, wie der Stallknecht in die Hocke ging und die Hunde zu sich lockte. Dann konnte sie hören, wie die Tiere sich an Knochen gütlich taten, die der Mann ihnen mitgebracht haben musste. Diese Ablenkung nutzten sie aus, um an den Wachhunden vorbeizuschleichen. Nur wenige Schritte trennten sie noch vom Tor, als einer der Hunde zu Knurren begann.

Ängstlich drehte Anna sich zu den Waffenknechten um, die die Unruhe mitbekommen hatten, denn einer von ihnen erhob sich alarmiert. »Wer ist da? Gib dich zu erkennen!«

Anna erschrak, als sich erneut eine Hand von hinten um ihren Mund legte, und noch mehr, als ihr Körper von dem Stallknecht umfasst und unversehens zum Tor hinausgeschoben wurde. Bevor sie überhaupt zu einem Gedanken fähig war, hörte sie, wie der Vater ihres Freundes zu den Waffenknechten trat und sich zu erkennen gab. »Immer mit der Ruhe, Mann! Ich bin es nur.«

»Was schleichst du zu dieser Stunde hier herum, du Hundsfott? Du hast hier draußen nichts zu suchen!«

»Ein Mann wird doch wohl noch Pinkeln dürfen, wenn ihn die Blase drückt!«

»Dazu gibts den Abtritt, du Hornochse.« Der Wachmann lachte über seinen eigenen Witz und der andere fiel in das Gelächter mit ein.

Den Rest der Unterhaltung bekam Anna nicht mit, denn sie wurde von ihrer Mutter in die Dunkelheit des angrenzenden Wäldchens gezogen, weg von dem Ort, der ihr Leben lang ihr Zuhause gewesen war.

Das Mädchen hatte Mühe, mit ihr mitzuhalten, und war schon nach wenigen Meilen erschöpft. Sie versuchte stehenzubleiben, aber ihre Mutter fasste ihre Hand noch fester und zog sie unerbittlich hinter sich her. »Mama, ich bin müde.«

Gertrudis blieb seufzend stehen. »Also gut, setz dich einen Augenblick, aber nicht zu lange. Wir müssen noch ein ganzes Stück Weg zwischen uns und den Hof bringen, damit wir erst einmal sicher sind.«

Anna war kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Sicher? Waren wir zuhause denn nicht sicher?« Jetzt kullerte doch eine Träne über ihre Wange. »Ich habe Angst. Der Ziegeler geht um. Was ist, wenn er uns ausraubt und tötet?« Das Mädchen, das sich mittlerweile hingesetzt hatte, legte den Kopf auf die angezogenen Knie und weinte nun bitterlich. Sie hatte davon gehört, was der Mann mit Claus Kalharts Sohn angestellt hatte, als dieser auf dem Weg von Erfurt nach Hause in Richtung Tonna war. Der Vogelfreie hatte ihm aufgelauert, dem Burschen die Kleidung genommen, Hände und Füße durchstochen und ihn zu Tode gequält.

Gertrudis setzte sich neben ihre Tochter in das feuchte Laub, das den Waldboden bedeckte. »Glaub mir, wenn ich dir sage, dass uns noch größeres Unglück gedroht hätte, wenn wir nicht fortgelaufen wären.«

»Aber wieso?« Verständnislos schüttelte das Mädchen den Kopf. »Vater hätte ...«

»Still!« Gertrudis hätte Anna am liebsten eine Ohrfeige verpasst für ihr vorlautes Mundwerk. »Du musst lernen, nicht alles auszusprechen, was in deinem Kopf vor sich geht!« Sie ärgerte sich über das Kind und fragte sich gleichzeitig, woher zum Teufel Anna von ihrem Vater wusste. Sie musste Gerüchte aufgeschnappt haben, anders konnte es sich Gertrudis nicht erklären. Verdammt! Sie hatte gehofft, noch ein wenig Zeit zu haben, bevor sie ihrer Tochter die Geschichte ihrer Herkunft erklärte. Bisher war sie geschickt jeder ihrer Fragen diesbezüglich ausgewichen. Vor Jahren war Gertrudis durch die Vermittlung ihres Bruders als Magd in die Dienste eines wohlhabenden Freibauern fernab der Heimat in der Nähe von Herbsleben getreten. Eines Tages hatte dessen Sohn ihr den Hof gemacht. Sein ständiges Werben gab ihr damals das Gefühl, die schönste Frau auf Gottes Erdboden zu sein. Irgendwann, sie wusste gar nicht mehr genau, wann es gewesen war, gab sie seinem Drängen nach, denn er hatte es geschafft, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Sie fühlte sich vor allem von seiner Unbeschwertheit angezogen. Natürlich sah er auch gut aus mit seinen strohblonden Haaren, seine blauen Augen und den Grübchen, die sich tief in die Wangen gruben, wenn er lachte. Und das tat er oft und gern. Was mit dem Austausch schüchterner Küsse und Berührungen begonnen hatte, gipfelte schließlich in heißblütigen Umarmungen in schlaflosen Nächten. Obwohl Gertrudis wusste, dass die Unzucht ein schweres Verbrechen gegen die Kirche war, konnte sie es nicht übers Herz bringen, ihn der Kammer zu verweisen, wenn er im Schutz der Dunkelheit Einlass begehrte. Für einige Monate fühlte sie sich so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Als dann das erste Mal ihr Mondfluss ausblieb, dachte sie sich nichts dabei. Auch beim zweiten Mal fand sie absonderliche Erklärungen dafür, wie die lange Kälte, die über achtzehn Wochen angedauert hatte und sogar alle Mühlen in Mühlhausen hatte einfrieren lassen. Tief in ihrem Inneren wusste sie jedoch, was der Grund dafür und für ihre morgendliche Übelkeit war. Sie hätte es besser wissen müssen, hätte dem unschicklichen Treiben schon viel früher ein Ende bereiten sollen. Aber sie war machtlos gegen ihre Gefühle gewesen, damals und auch heute noch.

Wenn sie ihre Tochter betrachtete, sah sie in das Antlitz ihres Geliebten. Ihre blauen Augen strahlten die gleiche Lebensfreude aus wie die seinen. Auch wusste sie in ihrem zarten Alter von neun Jahren schon, mit ihren Grübchen zu spielen. Einzig ihr Haar war einen Ton dunkler, etwa so wie die Farbe von Weizen kurz vor der Ernte. Sie war jetzt bereits hübsch und würde einmal zu einer wahren Schönheit heranwachsen.

Gertrudis seufzte, als sie an den Tag dachte, an dem sie den Mut fasste, dem Herrn zu gestehen, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug. Nächtelang hatten sie sich daraufhin die Köpfe heißgeredet und waren zu keinem Schluss gekommen. Schließlich, sie erinnerte sich noch genau an den Tag, war es die Mutter des Herrn, die Gertrudis aufsuchte, als diese gerade Laken zum Trocknen aufhängte. Die Frau liebte ihren Sohn und sah ihn nicht gern unglücklich, zumal alle anderen ihrer Kinder gestorben waren, kaum dass sie dem Säuglingsalter entwachsen waren. Gegen den Willen ihres Gatten setzte sie durch, dass Gertrudis auf dem Hof bleiben durfte, um das Kind zu bekommen. Ihre einzigen Bedingungen waren, die unschickliche Beziehung zu ihrem Sohn zu unterlassen und keiner Menschenseele von der Herkunft Annas zu erzählen. Natürlich tuschelten die übrigen Bediensteten, dennoch verlor niemand jemals ihr gegenüber ein Wort darüber. Aber jedem, der Augen im Kopf hatte und das Mädchen genauer betrachtete, musste die Ähnlichkeit auffallen. »Ich werde dir später von deinem Vater erzählen, aber jetzt müssen wir weiter. Komm!« Gertrudis streckte ihrer Tochter die Hand entgegen und zog sie auf die Beine. »Ich weiß, dass du müde bist. Das bin ich auch.«

Anna jammerte. »Aber der Ziegeler!«

»Mädchen, du treibst mich noch in den Wahnsinn!« Obwohl die Angst des Kindes vor diesem Verbrecher nicht unbegründet war, gewann die Furcht vor dem, was ihnen drohte, wenn sie blieben, die Oberhand. Gertrudis zerrte Anna förmlich hinter sich her, ehe sie ein weiteres Wort des Widerstands sprechen konnte. »Wir laufen die Nacht hindurch. Morgen, wenn die Sonne aufgeht, ruhen wir uns aus. Danach ist Zeit für Erklärungen.« Sie hatte Angst, dass die neue Herrin auf dem Hof die Hunde auf sie hetzen würde. Allein diese Vorstellung gab der Frau Kraft, ihre Schritte zu beschleunigen. Sie hatte sich in der Nähe der Unstrut gehalten und suchte nun im silbernen Schein des Mondes nach der Stelle, an der der Balzerbach in den Fluss mündete.

Schweigend liefen sie mit beinahe lautlosen Schritten durch das feuchte Laub. Ab und an knackte ein kleiner Ast unter ihren Füßen, was beide zusammenfahren ließ.

Annas Beine waren schon ganz schwer, als ihre Mutter zufrieden aufstöhnte. Dann sah das Mädchen, wie diese ihre Schuhe aufschnürte, von den Füßen strich und am Gürtel festband.

»Mach schon!«

Sogar im Dunkel der Nacht konnte Anna den missmutigen Blick ihrer Mutter erkennen und selbst wenn nicht, war der ungeduldige Ton in ihrer Stimme doch Hinweis genug, sich zu sputen. Das Mädchen fragte nicht weiter und zog sich hastig die Schuhe aus, um ihr in das kühle Nass zu folgen. Sie watete durch das schlammige Ufer hinter dem Umriss her, der sich dunkel vor dem vom Mondlicht Silber glitzernden Wasser abhob. Es war keinesfalls einfach, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, denn viele der Steine im Bachbett waren von Moos bewachsen und glitschig. Die Kälte des Wassers, das ihr bis an die Knie reichte, tat ihr Übriges. Mit der Zeit verlor Anna jegliches Gefühl in den Füßen und stürzte der Länge nach in den Bach.

»Herr im Himmel, was bist du nur für ein ungeschicktes Ding!« Gertrudis machte kehrt und half ihrer Tochter, sich hinzustellen. »Meine Güte, tropfnass wie du bist, können wir nicht weiterlaufen.« Sie blickte über die linke Schulter und konnte in der Dämmerung in einiger Entfernung das Dorf Kleinvargula ausmachen. Während sie mürrisch schnaubte, dachte sie darüber nach, ob sie zwischen sich und dem Hof ausreichend Abstand gebracht hatten, um genügend Vorsprung für etwaige Verfolger zu haben. Gertrudis konnte sich bildhaft vorstellen, wie die Herrin toben würde, wenn sie feststellte, dass sie nicht mehr da waren. Inständig hoffte die junge Frau, dass der Herr einen mildernden Einfluss auf sie ausüben würde, damit seine Gattin ihnen nicht die Hunde auf den Hals hetzte. Nicht nur, dass sie einfach weggelaufen waren, nein, sie hatte auch einige Vorräte mitgenommen, damit sie und Anna über die Runden kämen. Wenn man sie aufgriff und wegen Diebstahls verurteilte, drohten ihr der Verlust einer Hand, das Brandeisen oder Schlimmeres. Als sie noch einmal auf ihre Tochter hinunterblickte, überwältigte sie ein Gefühl des Mitleids. Sie strich ihr über die tropfnassen Haare und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. »Also gut. Wir machen Rast und Frühstücken.«

Als sie einen geeigneten Platz, hinter dichten Büschen verborgen, gefunden hatten, schälte sich Anna ihre eiskalte Kleidung vom Leib und breitete sie zum Trockenen über den tiefhängenden Ast einer Birke. Dann wickelte sie sich in das Tuch, das ihre Mutter ihr wortlos gereicht hatte, und setzte sich neben sie auf den bemoosten Boden, der zwischen den weit verzweigten Wurzeln der Bäume einen weichen Teppich bot. Überrascht riss sie die Augen auf, als Gertrudis ein Tuch aufknotete und den köstlichen Inhalt vor ihnen ausbreitete. Erst jetzt merkte das Kind, wie groß sein Hunger war. Dennoch wartete Anna ab, bis sie einen Kanten Brot, ein Stück Käse und eine kleine Räucherwurst von ihrer Mutter zugeteilt bekam.

»Wenn wir es jetzt essen, kann man uns nicht mehr damit erwischen. Also greif zu!«

Mit spitzen Fingern griff sie nach einer der Würste, biss hungrig hinein und kaute genüsslich. »Hast du das Essen gestohlen?«

Gertrudis, die den anklagenden Blick ihrer Tochter förmlich auf sich ruhen spürte, verzog ärgerlich das Gesicht. »Es war nicht genug Zeit, einen eigenen Vorrat anzulegen. Da wir in den kommenden Tagen auf keinem Markt Proviant kaufen können, musste ich mir etwas einfallen lassen. Wenn man nach uns fragt, kann sich so wenigstens niemand an uns erinnern.«

Anna war so müde, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie verstand nicht, wieso sie das behagliche Leben auf dem Hof bei Herbsleben gegen eine ungewisse Zukunft eintauschen sollte. »Aber warum mussten wir fort von zuhause?«

Gertrudis starrte eine Weile vor sich hin, bevor sie antwortete. »Sie wollte uns verkaufen, dieses dreckige Weibsstück!«

»Aber das kann sie doch nicht!« Entrüstet sprang das Mädchen auf. Dabei rutschte ihr das Tuch von den Schultern und landete auf dem Boden. Ihre Gedanken überschlugen sich. Warum in Gottes Namen würde die Herrin sie und ihre Mutter verkaufen wollen? Durfte sie das überhaupt? Sie waren frei geboren. Außerdem war der Herr ihr Vater. Das hatte sie von den Waschfrauen gehört, die sich darüber unterhalten hatten und nicht ahnten, dass Anna sie belauschte. Kraftlos sank sie in die Knie und hüllte das Tuch wieder um den Körper. »Ich verstehe das alles nicht.«

»Die Herrin wollte uns nicht in der Nähe ihres Mannes. Ich habe gehört, wie sie mit ihrer Magd darüber gesprochen hat, dass sie uns verkaufen will. Seit die alte Herrin gestorben ist, hat sie das Sagen auf dem Hof. Der Herr hätte es nicht verhindern können.« Gedankenverloren griff Gertrudis erneut nach einer Wurst, biss hinein und sah kauend durch die Blätter der Büsche in die Ferne. »Wir gehen zu deinem Oheim und bitten ihn um Hilfe.«

»Nach Diedorf?« Anna hatte viele Geschichten von ihrer Mutter über deren Bruder erzählt bekommen. Sie wusste, dass ihr Oheim in den Süden des Eichsfelds geheiratet hatte. Bevor er mit seiner Braut nach Diedorf zog, sorgte er dafür, dass seine Schwester eine Anstellung auf dem Hof bekam, auf dem Anna wenige Jahre später geboren wurde. »Glaubst du, dass er uns helfen wird?«

Gertrudis zog die Schultern nach oben und ließ sie matt wieder sinken. »Ich hoffe es. Wir können sonst nirgendwo hin. Meine Muhme, die Schwester meiner Mutter, ist eine der Weißfrauen in Mühlhausen. Ich hoffe, dass sie noch lebt und uns für eine Weile versteckt, bevor wir nach Diedorf aufbrechen.«

»Wie weit ist es bis nach Diedorf?« Unruhig zappelnd vertrieb Anna ihre Müdigkeit.

»Hoffentlich weit genug. Und nun schlaf etwas! Es ist noch ein sehr langer Weg, für den wir ausgeruht sein müssen. Ich bleibe den Rest der Nacht wach und passe auf, dass uns hier niemand entdeckt.« Obwohl sie selbst zu Tode erschöpft war, stand ihr Entschluss fest, nicht zu schlafen, bis die Sonne aufging. Dann konnte sie sich mit ihrer Tochter abwechseln und selbst ein wenig ruhen. Sie blickte in den Himmel, betrachtete den Mond und die leuchtenden Sterne und fragte sich, was die Zukunft wohl für sie und Anna bringen würde.

Kapitel 2 - Abschied

Gertrudis erwachte schlagartig und zu Tode erschreckt, als sie spürte, wie jemand ihr eine Hand auf den Mund presste, ein Arm sich von hinten um ihre Taille schlang und sie auf die Füße zog. Hektisch trat sie um sich und versuchte, sich zu befreien. Aber je mehr sie sich wand und mit den Beinen strampelte, umso fester wurde der Griff. Sie spürte heißen Atem an ihrem rechten Ohr und glaubte, die Würste, die sie kurz zuvor gegessen hatte, jeden Moment wieder erbrechen zu müssen.

»Halt still, dann lasse ich dich los!«

Bevor sie begriff, was der Mann sagte, schoss die Erkenntnis in ihren Kopf, dass sie die Stimme kannte. Im nächsten Moment lockerten sich die Finger, die auf ihrem Mund lagen, sodass sie den Kopf drehen konnte. Aus ihrer Kehle, die vor Schreck so trocken und kratzig war wie ein Reibeisen, drang ein unartikulierter Laut. Ehe sie etwas sagen konnte, deutete der Mann auf die schlafende Anna, bevor er den Finger an seinen Mund legte, um ihr zu bedeuten, dass sie leise sein sollte. Er zog sie mit sich, ein Stück weg von dem Kind.

Hektisch sah sie sich um, ob noch jemand ihnen auf die Spur gekommen war.

»Keine Sorge, ich bin allein. Den Stallknecht, der ja zweifellos in deine Pläne eingeweiht ist, habe ich nach Kleinvargula geschickt, damit er, wenigstens um den Schein zu wahren, dort Erkundigungen über euch einholt«, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. »Obwohl Hans kein Sterbenswort verraten hat, dachte ich mir schon, dass du zu deinem Bruder unterwegs bist, und bin Euren Spuren gefolgt.«

Es dauerte eine Weile, bis Gertrudis einen klaren Gedanken fassen konnte. Ein Blick auf den Stand der Sonne verriet ihr, dass sie kaum eine Stunde geschlafen hatte. Diese Tatsache, die Angst davor, dass man sie aufgriff und die Nähe zu dem Mann, den sie nach all den Jahren immer noch liebte, sorgten dafür, dass sie mit offenem Mund vor ihm stand und kein Wort hervorbringen konnte.

»Was hast du dir dabei gedacht, so mir nichts dir nichts mitten in der Nacht zu verschwinden?« Er griff nach Gertrudis Schultern und schüttelte sie, dass ihre Zähne aufeinander klapperten.

Wütend entwandt sie sich seinem Griff und trat einen Schritt von ihm zurück. »Am besten fragst du das dein Weib!«, zischte sie aufgebracht. An seinem Blick konnte sie erkennen, dass er nicht im Geringsten ahnte, wovon sie sprach. Also erzählte sie ihm, was sie mit angehört hatte. »Ich werde den Teufel tun und mich und meine Tochter für ein Fronbrot an irgendeinen Herrn verkaufen lassen. Wir sind frei geboren!« Gertrudis beobachtet, wie ihr Geliebter sich die Haare raufte, und konnte erkennen, wie er mit den widersprüchlichsten Gefühlen rang. Sie wusste, dass er sie nicht gehen lassen wollte und sich dennoch der unausweichlichen Tatsache stellen musste. Er hätte sich niemals gegen sein Weib aufgelehnt, schon gar nicht wegen einer Magd und ihres Bastards. Auch wenn dieses uneheliche Kind sein eigenes Fleisch und Blut war, so konnte er es niemals vor aller Welt zugeben.

Sie trat wieder einen Schritt auf ihn zu und legte ihm zärtlich die Hand an die Wange. »Du kannst es drehen und wenden, wie du willst, aber am Ende musst du uns gehen lassen.«

Resigniert ließ er die Schultern sinken und nickte.

Gertrudis schnürte es bei seinem Anblick die Kehle zu. Hier war er also, der Abschied, dem sie feige aus dem Weg gegangen war. Sie fühlte, wie Tränen ihre Augen füllten, und schluckte krampfhaft. Dann drehte sie sich zu ihrer immer noch schlafenden Tochter um und ließ ihn stehen. Bevor sie begriff, was geschah, zog er sie zurück, drückte sie an sich und küsste sie stürmisch, während er sich gleichzeitig an den Schnüren seiner Hose zu schaffen machte.

Zuerst war sie zu überrascht, um zu begreifen, was vor sich ging, versuchte sich von ihm zu lösen, wegen des Versprechens, das sie dereinst seiner Mutter gegeben hatte. Im nächsten Moment schoss ihr der Gedanke in den Kopf, dass die Frau tot war und begraben und mit ihr der Schwur, der sie davon abhielt, sich ihrem Geliebten hinzugeben. Diese jähe Erkenntnis fuhr ihr wie ein heißer Blitz in den Bauch. In diesem Moment waren sie frei, ihrem körperlichen Drängen nachzugeben, sich zu berühren, wie sie es all die Jahre ersehnt hatten.

Ehe sie sich versah, lag sie unter ihm, die Röcke nach oben geschlagen, gab sich allen Gefühlen hin, die sie über die Jahre verleugnen musste, spürte das Drängen der Lust in jeder Faser ihres Körpers und dachte an nichts mehr als an den Mann in ihren Armen.

»Mama?«

Als er von seiner Tochter gestört mitten in der Bewegung erstarrte, sah sie mit flehendem Blick zu ihm auf. »Nein, bitte!«

Er verstand. Mit wenigen kräftigen Stößen kam er zum Ende und zog sie mit sich über die Grenzen des Seins.

»Mama, wo bist du?«

Die Panik in der Stimme ihrer Tochter holte sie schneller in die Wirklichkeit zurück, als Gertrudis lieb war. »Bleib, wo du bist! Ich bin gleich bei dir«, brachte sie krächzend hervor. Mit unendlichem Bedauern sah sie in die blauen Augen ihres Geliebten und seufzte leise.

Er nickte, zog sich rasch aus ihr zurück und kam taumelnd auf die Beine.

Während Gertrudis ihn dabei beobachtete, wie er seine Hose verschnürte, strich sie unachtsam die Röcke über ihre Blöße und versuchte, sich jedes Detail seines Anblicks unwiderruflich ins Gedächtnis zu brennen. Wie sollte sie es nur überleben, auf immer von ihm getrennt zu sein, wenn die wenigen Schritte zwischen ihnen sich wie ein riesiger Abgrund anfühlten? Mit jedem Moment, der verstrich, den er sie nach der hitzigen Vereinigung nicht mehr in den Armen hielt, kroch eisige Kälte unaufhaltsam in ihr Herz und nistete sich dort ein, wie ein Splitter sich ins Fleisch grub. Der Schmerz, den sie dabei empfand, war unbeschreiblich und würde, dessen war sie sich sicher, niemals weichen, solange sie lebte. Sie sah, wie er sich an einem Lederband zu schaffen machte, das er in seinem Nacken zusammengebunden hatte und nun öffnete.

»Hier, gib es Anna, wenn sie alt genug ist, um alles zu verstehen!« Er hielt Gertrudis ein mit roten Steinen besetztes Silberkreuz entgegen, das an dem Lederbändchen befestigt war. »Es gehörte meiner Mutter. Sie wollte, dass ich es einmal der Frau gebe, die ich liebe.« Als er sah, dass sie zögerte, trat er einen Schritt auf sie zu, griff nach ihrer Hand und legte das Schmuckstück hinein, bevor er die Faust darum schloss. »Ich werde nie erleben, wie eine Frau aus ihr wird, aber ich liebe sie. Sie ist von meinem Blut und ich werde das Einzige tun, was ich für sie tun kann, und sie beschützen. Außer mir und dem Stallknecht weiß keine Menschenseele von deinem Bruder. Da weder Hans noch ich etwas verraten werden, wird niemand dort nach dir und Anna suchen.« Ein letztes Mal zog er Gertrudis in eine Umarmung, bevor er sie auf die Stirn küsste und sich abwandte.

Sie sah ihm nach, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war und wandte sich der Stelle zu, an der ihre Tochter auf sie wartete. Das Mädchen saß in Gertrudis Umhang gehüllt hinter einem Busch und späte mit vor Angst weit aufgerissenen Augen aus ihrem Versteck hervor.

Als Anna sah, dass ihre Mutter unversehrt war, weinte sie vor Erleichterung und zitterte am ganzen Körper. »Ich dachte, man hätte dich erwischt. Es hat sich so angehört, als würdest du mit jemandem kämpfen. Ich hatte schreckliche Angst!«

Gertrudis, wusste, dass sie ihre Tochter in die Arme nehmen sollte, um sie zu trösten, brachte es aber einfach nicht über sich. Zu tief hatte sich der schmerzhafte Verlust ihres Geliebten in ihr Herz gegraben, ein Verlust, der ihr noch bewusster wurde, wenn sie in dem Gesicht Annas die Züge des Mannes wiederfand, den sie über alles liebte. Das Mädchen war das Zeugnis ihrer Schande, mit der sie jeden weiteren Tag auf Gottes Erdboden leben musste. Anna war der Grund, warum dieses Weibsstück sie verkaufen wollte, weil sie irgendwie dahintergekommen war, dass ihr Gatte der Vater des Kindes war. Wahrscheinlich würde jedem die Ähnlichkeit auffallen, wenn er nur gut genug hinsah. »Sie mich nicht an wie ein verwundetes Reh!«, bellte Gertrudis ihre Tochter an. »Es ist nichts passiert. Sie zu, dass du noch etwas schläfst! In der kommenden Nacht will ich so viel Abstand zwischen uns und den Hof bringen, wie irgendwie möglich.« Sie ließ das Mädchen stehen und suchte sich einen Platz inmitten der Büsche, als die Trauer, die sie empfand, sich mit der bleiernen Müdigkeit vereinte, die sie plötzlich erfasste.

 

***

 

Als die Dämmerung hereinbrach, weckte Gertrudis ihre Tochter. »Zieh deine Sachen an! Sie sind mittlerweile wieder trocken.« Sie schnürte das Bündel, das ihre Habseligkeiten enthielt, fest zusammen und warf es sich über die Schulter. »Bis morgen früh sollten wir Gottern erreichen. Unser Geld müsste reichen, um uns ein Frühstück und eine Wegzehrung zu kaufen.«

Der schroffe Ton ihrer Mutter erschreckte Anna mehr als die Flucht. Sie fragte sich, was sie falsch gemacht hatte, um deren Ärger auf sich zu ziehen. Gewiss hatte Gertrudis auch sonst kaum freundliche Worte für sie übrig, aber der Blick, der sich förmlich zwischen ihre Schulterblätter bohrte, war an Abscheu nicht zu überbieten. Um ihre Mutter nicht noch mehr zu verärgern, beeilte sie sich und band mit zitternden Fingern ihr Bündel zusammen. Dann folgte sie ihr auf dem schmalen Pfad entlang des Balzerbaches.

Bevor sie jedoch die Quelle erreichten, entfernte sich Gertrudis vom Ufer. Anna, die ihr ganzes Leben nie den väterlichen Hof verlassen hatte und nicht wusste, wie sie sich zurechtfinden sollte, fragte sich, wie sie in der Dunkelheit den Weg finden würden, und bat ihre Mutter, es ihr zu erklären.

Es dauerte einen Moment, bis Gertrudis antwortete. »Der Mond wandert genau wie die Sonne am Tage jede Nacht von Osten nach Westen. Da wir in Richtung Nordwesten laufen, müssen wir darauf achten, den ersten Teil der Nacht den Mond links von uns zu haben und später rechts.«

Erstaunt über das Wissen ihrer Mutter, holte das Mädchen auf, lief neben Gertrudis und versuchte, anhand des Mondstandes selbst den richtigen Weg zu finden. »Woher weißt du das alles?«

»Mein Vater, dein Großvater hat es meinem Bruder und mir beigebracht, als ich ungefähr so alt war wie du, vielleicht auch ein wenig jünger.«

Schweigsam lief Anna neben ihrer Mutter her und versuchte, sie sich als Kind vorzustellen. Gertrudis erzählte so gut wie nie Geschichten aus ihrer Kindheit oder von ihren Eltern. Genaugenommen wusste das Mädchen kaum etwas von ihrer Familie. »War Großvater ein Gelehrter?«

Gertrudis blieb abrupt stehen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie nie wieder ein Wort über ihn verloren, zu groß war die Schande, die er über die Familie gebracht hatte. Dennoch verdiente es Anna, zu erfahren, was damals geschehen war, vor allem, da sie nun im Begriff waren, wieder nach Mühlhausen zurückzukehren, wenn auch nur für wenige Tage. Sie musste verstehen, warum die Leute mit den Fingern auf sie zeigen, sollte man sie erkennen. Sie wägte das Für und Wider gegeneinander ab und setzte sich seufzend wieder in Bewegung. »Also gut. Ich denke, du bist alt genug.« Sie seufzte. »Und hier kann uns weit und breit niemand hören.«

Annas Neugier wuchs mit jedem Schritt, den sie taten. Sie lief aufgeregt neben ihrer Mutter her. Da sie den Mond im Rücken hatten, konnte sie deren Gesicht jedoch nicht erkennen.

»Dein Großvater Anastasius Hiertz war einer der besten Buchmaler im ganzen Land. Von überall her kamen die Menschen, um sich Bücher abschreiben und mit den schönsten Malereien verzieren zu lassen. Ich habe ihm oft dabei zugesehen, wie er selbstvergessen die Farben auf das Papier gebracht hatte, durch dessen Erfindung es sich auch nicht so reiche Menschen leisten konnten, sich ein Buch anfertigen zu lassen. Schon einige Jahre zuvor wurde in Mühlhausen die Zunft der Papiermacher gegründet, was es für meinen Vater einfacher und billiger machte. Das Geschäft ging gut und uns fehlte es an nichts. In dem Jahr nach der Geburt deines Oheims kaufte er sich eine dieser neuartigen Druckmaschinen, die überall im Reich das Drucken von Büchern und Schriften erlaubten. Deshalb brauchte er die Texte nicht mehr abschreiben, was ihm eine Menge Zeit ersparte, und er konnte sich ganz den Verzierungen seiner Werke widmen. Ich verbrachte viele Tage in seiner Werkstatt. Im Gegensatz zu meinem Bruder war ich mit dem Talent gesegnet, dass mein Vater lieber bei seinem Sohn entdeckt hätte. Die beiden hatten deshalb oft Streit, musst du wissen. Dein Großvater meinte, dein Oheim müsse mehr üben, dann würde er es auch mit weniger Begabung zu einem brauchbaren Buchmaler bringen.« Gertrudis hielt einen Moment inne, bevor sie weitererzählte. »Auch wenn sie stritten, galt am Ende des Tages die Regel meiner Mutter, dass sich bis zum Abendessen alle wieder versöhnt haben mussten. Und das taten sie meistens auch. Vor dem Schlafengehen erzählte uns Vater, was für ein Buch er gerade fertigte. Hauptsächlich interessierte er sich für Astrologie, weshalb er uns vom Mond und den Gestirnen berichten konnte.« Sie sah zu ihrer Tochter, deren Umrisse sich im silbernen Mondlicht vor ihr abzeichnete. »Das dürfte dann deine Frage beantworten, ob mein Vater ein Gelehrter war. Nun, er hat nie eine dieser Universitäten besucht, aber er hat viel gelesen und ist so zu seinem enormen Wissen gelangt. Es war ihm eine Freude, seine Erkenntnisse mit uns zu teilen.«

Gertrudis lächelte bei der Erinnerung an diese glücklichen Tage in ihrer Kindheit. »Doch dann brach das Unglück über uns herein. Ich kann mich noch genau an den Tag entsinnen. Es war am Tage Gregorii, im Jahr des Herrn 1487, als ein gewaltiger Brand in Mühlhausen wütete. Er zerstörte fast die gesamte Stadt. Die Flammen vernichteten die Häuser am Obermarkt, in der Burggasse, dem Steinweg, der Linsengasse, der Judengasse, der Brückengasse, der Görmargasse ...«

Krampfhaft versuchte Gertrudis, den quälenden Laut, der sich in ihrer Kehle bildete, zu unterdrücken. »Es war furchtbar. Wir haben alles verloren, das Haus, die Werkstatt, einfach alles. Selbst die Kleider, die wir am Leibe trugen, waren rußbeschmiert und löchrig. Ein Kerl namens Georg Andreas war der Teufel, der das Feuer gelegt und uns und den anderen Menschen alles genommen hatte. Das Allerschlimmste war aber, dass meine Mutter in der folgenden Nacht zu früh mit dem Kind niederkam, das sie unter dem Herzen trug und wenige Stunden nach ihm starb.«

Anna wagte es nicht, etwas zu sagen, geschweige denn Luft zu holen, als ihre Mutter die Erzählung beendete. Für sie war es unvorstellbar, was die Familie hatte durchleben müssen. Dennoch wollte sie wissen, wie die Geschichte weiterging. Still lief sie neben Gertrudis her und hoffte, dass diese fortfahren würde, wenn sie dazu bereit war, sich erneut den Geistern der Vergangenheit zu stellen. Ob sie ihr von ihrem Vater erzählen würde und aus welchem Grund sie Hals über Kopf den Hof verlassen hatten, auf dem sie geboren worden war? Insgeheim hatte Anna gehofft, dass er sich eines Tages für sie und ihre Mutter entscheiden würde und dass sie die Stellung als Tochter des Großbauern einnehmen würde, die ihr aufgrund ihres Geburtsrechtes zustand. Aber dann war die alte Herrin, ihre Großmutter, gestorben und wenig später zog dieses Ungeheuer ein, das sie und die anderen Bediensteten aufs Schlimmste drangsalierte.

Während sie ihrer Mutter auf dem schmalen Trampelpfad folgte, achtete sie darauf, nicht über Äste zu stolpern oder in Kuhlen zu treten. Es war mühsam, im Dunkeln nicht zu stürzen und die Kleider nicht an einer Dornenhecke aufzureißen, die den Wegesrand säumten. Deshalb versuchte Anna, nicht weiter ihren Gedanken nachzuhängen, sondern darauf achtzugeben, dass sie sich nicht verletzte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb Gertrudis stehen und richtete den Blick in die Ferne. »Dort liegt Großengottern. Wir werden hier rasten, bis der Morgen anbricht und der Markt öffnet. So lange ruhen wir uns aus.«

Anna trat neben ihre Mutter und suchte mit den Augen den Horizont ab. In der aufziehenden Dämmerung konnte sie im aufsteigenden Morgennebel das dunkle Relief einer Siedlung ausmachen, in deren Mitte ein Kirchturm spitz in die Höhe ragte. »So weit entfernt von der Heimat bin ich noch nie gewesen«, stellte Anna erstaunt fest.

Lachend warf Gertrudis den Kopf in den Nacken. »Wenn du diesen kurzen Weg als weit bezeichnest, dann wird der Gedanke, dass Menschen in entfernte Länder auf andere Kontinente reisen, deine Vorstellungskraft um einiges übersteigen.«

»Wie kommen sie dort hin und wie lange dauert solch eine Reise in fremde Länder?«, fragte das Mädchen wissbegierig.

Gertrudis war zu müde, um ihre Fragen weiter zu beantworten. »Darüber können wir uns später noch unterhalten. Ich möchte ein wenig schlafen, bevor ich mich um die Einkäufe kümmere.«

Aber das Mädchen gab keine Ruhe. »Hast du keine Angst, dass uns in Gottern jemand entdeckt, wenn wir am helllichten Tag auf dem Markt herumspazieren?«

»Wir werden nicht herumspazieren.« Gertrudis hatte die Worte ›wir‹ und ›herumspazieren‹ so eigenartig betont, dass das Mädchen aufhorchte und fragend zu ihrer Mutter aufblickte.

»Sie suchen nach einer Frau mit ihrer Tochter. Also werde ich allein auf den Markt gehen, während du dich hier versteckt hältst.«

Kapitel 3 - Muhme

Gertrudis war froh, dass ihr auf dem kleinen Markt in Großengottern keine bekannten Gesichter begegnet waren. Sie war sich sicher, dass die Häscher, die von der Großbäuerin ausgesandt worden waren, die Suche nach ihnen noch immer nicht aufgegeben hatten. Schließlich stellte Anna eine Gefahr für sie und ihre ungeborenen Kinder dar, denn sie war die heranwachsende leibliche Tochter ihres Gatten. Zu viel konnte während einer Schwangerschaft, der Geburt oder im Laufe der Kindheit geschehen, was verhinderte, dass ein leiblicher und ehelicher Nachkomme das Erwachsenenalter erreichte, um das Erbe seines Vaters antreten zu können. Was würde passieren, falls man sich dann an Anna erinnerte? Selbst wenn sie als uneheliche Tochter nicht als Erbin einsetzbar war, so würde man doch durch eine geschickte Heirat die Besitztümer vergrößern können. Dafür waren Frauen zumindest gut genug, auch wenn sie der Bastard ihres Vaters waren.

Aber Gertrudis hatte dies nun alles hinter sich gelassen, wollte weg von der Gefahr, die von dieser Frau ausging, und zwar auf schnellstem Wege. Sie sputete sich, damit sie sich noch einen Moment ausruhen konnte, bevor sie am Abend weiter in Richtung Mühlhausen liefen. Ehe sie in den Büschen verschwand, schaute sie sich noch einmal sorgfältig um, ob ihr jemand folgte. Dann griff sie nach den Zweigen und schob sie vorsichtig zur Seite, um den Dornen zu entgehen. Zufrieden stellte sie fest, dass Anna einen guten Platz für sie ausgesucht hatte. Der Boden zwischen den dichten Sträuchern war moosbedeckt und würde ein weiches Ruhekissen für sie bieten, wenn sie vor der nächsten Etappe ein wenig schlafen wollten. Sie spürte bereits, wie die Müdigkeit den Weg in ihre Knochen fand. Sie fühlten sich an, als bestünden sie aus Brei. Erschöpft ging sie in die Hocke und breitete das Tuch vor ihrer Tochter aus, in dem sie die Wegzehrung aufbewahrte. Ein paar besonders fette Würste hatte die Händlerin in Wachstuch eingewickelt. »Greif zu!«

Anna, deren Magen beim Anblick des Essens laut vernehmlich knurrte, ließ sich kein zweites Mal auffordern, sondern griff nach einem Apfel, dessen rote Schale glänzte. Sie biss beherzt hinein und genoss das süße Fruchtfleisch, das zwischen ihren Zähnen knirschte. Dann sah sie abschätzend zu ihrer Mutter, die sich einen Kanten Brot gegriffen hatte. »Erzählst du mir, wie die Geschichte weiter ging, nachdem der Feuerteufel die halbe Stadt zerstört hat?« Das Mädchen machte sich schon auf einen Tadel gefasst, als sie sah, wie seine Mutter erbleichte. Doch dann zog sie gleichmütig die Schultern nach oben und nickte bedächtig.

»Also gut. Aber nur, solange wir essen. Wir brauchen dringend Schlaf.« Sie nahm einen weiteren Bissen und kaute in aller Ruhe, während sie darüber nachdachte, wie sie beginnen sollte.

»Hat man diesen Andreas bestraft?«, half ihr Anna.

Mit einem Nicken bestätigte Gertrudis die Vermutung ihrer Tochter. »Mit glühenden Zangen die Arme und Beine abgerissen und den Rest dieses Untiers für die Krähen liegenlassen.« Sie schluckte schwer. »Aber das hat uns meine Mutter auch nicht wiedergebracht. Der Zunftmeister der Papiermacher hat Vater mit einem Betrag ausgeholfen, damit er schnellstmöglich wieder sein Handwerk aufnehmen konnte. Da das Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, fanden wir bei der Schwester meiner Mutter ein Obdach. Ihr Mann war kurz vor dem Brand verstorben und sie war im Begriff, dem Ruf der Magdalenerinnen im Brückenkloster zu folgen. Vater hat sie davon überzeugt, ihr das Haus zu überlassen und im Gegenzug dafür eine jährliche Spende an das Kloster zu tätigen. Sie wurden sich einig und er richtete sich in einem der hinteren Zimmer eine Werkstatt ein, führte die Geschäfte als Buchmaler fort. Das Geld reichte nicht für eine neue Druckerpresse, aber die Menschen erinnerten sich an seine Begabung. Mein Vater vergrub sich tagsüber in seine Arbeit und am Abend trank er bis zur Besinnungslosigkeit in den Wirtsstuben der Stadt.« Gertrudis schob sich den letzten Bissen des Brotes in den Mund, bevor sie fortfuhr. »Irgendwann trank er nicht mehr nur am Abend. Er soff sich ins Grab, ohne sich darum zu kümmern, was aus mir und meinem Bruder wurde.«

Annas Blick klebte an den Lippen ihrer Mutter. »Wie alt warst du, als Großvater starb?«

»Siebzehn. Und nun leg dich hin und schlaf ein wenig!«

»Aber ...«

»Kein aber! Ich habe gesagt, solange wir essen.«

Der Ton in der Stimme ihrer Mutter zeigte Anna, dass diese keinerlei Widerspruch duldete. Obwohl sie den Ausgang der Geschichte gern gehört hätte, fügte sie sich. Die vielen Dinge, die sie erfahren hatte, ließen sie jedoch an Schlaf nicht denken. Also half sie Gertrudis dabei, den Proviant zu verstauen. Dann wickelte sie sich in ihren Umhang und legte sich auf das weiche Moos. Bevor sie einschlief, fuhr sie jedoch in die Höhe. »Du hast mir nicht erzählt, wie der Name meiner Großmutter war.«

Nachdenklich sah Gertrudis ihre Tochter an. »Anna. Du wurdest nach meiner Mutter benannt. Und nun sie zu, dass du endlich schläfst!«, ermahnte sie das neugierige Kind.

 

***

 

Noch vor Einbruch der Dunkelheit brachen sie auf. Gertrudis fühlte sich zwar nicht so erholt wie erhofft, aber die paar Stunden Schlaf hatten zumindest ihre bleierne Müdigkeit vertrieben. »Wir laufen in Richtung Altengottern und dann immer am Ufer der Unstrut entlang. Das macht es leichter, den Weg zu finden.« Mit einem Blick sah sie gen Himmel und hoffte, das Wetter würde halten. Dicke dunkle, bedrohlich wirkende Wolken türmten sich über ihren Köpfen. »Verdammt!«

Erschrocken sah Anna zu ihrer Mutter. Noch nie zuvor hatte sie gehört, dass sie fluchte. Dann drehte sie den Kopf in alle Richtungen, um zu sehen, ob ihnen von irgendwoher Gefahr drohte, konnte aber nichts entdecken. »Was ist los? Hast du jemanden entdeckt?«

»Nein. Wie es aussieht, werden wir heute Nacht ein Unwetter bekommen.« Für einen Moment überlegte Gertrudis, ob es nicht besser war, einen Unterschlupf zu suchen. Aber die Angst vor ihrer Entdeckung gewann die Oberhand und sie schüttelte vehement den Kopf. »Wir werden morgen bis auf die Haut durchnässt sein, wenn diese Wolken da die Schleusen über uns öffnen.«

Dem Blick ihrer Mutter folgend, zog sie das Tuch um ihre Schultern enger. Ein schneidender Wind kam auf und sorgte dafür, dass das Mädchen fror. Zwar waren die Tage zu Beginn des Wonnemonds bereits warm, in der Nacht brauchte es aber noch ein Feuer oder eine dicke Decke, um nicht zu frieren. »Sollen wir nicht Schutz suchen, damit wir uns nicht den Tod holen?«

»Ach was, so ein bisschen Regen hat noch nie geschadet«, entgegnete Gertrudis schroff und suchte sich einen Weg zwischen den Dornenhecken hindurch in Richtung Weg. Nach den Gerüchten, die sie auf dem Markt aufgeschnappt hatte, wollte sie schnellstmöglich in Mühlhausen hinter den Stadtmauern Schutz suchen. Wie es schien, hatte Anna Recht behalten, was diesen Ziegeler betraf. Er hatte in der letzten Woche einen Mühlhäuser Bürger verwundet. Ludwig Sattler, wenn sie es richtig verstanden hatte, forderte beim Rat eine Entschädigung für sein Leid, aber der Verbrecher war entkommen. Sie wollte gar nicht daran denken, was er mit einer schutzlosen Frau und deren Tochter anstellen würde, wenn er auf sie träfe. »Morgen sind wir in der Stadt. Wir werden meine Muhme fragen, ob wir ein paar Tage im Kloster unterkommen können, bis sich die ganze Aufregung gelegt hat.« Sie meinte damit sowohl ihre Flucht als auch die Verbrechen dieses Kerls. Eine Schande, was aus ihm geworden war. Einst ein bekannter Mann und angesehener Baumeister in Mühlhausen wurde er wegen seiner Taten der Stadt auf Lebzeiten verwiesen. Gertrudis wusste nicht, was dazu geführt hatte, dass er verbannt wurde, denn zu dieser Zeit lebte sie schon auf dem Hof bei Herbsleben. Eine solche Strafe wurde jedoch nicht ohne einen schwerwiegenden Grund verhängt. Seither trieb der Mann im Umland sein Unwesen, überfiel arglose Bürger, beraubte und tötet sie. Zuletzt den Sattler, der nur mit Glück mit dem Leben davongekommen war.

»Deine Muhme lebt noch?«, riss Anna sie aus den Gedanken.

»Das werden wir herausfinden müssen.«

In der Vorstellung des Mädchens blitzten Bilder einer alten, über einen Stock gebeugten Frau auf, die keine Zähne mehr im Mund hatte, und deren Kopf mit weißem schütterem Haar bedeckt ist.

»Und sollte der Herr sie zu sich gerufen haben, müssen wir auf die Mildtätigkeit ihrer Schwestern hoffen.« Bevor sie die Worte ausgesprochen hatte, öffnete der Himmel seine Schleusen und wahre Sturzbäche gingen auf sie nieder. Gertrudis zog das Schultertuch über den Kopf und suchte unter einer Eiche Schutz. Leider war das Blätterdach noch nicht dicht genug, um sie vor dem Regen zu schützen.

Anna drückte sich ängstlich an den Baumstamm, während ein Blitz nach dem anderen durch die dunkelgrünen Wolken zuckte, gefolgt von Donnergrollen in der Ferne, das immer näher rückte. Der Wind frischte auf und ließ die Äste um sie herum wilde Tänze vollführen. Der feuchte Rock peitschte um Annas Körper, als unmittelbar neben ihr ein Blitz einschlug und sie von den Beinen riss. Sie fand sich in einem Gebüsch auf dem Rücken liegend wieder und versuchte panisch, die Lungen mit Luft zu füllen. Ihre Mutter hatte sich mit weit aufgerissenen Augen über sie gebeugt. Anna sah, dass deren Mund sich bewegte, verstand aber in dem Getöse um sie herum kein Wort. Ihre Hände fühlten sich taub an, was sie noch mehr erschreckte. Arme legten sich um sie, halfen ihr dabei, sich aufzusetzen. Als sie sich umsah, konnte sie einen entwurzelten Baum erkennen, der auf den Weg gestürzt war. Eingeschüchtert von den Kräften, die hier am Werk waren, drückte sie sich an den Körper ihrer Mutter. Brandgeruch stieg ihr in die Nase, noch bevor sie das Knistern des Feuers hören konnte. Weil ihre Beine sie nicht trugen, kroch sie hektisch auf allen vieren von der Flammenhölle weg, rechtzeitig genug, um der herabfallenden Glut der brennenden Äste zu entkommen. Der eine oder andere Funke fand trotzdem seinen Weg, brannte winzige Löcher in Annas Kleider und versengte ihre Haut. Momente später wurde sie auf die Beine gerissen. Gertrudis zerrte sie unsanft hinter sich her. Der Qualm um sie herum wurde immer dichter, sodass sie bald nicht mehr sehen konnte, wohin sie liefen. Sie hielt sich das nasse Schultertuch vor Mund und Nase, um den beißenden Rauch nicht einatmen zu müssen, und stolperte blindlings hinter ihrer Mutter her. Als sie glaubte, keinen weiteren Schritt mehr gehen zu können, blieb Gertrudis plötzlich stehen, sodass sie beinahe gegen sie geprallt wäre.

»Hier kommen wir nicht weiter.« Eine steinige Anhöhe ragte vor Gertrudis auf. Der Qualm verschluckte jedoch die Spitze, sodass sie deren Ausmaß nicht erahnen konnte. Hinaufklettern war unmöglich, denn das Wetter hatte die Oberfläche der Steine unter ihren Fingern über die Jahrtausende geglättet, sodass sie keinen Halt boten. Ob sie nach links oder rechts ging, würde darüber entscheiden, ob sie in dieser Flammenhölle umkamen. Gehetzt blickte sie hin und her und entschied sich dann für den Weg nach links, ohne zu wissen, wohin er sie führte. Langsam tastete sie sich an der Felsformation entlang und zog Anna hinter sich her.

Sie liefen, so schnell ihre Beine sie trugen, aber die Hitze in ihrem Rücken wurde immer sengender. Mit einem lauten Krachen fiel ihnen ein brennender Baum vor die Füße und sprühte Funken.

Hastig wandte sich Gertrudis um und fand sich von Flammen eingeschlossen. »Wir schaffen es nicht«, hörte Anna ihre Mutter schluchzen. Als das Mädchen erkannte, dass sie recht hatte, schlug sie die Hände vor das Gesicht, sank in sich zusammen und weinte. Sie wollte nicht hinsehen, wie die Flammen sich unaufhaltsam vorwärts fraßen, wollte nicht darin umkommen. Als sie jegliche Hoffnung aufgegeben hatte, trommelten kirschgroße Hagelkörner auf ihren Kopf, sodass sie ihn schützend unter ihren Händen verbarg. So hockte sie eine gefühlte Ewigkeit. Als der Lärm um sie herum einer gespenstischen Stille wich, hob sie ungläubig den Kopf. Der Hagel hatte im Kampf der Elemente obsiegt. Aus den gelöschten Flammen stieg in der Morgendämmerung zwischen den verkohlten Baumstämmen ein geisterhafter Nebel auf. Sie sah zu ihrer Mutter und konnte nicht fassen, dass sie beide noch lebten. Aber Gertrudis stand vor ihr, durchnässt bis auf die Haut, die Kleider und das Gesicht rußverschmiert. Auch sie schien gerade zu begreifen, dass sie entgegen jeder Erwartung mit heiler Haut davongekommen waren. Ihr Grinsen breitete sich aus, bis es beinahe beide Ohren erreichte. Dann warf sie den Kopf in den Nacken, stieß einen Schrei aus und lachte aus voller Kehle, bevor sie in die Knie ging und ein Zittern ihren ganzen Körper erfasste.

Wenn Anna nicht genau dieselben Empfindungen durchleben würde, könnte sie glauben, dass ihre Mutter den Verstand verloren hätte. Auch ihr war gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen zumute. Sie hatten diese Hölle überlebt. Als sie sich einigermaßen gefasst hatte, sah sie sich um. »Wir müssen herausfinden, wo wir sind.«

Nickend erhob sich Gertrudis. »Ja. Ich denke, wir gehen an den Felsen entlang zurück und sehen, wohin uns dieser Weg führt.« Sie wandte sich von dem umgestürzten Baum ab, der ihnen den Weg für ihre Flucht versperrt hatte, und setzte sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung.

Anna folgte ihr. Ihre Kehle brannte entsetzlich. Sie hatte solch einen Durst, dass sie es kaum beschreiben konnte. Das hohle Gefühl in ihrem Bauch erinnerte sie daran, dass ihre letzte Mahlzeit auch schon eine Weile her war. Auf ihrer Flucht durch die Flammen hatten sie jedoch ihre Wegzehrung verloren und würden sich Neue kaufen müssen.

Bei Sonnenaufgang konnten sie zumindest die Richtung einschlagen, in der sie die Stadt vermuteten. Sie fror in ihrer durchnässten Kleidung und hoffte, dass die Sonne bald genug Kraft hatte, die Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben. Obwohl sie müde war, setzte sie einen Fuß vor den anderen und achtete darauf, dass sie auf dem aufgeweichten Boden nicht ausrutschte. Als sie das nächste Mal aufblickte, konnte sie in der Ferne die Spitzen mehrerer Kirchtürme in einer von Mauern umringten Stadt ausmachen. Das musste Mühlhausen sein.

Kapitel 4 - Zuflucht

 

Nachdem Gertrudis an die Pforte