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Berlin 1942: Die Verhaftung durch die Gestapo steht unmittelbar bevor. Die junge Marie Jalowicz will leben und taucht unter. Über 50 Jahre danach erzählt Marie Jalowicz Simon erstmals ihre ganze Geschichte. 77 Tonbänder entstehen – sie sind die Grundlage dieser einzigartigen Geschichte. »In diesem Winter 1941 spürte ich die Bedrohung wie eine Schlinge um den Hals, die sich immer weiter zuzog. Ich wollte mich retten, aber ich wusste nicht wie. Ich hatte Angst. Genauer gesagt: Die Angst hatte mich. Sie hatte mich gepackt und würgte mich«, so beschreibt sie ihren Entschluss, sich zu verstecken, bevor sie deportiert wird. Offen und schonungslos schildert Marie Jalowicz, was es heißt, sich Tag für Tag im nationalsozialistischen Berlin durchzuschlagen: Sie braucht falsche Papiere, sichere Verstecke und vor allem Menschen, die ihr helfen. Vergeblich versucht sie, durch eine Scheinheirat mit einem Chinesen zu entkommen, ein anderes Mal reist sie nach Bulgarien, um von dort nach Palästina zu fliehen. Doch sie muss nach Berlin zurückkehren. Sie findet Unterschlupf im Artistenmilieu und lebt mit einem holländischen Fremdarbeiter zusammen. Immer wieder retten sie ihr ungewöhnlicher Mut und ihre Schlagfertigkeit – der authentische Bericht einer außergewöhnlichen jungen Frau, deren unbedingter Lebenswille sich durch nichts brechen ließ. Mit einem Nachwort von Hermann Simon, Sohn von Marie Jalowicz Simon, Historiker und Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum.
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Seitenzahl: 522
Marie Jalowicz-Simon
Untergetaucht
Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940–1945
Bearbeitet von Irene Stratenwerth und Hermann Simon
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort von Hermann Simon
Marie Jalowicz um 1944
Es war sehr kalt draußen und schon dunkel geworden. Die Kneipe lag in der Wassertorstraße, einer Gegend von Kreuzberg, in der ich noch nie gewesen war. Ich betrat den noch ganz leeren Raum. »Hallo?«, rief jemand aus einem Hinterzimmer. Durch die offene Tür sah ich eine Frau, die dort saß und an einem Pelz herumnähte. Sie schien diese Beschäftigung nur sehr ungern aufzugeben, um zu mir nach vorn zu schlurfen.
Benno Heller hatte mich hierhergeschickt. Ich sollte mich in der Kneipe an die einzige Bedienung, eine Frau namens Felicitas, wenden. Sie war eine seiner Patientinnen. Eigentlich hätte sie als sogenannte Halbjüdin den gelben Stern tragen müssen, doch das tat sie nicht. Der Frauenarzt hatte mich schon ein paarmal irgendwo untergebracht, aber diesmal hatte er mich gewarnt: diese Felicitas mache nur krumme Dinger. Gern hatte er mir ihre Adresse nicht gegeben. Aber er wusste niemand anderen mehr, der mir helfen konnte.
In mir stieg ein furchtbares Grauen, eine tiefe Angst auf: Alles in dieser Situation und in dieser Gegend war mir fremd. Dennoch überwand ich mich dazu, Felicitas in wenigen Worten zu erklären, warum ich gekommen war.
Sie dachte kurz nach. Dann verkündete sie: »Ick hab’s! Der Jummidirektor muss bald kommen. Der jehört hier abends zu den Ersten. Det könnte wat sein.« Ich sollte mich einstweilen an den Tresen stellen und mich verhalten wie ein gewöhnlicher Gast, der sein Glas Bier trinkt.
Nach kurzer Zeit betrat der Mann, den sie »Gummidirektor« nannte, die Kneipe. Ich war entsetzt. Er war, grob geschätzt, Anfang fünfzig und schwer gehbehindert. Er bewegte sich, als ob seine Beine aus Gummi wären. Seinen Spitznamen trug er wegen dieser eigenartigen Motorik und weil er, wie ich später erfuhr, tatsächlich der Direktor eines kleinen Betriebes war.
Seine Sprache war wie sein Gang. Er brachte eine Art Wortsalat oder Wortbrei hervor, und das erst nach diversen Anläufen. Um verstanden zu werden, sagte er immer wieder dasselbe, in der Hoffnung, dass es nun deutlicher herauskäme. Mich packte erneut eine entsetzliche Angst. Eine Ärztin aus unserem Bekanntenkreis hatte mir einmal von den sogenannten Tabespatienten erzählt, die sie in der Psychiatrie betreute: Menschen, die unter Spätfolgen einer Syphilis litten. Von ihr wusste ich, dass diese liefen, als hätten sie Gummibeine, und dass sie sich nicht mehr richtig artikulieren können. Sie sagen nicht »Topflappen«, sondern »Topfappen«, dann verbessern sie sich zu »Opfappen«– genau wie dieser Mann, der nun vor mir stand.
Was Felicitas mit ihm besprach, konnte ich nicht hören. Aber nachträglich wurde mir klar, dass sie mich für fünfzehn Mark an ihn verkauft hatte. Sie wollte zwanzig, er bot zehn, und dann einigten sie sich in der Mitte. Bevor ich das Lokal mit ihm verließ, schenkte Felicitas ihrem Stammgast noch ein Bier ein und sagte zu mir: »Ach, komm doch noch mal eben mit.« Im Hinterzimmer erzählte sie mir, was sie ihm für eine Geschichte aufgetischt hatte: Ich sei eine alte Bekannte von ihr. Mein Mann sei an der Front, ich wohne bei den Schwiegereltern. Das Verhältnis zu diesen Leuten sei für mich so unerträglich geworden, dass ich sie gebeten habe, mich unterzubringen, ganz egal, wo. Sie raunte mir auch noch zu, dass Karl Galecki, der Gummidirektor, ein bis an den Rand des Wahnsinns fanatisierter Nazi war.
Dann gingen wir los. Draußen war es so eisig, dass es uns den Atem verschlug. Er bot mir seinen Arm. Wir sprachen kein Wort miteinander.
Der Schnee war überfroren und glitzerte hell. Es war annähernd Vollmond. Ich hob meine Augen zum Himmel: Riesengroß war das Gesicht vom Mann im Mond zu erkennen, ein feistes Antlitz mit einem hämischen Grinsen. Ich war todunglücklich. Hunde können wenigstens den Mond anheulen, dachte ich, ich darf nicht einmal das.
Und dann riss ich mich zusammen. Ich dachte an meine Eltern und begann im Stillen mit ihnen zu sprechen: »Ihr braucht euch nicht die geringsten Sorgen um mich zu machen«, sagte ich: »Eure Erziehung hat mich tief geprägt. Was ich hier erlebe, hat auf mich, auf meine Seele, auf meine Entwicklung nicht den geringsten Einfluss. Ich muss es einfach nur überleben.« Das tröstete mich ein bisschen.
Das Domizil des Gummidirektors lag nicht weit von der Kneipe entfernt. Doch wegen seiner schweren Gehbehinderung kamen wir nur sehr langsam voran. Schließlich standen wir vor einer großen Mietskaserne mit einem Torbogen. Der Durchgang führte auf einen Hof. Dort stand die langgestreckte Baracke, in der er wohnte. Etwas weiter entfernt sah ich eine zweite Baracke, in der seine Werkstatt untergebracht war.
Marie Jalowicz, 1942, im Alter von zwanzig Jahren.
Mit einer Taschenlampe leuchtete er unsicher die Eingangstür ab, um das Schlüsselloch zu finden – es herrschte ja Verdunkelung. Ich erblickte das Namensschild neben der Klingel. Und dann machte ich meinen ersten Fehler. Um meine schreckliche Angst zu überspielen, versuchte ich es mit einer humoristischen Einlage, machte eine scherzhafte Verbeugung und sagte: »Guten Abend, Herr Galezki.«
Er stutzte. Ich war offenbar der erste Mensch in seinem Leben, der ihn nicht »Galekki« nannte. Aber woher konnte ich wissen, wie man ein polnisches »c« aussprach? Um das zu erklären, musste ich mir schnell eine Lüge ausdenken: In meiner Kindheit habe bei uns gegenüber ein Herr Galecki gewohnt, der Pole war und auf »Galezki« bestand. Der Gummidirektor fragte prompt bohrend nach: Ob das ein Verwandter von ihm sein könnte? Welchen Beruf der hatte? Und so weiter.
Und dann betraten wir das Innere der Baracke. Er lebte dort ganz allein. Seine Frau, so teilte er mir stammelnd mit, habe ihn verlassen, weil sie nicht mit einem Krüppel zusammenleben wollte. Jahre seines Lebens hatte er in Krankenhäusern und Sanatorien verbracht. Und hier frönte er nun der Leidenschaft, die ihm half, seine Einsamkeit zu ertragen: seinen Fischen. In dem langgestreckten Raum waren die Wände rechts und links mit Aquarien zugepflastert. Ab und zu war eine Stelle ausgespart, an der ein Möbelstück stand. Aber im Großen und Ganzen lebten in dieser Baracke vor allem Fische. Ich fragte ihn, wie viele es seien. Er konnte sie längst nicht mehr zählen, es waren unermesslich viele verschiedene Arten.
Dann klärte er mich langwierig und immer wieder um die Aussprache von einzelnen Wörtern ringend darüber auf, dass er feste Lebensgewohnheiten habe und daran auch nichts ändern wolle. Ich reagierte sehr tolerant darauf: »Selbstverständlich gehst du jeden Abend in deine Stammkneipe. Wir tun uns zusammen, aber wir wollen uns doch nicht gegenseitig stören«, beruhigte ich ihn, und: »Selbstverständlich isst du wie immer bei deiner Mutter zu Mittag.« Wir duzten uns von Anfang an. Es war dieses spontane Kneipen-Du des Pöbels.
Ganz hinten in seiner langgestreckten Baracke stand sein Bett zwischen den Aquarien, ganz vorne eine Couch. Dort sollte ich schlafen. Er zeigte mir, wo ich eine Decke, Kopfkissen und Bettwäsche fand.
Dass er ein fanatischer Nazi war, hätte ich auch ohne Felicitas schnell herausbekommen. Denn stolz erzählte er mir nun, dass er im Sanatorium ein Modell der Marienburg aus Streichhölzern zusammengeklebt und dem Führer übereignet habe. Ich sollte raten, wie viele Streichhölzer er dafür gebraucht hatte. Ich nannte irgendeine sehr hohe Zahl, die aber natürlich noch viel zu niedrig war. Begeistert korrigierte er mich und zeigte mir ein paar Zeitungsartikel, in denen dieses kleine Wunderwerk abgebildet war und gerühmt wurde. Ich rühmte es ebenfalls.
Ziemlich weit hinten in dieser merkwürdigen Wohnstätte hing ein Bilderrahmen mit einem leeren Passepartout an der Wand. »Ach Gott«, dachte ich, »da hat einer vielleicht auf diese Art und Weise das nihil darstellen wollen oder eine ähnliche Verrücktheit.« Beim Einrahmen war offenbar ein Haar in das Passepartout geraten: Es lag diagonal auf der freien Fläche und hatte einen merkwürdigen Farbverlauf.
»Ahnst du, was das ist?«, fragte er mich und deutete darauf.
»Nein«. Selbst wenn ich es geahnt hätte, hätte ich das niemals preisgegeben. Schließlich rückte er damit heraus: Er habe dieses Stück auf komplizierte Weise beschafft und es sich durchaus etwas kosten lassen, sagte er mit geschlossenen Augen. Es sei ein Haar von des Führers Schäferhund.
»Ach«, sagte ich, »ich habe es nicht gewagt, so eine Vermutung zu äußern, um dich nicht zu kränken, wenn es nicht zutrifft. Aber das ist ja wunderbar!«
Er zeigte mir dann noch die Küche und etwas, was ich in diesem irrsinnigen Aquarium gar nicht erwartet hatte: eine Seitentür führte zu einem normalen, anständigen Badezimmer.
Dann saßen wir noch zusammen. Ich hatte mich an den Wortbrei, den er herauswürgte, gewöhnt und starrte ihn auch nicht neugierig an. So legte er allmählich alle Hemmungen ab und ließ seiner Nazigesinnung völlig freien Lauf. Ich aber hatte schreckliche Angst, mich zu verraten. Ich konnte mir zwar verkneifen, etwas Falsches zu sagen, aber meine körperlichen Reaktionen hatte ich nicht alle unter Kontrolle. Zum Beispiel sagte er: »Die Uden, die Uiden, die Jueden muss man alle umbringen.« Ich spürte, wie ich errötete, sprang auf, zeigte auf ein Aquarium und sagte: »Schau mal, die Fischchen haben sich gerade anders getummelt als sonst.« Da klatschte er in die Hände: Bravo! Wie gut ich doch seine Lieblinge beobachtete!
Ich geriet in eine solche Angst und Verzweiflung, dass ich mit den Fischen Kontakt aufnahm. Ich kannte keine Broche, keinen hebräischen Segensspruch für sie, und ich war mir nicht sicher, ob Gott überhaupt existierte. Aber andererseits war er – hakodausch boruch hu – mein verlässlicher Kumpan, und zu diesem sagte ich: »Du musst die Broche so formuliert nehmen, wie sie mir einfällt. Wenn du mir nicht einmal einen Siddur lässt, nicht einmal ein Gebetbuch und auch kein Nachschlagewerk, kannst du keine sprachliche Perfektion von mir verlangen.«
Ich glaube, er war auch vernünftig und einsichtig. Meine improvisierte Broche lautete: »Gelobt seist du König der Welt, baure ha dogim, der die Fische geschaffen hat.« Ich sprach die Fische in Gedanken auch direkt an: »Ich bin in Lebensgefahr und von allen verlassen. Ihr seid unschuldige Kreaturen genau wie ich. Seid bitte, ihr stummen Fische, meine Fürsprecher, wenn die Menschen mich im Stich lassen.«
Etwas später verkündete der Gummidirektor: »Ich muss dir mal was sagen, was mir sehr schwerfällt, ich mach’s auch kurz.« Mit gesenktem Kopf und mit Tränen in den Augen erklärte er, er müsse mich enttäuschen, er sei zu keiner wie immer gearteten sexuellen Beziehung mehr imstande. Ich versuchte, das neutral und freundlich hinzunehmen. Aber mich überwältigte ein solcher Jubel und eine solche Erleichterung, dass ich nicht mehr sitzen bleiben konnte. Ich floh auf die Toilette.
Es wurde der erhabenste und erhebendste Klobesuch meines Lebens. Ich stellte mir, natürlich in Kurzfassung, einen Freitagabendgottesdienst vor, wie ich ihn in der Alten Synagoge oft erlebte hatte. »Ich rufe euch, meine lieben Chorknaben, singt!«, dachte ich und ließ sie in meiner Erinnerung singen. All das diente dazu, Gaumel zu benschen, das heißt für die Errettung aus Lebensgefahr zu danken.
Ich weiß zwar nicht, worunter Galecki damals wirklich litt, aber ich hielt ihn für einen Syphilitiker. Wenn ich das Bett mit ihm hätte teilen müssen, wäre ich in Lebensgefahr gewesen. Nachdem ich wusste, dass es dazu nicht kommen würde, war ich zutiefst erleichtert und fühlte mich wie befreit. Haschem li welau iro – Gott ist mit mir, ich fürchte nichts – rezitierte ich im Stillen, bevor ich zu ihm zurückkehrte.
Die Baracke des Gummidirektors wäre wirklich ein ideales Versteck für mich gewesen, wenn dieser Mann nicht so ein furchtbarer Nazi gewesen wäre.
Kindheit und Jugend in Berlin
Meine Eltern waren schon elf Jahre verheiratet, als ich am 4. April 1922 als ihr erstes und einziges Kind zur Welt kam. Diese späte Schwangerschaft war für beide eine große Überraschung.
Hermann und Betti Jalowicz waren beide in Berlin-Mitte, aber in völlig unterschiedlichen Verhältnissen aufgewachsen. Mein Großvater Bernhard Jalowicz war ein Partiewarenhändler in der Alten Schönhauser Straße – ein Trinker, der seine Frau verprügelte. Er hatte bei seiner Geburt noch Elijahu Meir Sachs geheißen. Nachdem er aus Russland geflohen war, hatte er im Jahre 1870 Papiere mit dem Namen Jalowicz von einer Witwe in Calbe gekauft.
Seinen Söhnen gelang es, die Schule bis zum Abitur zu besuchen und zur Universität zu gehen. Neben dem Studium der Rechtswissenschaften engagierte sich mein Vater in der zionistischen Sportbewegung. Ostjüdische Zuwanderer galten als degeneriert durch die beengten Wohnverhältnisse im Ghetto und durch die immer gleichen Tätigkeiten wie etwa das Hausieren. Dieses Stigma sollte durch viel Bewegung an der frischen Luft in einer neuen jüdisch-nationalen Gesinnung bekämpft werden. Zeitweise war mein Vater der verantwortliche Redakteur der überregionalen »Jüdischen Turnzeitung«.
Im Sportverein Bar-Kochba war auch meine Mutter Betti aktiv. Ihr Vater war ein Enkel des berühmten Rabbiners Akiba Eger und gehörte damit zum jüdischen Gelehrtenadel. Dieser Jichus hatte es ihm ermöglicht, in die sehr reiche russisch-jüdischen Familie Wolkowyski einzuheiraten und die riesige Mitgift seiner Frau in den Aufbau eines großen Speditionshauses am Alexanderplatz zu investieren.
Meine Mutter war 1885 als Jüngste von sechs Geschwistern zur Welt gekommen. Sie war eine kleine, rundliche Person, die durch Geist, Witz und enormes Temperament gewann, sobald sie den Mund aufmachte. Schön an ihr war die ungewöhnliche Kombination von dunklen Haaren und blauen Augen, weniger schön waren ihre kurzen und dicken Beine.
Hermann und Betti Jalowicz, die Eltern von Marie, um 1932.
Mein Vater, damals ein gutaussehender junger Mann, hinter dem viele Frauen her waren, begegnete Betti Eger zum ersten Mal am Telefon. »Ich habe so viel Gutes über Sie gehört«, soll er gesagt haben: »Da kann ich wohl nur enttäuscht werden, wenn ich Sie treffe.« Meine Mutter stieg sofort auf diesen Ton ein. Die beiden lernten sich kennen und verliebten sich. Ihre Eheschließung wurde 1911 im Rahmen einer Haustrauung in der Rosenthaler Straße 44 vollzogen. Die riesige Wohnung meiner Großeltern Eger lag den neuerbauten Hackeschen Höfen direkt gegenüber.
In seinen ersten Berufsjahren als Anwalt hatte mein Vater eine Sozietät mit seinen Kollegen Max Zirker und Julius Heilbrunn in einer Kanzlei in der Alexanderstraße. Mit Zirker war er schon zur Schule gegangen. Nach dem Studium war dieser zu einem behäbigen Mann geworden, der sich, ebenso wie sein Sozius, gern auf gesellschaftlichen Anlässen sehen ließ. Mein Vater blieb währenddessen am Schreibtisch sitzen und erledigte die juristische Kleinarbeit der Kanzlei.
Bei Betti Jalowicz baute sich allmählich eine besinnungslose Wut auf: Sie hatte das Gefühl, dass Zirker und Heilbrunn ihren Ehemann hemmungslos ausnutzten. »Wir bauen uns eine eigene Praxis auf. Wir werden’s schon schaffen«, ermutigte sie meinen Vater immer wieder. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges bezogen die beiden ihre eigenen Kanzlei- und Wohnräume in der Prenzlauer Straße 19a, wenige hundert Meter vom Alexanderplatz entfernt.
Meine Mutter widmete sich dieser Praxis mit großem Elan. Sie hatte es immer bedauert, dass sie selbst kein Abitur machen und nicht studieren durfte. Als ihre älteren Brüder Rechtswissenschaften studierten, hatte sie heimlich mitgelernt. Als junge Frau war sie zur Bürovorsteherin der großen Anwaltskanzlei ihres Bruders Leo geworden und hatte dort nicht nur das gesamte Personal angeleitet, sondern selbst ganze Schriftsätze entworfen. Diese waren juristisch oft so brillant formuliert, dass kein Buchstabe und kein Satzzeichen geändert werden musste.
Mein Vater interessierte sich zwar auch sehr für Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, die tägliche Routine als Anwalt aber war ihm ein Gräuel, und in kaufmännischer Hinsicht war er absolut unfähig. So konnte es passieren, dass er mit Türenknallen abging, wenn ihm ein Mandant auf die Nerven fiel. »Geh du doch zu dem, es ist deine Praxis«, sagte er dann zu meiner Mutter.
Andererseits liebte er es, ganze Gesellschaften mit kuriosen Ereignissen aus seinem Berufsalltag zum Lachen zu bringen. Dazu gehörte die Anekdote über den Mandanten, der ihm hochaufgeregt seine Vorladung zu einem Termin zeigte. »Oh, Herr Doktor, sehnse, sehnse!«, sagte er und deutete auf das Datum. Mein Vater verstand erst, als dieser erklärte: Es war Jom Kippur. »Herr Doktor, das is Puderbeutel sein Kopp!«, lamentierte der Mandant. Sein Prozessgegner hieß Puderbeutel, und er war überzeugt, dieser Lump habe, um ihn ins Mark zu treffen, dafür gesorgt, dass er den Jom Kippur entweihen und bei Gericht erscheinen müsse.
Gern erzählte mein Vater auch von der alten Jüdin, die einmal zu ihm gekommen war, um zu fragen: »Bedarf a Mann a Frau zu schluggn?« Während sie noch sprach, war sie schon dabei, sich die Sachen vom Leibe zu reißen, um ihm die Spuren der Gewalt zu zeigen. »Lassen Se zu, lassen Se zu!«, hatte er entsetzt abgewehrt.
Zu seiner Kundschaft gehörte auch nicht-jüdisches Proletariat, wie jener Mann, der sein Anliegen nur stammelnd vortragen konnte. Mit Mühe verstand mein Vater, dass jemand im Krankenhaus gestorben war und diesem die Goldzähne ausgebrochen worden seien. Er erkundigte sich sehr vorsichtig und taktvoll, an welchem lieben Angehörigen denn so schändlich gehandelt worden sei. Der Mann fragte irritiert: »Warum lieber Angehöriger?« Er war Leichenträger und wollte das Virchow-Krankenhaus verklagen, weil es gefledderte Leichen an die Friedhöfe lieferte. Während es doch seiner Meinung nach das Recht der Leichenträger war, ihr kleines Einkommen durch Leichenfledderei aufzubessern.
Meine Großeltern mütterlicherseits waren beide schon vor meiner Geburt gestorben. Danach übernahm meine Tante Grete die Wohnung in der Rosenthaler Straße 44. Zu allen höheren Feiertagen richtete sie dort ein Diner für den ganzen Familienkreis aus. Jedes Jahr fanden in dem riesigen Esszimmer auch unsere unvergesslichen Sederabende statt.
Als Älteste thronte, solange ich mich zurückerinnern kann, meine Großtante Doris in der Runde. Sie war stets in graue Seide gekleidet, trug ein Band um den Hals und hatte einen Gesichtsausdruck, der mich an eine Bulldogge erinnerte. Doris Schapiro war einst schwerreich gewesen und vor der Revolution aus Russland nach Berlin geflohen. Auch ihre Tochter Sylvia Asarch, die ein ähnliches Schicksal hatte, war immer dabei.
Familientreffen im März 1932 im Sommerhaus in Kaulsdorf. Obere Reihe, von links: Herbert Eger, Sylvia Asarch, Mia Eger, Edith Lewin (eine Nichte aus Riga), Betti Jalowicz, Julius Lewin; untere Reihe: Kurt-Leo Eger, Margarete (Grete) Eger, Marie Jalowicz; vorne: Hanna-Ruth Eger, Hermann Jalowicz.
Kinder gab es in der Familie nur wenige – außer mir nur meinen Cousin Kurt-Leo und meine Cousine Hanna-Ruth. Umso wichtiger war Onkel Arthur für uns, ein sehr kinderlieber und lustiger Mann. Arthur bestand aus den unglaublichsten Widersprüchen. Schon rein äußerlich fiel er aus dem Rahmen. Die Egers waren normalerweise klein und entweder dick oder mager. Arthur überragte sie alle um mindestens einen Kopf. Alle hatten unauffälliges, dunkles Haar, seins war flammend rot. Auch durch sein Wesen fiel er aus dem Rahmen: Arthur war Kommunist und zugleich leidenschaftlich orthodox. Mit seinen religiösen Vorstellungen und Vorschriften machte er seine Schwester Grete, mit der er zeitweise zusammenwohnte, ziemlich meschugge.
Arthur handelte mit Scherzartikeln. Eine Zeit lang hatte er einen Laden in der Münzstraße, später führte er einen Marktstand, aber seine Unternehmen machten regelmäßig bankrott.
An Feiertagen gab es ewig Ärger mit ihm: Wenn nach dem Gottesdienst längst alle in der Rosenthaler Straße eingetroffen waren und darauf warteten, dass das Festessen aufgetragen wurde, kam er stets als Letzter. Eine der damals üblichen Redensarten lautete: »Na, Arthur schließt wiedermal die Schul zu.« Immer traf er vor der Synagoge noch Bekannte und unterhielt sich stundenlang mit ihnen.
Ansichtskarte von Arthur Eger, Soldat im 1. Weltkrieg, 1915, im Bild links. Text: »Wie könnte man leben, wenn man Millionär und der Krieg vorbei wär, aber sonst sind wir gesund. Viele Grüße Arthur«.
Wenn er aber am Sederabend vom Auszug der Juden aus Ägypten berichtete, tat er das mit einem solchen tiefen Ernst, als wäre er selbst dabei gewesen. Und jedes Mal, wenn die Liturgie nach der Mahlzeit fortgesetzt wurde, wurde er eine Spur blasser und verkündete, glaubwürdig erschrocken: »Der Sederabend kann nicht weitergehen, es sind Diebe eingedrungen, die den Afikaumon gestohlen haben.« Gemeint war ein besonderes Stück der Mazze, das wir Kinder versteckt hatten. Wenn wir es herausrückten, bekamen wir zur Belohnung eine Süßigkeit – so war der Brauch.
Schon lange bevor ich zur Schule kam, wollte mir Arthur die hebräischen Buchstaben beibringen. Dies entsprach einer alten jüdischen Sitte. Mein Vater erzählte, wie er als Kleinkind auf dem Schoß seines Großvaters gesessen hatte und dieser zu ihm sagte: »Mein Junge, du bist nun schon drei Jahre alt. Du sollst nicht erst die deutschen Buchstaben lernen und dann unser heiliges Alphabet, sondern umgekehrt.«
Die Art und Weise, in der Arthur diesen Unterricht anfing, brachte meine Mutter allerdings zur Weißglut. Der erste Buchstabe, den er mir aufmalte, war ein »He«. Und er sagte: »Siehst du mein Kind, das ist ein Hei. Und nun wiederhole mal: Hei.«
Das zeigte ich natürlich stolz meinen Eltern: »Schaut mal, das ist ein Hei.«
»Wo hast du diesen Mist her?«, hieß es da sofort. Denn »Hei« statt »He« – das war eine ältere, als unmodern und unfein geltende Aussprache, die ich auf gar keinen Fall lernen sollte.
Mit Tante Grete stritt Arthur sich ständig. Zum Beispiel weil er es liebte, Tee mit vielen Stückchen Zucker zu trinken. Sie hielt das für Verschwendung. »Zucker sparen: grundverkehrt! Der Körper braucht ihn, Zucker nährt«, diesen blöden Reklamespruch zitierte Arthur, sobald Grete protestierte, und ließ dabei ein Stück nach dem anderen in seine Tasse gleiten. Mal betonte er den Vers wie ein kleines Kind, das ein Gedicht aufsagt und dann steckenbleibt, das nächste Mal wie ein Schmierenkomödiant. Und Grete rief immer wieder »genug!« – bis meine sehr gestrenge und herbe Tante selbst vor Lachen explodierte. Da hatte Arthur bereits mehr als zehn Stück Zucker in seiner Tasse.
Als ich etwa zehn Jahre alt war, beobachtete ich einmal, wie er ein oder zwei Tage nach Pessach am Tisch saß, sich ein Stück Brot mit Mazze belegte und albern kichernd immer wieder sagte: »Chomez u Mazzoh«[1] – Gesäuertes und Ungesäuertes. Kein vernünftiger Mensch aß nach den acht Pessach-Tagen noch Mazze, aber er machte sich einen Spaß daraus. Da begriff ich, dass Arthur ein Schauspieler war. Man wusste aber nie, wo der Spaß aufhörte und der Ernst anfing.
Die Wohnung in der Rosenthaler Straße war auch der Schauplatz so mancher Familienanekdote, die nur hinter vorgehaltener Hand weitererzählt wurde. Eine davon handelte von meiner Tante Ella und trug sich zu, als ich noch ein kleines Kind war.
Um die Jahrhundertwende war sie für ein paar Monate nach Boldera bei Riga geschickt worden, wo eins der Landgüter der Familie Wolkowyski lag. Damals muss sie eine hübsche, lustige junge Frau gewesen sein, für die es höchste Zeit war, unter die Haube zu kommen. In Riga lernte sie Max Klaczko kennen, und schon bald darauf wurde geheiratet. Dass er ein unerträglicher Psychopath war, ein Nörgler, der ihr das Leben zur Hölle machte, merkte sie erst später.
Mit ihrer Tochter Edit kamen Ella und Max Klaczko einmal aus Riga zu Besuch nach Berlin. Während Ella glücklich war, in ihrer vertrauten Kindheitsumgebung in der Rosenthaler Straße zu sein, ging ihr Mann allein los, um sich die Stadt anzusehen. An jenem Abend im Jahre 1926 blieb er lange aus. Als man schon begonnen hatte, sich Sorgen zu machen, klingelte es. Ein Polizist stand vor der Tür und sagte mit den üblichen Beileidsfloskeln: »Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Gatte beim Überqueren des Fahrdamms bei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche tödlich verunglückt ist.«
Ella soll einen Freudenschrei ausgestoßen, den Polizisten umarmt und einen so wilden Tanz mit ihm ausgeführt haben, dass dieser sich kaum auf den Beinen halten konnte. Damit er den Mund hielt, musste man anschließend reichlich zahlen – wobei der Polizeibeamte noch betonte, er sei nicht korrupt. Sogar Onkel Arthur, der zeit seines Lebens pleite war, bot an: »Soll ich noch was dazulegen? Es ist eine ganz schöne Summe.«
Nach wenigen Tagen war Ella Klaczko zur vorbildlich trauernden Witwe ausstaffiert, nicht nur äußerlich, sondern auch in der gesamten Haltung. Ihre tatsächliche Lage war elend: Ihr Gatte hinterließ ihr mit seinem Schreibmaschinengeschäft in Riga nichts als Schulden. Ella blieben nur ein paar Schreibmaschinen, mit denen sie in ihrer Wohnung ein Schreib- und Übersetzungsbüro eröffnete.
Oft erzählte mir meine Mutter von den Delikatessen, die sie kennengelernt hatte, als auch sie für ein paar Monate auf Gut Boldera gewesen war. Manchmal fuhren wir auch in ein russisches Feinkostgeschäft in Charlottenburg. Es war für mich immer ein Fest, diese schönen Sachen zu kaufen. Besonders guten Tee gab es in Dosen mit Goldverzierung, mit einer seltsamen Beschriftung. Ich fragte: »Warum ist denn hier ein verkehrtrummes R?« Meine Mutter erklärte es mir: Das war ein Я (»Ja«). So lernte ich das russische Alphabet kennen.
Wir kauften zum Beispiel gezuckerte Kljukwa – Moosbeeren, die dick in Puderzucker eingehüllt waren und zum Tee genascht wurden. Oder Kil’ki – Sprotten in Öl – und Grillerbsen: leicht angeräucherte, ganz feine Erbsen. Ich weiß gar nicht, ob das alles wirklich so gut schmeckte oder ob das Sensationelle daran mich so entzückte. Meine Mutter erzählte aus ihrer eigenen Kindheit, dass sie schon im Hausflur erschnuppern konnte, wenn Besuch aus Russland da war. Das Juchtenleder der schweren Ledermäntel war bis ins Treppenhaus zu riechen und auch dieses ganz besondere, intensive französische Parfüm. Diese Düfte waren für sie identisch mit dem Versprechen: Jetzt gibt es Delikatessen. Auch wir bekamen von den Verwandten aus Riga besondere Köstlichkeiten mitgebracht, zum Beispiel Kalkun – farciertes Putenfleisch. Meine Mutter war begeistert, weil es sie an ihre Kindheit erinnerte, und mir schmeckte es auch sehr gut.
Kurz nach meinem sechsten Geburtstag kam ich in die Grundschule in der Heinrich-Roller-Straße. Es war 1928, die Zeit der großen Arbeitslosigkeit. Im Einzugsgebiet dieser Schule wohnten viele sehr arme Leute. Meine Eltern wollten mich trotzdem nicht in eine exklusive Privatschule schicken. Ich sollte das soziale Umfeld samt seiner Sprache – dem Berliner Dialekt – kennen- und mich darin behaupten lernen. Gleichzeitig wollten sie den Kontakt zu dieser Welt aber auch begrenzen.
Das Einschulungsfoto: Marie Jalowicz wird im April 1928 sechs Jahre alt.
Zur Schule brachte mich viele Jahre lang jeden Morgen mein Vater. Dieser gemeinsame Morgenspaziergang mit einem guten Gespräch festigte unsere enge Bindung sehr. Abgeholt wurde ich von der Lewin, meinem Kinderfräulein. Sowie ich zu Hause ankam, wurde ich nackt ausgezogen und von Kopf bis Fuß gewaschen. Die Sachen wurden entweder in die Wäsche getan oder zum Auslüften aufgehängt, und ich wurde vollkommen umgezogen. Denn ich hatte angeblich den typischen muffigen Volksschulgeruch angenommen.
Die dritte Klasse übersprang ich. Meine Eltern hatten schon vor 1933 ein drängendes Gefühl der inneren Unruhe: Ich sollte schnell durch die Schule. Wie einst meine Mutter und meine Tanten wechselte ich von der Grundschule auf das Sophien-Lyzeum über. Die drei Jahre, die ich dort verbrachte, prägten mich nicht besonders. Was mich am meisten beeindruckte, war die Verhaftung unserer Rechenlehrerin, Frau Draeger.[2] Es muss 1933 gewesen sein: Ich bekam von meinem Sitzplatz aus mit, wie sie daran gehindert wurde, unseren Klassenraum zu betreten. Zwei Männer in Zivil standen vor der Tür. Ich sah, wie sie leichenblass wurde. Wenig später hörte ich Handschellen klicken. Natürlich erzählte ich zu Hause davon. »Versuch doch mal, unauffällig rumzufragen, wer das auch gesehen hat«, sagte mein Vater. Das tat ich dann auch, mit dem Ergebnis, dass ich angeblich das einzige Kind war, das diese Szene beobachtet hatte.
Meine Mutter wurde nur dreiundfünfzig Jahre alt. Am 30. Juni 1938 starb sie an den Folgen der Krebskrankheit, an der sie lange gelitten hatte.[3] Wir ersparten unseren nichtjüdischen Bekannten den Konflikt, ob sie zu einer jüdischen Beerdigung erscheinen sollten, indem wir die Trauerkarten an sie absichtlich zu spät abschickten.
Unsere Lage war elend. Mein Vater verdiente fast nichts mehr und hatte überall Schulden. Als Notar durfte er schon seit 1933 nicht mehr tätig sein. Bis September 1938 galt noch seine Zulassung als Rechtsanwalt aufgrund einer Ausnahmeregelung für jüdische »Frontkämpfer« aus dem Ersten Weltkrieg. Dann war auch das vorbei. Es blieb uns nichts als eine kleine Rente und das, was ich durch Nachhilfeunterricht dazuverdienen konnte.
Tante Grete hatte längst aus der Rosenthaler Straße ausziehen müssen und wohnte jetzt mit Arthur in einer kleinen Wohnung im selben Haus wie wir. Sie betrieb dort ein Schreibbüro und ernährte sich und ihren Bruder damit mehr schlecht als recht.
Auch Arthur starb in diesem Sommer, nur zwei Monate nach meiner Mutter. Er ist buchstäblich verhungert. Er war damals in der Einhaltung der Speiseregeln strenger als das orthodoxe Rabbinat und hatte unter anderem kein Fleisch mehr zu sich genommen, seit 1933 das rituelle Schächten verboten worden war. Ich war dabei, als Grete dennoch einmal ein Fleischgericht auftrug. Mit blitzenden Augen fragte er: »Wie kommt der Glanz in diese Hütte?«
»Ja, nu weißte, es is neukoscher«, erklärte Grete. Da schob er den Teller weg und sagte: »Neukoscher ist alttreife!«[4]
Wegen seiner Magengeschwüre musste er in den Monaten vor seinem Tod mehrmals ins Krankenhaus. »Sein eigentliches Leiden ist geringfügig«, sagten die Ärzte zu Grete, »es geht ihm so schlecht, weil er jede Nahrungsaufnahme verweigert.« Und das war kein Spiel, kein Scherz mehr, sondern seine Antwort auf die politische Situation: Er wollte sich selber zum Opfer bringen.[5]
Die große Wohnung in der Prenzlauer Straße 19a war viel zu teuer für uns geworden. Wir brauchten eine andere Unterkunft und fanden diese durch einen ehemaligen Mandanten, der Nazigegner und uns treu ergeben war. Dieser Herr Weichert war so kurzsichtig, dass er fast blind war, und so schwerhörig, dass er fast taub war, aber er fuhr wie ein Wilder mit einem kleinen Lieferwagen durch die Stadt. Eines Tages kam er zu uns und sagte: »Ich habe das Richtige für Sie.«
Er hatte uns völlig missverstanden und dachte, dass wir ein Häuschen kaufen wollen, was angesichts unserer Lage grotesk gewesen wäre. Denn im Spätsommer 1938 mussten wir nicht nur unsere Wohnung aufgeben, sondern auch das Grundstück mit dem Sommerhäuschen in Kaulsdorf in der Wuhlheide verkaufen, das mein Vater sieben Jahre zuvor gemeinsam mit meiner Mutter erworben hatte. Neue Eigentümer wurden Hannchen und Emil Koch, Bekannte meiner Eltern, die aus Kaulsdorf stammten und unser Holzhaus bereits als Mieter bezogen hatten.
Aber Herr Weichert hatte auch die Leute, an die er uns vermittelte, falsch verstanden: Diese hatten kein Häuschen zu verkaufen, sondern Nähmaschinen. Herr und Frau Waldmann waren Juden und mussten den kleinen Konfektionsbetrieb, den sie in der Prenzlauer Straße 47 betrieben hatten, aufgeben. Deshalb stand bei ihnen ein großes Zimmer leer, und dort zogen wir ein.
Kurz nach dem Tod meiner Mutter wurde nun diese Margarete Waldmann zur letzten, großen Liebe meines Vaters. Sie war viel jünger als er, hatte einen kleinen Sohn und fühlte sich wahnsinnig geehrt, weil mein Vater sie so anhimmelte. Es schmeichelte ihr, wenn er sie andichtete und sie – obwohl wir keinen Pfennig Geld hatten – mit Delikatessen verwöhnte. Ich war empört. Mit meinen sechzehn Jahren durchschaute ich, dass sie mit ihm spielte. Es waren weder Reife noch Intelligenz nötig, um das zu erkennen.
Zugleich war die Rede davon, dass er eine Scheinehe mit einer Schulleiterin namens Dr. Schiratzki eingehen sollte, um mit ihr gemeinsam auszuwandern. Der Vorschlag stammte vom Palästina-Amt.[6] »Heirate die!«, dachte ich, »ich will mit dir nichts mehr zu tun haben!«
Meinem Vater war außerhalb der Quotenregelungen ein sogenanntes Veteranenzertifikat für Palästina in Aussicht gestellt worden, eine Einwanderungserlaubnis für verdiente Kämpfer der zionistischen Bewegung. Dieses Zertifikat hätte wahrscheinlich auch für mich gegolten, und wir wären beide aus Deutschland entkommen. Es wurde dann aber auf dubiose Weise an jemand anderen verschoben, und die Sache zerschlug sich.
Die Waldmanns bemühten sich ebenfalls um Auswanderung. Ihre einzige Möglichkeit hieß Schanghai. Die endlos weite Reise dorthin wollten sie mit der transsibirischen Eisenbahn bewältigen. Meinem Vater versuchte diese Frau weiszumachen, sie werde im letzten Moment aus dem Zug springen: »Mein Mann fährt mit dem kleinen Martin weg, und ich gehöre dann ganz dir«, versprach sie ihm. »Glaub diesen Mist doch nicht!«, hielt ich dagegen. Es gab furchtbaren Krach zwischen uns, er hätte mich beinahe geschlagen. Ich war noch zu unreif, um zu verstehen, dass diese aberwitzige jünglingshafte Liebesbeziehung ein letztes Aufflackern vor dem Tode war.
Die Situation spitzte sich zu. Wenn wir nicht auf die Straße gesetzt werden wollten, so dachte ich, musste ich etwas tun. Das bedeutete: Ich musste dem Ehemann dieser Frau zu Willen sein. Ich war in sexueller Hinsicht schon erfahren und dachte: Was soll’s. Bringen wir es hinter uns.
Es passierte auch nur zweimal. Herr Waldmann und ich gingen in das einstmals sehr gutbürgerliche jüdische Hotel »König von Portugal«. Und wen traf ich da auf der Treppe? Meine Turnlehrerin. Wir lächelten uns an. Die war also auch mit einem Mann da. Und ich war noch Schülerin.
Im Herbst 1938 wurden alle Juden mit polnischen Pässen aus Deutschland abgeschoben. Das betraf auch einige Jungen aus meiner Klasse in der neugegründeten jüdischen Oberschule in der Wilsnacker Straße. Die meisten dieser Mitschüler waren waschechte Berliner, sie waren hier geboren oder schon als Säuglinge hergekommen. Nun plötzlich mussten sie weg. Unsere Klasse reagierte außerordentlich diszipliniert auf den Abschied: Wir schwiegen eine Weile, und dann ging der Unterricht weiter. Über das, was sich ereignet hatte, gab es nichts zu reden.
Die Plätze dieser Klassenkameraden blieben nur kurze Zeit leer. Denn als Nächstes wurden alle jüdischen Schüler aus den nichtjüdischen Schulen entlassen und drängten in unsere Klassenräume. Es wurden immer mehr Stühle hineingestellt. Manche mussten auf dem Schoß schreiben.
Als Schulrat für uns zuständig war ein Professor Hübener, ein Neuphilologe, der jahrelang mit unserer Klassenlehrerin, dem jüdischen Fräulein Philippson, ein Verhältnis gehabt hatte. Ein sehr mutiger Mann war er nicht. Es war ihm offenkundig unangenehm, für diese jüdische Schule zuständig zu sein. Als er erkrankte, wurde an seiner Stelle der Direktor eines anderen Gymnasiums zur Abnahme der Abiturprüfungen eingesetzt. Unser Mitschüler ReinhardPosnanski erschrak, als er davon hörte, und meinte: »Um Gottes willen, der Schröder ist SS-Standartenführer!«
Wir hatten alle wahnsinnige Angst vor diesem Mann. Als er bei uns einmarschierte, versammelten sich alle Prüflinge samt Lehrerkollegium. Im zackigsten militärischen Ton brüllte Schröder: »Posnanski! Vortreten!« Mein Mitschüler wurde leichenblass, aber der Schulrat streckte seine Hand aus und sagte: »Ich begrüße Sie als meinen ehemaligen Schüler!« Damit war alles gewonnen.
Ich hatte Deutsch als Wahlfach und bekam in der mündlichen Prüfung einen mittelhochdeutschen Text zum Vorlesen. Danach sagte der Schulrat Schröder zu mir: »Das ist wirklich großartig, Sie sehen so jung aus, aber Sie sind direkt aus dem Mittelalter in den Raum gekommen.« Unsere Lehrer erzählten uns später, bei der Auswertung der Prüfungsergebnisse habe Schröder verlangt, alle Zensuren eine Note besser anzusetzen. Das sei im Vergleich unserer Leistungen mit denen an nichtjüdischen Schulen durchaus angemessen. Ansonsten war es eine schwere Zeit. Die meisten Mitschüler kamen aus Familien, die sich intensiv um Auswanderung bemühten. Ein lustiges Abiturientenleben gab es für uns nicht mehr.
Mein Vater wollte dennoch ein Essen zur Feier meines Abiturs bei Grete ausrichten. Wir selbst hatten ja keine richtige Häuslichkeit mehr. Auch das Ehepaar Waldmann sollte eingeladen werden. »Wenn er sich so kurz nach dem Tode meiner geliebten Schwester erfrecht, dieses Hurstück ins Haus zu bringen, dann helfe ich dir keinen Handschlag!«, erklärte meine Tante. Ich war verzweifelt. Ich war ja in Haushaltsdingen noch ganz unerfahren, und nun musste ich für ein Dutzend Leute ein Diner kochen. Geld war natürlich auch nicht da.
Es kam schließlich genauso, wie ich es vorhergesagt hatte. Mein Vater brachte die Waldmanns zum Bahnhof, der Zug setzte sich in Bewegung, und sie sprang nicht hinaus. In diesem Augenblick zerstob endlich die Illusion meines Vaters. Er brach vollständig zusammen und tat mir von nun an nur noch schrecklich leid.
Wir zogen aus der Wohnung der Waldmanns aus und mieteten zwei kleine Kammern bei einer Familie Goldberg in der Landsberger Straße 32. Sie meinten es gut mit uns, waren aber furchtbare Kleinbürger und wahnsinnig neugierig, und das war auf Dauer unerträglich. Frau Goldberg latschte dauernd hinter mir her, so dass sie mir fast in die Fersen trat. Das Linoleum in der Küche war stets auf Hochglanz gebohnert, und sie jammerte: »Dass Sie mir keinen Wassertropfen vergießen!« Auf die Küchenbenutzung verzichteten wir bald und sparten damit ein paar Mark. Unseren Tee kochten wir uns mit einem Tauchsieder im Zimmer.
Anfang des Jahres 1940 zogen wir wieder um, diesmal in ein scheußliches und verwanztes Zimmer bei einer Familie Ernsthal in der Prenzlauer Straße 9. Mein Vater war verzweifelt. Immer wieder sagte er, er wolle mir doch ein schönes Leben bieten, aber er könne überhaupt nichts für mich tun. Und immer wieder versuchte ich ihm einzureden, dass mir das alles nichts ausmache.
Zwangsarbeit bei Siemens
Stundenlang standen wir zusammengepfercht in einem langen, dunklen Gang. Wir konnten nichts anderes tun als warten. Natürlich hatten wir große Angst vor dem, was da kommen würde. Wir spürten, dass diese demütigende Situation absichtlich herbeigeführt worden war.
Im Frühjahr 1940 hatte man begonnen, jüdische Frauen und Männer zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie zu verpflichten. Im Juli wurde auch ich zur »Zentralen Dienststelle für Juden« des Arbeitsamtes in der Fontanepromenade – allgemein »Schikanepromenade« genannt – bestellt.
»Ich werde wahnsinnig. Ich bin starker Raucher, ich muss rauchen, ich drehe sonst durch, aber ich weiß nicht, ob man das darf«, stöhnte ein Mann neben mir: »Und wenn es verboten ist, schlagen die uns alle tot.« Jung und naiv, wie ich mit meinen achtzehn Jahren war, gab ich zurück: »Ganz einfach: Dann fragt man eben.«
In diesem Moment schrie jemand: »Wegtreten!« Wir quetschten uns noch enger rechts und links an die Wände, um für den Mann Platz zu schaffen, der dieses Kommando ausgegeben hatte. Sehr freundlich und höflich wandte ich mich an ihn: »Ach, gestatten Sie eine Frage? Ein Herr hier ist sich nicht darüber im Klaren, ob das Rauchen gestattet ist.«
Ich wusste nicht, dass ich es mit Alfred Eschhaus persönlich zu tun hatte. Der Leiter dieser sogenannten Zentraldienststelle war ein berüchtigter Antisemit.
»Unverschämtes Judengesindel!«, brüllte er sofort los. Nach einer weiteren Schimpfkanonade war er verschwunden.
Nun aber rückten einige der Umstehenden auf mich zu und drohten mir Schläge an. Eine dicke Jiddene, die ekelhaft nach fauligem Moos roch, riss mich von ihnen weg und drückte mich an ihren Wabbelbusen. »Nu, wer wird denn ein jüdisch’ Kind schlagen?!«, schimpfte sie. Ich hätte heulen können.
Da drängte sich eine Dame energisch zu uns durch: »Tut mir leid, dass Sie hier solchen Ärger haben«, sprach sie mich an, »gestatten Sie, mein Name ist Rödelsheimer.« Sie war, wie ich später erfuhr, Musikwissenschaftlerin. Ich stellte mich natürlich auch vor. »Also, Fräulein Jalowicz, Sie haben einen Fehler gemacht. Sie haben sich normal benommen«, erklärte sie mir. Und daraus lernte ich etwas für mein ganzes weiteres Leben: In einer abnormen Situation darf man sich nicht normal benehmen. Man muss sich anpassen.
Wir waren etwa zweihundert jüdische Mädchen und Frauen, die gleichzeitig bei Siemens anfingen. Unsere Werkhalle lag sehr nah beim Eingangstor des Wernerwerkes in Spandau. So mussten wir Zwangsarbeiterinnen uns nicht irgendwo sammeln, wie es andernorts üblich war, um dann als Herde zum Arbeitsplatz geführt zu werden. Wir durften morgens frei und einzeln eintreffen, uns einen Schlüssel zu einem Schrank holen, in dem wir unsere Garderobe ablegten, und dann zur Werkbank gehen. Das Schlüsselbrett diente gleichzeitig zur Kontrolle darüber, ob wir pünktlich zur Arbeit erschienen waren.
Jeweils sechs von uns bildeten eine Kolonne, die unter der Aufsicht eines sogenannten Einrichters stand. Die meisten von uns arbeiteten in einer großen Werkhalle stehend an Drehbänken; einige saßen auch an Tischen, die in den Nebenräumen aufgestellt waren.
Meine Kolonne war zur Arbeit an Maschinen in der Fensterreihe eingeteilt. So bekamen wir jedenfalls mit, ob draußen die Sonne schien, ob es regnete oder schneite. Aber wir waren den ganzen Tag wie an der Drehbank festgeschraubt. Es gab keine Möglichkeit, sich zwischendurch auch nur für ein paar Sekunden die Füße zu vertreten; denn der sogenannte Schlitten der Maschine wurde mit der Hüfte gehalten und bewegt. Man bekam ständig neue blaue Flecke, während sich die älteren gelb und grün verfärbten. Für Nichtjuden wäre es gesetzeswidrig gewesen, ohne Arbeitsschutz an so einer Drehbank zu stehen. Aber bei uns Zwangsarbeiterinnen konnte sich die Ausbeuterfirma Siemens das Geld für einen Lederschurz ja sparen.
Es war eine sehr harte, körperliche Arbeit. Noch schlimmer aber waren der Stumpfsinn und die ewige Wiederholung derselben Handgriffe, verbunden mit dem Gefühl, etwas Falsches zu tun – nämlich der deutschen Rüstungsindustrie zu dienen.
Unser Einrichter hieß Max Schulz und war schon seit vielen Jahren bei Siemens. Er war frommer Katholik und wohnte in einer Kleingartenkolonie in Lübars. Ursprünglich stammte er aus der Gegend von Bromberg. »Auf Polnisch heißt das Bydgoszcz«, erklärte er. Er war ein sogenannter Wasserpolake, ein Oberschlesier mit einem polnischen Dialekt als Muttersprache.
Max Schulz begann jeden zweiten Satz mit dem Hinweis: »Mein Priester hat gesagt …« Er ging nicht nur zur Beichte, sondern auch zu regelmäßigen Aussprachen zu diesem Geistlichen. »Mein Priester hat gesagt, alle Menschen sind Brüder und Schwestern, und ich soll euch so viel Liebe erweisen wie irgend möglich. Mein Priester hat gesagt, die Nazis sind die größten Verbrecher in der Menschheitsgeschichte« – im Laufe der Zeit sagte er solche Sätze immer offener.
Die Schule hatte er wohl nur wenige Jahre besuchen können. Max Schulz konnte zwar lesen, hatte aber größte Mühe zu schreiben. So bereitete es ihm Probleme, unsere Lohnzettel auszufüllen: Er musste regelmäßig in eine besondere Spalte eintragen, wie viele Schrauben jede einzelne Arbeiterin angefertigt hatte. Schließlich bat er mich um Hilfe. Natürlich war das streng verboten. Ich musste diese Formulare in Butterbrotpapier verpacken und in einen Scheuerlappen gehüllt heimlich aufs Klo transportieren, sie dort ausfüllen und ihm zurückbringen.
Scheuerlappen hatten wir alle ständig bei uns. Wir wischten damit die Kühlflüssigkeit weg, die über unsere Werkstücke lief, und steckten sie zwischendurch in die Gürtel unserer Arbeitskittel. Zugleich dienten sie als Transportmittel für alles, was in der Werkhalle verboten war. Familienbilder und private Botschaften wurden, in Butterbrotpapier und Zellophan eingewickelt, auf diese Weise auch mit unseren Einrichtern ausgetauscht.
Denn neugierig waren diese Männer alle. Sie verschafften sich Einblick in unsere Personalakten oder fragten den Werkhallenmeister aus: Es war ihnen wahnsinnig wichtig zu erfahren, ob irgendeine Cohn oder Levi früher Verkäuferin gewesen war, ob sie in Reinickendorf oder Wilmersdorf wohnte und ob sie verheiratet war. Die Neugier vieler Zwangsarbeiterinnen war ebenso groß: Wo denn so ein Einrichter wohl wohnte, ob er Frau und Kinder hatte? Privatkontakte waren streng verboten und deshalb umso reizvoller.
Meine Kolleginnen sprachen von diesen Männern so, wie Kinder von ihrem Lehrer sprechen: »Unserer hat gesagt …« und »unserer hat gemeint …« hieß es ständig. Es gab einen regelrechten Wettstreit darum, wer den judenfreundlichsten Einrichter hatte. Die Atmosphäre war auch dadurch geprägt, dass viele bildhübsche junge Mädchen und Frauen unter uns waren. Die meisten Einrichter verhielten sich uns gegenüber freundlich und korrekt.
Eine Ausnahme bildete ein Einrichter namens Prahl: Er war ein widerlicher Psychopath, ein Fehlentwurf der Schöpfung, mit einer Art Turmschädel und einem brutalen, leeren Gesicht mit ewigem Grinsen. Das Problem war nicht seine braune Gesinnung. Das Problem war, dass er überhaupt keine Gesinnung hatte. Er war ein perverses Individuum, ein Sadist. Kurze Zeit war er im Werk als Sanitäter tätig gewesen, musste aber – auch in der arischen Abteilung – von dieser Aufgabe freigestellt werden, weil er mit Wonne in den Wunden der verletzten Kollegen herumpuhlte. Wenn er bei kleinen Schnitt- oder Schürfwunden einen Verband anlegte, wickelte er den so fest, dass er den Betroffenen das Blut abschnürte.
Prahl hatte in seiner Kolonne ein Mädchen, das durch ihre Warzen im Gesicht und eine missglückte Nase hexenhaft hässlich aussah. Er pöbelte sie ständig an und schubste sie, wenn ihm irgendein Werkstück nicht gefiel, so herum, dass sie überall blaue Flecke bekam. Es gab aber offensichtlich eine Anordnung des Hallenmeisters, dass die Jüdinnen korrekt zu behandeln seien. Anrempeln galt als Form der Berührung, und die konnte schließlich auch in Kommunikation und Sympathie umschlagen. Das sollte vermieden werden.
Das Mädchen wurde, als der Hallenmeister von den Rempeleien Wind mitbekam, sofort zu einem harmlosen Einrichter versetzt. Und in Prahls Kolonne kam nun ein bildhübsches Mädchen mit prächtigem Busen. Sie hieß Katja, aber ich nannte sie das Kastanienmädchen: Sie hatte herrlich braune Augen, und ihre Haarfarbe wirkte wie frisch gefallene Kastanien. Wer weiß, was aus ihr geworden wäre, wenn sie überlebt hätte.
Manchmal konnte ich, mit einer Feile in der Hand, einen Moment lang zu ihr gehen. Oder sie kam zu mir, wenn ihre Maschine neu eingerichtet wurde
»Ick hab’s noch bei jedem Kerl jeschafft. Ick wollte ma sehn, ob ick och den Prahl …«, sagte sie einmal. Ziemlich vulgär erzählte sie mir, wie sie versucht hatte, ihren Einrichter in Erregung zu versetzen. Wenn er ihre Maschine einrichtete, stellte sie sich schräg hinter ihn, hauchte ihm ganz vorsichtig in den Nacken und schob sich immer dichter an ihn heran. Der Mann musste dann schnell weggehen, weil sonst seine Hose explodiert wäre. Max Schulz lief knallrot an, als ich ihm davon erzählte.
Ruth Hirsch, Nora Schmilewicz und ich arbeiteten in derselben Kolonne. Wir kamen uns rasch näher, weil wir alle drei aus unvollständigen Familien stammten und alle drei schon früh schwere Schicksalsschläge durchgemacht hatten.
Mit ihrem rotblonden Haar und den vielen Sommersprossen war Ruth Hirsch sehr hübsch, sie wirkte kälbchenhaft und anmutig. Wenn sie eine Arbeit hatte, bei der sie die Hebel nur langsam ziehen musste, schweifte ihr Blick aus dem Fenster, und sie träumte vor sich hin. »Weißt du, ich denke daran, wie schön das war, als man Falläpfel aufheben und essen konnte«, sagte sie einmal. Und dann entschuldigte sie sich sofort, weil sie sah, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. Ich konnte meine Mimik leider nicht beherrschen.
Sie stammte aus Memel in Litauen. Zunächst sehr stockend und gehemmt erzählte sie uns, dass sie ein adoptiertes Kind sei. Mit ihrem Zwillingsbruder war sie bei einem Ehepaar aufgewachsen, das ein kleines Schuhgeschäft betrieb und in einem eigenen Häuschen mit Garten wohnte. Ihre wirkliche Mutter hieß Zilla Rostowski und war Köchin in einem wohlhabenden jüdischen Haus gewesen. Sie war von ihrem Dienstherrn schwanger geworden, nachdem der in ihre Kammer gestiegen war. Ihre Kinder aber durfte sie nicht behalten; die Zwillinge wurden dem kinderlosen Ehepaar Hirsch zur Adoption gegeben.
Ruth war äußerst schlichten Geistes, aber das beeinträchtigte unsere Freundschaft überhaupt nicht. Ich liebte ihre naiven, leisen, sehr schüchternen Erzählungen. Ihr Bruder war ausgewandert. Sie selbst war mit ihren Eltern nach Berlin gezogen, wo sie zu dritt ein schreckliches möbliertes Zimmer bewohnten. Die Mutter war schwer herzleidend. Wenn Ruth abends nach Hause kam, fing sie nach der zehnstündigen schweren Fabrikarbeit noch an, die Wohnung sauberzumachen. Sie fand gar nichts dabei, sie nahm das als Schicksal einfach an. Sie litt nur darunter, dass der Vater ein Nörgler und Querulant war.
Ruth Hirsch war die allerbeste Arbeiterin unserer Kolonne. Sie war geschickt genug, die Arbeit zu begreifen und sehr gut auszuführen, aber wiederum nicht intelligent genug, um sie zu hassen. Oft sagte sie: »Wie schön wäre das doch, wenn man normalen Lohn und nicht diesen reduzierten Judenlohn bekäme und richtig lernen, die Gesellenprüfung machen und Dreherin werden könnte.«
Ihre große und beglückende Zeit hatte sie gehabt, als sie mit vierzehn bei einem jüdischen Arztehepaar in Berlin als Dienstmädchen angestellt war. Voller Begeisterung erzählte sie davon. Als die Herrschaften einmal länger verreist waren, überließen sie ihr die ganze Wohnung. Ruth notierte in einem Oktavheftchen ganz genau, was sie den Tag über tat, was sie putzte, einkaufte, aß und so weiter. Sie hatte aber nicht genug zu tun und beschloss deshalb, ihre Herrschaften zu überraschen. Die Dame hatte geäußert, das Parkett sei dermaßen nachgedunkelt, dass es abgezogen werden müsse.
Und das tat nun Ruth: Sie besorgte Späne und kratzte das Parkett ab. Sie ernährte sich dabei nur von trockenem Brot, um ihren Herrschaften Geld zu sparen. Als das Ehepaar von seiner Reise zurückkehrte, hatte sie den gesamten Fußboden in den vorderen Zimmern abgezogen. Sie zeigte ihnen dieses rührende Heft, in das sie in Kinderhandschrift und mit vielen orthographischen Fehlern alles eingetragen hatte, was sie gemacht hatte. Uns brachte sie dieses Heft auch mit. In den Pausen las sie leiernd vor, wie ein Kind, das in der untersten Klasse gerade alle Buchstaben beherrscht: Das Datum, dann: »Ein Stück Brot gefrühstückt. Von neun bis zehn Perkett bekratzt.« Und nachmittags auch »Perkett bekratzt«, und abends wieder.
Nachdem ihre Hausherrin das gesehen hatte, sagte sie: »Hier ist Geld, jetzt gehen Sie sofort und holen einen ganzen Liter Milch und die Zutaten für Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Und das essen Sie dann alles alleine auf, Sie sind ja halb verhungert.«
Diese an sich belanglose Geschichte hörte ich mindestens zehnmal von Ruth Hirsch, und sie wurde mir nie lästig. Es war das große Erlebnis und der Höhepunkt ihres Lebens: Wie sie einen ganzen Pudding mit furchtbar viel Soße kochen und alles aufessen durfte.
Was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie überlebt hätte? In ihrer scheuen und einfältigen Art hatte sie eine so rührende Anmut, dass sie später für viele Jahre zu meiner persönlichen Toten wurde. Denn niemand kann sich unter einer Zahl von Millionen Toten etwas vorstellen. Man klammert sich an ein einziges Gesicht. Für mich war es das Gesicht von Ruth Hirsch.
Meine andere Maschinennachbarin hieß eigentlich Anna mit Vornamen. Die Eltern waren Russen und hatten sie als Kleinkind »Njura« genannt. Da dieser Kosename in Berlin unbekannt war, war »Nora« daraus geworden. Mit diesem Namen unterschrieb sie auch: Nora Schmilewicz.
Auch Nora war ein sehr hübsches Mädchen, oder besser gesagt: sie war eine üppige Schönheit. Ich musste, wenn ich sie ansah, immer an Rubens denken. Vielleicht wäre aus ihr mal eine sehr dicke Frau geworden. Sie hat es nicht erlebt.
Sie war in ihrer Art ergreifend schön, mit tiefschwarzem Haar, großen, ausdrucksvollen schwarzen Augen, einem wunderbar geformten Mund und ungewöhnlich ebenmäßigen und sehr weißen Zähnen. Sie litt aber unter etwas, was ich von anderen Zwangsarbeiterinnen nicht kannte: Sie hatte Hungerödeme an den Beinen. Ein jüdischer Arzt – ein Mann, der sich nur noch »Judenbehandler« nennen durfte – hatte ihr gesagt: »Was Sie brauchen, gibt es nicht in der Apotheke zu kaufen. Das gibt es nur in Lebensmittelgeschäften, und zwar in Friedenszeiten. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
Nora war als Tochter wohlhabender Russen viel gebildeter als Ruth. Ihre Mutter war sehr früh gestorben. Ihr Vater hatte als Witwer eine nichtjüdische Haushälterin gehabt, die sogenannte Tante. Aber auch er lebte inzwischen nicht mehr.
Nora wohnte noch in der großen Wohnung ihrer Eltern in der Urbanstraße. Ihr war ein großes Zimmer geblieben, in dem alle Möbelstücke aus dem Haushalt ihrer Eltern lagerten. In den übrigen Räumen war je eine jüdische Familie einquartiert.
Die »Tante« spielte nach wie vor eine große Rolle in Noras Leben. Mit ihr verband sie eine ganz seltsame Hassliebe: Diese Frau muss eine exaltierte, hysterische Person gewesen sein, die Nora einerseits als ihr Kind bezeichnete und mit Essen versorgte und sie andererseits mit furchtbaren Pöbeleien beschimpfte.
Sie hatte einen Schlüssel zu dieser Wohnung in der Urbanstraße und kam manchmal mitten in der Nacht in Noras Zimmer. Wenn das Mädchen aufwachte, weil es das Gefühl hatte, dass jemand an seinem Bett stand, wurde es manchmal von der Tante mit Küssen bedeckt. »Du mein ein und alles«, stammelte diese dann, und: »Du bist das Kind meines Geliebten, also bist du auch mein Kind.« Manchmal ließ sie mitten in der Nacht aber auch eine wilde antisemitische Beschimpfung los. Nora litt sehr unter dieser Frau.
Bei Ruth Hirsch waren Nora und ich einmal zum Geburtstag eingeladen. Ihr Vater war mit großer Geschicklichkeit in die Küche verbannt worden, wo wir ihm höflich Guten Tag sagten. Er brabbelte und pöbelte und schimpfte nur vor sich hin. Ruths dicke, leidende Mutter saß daneben und sagte nichts.
»Es ist alles sehr eng bei uns«, hatte Ruth uns vorgewarnt. Es war fürchterlich. In einem winzigen Zimmer mit sehr hoher Decke stapelten sich die Schränke übereinander. Dort wohnten diese drei Personen. Nur in der Mitte des Raums war ein schmaler Gang frei.
Außer uns war eine sogenannte Cousine zu Gast. Es wurde ein Trichtergrammophon herausgeholt, und dann wurden uralte Gassenhauer aufgelegt. Ich erinnere mich einer Schallplatte, die ich nicht kannte, typisches Tingeltangel der Zwanziger Jahre: »Schallplaaten, die schwarze Mazze, ein jeder kenntse, ein jeder hatse, Schallplaaten, die große Mode« – und so weiter.
Das alles prägte sich wie eine Filmszene in mein Gedächtnis ein: Das krähende Grammophon mit dem peinlichen jiddelnden Schlager und die entsetzliche Geburtstagskaffee-Gesellschaft. Die Cousine war sehr hässlich, hatte ganz dicke Beine und war schamlos. Als sie tanzte, hob sie den Rock hoch. Es war so grotesk und die ganze Atmosphäre so furchtbar, dass ich dachte: »Es müsste eine Möglichkeit geben, das festzuhalten.«
Nora und ich guckten uns flüchtig an und schauten dann wieder weg. Nach zwei Stunden verabschiedeten wir uns. Es war schon sehr viel gewesen, dass Ruth einen Kartoffelkuchen gebacken hatte. Sie wollte es eigentlich nicht verraten, aber es war ihr rausgerutscht: Ihr Vater hatte getobt. Ihm würden dadurch Kartoffeln vorenthalten. Wir sagten also artig, es sei sehr nett gewesen, und gingen.
Nora und ich liefen schweigend, Hand in Hand, durch die Straßen. Nach einer Weile guckten wir uns an und verständigten uns ganz schnell und fast ohne Worte: Es wird mit keiner Silbe über das hergezogen, was wir erlebt haben. Kein Wort über dieses entsetzliche Milieu, über die fürchterlichen sogenannten Eltern, über den kaum genießbaren Kartoffelkuchen, über diese Musik und diese hopsende Fett-Cousine. Ich sagte: »Man müsste später einen Film machen, in dem gezeigt wird, wie sich die Geburtstagsfeier eines jüdischen Mädchens von Jahr zu Jahr verändert. Also erst Ruth mit ihren nichtjüdischen Nachbarinnen, im eigenen Haus und mit allen Kindern im Garten. Und dann wird das jedes Jahr schlechter: Erst kommen die christlichen Kinder nicht mehr zur Geburtstagsfeier, und am Ende zeigt man dann Familie Hirsch in ihrem Notquartier in Berlin.«
»Bist du noch normal? Wer soll denn über Ruths Geburtstage einen Film machen?«, fragte Nora.
Da erklärte ich ihr, dass nach dieser furchtbaren Zeit eine andere kommen würde. Und dass wir der Nachwelt übermitteln müssten, was in diesen Jahren passiert sei. Sie blieb stehen und antwortete: »Ich habe verstanden, und du hast recht. Mach du diesen Film. Du wirst von uns allen die Einzige sein, die überleben wird. Ruth und ich nicht.«
Sehr bitter war es, im Herbst und Winter im Dunkeln das Haus zu verlassen, um nach Spandau zu fahren und abends im Dunkeln wieder zurückzukommen. Wenn ich endlich zu Hause ankam und von dem langen Arbeitstag und von dem weiten Weg völlig erschöpft war, wartete dort mein vereinsamter Vater auf mich: Halb verhungert, hatte er mich den ganzen Tag lang in Gedanken begleitet.
Seine Mahlzeiten nahm er oft beim Mittagstisch Danziger in der Königstraße ein. Er hatte dort ein paar Bekannte und ein bisschen Unterhaltung durch andere jüdische Witwer und weitere vereinsamte Existenzen gefunden. Oft unterhielt er sich mit einem Anwalt aus Süddeutschland, den seine arische Frau abgehängt hatte. Dieser Mann war früher einmal sehr wohlhabend und bekannt gewesen.
Man musste bei Danziger eine Fünf- oder Zehn-Gramm-Fettmarke für ein Essen abgeben, in dem man das Fettauge dann mit der Lupe suchen konnte. Ebenso verhielt es sich mit den Fünfzig- oder Hundert-Gramm-Fleischmarken. Alle Leute wurden damals in allen Restaurants betrogen – aber Juden, die auf so einen Mittagstisch angewiesen waren, natürlich besonders.
Bei Danziger gab es das minderwertigste Essen, das man sich vorstellen kann: Die sogenannte Suppe war reines Salzwasser ohne jede Einlage. Das Hauptgericht bestand aus einem nur unter dem Mikroskop sichtbaren Stückchen Fleisch, einer widerlichen Kunstsoße und zwei Kartoffeln. Danach gab es einen aus Wasser und Süßstoff gekochten Pudding.
Die Chefin des Hauses, Paula Danziger, war schwer herzkrank. Sie war unmenschlich dick, hatte blaue Lippen und Beine wie ein Elefant. Vor ihrer Tochter wurde mein Vater mehrmals gewarnt: Sie arbeite mit der Gestapo zusammen. Diese Ruth, die ebenfalls sehr dick und außerdem völlig verpickelt war, wollte mit allen männlichen Gästen beim Mittagstisch poussieren. Und alle gingen darauf ein, sagten etwas Nettes zu ihr oder lachten über ihre Scherze. Denn alle hatten Angst vor diesem jüdischen Spitzel.
Hermann Jalowicz im Alter von zweiundsechzig Jahren, 1939 in Berlin.
Mir brachte mein Vater jeden Tag eine dieser widerlichen Mahlzeiten mit nach Hause, um sie abends warm zu machen. Und ich war so unsagbar ausgehungert, dass ich sie aß. Natürlich war es ekelhaft, und satt wurde ich davon auch nicht, aber es waren jedenfalls einige Bissen.
Oft zündete er schon, bevor ich kam, das Gas in der Küche an. Sobald er den Schlüssel in der Tür hörte, stellte er den Topf auf die Flamme, damit ich sofort eine heiße Wassersuppe bekam. Dann saßen wir noch eine Weile beieinander, und ich erzählte ihm, was ich bei der Zwangsarbeit erlebt hatte.
»Was ist denn hier los? Die stehen ja hier Schlange bei dir«, fragte Edith Rödelsheimer, als sie einmal in einer Pause an meiner Werkbank vorbeikam. Drei oder vier Mädchen warteten dort darauf, mich zu sprechen.
Ich hatte die Musikwissenschaftlerin schon bald bei Siemens wiedergetroffen, und darüber hatten wir uns beide sehr gefreut. Nachdem ich mich auf der Fontanepromenade noch so naiv benommen hatte, dass sie mich vor einer Katastrophe bewahren musste, hatte sich bei mir innerhalb kürzester Zeit ein gewaltiger Entwicklungsschub vollzogen: Ich war jetzt diejenige, die von anderen um Rat gefragt wurde. Die meisten meiner Kolleginnen stammten aus einem ganz anderen Milieu als ich. Nur wenige hatten eine höhere Schulbildung. »Im Nebenraum arbeitet auch eine mit Abitur, ich muss euch unbedingt miteinander bekanntmachen«, so etwas wurde jetzt zu mir gesagt.
Ich hatte gelernt, mich an eine abnorme Situation anzupassen und darin zurechtzukommen. Aber immer wieder war ich außer mir vor innerem Aufbegehren und schrie stumm: »Freiheit!« So versuchte ich, der unermesslichen Widerwärtigkeit und Eintönigkeit meines Daseins bei Siemens einen Sinn zu geben: Ich wollte viele Bekanntschaften machen und so viel wie möglich über das Leben jeder Einzelnen in Erfahrung bringen.
In den Pausen war ich immer unterwegs, um Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln. Manche Kolleginnen wurden deshalb richtig böse mit mir: »Was scharwenzelst du dauernd rum?«, fragten sie: »Wir gehören doch zusammen, und so nett wie bei uns ist es nirgendwo anders.«
»Weiß ich, aber ich muss alle kennenlernen«, erwiderte ich dann.
So war ich auch begeistert, als der Meister an einem sehr kalten Wintertag durch die Werkhalle ging und fragte, wer sich zum Schneeschippen meldete. Raus aus der Hüftfessel, raus aus der Werkhalle in die wunderbare, frische Schneeluft! Außer mir meldeten sich nur wenige. Die meisten Zwangsarbeiterinnen kamen aus kleinen Verhältnissen und empfanden es als feiner, eine angelernte Arbeit an der Maschine zu machen als Schnee zu fegen.
Wir hatten leider nur eine gute Stunde zu tun, den Weg bis zum Eingangstor freizuschaufeln, aber es war wunderbar! Natürlich war Edith Rödelsheimer dabei, und die machte mich wieder mit anderen Frauen bekannt. Wir unterhielten uns brillant. Ich lernte eine sehr nette Hortnerin aus dem Nebensaal kennen, eine gutaussehende, jung verheiratete Frau mit zwei kleinen Kindern. »Wieso müssen Sie als junge Mutter denn hier arbeiten?«, fragte ich sie. Da erzählte sie, dass ihre Mutter an ihrer statt dafür freigestellt worden sei, die Kinder zu betreuen. Und das sei ihnen beiden lieber: Ihr selbst mache es Freude, unter Menschen zu sein, während ihr Kindergeplärr auf die Nerven ging. Und ihre Mutter könne es in einer Maschinenhalle nicht aushalten.
Eine andere Frau, die mich sehr interessierte, war Betti Riesenfeld: eine Dame, schon über vierzig, aus meiner damaligen Sicht eine Greisin. Ich kannte sie flüchtig von einer goldenen Hochzeit, die von der honorigen jüdischen Familie Wolff ausgerichtet worden war. Sie war eine winzig kleine, aber gut proportionierte Person mit schlohweißem Haar, einem Pony und einer ganz kecken Himmelfahrtsnase – eine unverheiratete, bürgerliche Jüdin.
Bei Siemens arbeitete sie als Kontrolleurin. Im breiten Hauptgang der Werkhalle stand ein Tisch, auf den ein Schemel gestellt wurde. Darauf hockte die Riesenfeld. Neben ihr stand ein Gefäß, in dem die fertigen Werkstücke lagen: Sie hatte jede einzelne Schraube nachzumessen. Was nicht in die vorgeschriebene Norm passte, wurde als Ausschuss aussortiert.
Dieses Fräulein Riesenfeld – mit abgeschlossenem Mädchenlyzeum, einer Ausbildung als Büroangestellte und einem gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter – thronte nun quasi über uns und genoss diese Erhabenheit sichtlich. Wenn jemand zu ihr kam, tönte diese winzige Krucke von oben herab: »Reichen Sie mir das mal rauf. Nun wollen wir mal sehen, ob alles in Ordnung ist.« Am Ende eines jeden Arbeitstages stand sie an der Tür, ließ jede Einzelne an sich vorbeidefilieren und rief ihr zu: »Morgen früh in alter Frische!«