Unterm Nussbaum - Katja Huber - E-Book

Unterm Nussbaum E-Book

Katja Huber

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Beschreibung

Barbara Berger geht auf ihren 70. Geburtstag zu. Ihre vier Kinder leben an verschiedenen Orten in Deutschland und Frankreich, der Kontakt untereinander ist verhalten. Bis Miriam, die Älteste, beschließt, den Geburtstag ihrer Mutter in jenem Haus am Ammersee zu feiern, in dem Barbara Berger aufgewachsen ist. Von überall her ruft sie die Familie zusammen, lässt jedoch ihre Mutter über den Ort der Festlichkeit im Unklaren. Sie ahnt nicht, dass für Barbara so viele Erinnerungen an diesem Dorf hängen, dass sie niemals dorthin zurückkehren wollte. Miriam bucht für ihre Mutter einen Flug nach München, den diese nicht antreten wird, während ihre Familie sich in der vermeintlichen Idylle bereits auf das große Fest vorbereitet ... Die Erzählung aber beginnt früher, in den Dreißigerjahren, als die aufkeimende Liebe zweier junger Frauen mit der Machtübernahme Hitlers eine dramatische Wende erfährt. Nur ist Barbaras Kindern diese Vergangenheit ihrer Familie noch verschlossener als das Rätsel um ihre verschiedenen Väter. Erst ein merkwürdig erscheinender Nachbar und sein Sohn bringen Licht in dieses Dunkel, das ein Schicksal von blendender Intensität birgt. Katja Huber verschränkt die Sprache historischer Familienromane mit modernen Erzähltechniken, wie wir sie etwa von Haruki Murakami kennen. Sie zeichnet die Abgründe des Verschweigens nach und wie eine Familie beginnt, sich vor der Sprengkraft ihrer Vergangenheit zu fürchten. Dabei bleibt der Text ernst, ohne je pathetisch zu sein, humorvoll, ohne ins Banale abzugleiten, er trifft das Zeitkolorit der verschiedenen Epochen und zeigt auf glänzende Weise die Anstrengungen der Gegenwart, ihrem eigenen Rätsel auszuweichen.

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EPUB

Seitenzahl: 295

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Erste Auflage

© 2018 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Alexander Weidel

Korrektorat: Kristina Wengorz

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:

Erik Spiekermann, Berlin

Herstellung:

Renate Stefan, Berlin

Druck und buchbinderische Verarbeitung:

Friedrich Pustet, Regensburg

Papier Innenteil: 100g Fly 05

Papier Vor- und Nachsatz: 115g Fly 05

Papier Überzug: f-color Natur von Schabert

Gesetzt aus Edit Serif & FF Real

Printed in Germany

ISBN 978-3-906910-42-0

eISBN 978-3-906910-43-7

Inhalt

Personen 14. und 15. August 2013

1933 bis 1983

1930: Anna (Anna, 15)

2013: Vorabend des Festes (Erwartung)

1933: Anna (Anna, 18)

2013: Vorabend des Festes (Abend, tiefe Nacht)

2013: Barbara

2013: Morgen vor dem Fest (Vorfreude)

1933: Anna (Anna, 18)

1950: Benjamin

1950: Barbara

2013: Barbara

1953: Benjamin

1953: Barbara

2013: Vormittag vor dem Fest (Ankunft?)

1934: Anna (Anna, 19)

1959: Benjamin und Barbara

2013: Barbara

1963: Barbara und Benjamin

1963: Benjamin

1963: Barbara (Anna, 48)

1935: Anna und Judith (Anna, 20)

2013: Barbara

1963: Benjamin

2013: Vormittag vor dem Fest (Erleichterung?)

1972: Benjamin

2013: Barbara

1972: Benjamin

1936: Anna und Judith (Anna, 21)

1972: Benjamin

2013: Barbara

1972: Benjamin

1936: Anna und Judith (Anna, 21)

1974: Benjamin

2013: Barbara

1977: Benjamin

2013: Mittag vor dem Fest (Angst und Bangen)

1982: Benjamin

2013: Barbara

1983: Benjamin

2013: Nachmittag vor dem Fest

1983: Benjamin

1936: Anna und Judith (Anna, 21)

1983: Benjamin

1936: Anna und Judith (Anna, 21)

1983: Benjamin

2013: Nachmittag vor dem Fest

1983: Benjamin

2013: Nachmittag vor dem Fest (Erkenntnis)

1983: Benjamin

1936: Anna (Anna, 21)

2013: Barbara

1937: Anna (Anna, 22)

2013: Barbara

2013: Abend vor dem Fest

1938: Anna (Anna, 23)

2013: Das Fest

1939: Judith

2013: Das Fest

Mein Dank gilt:

Mein besonderer Dank gilt:

Personen

14. und 15. August 2013

Barbara Berger, wird siebzig

Barbaras Kinder und deren Lebensgefährten:

Miriam, verheiratet mit Werner

Michael, verheiratet mit Laura

Ben, verheiratet mit Angelika

Katharina, ledig, in Paris

Barbaras Enkel und deren Lebensgefährten:

Mila, Tochter von Michael und Laura

Paul, Sohn von Ben und Angelika

Valentina, Tochter von Ben und Angelika

Natalie, Tochter von Katharina

Franziska, Lebensgefährtin von Paul

Barbaras Urenkel:

Leon und Laurin, Söhne von Paul und Franziska

Celine, Milas Kindermädchen

der Nachbar

Fadi, sein Sohn

1933 bis 1983

Anna Berger, Jüngste von vier Geschwistern,

hat drei Brüder

Judith Frei, später Neusüß, Annas beste Freundin

Benjamin Berger, Annas Sohn, Barbaras Cousin

und Freund

Barbara Berger, Annas Nichte, Benjamins Cousine

und Freundin

Franz Bucher, Annas erster Lebensgefährte

Karl König, Annas zweiter Lebensgefährte

Rainer Stadler, Landwirt und Landschaftsmaler

Jonas Neusüß, Judiths Mann

Anita, Benjamins zweite Freundin beziehungsweise

Liebhaberin

Monika, Benjamins Frau

Fadi, Sohn von Monika und Benjamin

1930: Anna

(Anna, 15)

Ach, Judith, wenn der Himmel, genau dieser Himmel, doch immer unser Zudeck sein könnte; und dieses Licht unser täglicher Morgengruß, dachte Anna.

Du,

Hut,

Jud,

schrieb sie dann. Sie saß im Gras, spürte Judiths Wade an ihrer, nutzte die Oberschenkel als Unterlage und schützte die halbe Leerseite, die sie übermütig aus ihrem Lieblingsbuch gerissen hatte und die ihr nun als Zettel diente, mit dem Handrücken vor den Blicken der Freundin.

An,

na,

schrieb Judith, dann skizzierte sie mit wenigen Strichen eine Blume.

Ansehen.

Nicken.

Zettel tauschen.

Lesen.

Grinsen.

»Ein Wort mehr, ich habe gewonnen.«

»Natürlich, dein Name gibt noch weniger Worte her als meiner. Dafür lese ich dich viel lieber rückwärts als mich, du, du schlichtes Mädchen im Alltagskleid.«

Anna nahm zwei Äpfel aus ihrem Korb, eine weiße Serviette und ein Messer. »Womit fangen wir an?«

»Das …«, ohne zu registrieren, wie Anna mehrmals sanft über die Skizze strich, als fürchtete sie, die Blume zum Welken zu bringen, wies Judith auf deren Zettel, »… war ja erst die Ouvertüre.« Dann ließ sie ihre Fingerkuppen über die sonnenwarme Haut der Freundin tanzen. »Zuerst das Ritual, dann der Apfel. Wir sind ja nicht im Garten Eden. Außerdem muss die Klinge sauber sein, sonst riskieren wir eine Blutvergiftung.« Judith nahm das Messer, blies über die Klinge, wischte sie an der noch blütenweißen Stoffserviette ab und hielt der Freundin die Innenseite ihres Arms entgegen. »Du zuerst!«

Anna schluckte, schüttelte den Kopf, weigerte sich, das Messer anzunehmen, krempelte den rechten Ärmel ihrer Bluse hoch. »Nein, du, erst du!«

Judith zuckte mit den Schultern.

Und wenn eine von uns verblutet? Der Gedanke war lächerlich, aber er ließ Anna nicht los, sie konnte kein Blut sehen, fühlte schon jetzt den Schmerz. Kein Mensch dieser Welt außer Judith dürfte ihr jemals mit dem Messer nahe kommen. Sie spürte den warmen, frischen Atem der Freundin, sah lange, dichte, geschwungene Wimpern, wusste, dass die Augen unter diesen Wimpern nach der bestmöglichen Stelle zum tiefen Schnitt spähten. Werden sie mich jemals kitzeln, diese Wimpern? Am Hals, im Nacken? Sie sah, wie sich Judiths Nasenflügel blähten, der Mund sich leicht öffnete, bevor – ein vorletzter Moment der Konzentration – die Zunge hervorspitzte, wieder verschwand.

Kalt spürte Anna die Klinge am Oberarm, dann einen Stich und ein Brennen, das sich in Sekundenschnelle ausbreitete, und »Aah« entfuhr ihr der Laut, den kein Mensch auf dieser Welt außer Judith ihr jemals würde entlocken können.

Sie schloss die Augen und ließ sich auf die Wiese zurückfallen.

»Aah? Du bist doch von allen guten Geistern verlassen!«, drang Judiths süße Stimme an ihr Ohr. »Ich bin jetzt dran, mach schon!«

Anna öffnete die Augen: Ein roter präziser Schnitt teilte ihren Oberarm in zwei Flächen, die eine weiß, die andere verzierte ein rotes Rinnsal.

»Anna, mach schon!«, drängte Judith und drückte der Freundin das Messer in die Hand.

Doch Anna zitterte nur, in ihrem Mund breitete sich ein Geschmack aus, der dem von Blut nahekam, und in ihren Ohren schwoll ein Rauschen an. Sie griff nach Judiths ausgestrecktem Arm, doch sie hatte nicht einmal die Kraft, das Handgelenk fest zu umschließen.

Judith entriss ihr das Messer, ehe es ihr aus der Hand fallen konnte. Ohne den besorgten Blick von Anna abzuwenden, ritzte sie sich in den Arm, an exakt der gleichen Stelle, ein Schnitt von exakt der gleichen Länge, und schon warf sie das blutige Messer unachtsam ins Moos.

Schon spürte Anna die Kräfte zurückkehren, schon näherten sich die beiden einander, wurde Schnitt auf Schnitt, Wunde auf Wunde, Arm auf Arm gepresst, nicht eine Sekunde, nicht zwei Sekunden, nein drei, vier, fünf schmerzhaft verschworene Sekunden, eine euphorische Ewigkeit.

Schon richtete Judith sich auf, griff erneut zum Messer, nahm die wenigen Schritte über waldiges Moos zur nächsten Birke, die, jung noch, aber rindenreich, nur auf die Begegnung mit den beiden Mädchen gewartet zu haben schien.

Schon ritzte Judith Rinde so rigoros wie zuvor Haut: »Das Häuten habe ich mir für den Baum aufgespart.«

Lachend kehrte sie mit zwei Rindenstreifen zurück und lachend bettete sie ihren Kopf auf den Bauch ihrer Freundin, die ihr ein Rindenpflaster verpasste, ehe Judith sie ebenfalls verarztete. Dann verstummten sie, sahen entlang der schwarz-weiß-grauen Stämme durch hellgrüne Blätter ins Blau des Nachmittages.

Judith vernahm ein Zwitschern in weiter Ferne: »Ein Zeisig!«

Anna vernahm ein Pochen ganz nah. Ein Herz!

Judith verabschiedete sich vom Himmel, ein wenig zu schnell vielleicht für Annas Gefühl, und widmete sich erneut den Schnitten, den Wunden, den Rinden: »Was für ein Irrsinn!«, erzählte sie dem Zeisig. »Ist dir klar, dass wir gerade ein germanisches Ritual vollzogen haben?«

»Wieso germanisch?«, Anna schob den Kopf ihrer Freundin zur Seite, um nach ihrem Lieblingsbuch zu greifen: »Seit wann sind die Mescalero-Apachen germanisch?«

»Das fragst du am besten deinen Karl May.« Judith sprang ohne Vorwarnung in die Hocke, ließ sich auf die liegende Anna fallen und presste ihr, nicht auf die Wunde, sondern auf die Stirn, keine Rinde, sondern einen Kuss. Einen Blutsschwesternkuss?

2013: Vorabend des Festes(Erwartung)

»Natürlich wollte ich. Aber ich kann den Termin nicht wahrnehmen.«

»Du sollst keinen Termin wahrnehmen, sondern deine Mutter vom Flughafen abholen.«

»Mach mir bitte kein schlechtes Gewissen. Es gibt öffentliche Verkehrsmittel, und die Kinder haben alle einen Führerschein. Drück einem von ihnen einen Autoschlüssel in die Hand, und sie werden sich streiten, wer einen Ausflug zum Flughafen machen darf.«

»Darum geht es doch nicht! Natürlich wird irgendjemand Zeit haben.«

»Nicht irgendjemand; das sind Menschen, die ihr nahestehen. Egal, wer sie abholt, sie wird sich freuen.«

Abholen wird, verbessert Miriam ihren Bruder Michael in Gedanken, oder eben nicht abholen wird. »Sie wird enttäuscht sein. Die Sache mit dem Familientreffen hat sie mir auch nicht wirklich abgekauft. Dass wir das Bedürfnis nach gemeinsamem Urlaub haben! Sie erwartet ihren ältesten Sohn am Flughafen. Und niemand anderen.«

»Dann wird es für sie eben eine vorzeitige Geburtstagsüberraschung geben: Natalie, Ben, Valentina … Paul, wer auch immer.«

»Michael, ich kenne meine Familie.«

»Und die Psyche unserer Mutter kennt auch keiner besser als du.«

»Gut genug zumindest, um zu wissen, auf welche Art von Überraschungen sie verzichten kann. Und dass sie nicht unbedingt flexibler geworden ist im Alter.«

»Sagst du.«

»Sage ich.«

»Dann sehen wir uns morgen Abend am Ammersee, Miriam, mit Mutter und allen anderen. Ich muss hier weitermachen.«

»Es kann doch verdammt noch mal nicht so ein Problem sein, eure Großmutter vom Flughafen abzuholen.«

Miriam ärgert sich, dass sie Freiwillige rekrutieren muss, dass sie es ist, die dieses Gespräch führen muss, hier beim Abendessen unter dem großen Walnussbaum – eigentlich ganz so, wie sie es sich immer ausgemalt hat, eine lange Tafel mit weißer Tischdecke, um sie herum die ganze Großfamilie, endlich dort angekommen, wo ihre Mutter aufgewachsen ist.

»Irgendjemand wird sie schon abholen«, flüstert Werner, ihr Mann, und greift nach ihrer Hand, obwohl er weiß, dass sie beide Hände zum Gestikulieren braucht.

»Jeder, der hier sitzt, hat Urlaub, und es spricht nichts dagegen, einen Bruchteil dieses Urlaubs damit zu verbringen, die Frau, die einen geboren und großgezogen hat, vom Flughafen abzuholen«, verkündet sie nun so laut, dass es auch Paul am anderen Ende der Tafel hören kann.

Ihr Neffe Paul, dessen gesamtes Leben eine Entdeckungsreise zu sein scheint und der schon seit Minuten damit beschäftigt ist, die Abendsonne in seinem Fischmesser einzufangen und damit Lichtflecken auf die Gesichter seiner Cousins und Cousinen zu projizieren.

Natalie neben ihr kichert, doch das nimmt sie ihrer jüngsten Nichte nicht übel: Natalie ist gerade fünfzehn geworden – und seit drei Jahren kann sie nichts als kichern, jammern oder heulen, wie Miriam sich regelmäßig von ihrer Schwester in langen, genervten E-Mails aus Paris berichten lassen muss.

»Mich hat sie nicht geboren«, hört sie Natalie sagen.

Trotzdem weißt auch du nicht, wer dein Vater ist, denkt Miriam. Aus dem Augenwinkel sieht sie den Nachbarn, der sich mit einem großformatigen Buch im Schoß, versteckt hinter seiner Sonnenbrille, jenseits des Gartenzauns im Liegestuhl fläzt.

»Danke für die Vermittlung, wir machen uns morgen bekannt«, nickt und ruft sie ihm zu, dann wendet sie sich wieder an ihre Familie. »Irgendjemand muss sie abholen.«

Den Nachbarn könnte man eigentlich auch einladen …

»Irgendjemand wird morgen seine Mutter, Großmutter oder Schwiegermutter vom Flughafen abholen.«

Doch wieso noch Fremde einladen, wenn schon die eigene Familie größte Probleme bereitet?

»Ich will das geklärt haben, bevor wir anfangen zu essen.«

Miriam entgeht nicht, wie der Nachbar im Schutz von Buch und Brille und im Rhythmus ihrer Forderungen mehrfach nickt, wie Paul mit seiner Schwester Valentina tuschelt.

Valentina, die mit fünfzehn noch mit Puppen gespielt hat – das wurde ihr zumindest kolportiert. Ein argloses Wesen, das mit Miriams Pflichtbewusstsein und Aktionismus nicht das Geringste anfangen kann. Doch das Lächeln, das Valentina ihr jetzt zuwirft, ist kein verständnisloses, auch kein vorwurfsvolles, kein überhebliches und auch kein genervtes. Es ist eher verschwörerisch, und bevor Miriam sich eingestehen kann, wie gut dieses Lächeln tut, zwinkert ihr auch noch Paul zu. So, wie man keinem Menschen zuzwinkert, den man nicht mag.

»Tante Miriam, wie wär’s, wenn wir zur Abwechslung mal dich ausfragen? Immerhin bist du ihre Lieblingstochter. Dir müsste es Oma doch erzählt haben. Kann es sein, dass … dieses Haus … spricht?«

»Spricht?«, fragt Miriam.

Dann hätte es unserer Familie eine Menge voraus, würde sie gern erwidern, doch es tut zu gut, angelächelt zu werden, im Schein der Abendsonne, unter diesem gigantisch großen Nussbaum, und auch die Neugier in den Augen ihres Neffen, die Vorfreude in den Augen ihrer Nichte tun gut.

»Spricht? Wie kommt ihr denn darauf?«

»Spricht, flüstert, lebt. Irgendeinen Grund muss es doch geben, dass Oma dieses Wahnsinnshaus verkauft hat«, sagt Paul.

»Sie hat das Nachbarhaus verkauft. Dieses Haus hat ihr nie gehört«, antwortet Miriam, was ganz offensichtlich nicht die gefragte Information zum Thema ist.

»Ihr seid ja erst heute angekommen«, wendet sich Valentina nun an die Runde. »Die Einzigen, die hier schon eine Nacht verbracht haben, sind Tante Miriam, Onkel Werner und ich. Und es hat nicht nur geknarzt. Ein leises Klopfen war zu hören, und immer wieder so was wie Seufzen. War es in eurem Zimmer denn ruhig, Tante Miriam?«

»Natürlich nicht.« Jetzt ist es Miriam, die lächelt. Erst Richtung Paul und Valentina, dann ihrem Mann direkt ins Gesicht. »Falls es irgendwelche Geister in diesem Haus geben sollte, sind wir vor ihnen sicher. Zumindest solange Werner hier ist und sie mit seinem Schnarchen vertreibt.«

»Geister!«, ruft Angelika jetzt über die Länge des Tisches und zwinkert ihrem Mann Ben zu.

»Geister sind immun gegen Schnarchen, manche lassen sich sogar nur durch Schnarchen anlocken«, sagt der.

Miriam würde gerne gähnen und nach diesem heißen, drückenden Tag einfach nur die letzten Strahlen der Abendsonne genießen, würde gerne schweigend in den Walnussbaum schauen, die zu engen Sandalen ausziehen und die nackten Zehen in den moosigen Boden unterm Esstisch drücken. Würde. Konjunktiv.

»Paul, Valentina, wie wär’s? Wenn ich mich nicht täusche, habt ihr eure Großmutter schon zwei Jahre nicht mehr gesehen.«

»Zweieinhalb sogar«, sagt Valentina alles andere als schuldbewusst.

Miriam ignoriert Werners Blick, seinen Lass-dich-bitte-nicht-auf-weitere-Diskussionen-ein-Blick. Sie sagt: »Das scheint hier ja Standard zu sein. Wenn ich nicht völlig danebenliege, hat Barbara noch nicht mal ihre Urenkel zu Gesicht bekommen.«

Leon und Laurin, vergegenwärtigt sie sich die Namen ihrer Neffen, nein Großneffen.

Und obwohl sie sich fest vorgenommen hat, keine Spitzen gegen Michael loszulassen – schon gar nicht in seiner Abwesenheit –, kann sie nicht anders fortfahren als: »Ganz zu schweigen von ihrer jüngsten Enkelin, die auch schon bald in den Kindergarten kommt.«

»Was, würde ich sagen«, sagt Ben, wobei er – so wie er es immer macht – jedes Wort betont, als wäre es das wichtigste im Satz, »nicht allein an ihrer Enkelin und ihren Urenkeln oder deren Eltern liegt, sondern vor allem an unserer Mutter selbst.«

»Oma ist Oma«, sagt Paul. »Wieso sollte sie sich stärker für ihre Urenkel interessieren als für ihre Enkel?«

»Ich habe Oma jedenfalls zweieinhalb Jahre nicht mehr gesehen, dafür mindestens zweimal die Woche mit ihr telefoniert«, murmelt Valentina augenscheinlich genervt.

Miriam ignoriert es. Der blitzartigen Erkenntnis, dass auch sie ihre jüngste Nichte Mila kurz nach deren Geburt, also schon vor über zwei Jahren, zum ersten und letzten Mal gesehen hat, folgt die Einsicht: nicht meine Schuld. Den scheuen Gedanken, mit einem Streich jegliche Verantwortung abzulegen, den lang ersehnten Urlaub genau jetzt zu beginnen und sich von nun an um nichts mehr, nicht mal um die Ankunft ihrer Mutter, zu kümmern, ignoriert sie nicht. Sie fasst und erwägt ihn, dann verwirft sie ihn, ein für alle Mal.

»Um zwanzig vor zwei landet der Flieger. Wenn ihr um zwölf losfahrt, reicht das locker. Ihr könnt also ausschlafen, frühstücken und sogar noch in den See springen.«

Paul hebt die Schultern, lässt sie fallen, schüttelt den Kopf: »Keine Chance! Das Fischerstechen morgen. Seit fünfundsiebzig Jahren jeden Sommer. Die Wahrscheinlichkeit, dass Oma es als Mädchen erlebt hat, ist ziemlich groß.« Er deutet mit dem Kinn auf das Smartphone neben seinem Teller. »Ich werde es filmen und danach in ihr Geburtstagsvideo einbauen.«

»Und wer kümmert sich um die Zwillinge?«, presst seine Freundin Franziska heraus.

Ausgerechnet sie, die als letzte Aufnahme in der Familie gefunden hat, hat die Idee, ihre neuen Verwandten als Babysitter missbrauchen zu können. Freudestrahlend hat sie Miriam verkündet, dass sie jetzt endgültig abgestillt habe und noch ganz berauscht sei von ihrer neuen Unabhängigkeit. Franziska, die (so hat Paul zu Zeiten erzählt, in denen Heiraten und Kinderkriegen für ihn noch zwei benachbarte, aber ferne Kontinente waren, die zu entdecken oder gar zu erobern nicht lohnte) ihrem Erwählten schon nach der ersten Verabredung per SMS eine Einladung zum legendären South by Southwest Festival in Austin, Texas geschickt hat, »unterzeichnet« mit: »die Mutter deiner zukünftigen Kinder«. Sie wird morgen mit Paul zum Fischerstechen gehen, alleine zum Baden oder einfach nur faul im Garten herumliegen. Ihre zwei schreienden Babys wird sie schon früh morgens an Natalie, Angelika oder wen auch immer abgegeben haben – und das bestimmt nicht, um die Großmutter ihres Freundes vom Flughafen abzuholen.

Miriam lässt sich ihre Enttäuschung nicht anmerken, sie will nicht seufzen, nicht weiter ihre Stimme erheben – und sie hat Hunger. Aber da ist ein Problem. Und dieses Problem muss gelöst werden.

»Valentina?«

»Zweieinhalb Jahre nicht gesehen, wie gesagt; deshalb wäre es mir auch ein wenig unheimlich, sie abzuholen, noch dazu allein.«

»Unheimlich?«, ruft Miriam.

Das mit der Stimme hat sie doch noch nicht unter Kontrolle, und »Inquisition!« sagt jemand anderes.

Natalie neben ihr flüstert: »Ich habe Hunger.«

Der Mensch jenseits des Zauns hinter seiner Sonnenbrille, der sein Buch inzwischen unter dem Liegestuhl verstaut hat und sich nur noch dem Geschehen im Nachbargarten widmet – das begreift Miriam nun –, dieser Mensch hat ihre Aufforderung, sich demnächst bekannt zu machen, offenbar als Einladung verstanden, das Spektakel unterm Nussbaum mit noch größerer Aufmerksamkeit zu verfolgen.

»Das ist keine Ausrede, Tante Miriam. Omi war in letzter Zeit wirklich seltsam am Telefon. So seltsam, dass ich keine Ahnung hatte, was ich überhaupt mit ihr reden sollte. Ich freu mich darauf, in den nächsten Tagen Zeit mit ihr zu verbringen, aber abholen will ich sie lieber nicht, schon gar nicht alleine.«

Jetzt würde Miriam doch gerne seufzen. Barbara, ihre Mutter, ist selbstbestimmt, sie ist selbstbewusst, sie ist eine Kämpferin, sie ist alles, aber seltsam ist sie sicher nicht. Und dennoch hat Valentina etwas ausgesprochen, was auch Miriam seit einiger Zeit beschäftigt. So bewegungsreduziert wie möglich lässt sie sich in ihrem Stuhl nach hinten sinken.

»Hilf mir!«, fordert sie ihren Mann auf, sieht seinen fragenden Blick. »Noch vor dem Essen!«, schiebt sie hinterher, und Werner erhebt sich.

»Ben?«, fragt Werner.

Aber der antwortet nicht. So lange, bis ausnahmslos alle Blicke auf ihn gerichtet sind und seine Frau Angelika »Auf keinen Fall!« sagt.

»Lass mich mal!«, unterbricht Ben sie und schluckt. »Ich wollte euch nicht gleich am ersten Tag beunruhigen, aber ich habe starke Beklemmungen in letzter Zeit. Vielleicht liegt es an einer leichten Herzrhythmusstörung, aber die Ärzte meinen, es sei psychosomatisch. Klaustrophobische Zustände, und das nicht nur in der U-Bahn.«

»Dann werden wir das eben morgen klären«, versucht Werner, einen vorläufigen Schlussstrich zu ziehen. Er klingt noch immer zu freundlich.

Denn Miriam glaubt nicht an Herzrhythmusstörungen, auch nicht an Klaustrophobie. Sie wirft einen flüchtigen Blick auf den Nachbarn in seinem Garten. Inzwischen hat er die Sonnenbrille im Haar, sich den Liegestuhl an den Zaun gezogen und beobachtet das Geschehen mit leicht geöffnetem Mund.

»Warum muss eure Großmutter eigentlich fliegen? Innerhalb von Deutschland …«, feuert Franziska ungefragt über den Tisch, so laut, dass nun auch der Nachbar am Zaun die Chance hat, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. »Hattest du nicht gesagt, dass sie die konsequenteste Globalisierungskritikerin der Familie ist?«

»Ganz so habe ich das nicht formuliert.« Pauls Blicke in die familiäre Runde wirken nahezu panisch, und jetzt ist der Moment gekommen, in dem Miriam ihrem Neffen gerne übers Maul fahren würde.

Allerdings wird ihm ohnehin nicht besonders viel Beachtung geschenkt, und auch Miriams Zurechtweisung würde kaum Beachtung finden, denn noch bevor ihre Frage verhallt ist, hat Franziska sich aufgerichtet, mit großer Geste einen Zettel aus der Handtasche gezogen und zum Plakat entfaltet.

»Ich würde eurer Großmutter gerne ein Gedicht schenken«, verkündet sie.

Und ausgerechnet Werner direkt neben Miriam nickt ermutigend und ist sich nicht zu blöd, »nur zu!« über den Tisch zu rufen.

»Okay, danke, Generalprobe!«, ruft Franziska, streicht sich mit beiden Händen das blonde lange Haar aus dem Gesicht, spitzt nervös den Mund. »Wehe, du lachst!«, dreht sie sich ruckartig zu Paul – was die Familie ihres Freundes von dem Spektakel wohl halten könnte, scheint ihr völlig egal zu sein – und spitzt erneut den Mund. »Für Barbara«, stößt sie hervor, kichert verlegen und legt dann mit wippendem Oberkörper und ohne ein einziges Mal auf ihr Plakat zu schauen los:

Eine Welt ist möglich, isn ’t it?

Für Barbara, bartlos, zeitlos, im Hier und Jetzt

Wenn die Bart tragenden Bartender in Barcelona

dieselben Brazils mixen wie die bartendernden Bartträger in Berlin,

ist das doch Bingo, echt Bingo.

Wenn die Schwarz tragenden Schmalschultern von Schwabing

dieselben Smoothies schlürfen wie die schmalschultrigen Schwarzträger von San Francisco,

ist das doch nice, super nice.

Wenn die gelangweilten Girls von Geretsried

dieselben Träume haben wie die googelnden Geeks in Chicago

und die giggelnden Hens in Hannover,

ist das nicht nur gender-global fair und neutral, sondern genial.

Wenn die echt bewegten mageren Mädchen aus München

den erdbewegten hungernden Müttern aus Katatatastrophengebieten

Päckchen packen mit warmen Jacken

und ganz, ganz, ganz viel Liebe drin,

ist das nicht nur extra-empathisch, sondern höchst sozial,

und by the way: supersüß.

Wenn die jetsettenden VJs von Wien im West Village von New York

Vintage Gebäck von Grandma essen,

während die jetsettenden DJs von Dorfen im Theaterdistrikt von Moskau

Vintage Gebäck von Babuschka testen

und den VJs von Wien ins Westvillage von New York

die Message »yummie – wie bei Mami« texten

sind sie doch irgendwie connected,

oder nicht nur irgendwie,

sondern completely.

Wenn sich dann auch noch

die Bart tragenden Bartender liquid organisch mit den schmalschultrigen Schwarzträgern solidarisieren

und die googelnden Geeks globalisierungs-kritisch, aber nicht -gegnerisch die gelangweilten Girls inspirieren

und sich die Echtbewegten committed, dedicated und involved nicht nur für die Erdbewegten engagieren,

sondern auch für die Bewegtbild produzierenden

Cookie-Konsumenten weltweit slash: worldwide und

eigentlich

natürlich

für alle und jeden

und sich dann auch noch

alle zusammen

auf der Grundlage ihrer Authentizität, Integrität und Solidarität

gemeinsame Ziele setzen

und vernetzen,

ist das Klima

schwuppdiwupp

bekämpft,

sind Armut und soziale Ungleichheit

ganz schnell

gerettet

und internationale Übereinkommen –

völlig completely und so was von

überkommen.

Das wär’s dann doch eigentlich schon.

Oder habe ich irgendetwas übersehen?

»Wow!«, sagt Paul.

Und noch bevor sich Miriam Gedanken darüber machen kann, ob seine Reaktion echt ist oder ob er dieses Machwerk seiner acht Jahre älteren Angebeteten, Freundin, Kindsmutter und womöglich zukünftigen Ehefrau nicht schon zu anderen Anlässen zu Gehör bekommen hat, ruft Angelika: »Bravo!«

Werner – natürlich! – schenkt weder Paul noch Angelika Beachtung, starrt fasziniert auf Franziskas Mund, als wären einzig ihre für Miriams Geschmack zuverlässig zu stark geschminkten Lippen für den Wortschwall verantwortlich, und flüstert, gerade laut genug, dass Miriam es hören muss: »Was für ein Wortwitz!«

»Keine Ahnung, was das mit Barbara zu tun hat, aber ja, sehr hübsch. Und sehr effektvoll. Die Frage, ob unsere Mutter jemals in den Genuss dieses Jahrhundertwerks kommen wird, ist allerdings noch nicht geklärt. Der anwesende Teil unserer Familie …«, Miriam zeichnet mit ausladender Geste den Kreis der Versammelten nach, »… ist ja zum Glück überschaubar groß: Angelika, Ben, Valentina, Paul, Franziska, die Zwillinge, Natalie, Werner. Tanzt nur! Produziert euch! Applaudiert euch gegenseitig! Und macht euch bloß keine Gedanken, wie Barbara hierherkommen könnte …!«

»Miii-riii-aaaam!«, Ben lächelt, sichtlich um Ruhe und Gelassenheit bemüht. »Miriam, ich weiß, es ist nicht leicht, aber entspann dich!«

»Herzrhythmusstörungen! Wenn das keine billige Ausrede ist, bist du derjenige, der sich entspannen sollte!«

»Schhh«, macht Werner neben ihr – ja, das fällt ihr, umzingelt von Verständnislosen, dann doch auf –, so rücksichtsvoll und eingebunden in die Symphonie aus leichtem Blätterrauschen, Glockengeläut, das vom fernen Marienmünster herüberweht, vereinzeltem Vogelgezwitscher und lauten, aufdringlichen Menschenstimmen, dass es wirklich nur der Nussbaum und Miriam wahrnehmen können.

Gleichzeitig nimmt sie wahr, dass sein Lächeln – dieses Lächeln, das nur an den äußeren Augenwinkeln stattfindet, dieses Lächeln, das in neunundneunzig von hundert Fällen zur Versöhnung führt, das sie beruhigt, beschwichtigt und das auch nach fünfzehn Jahren Ehe in immerhin zwei von zehn Fällen immer noch zuverlässig mit einem gemeinsamen Ausflug ins Bett endet, dass dieses Lächeln, das sie in Hochphasen gegenüber ihren Freundinnen auch schon mal als »Werners Sean-Penn-Lächeln« bezeichnet –, dass dieses Lächeln auf Natalie am einen Ende des Tisches genauso wirkt wie auf ihre Schwägerin Angelika an ihrer Seite, wie auf Franziska am anderen Ende des Tisches. Was – das muss Miriam, nur Millimeter vom Lächler getrennt, nun um Fassung ringend feststellen – die sonst so zuverlässige Wirkung des Lächelns bei ihr wiederum in ihr genaues Gegenteil verkehrt.

»Spar dir deine Kommentare«, presst sie hervor, was sich in keine Symphonie einfügt, schon gar nicht in das sich mehr und mehr zum Tinnitus verdichtende, aggressive Grundrauschen in ihrem linken Ohr.

Werner greift nicht nach ihrer Hand. Er knipst sein Lächeln aus. Er zuckt mit den Schultern.

Auch Ben zuckt mit den Schultern, wesentlich offenkundiger. »Der Versuchsaufbau ist mir immer noch nicht klar. Wenn ich es richtig verstanden habe, hast du uns aus der Routine unserer Gewohnheiten geholt, hast du uns diesen Urlaub quasi verschrieben, damit wir gemeinsam den Geburtstag unserer Mutter feiern. Schöne Idee. Aber wer kann sich erinnern, wann wir das letzte Mal so zusammensaßen? Wann wir überhaupt mal so zusammensaßen? Wann wir uns – mit oder ohne Barbara – das letzte Mal ausgetauscht haben? Ich kann es nicht, und das liegt mit Sicherheit nicht an meinem Gedächtnis. An vieles erinnere ich mich nämlich sehr gut.«

»Langsam, langsam!«, unterbricht Angelika ihn. »Lass dir Zeit.«

Auch wenn sie dabei weniger subtil als Werner vorgeht, kein Sean-Penn-Lächeln parat hat und für alle sichtbar nach Bens Hand greift und diese mehrmals drückt, scheint sich ihr Mann von dieser eindeutigen Bevormundung kein bisschen reizen zu lassen.

Noch mehr Zeit? Noch mehr Betonungen?, denkt Miriam.

Ben atmet mehrmals tief ein und aus, um dann mit ruhiger Stimme fortzufahren: »Ich. Erinnere. Mich. An vieles und sehr gut. Daran, wie mir irgendwann mit zwölf, dreizehn Jahren bewusst wurde, dass ich mich wie ein Einzelkind fühle. Dass es mir niemals in den Sinn gekommen wäre, mich mit Problemen oder auch in besonders schönen Momenten an meine Geschwister zu wenden. Dass ich mich heute, mit fast sechsundvierzig Jahren, an keinen Streit mit euch erinnern kann, ist kein Beweis für Harmonie oder große Liebe. Das weiß jeder hier am Tisch. Ich würde es als Leere bezeichnen. Große Schwester, du hast uns gerufen, wir sind gekommen. Was spricht dagegen, genau jetzt damit anzufangen, diese Leere zu füllen? Globalisierungskritische Gedichte sind kein schlechter Anfang. Achtsamkeit wäre ein nächster Schritt.«

»Achtsamkeit«, wiederholen Natalie und Werner; Werner eindeutig sachlicher als Natalie, um deren Mundwinkel ein belustigter Zug spielt.

Noch bevor Miriam ihrem sich nun mit einem nahenden Migräneanfall verbündenden Gewissen die Frage stellen kann, ob es gerechtfertigt wäre, sich aus reiner Abwehrhaltung gegenüber Verständnislosen mit einer pubertierenden Fünfzehnjährigen zu solidarisieren, nimmt Werner einen komplett anderen Faden auf, leider gänzlich ohne Ironie.

»Deine gesundheitlichen Probleme scheinen zu einer neuen Sichtweise auf dich und deine Umwelt zu führen, Ben. Es ist völlig nachvollziehbar und – ohne mir ein Urteil erlauben zu wollen – für dich sicherlich der richtige Weg, einen Schnitt zu machen und alles, was bisher war, zu hinterfragen. Dass du dich mit deiner Familie auseinandersetzen musst, wenn eine therapeutische Wirkung einsetzen soll, ist ein Gemeinplatz. Nur: Auseinandersetzung fordert Achtsamkeit und vollen Einsatz und Energie. Und vor allem Zeit. Ich bin mir nicht sicher, ob alle, die hier angereist sind, die Energie und Zeit haben, sich auseinanderzusetzen.« Werner räuspert sich, sein sachlicher Ton, der bisher keinerlei Emotion verraten hat, wird beschwichtigend: »Ben, du magst mit deiner Analyse recht haben. Auch mir ist schon mehr als einmal bewusst geworden, dass ich die Familie der Frau, mit der ich seit fünfzehn Jahren verheiratet bin, kaum kenne. Aber überleg doch mal, überlegt doch alle mal: Auseinandersetzung. Wollt ihr das? Falls ja, solltet ihr euch im Klaren darüber sein, dass das eine lebenslängliche und auch lebensgefährliche Aufgabe ist, bei der die eine oder andere Bombe hochgehen wird. Falls ihr es wirklich tut, würde ich euch gerne ein paar Fragen mitgeben. Eigentlich nur eine Frage, genau genommen: Wer ist Miriams Vater? Wer Michaels? Wer Katharinas? Wer ist Natalies Großvater und wer der von Paul und Valentina? Mir stehen diese Fragen nicht zu, deshalb fällt es mir auch so leicht, sie auszusprechen.«

»Moment, Moment! Wir sind ja nicht komplett vaterlos«, sagt Ben. »Und verheimlicht hat sie uns unsere Väter auch nicht; manche sind sogar ab und zu aufgetaucht.«

Mein Vater ist schon so lange tot, dass es längst nicht mehr von Interesse ist, wer er war, würde Miriam nun gerne den Satz zitieren, der sie bisher ganz gut durch ihre Ehe getragen hat, wenn sie nicht mit Verwunderung hätte feststellen müssen, in welch kurzer Zeit Werners Ton von sachlich über beschwichtigend zu hoch alarmiert gewechselt hat.

»Hmmm«, summen oder brummen Franziskas Lippen, die nun selbst im versöhnlichen Licht der letzten Sonnenstrahlen nicht mehr stark geschminkt, sondern blutleer aussehen, und während sie ihr Plakat Kante auf Kante wieder zu Postkartengröße faltet, schwillt die Symphonie aus Blätterrauschen und Blätterfalten, aus nicht enden wollendem Abendläuten der Marienmünster-Glocken, aus Gesagtem und Ungesagtem ins Unerträgliche an, um von einem einzigen kurzen »Okay« beendet zu werden.

»Okay«, Natalie hat das gesagt, und die Blicke aller haben sich auf sie gerichtet, als hätte sie »Denn höret, was wir sehen sollen, wenn wir hier erscheinen« gesagt. »Tante Miriam bleibt morgen zu Hause und schläft aus. Dann frühstückt sie, und wenn sie Lust hat, springt sie noch in den See. Wir anderen holen Oma Barbara vom Flughafen ab. Und davor können wir uns ja noch eine Überraschung ausdenken.«

Miriam schließt die Augen, kurz nur, doch lange genug, um diesen Augenblick für sich als einen historischen zu markieren, sich fest vorzunehmen, morgen, sobald die Familie Richtung Flughafen aufgebrochen ist, Katharina in Paris anzurufen und ihr zu sagen, dass sie mit Natalie eine großartige Tochter habe, um deren seelische und geistige Unterstützung sich Miriam ab jetzt persönlich kümmern werde, wenn auch aus der Ferne, denn Jobs für überforderte alleinerziehende Mütter ohne Vision gäbe es ja bedauerlicherweise nur in Paris.

»Quak«, macht da plötzlich eine Ente – kein richtiges Quaken, eher ein Schreien –, so laut, dass sich alle Blicke schlagartig in ihre Richtung drehen. Ein neutraler Beobachter, der Nachbar etwa oder ein anderer Zaungast, könnte die Stille, die nun folgt, durchaus als himmlischen Frieden bezeichnen.

Da, wo gerade noch eine Ente gequakt hat, steht ein kleines Mädchen und lächelt. Das Mädchen trägt ein hellblaues Kleid, weiße Kniestrümpfe und rote Sandalen, hat blonde Zöpfe und gerötete Wangen.

»Ich bin eine Ente«, sagt sie, und schon taucht hinter ihr eine junge Frau auf.

Die junge Frau trägt ein hellblaues Kleid, hat blonde Zöpfe und gerötete Wangen. Laura, denkt Miriam, als nun auch Michael auftaucht. Noch schlanker und irgendwie auch noch jünger als sonst sieht sie aus, denkt sie. Und blonder?

»Celine hat Mila gerade die Entensprache beigebracht«, sagt Michael. »Guten Abend zusammen«, ruft er in die Runde, während Mila nach der Hand der jungen Frau greift. »Unser Kindermädchen Celine – meine Familie. Laura ist im Auto eingeschlafen.«

»Quak!«, schreit Mila. »Ich bin eine Ente.« Flügelschlagend nähert sie sich der Gesellschaft unterm Baum.

Unterliegt Miriam nicht einer Sinnestäuschung, macht Celine einen leichten Knicks, bevor auch sie sich in Bewegung setzt, schwebend und lächelnd.

»Wir haben’s doch früher geschafft, was sagst du dazu?«, ruft Michael seiner ältesten Schwester zu.

»Wieso hast du mich nicht geweckt?«, ruft Laura, die nun neben Michael auftaucht und mit ebenso silbrigem wie gnädigem Blick ein gegähntes »Guten Abend« Richtung Nussbaum verliert.

Noch schlanker und irgendwie noch jünger, registriert Miriam, während sich Laura durchs verstrubbelte blonde Haar fährt. Das ist nicht sein Ernst, geht es Miriam durch den Kopf, während sie gleichermaßen fasziniert von Laura zu Celine, von Celine zu Laura blickt. Wozu braucht Michael ein Laura-Double? Wozu wählt Laura ausgerechnet ein Double ihrer selbst als Kindermädchen aus? Und welche Auswirkungen mag das auf das Kind haben?

»Quak«, macht ebendiese erneut, woraufhin Franziska sie auf den Arm nimmt, Paul Celine die Hand schüttelt, Laura einen Kuss auf die schlafgerötete Wange drückt und Werner allen anwesenden Zauberwesen aufmunternd zuwinkt.

»Mila«, ruft Natalie, »bringst du mir die Entensprache bei?«

»Die Renken!«, ertönt eine Grabesstimme aus dem Haus. »Komplett auseinandergefallen, allesamt.«

»Was ist ein Haufen zerfallene Renken gegen eine Familie, die, wenn’s drauf ankommt, funktioniert«, flüstert Miriam ihrem Mann zu und nimmt dankbar seine Hand.

»Ich weiß nicht«, flüstert Werner zurück.

1933: Anna(Anna, 18)

Drei kurz, drei lang. Judith konnte sich Zeit lassen. Anna konnte warten. Auch heute hing ihr Blick an der Mesusa am Türrahmen. Wie oft schon hatte sie Herrn Frei dieses kleine Stück Metall, wie oft schon hatte sie ihn seine Frau und seine eigene Tochter küssen sehen? Anna starrte auf den stolzen Löwen auf der Mesusa und versuchte einmal mehr, sich an einen Kuss zu erinnern, den sie aber niemals bekommen hatte. Vom Vater nicht, nicht von der Mutter, nein, auch nicht von den Brüdern. Doch wenn ihr vor nicht allzu langer Zeit noch die Stirn gebrannt und die Wange geschmerzt hatte von der Erkenntnis, dass sie selbst als Kind nie geküsst worden war, machten sich jetzt andere Gefühle in ihr breit.

Erleichterung.

Vorfreude?

Zweifel?

War es nur sie, die Ungeküsste, die die elterliche und brüderliche Kälte und Starre nun endlich als das sah, was sie war: verlässlich und unveränderlich? War es nur sie, die sich nach mehr sehnte als nach Zufallsberührungen und schwesterlichen Küssen?

War es wirklich nur sie? Judith und Anna spielten Fangen und Verstecken und viele andere Spiele, die ohne Zufallsberührungen nicht auskamen. Schon als sie sich angefreundet hatten, mit fünfzehn, waren sie zu alt dafür gewesen. Inzwischen waren sie achtzehn, und noch immer schien Judith jede Gelegenheit zu nutzen, sie zu berühren. Bei den Lesenachmittagen im Birkenhain, beim Baden im Krebsenbach, beim Spaziergang auf der Schwedeninsel. Selbst wenn sie hinter ihrer Staffelei stand, um die achtundvierzigste Variante von Anna auf den weiten Wiesen vor Bischofsried anzufertigen, selbst wenn sie Anna dabei Bewegungsverbot erteilte, konnte Judith von einem Augenblick auf den anderen alle damenhaften Vorsätze fahren lassen und zum Spiel rufen.

»Anna, willst du nicht hereinkommen?«

Anna spürte die Röte über ihr Gesicht huschen: von den Wangen übers Nasenbein bis hoch zum Haaransatz. »Natürlich komme ich gerne herein.«

Närrin! Wie lange schon hatte sie mit leicht geöffnetem Mund vor Herrn Frei gestanden, Pianoklänge im Ohr, Flügel im Herzen, an ihm vorbei in eine Zukunft mit seiner Tochter blickend, die weder Judiths noch Annas Eltern jemals akzeptieren würden?

Für die Freis stand außer Frage, dass ihrer Tochter eine Karriere als Konzertpianistin bevorstand. Sie war talentiert, fleißig, selbstbewusst, überzeugt davon, die Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Akademie der Tonkunst in München zu bestehen.

»Judith übt noch. Du kannst dich aber gerne zu ihr ins Zimmer setzen, solange du sie nicht vom Spielen abhältst.«

Spielen. Auch Anna wollte spielen. Allerdings nicht Klavier. Auch kein anderes Instrument, das war nicht nötig, das entsprach nicht ihrem Wesen, das hätte zu nichts geführt, da hatten die Eltern recht.

Sie wollte spielen, und sie wollte gespielt werden. Ohne einen Laut von sich zu geben, ließ sich Anna auf dem Diwan hinter Judith nieder und beobachtete, wie sie die Tastatur streichelte. Neid. Das war es: Sie empfand Neid. Neid auf ein Klavier. Sie wollte das Instrument sein, Judiths Instrument.

2013: Vorabend des Festes(Abend, tiefe Nacht)