Unternehmensethik, Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility - Frank Gogoll - E-Book

Unternehmensethik, Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility E-Book

Frank Gogoll

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Beschreibung

Die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen wandelt sich mehr und mehr von einer optionalen zu einer verbindlichen Aufgabe. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der seit 2017 geltenden CSR-Berichterstattungspflicht vornehmlich für die großen "Platzhirsche". Für kleine und mittlere Unternehmen bildet die Beschäftigung mit dieser Thematik nach wie vor die Ausnahme, obwohl diese Berichtspflicht über die Wertschöpfungskette zukünftig verstärkt auch an KMU weitergegeben wird. Der vorliegende Band stellt Konzepte, Instrumente und Verfahren der Integration unternehmerischer Verantwortung auf dem Fundament wirtschafts- und unternehmensethischer Ansätze dar. Für die 2. Auflage wurden verhaltensethische und verhaltensökonomische Aspekte moralischer Handlungen einerseits und die klimapolitischen Vorgaben, die neuen CSR-Berichterstattungspflichten sowie die Lieferkettenverantwortung andererseits eingearbeitet.

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[2]Bachelor Basics

Herausgegeben von Horst Peters

Martin Wenke/Frank Gogoll

[3]Unternehmensethik, Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility

Instrumente zur systematischen Einführung eines Verantwortungsmanagements in Unternehmen

2., erweiterte und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

[4]2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-042308-4

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-042309-1

epub: ISBN 978-3-17-042310-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

[5]Geleitwort des Reihenherausgebers

Das vorliegende Lehrbuch ist Teil der Lehrbuchreihe BWL Bachelor Basics. Dieses Buch sowie alle anderen Werke der Reihe folgen einem Konzept, das auf die Leserschaft – nämlich Studierende der Wirtschaftswissenschaften – passgenau zugeschnitten ist.

Ziel der Lehrbuchreihe BWL Bachelor Basics ist es, die zu erwerbenden Kompetenzen in einem wirtschaftswissenschaftlichen Bachelor-Studiengang wissenschaftlich anspruchsvoll, jedoch zugleich anwendungsorientiert und kompakt abzubilden. Dies bedeutet:

Ein hoher wissenschaftlicher Anspruch geht einher mit einem gehobenen Qualitätsanspruch an die Werke. Präzise Begriffsbildungen, klare Definitionen, Orientierung an dem aktuellen Stand der Wissenschaft seien hier nur beispielhaft erwähnt. Die Autoren sind ausgewiesene Wissenschaftler und Experten auf ihrem Gebiet. Die Reihe will sich damit bewusst abgrenzen von einschlägigen »Praktikerhandbüchern« zweifelhafter Qualität, die dem Leser vorgaukeln, Betriebswirtschaftslehre könnte man durch Abarbeiten von Checklisten erlernen.

Zu einer guten Theorie gehört auch die Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, denn Wissenschaft sollte kein intellektueller Selbstzweck sein. Deshalb steht stets auch die Anwendungsorientierung im Fokus. Schließlich verfolgt der Studierende das Ziel, einen berufsqualifizierenden Abschluss zu erwerben. Die Bücher haben diese Maxime im Blick, weshalb jedes Buch neben dem Lehrtext u. a. auch Praxisbeispiele, Übungsaufgaben mit Lösungen sowie weiterführende Literaturhinweise enthält.

Zugleich tragen die Werke dem Wunsch des Studierenden Rechnung, die Lehr- und Lerninhalte kompakt darzustellen, Wichtiges zu betonen, weniger Wichtiges wegzulassen und sich dabei auch einer verständlichen Sprache zu bedienen. Der Seitenumfang und das Lesepensum werden dadurch überschaubar. So eignen sich die Bücher der Lehrbuchreihe Bachelor Basics auch hervorragend zum Selbststudium und werden ein wertvoller Begleiter der Lehrmodule sein.

Die Reihe umfasst die curricularen Inhalte eines wirtschaftswissenschaftlichen Bachelor-Studiums. Sie enthält zum einen die traditionellen volks- und betriebswirtschaftlichen Kernfächer, darüber hinaus jedoch auch Bücher aus angrenzenden Fächern sowie zu überfachlichen Kompetenzen. Um auf neue Themen und Ent[6]wicklungen reagieren zu können, wurde die Edition bewusst als offene Reihe konzipiert und die Zahl möglicher Bände nicht nach oben begrenzt.

Die Lehrbuchreihe Bachelor Basics richtet sich im Wesentlichen an Studierende der Wirtschaftswissenschaften an Hochschulen für angewandte Wissenschaften, an dualen Hochschulen, Verwaltungs- und Wirtschaftsakademien und anderen Einrichtungen, die den Anspruch haben, Wirtschaftswissenschaften anwendungsorientiert und zugleich wissenschaftlich anspruchsvoll zu vermitteln. Angesprochen werden aber auch Fach- und Führungskräfte, die im Sinne der beruflichen und wissenschaftlichen Weiterbildung ihr Wissen erweitern oder auffrischen wollen. Als Herausgeber der Lehrbuchreihe möchte ich mich bei allen Autorinnen und Autoren bedanken, die sich für diese Reihe engagieren und einen Beitrag hierzu geleistet haben.

Ich würde mich sehr freuen, wenn das ambitionierte Vorhaben, wissenschaftliche Qualität mit Anwendungsorientierung und einer kompakten, lesefreundlichen und didaktisch an die Bachelor-Studierendenschaft abgestimmten Gestaltung zu kombinieren, dem Leser bei der Bewältigung des Bachelor-Lernstoffes hilfreich sein wird und es die Anerkennung und Beachtung erhält, die es meines Erachtens verdient.

Horst Peters

[7]Vorwort zur 2. Auflage

»Zum Glück gibt es Wirtschaftsethik« haben wir im Vorwort zur ersten Auflage des vorliegenden Lehrbuches geschrieben. Diese Aussage hat in diesen Zeiten globaler Wirtschaftskrisen, Kriegen in vielen Teilen der Erde und der immer deutlicher zutage tretenden Wirkungen der Klimakrise mit näherkommenden »Kipppunkten« unumkehrbarer Veränderungen vor allem in der natürlichen Umwelt weiterhin Bestand. Da die Ursachen- und Wirkungsketten immer komplexer werden, und einfache Lösungen kaum mehr angebracht sind – wenn sie es jemals waren – ist der wirtschaftsethische Kompass zur Orientierung im Umgang mit den Herausforderungen dieser Zeit sogar noch wichtiger geworden.

Vor dem zuvor geschilderten Hintergrund haben sich auch die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ethisch-moralischen Handelns verändert. Diese Veränderungen veranlassten schließlich auch Anpassungen vorliegender Konzepte und Instrumente oder deren Neuentwicklungen. All dies hat uns dazu bewegt, in Teilen eine komplette Neuausrichtung sowie Umstrukturierung und Neujustierung der Schwerpunkte vorzunehmen, ohne jedoch die Basisidee der 1. Auflage insbesondere mit Blick auf die »Verdaulichkeit der schweren Kost« weiter im Blick zu haben.

Zunächst haben wir das einführende, theoretische Inhalte vermittelnde Kapitel 1, in dem der moralische Kompass für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung erläutert werden soll, grundlegend überarbeitet. Dabei haben wir vier Ziele verfolgt: 1. eine noch stärkere Praxisorientierung der theoretischen Erörterungen, 2. eine intensivere Berücksichtigung interdisziplinärer Lösungsansätze, 3. eine verbesserte Einbindung der wirtschaftsethischen Diskussion in bekannte ökonomische Konzepte sowie in die Managementtheorie und 4. eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Unternehmensverantwortung.

Zur stärkeren Praxisorientierung wurde die Bedeutung moralischer Probleme, Konflikte und Dilemmata für Unternehmensentscheidungen anhand von Praxisbeispielen beleuchtet (► Kap. 1.1.1). Hinzu kommt die intensive Berücksichtigung realer Rahmenbedingungen für unternehmerisches und menschliches Entscheiden und Handeln (► Kap. 1.2.4), damit die Komplexität des moralischen Handelns für Unternehmen deutlich wird.

Die zunehmend erforderliche Berücksichtigung interdisziplinärer Lösungsansätze für moralische Probleme führt Ökonomik, Ethik und Psychologie zusammen und nutzt neben der Wirtschaftsethik auch die Erkenntnisse aus den noch jungen Bereichen der Verhaltensökonomik und der Verhaltensethik (► Kap 1.1.2).

Dar. 0:Modularer Aufbau des Buches

[9]Um die wirtschafts- und unternehmensethische Diskussion besser mit den Wirtschaftsstudenten bekannten ökonomischen Konzepten zu verzahnen, haben wir zum einen den in der mikroökonomischen Theorie verwendeten Transaktionsansatz als Ausgangspunkt für die Diskussion der verschiedenen Fragestellungen aus der Ökonomie (z. B. Gewinnerzielung), der Ethik (z. B. Verantwortung) sowie der Psychologie (z. B. Vertrauen) gewählt (► Kap. 1.2.3.1). Zum anderen verwenden wir den in der Unternehmensführung relevanten entscheidungsorientierten Ansatz, um die Bedeutung der ethischen Intentionen, Ziele und Werte, der ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Marktwirtschaft sowie des menschlichen Entscheidens und Handelns zu aufzuzeigen (► Kap. 1.2.4).

Schließlich haben wir den Fokus auf den Begriff der Verantwortung gerichtet, um eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Unternehmensverantwortung zu ermöglichen. Hier geht es darum, den mit dem CSR-Begriff verbundenen, zumeist rein beschreibenden CSR-Ansätzen einen wirtschafts- und unternehmensethisch fundierten Ansatz der Unternehmensverantwortung entgegenzusetzen, der eine ethisch fundierte Orientierung für moralisches Handeln der Unternehmen – mithin einen Kompass – liefert.

Das Kapitel 2 wurde mit Blick auf die Weiterentwicklung des traditionellen Drei-Säulen-Konzepts der Nachhaltigkeit erweitert. In Kapitel 2.3 wird nach der Kritik an den gängigen Ansätzen (► Kap. 2.3.1) mit dem Modell der »parasitären Ökonomie« ein Ansatz zum besseren Verständnis der Notwendigkeit einer expliziten Berücksichtigung der natürlichen Umwelt in den gängigen Ansätzen der Umweltökonomie vorgestellt (► Kap. 2.3.2). Darüber hinaus legt das sog. »Donut-Modell« den Fokus auf die Berücksichtigung planetarer Grenzen und gesellschaftlicher Grundlagen als Rahmen, in dessen »Raum« es immer noch Entscheidungsfreiheiten mit Blick auf mögliche Pfade in Richtung Nachhaltigkeit gibt. Schließlich wird mit dem Ansatz der Gemeinwohlökonomie und der entsprechenden Matrix ein System möglicher Indikatoren vorgestellt, die schlussendlich die Handlungswirkungen hinsichtlich der mit dem Donut-Modell vorgeschlagenen Dimensionen misst (► Kap. 2.3.3).

Kapitel 3 widmet sich nunmehr der verantwortungsvollen Unternehmensführung im Sinne der Verbindung der in Kapitel 1 behandelten Unternehmensethik und Unternehmensverantwortung und der in Kapitel 2 behandelten Nachhaltigkeit mit der Unternehmensführung. Dabei werden die Konsequenzen der Unternehmensverantwortung für das normative und das strategische Management (► Kap. 3.1) sowie für die Dokumentation und das Management der Unternehmensverantwortung und die Verfahren ihrer Bewertung behandelt (► Kap. 3.2).

Kapitel 4 wurde im Vergleich zur 1. Auflage neu strukturiert und enthält darüber hinaus neue Themen. So findet sich nach dem überarbeiteten Kapitel 4.1 zur Bedeutung der Personalführung und Mitarbeiterverantwortung für die praktische Umsetzung eines Verantwortungsmanagements mit dem Thema der Wesentlichkeitsanalyse ein hochnotwendiges Instrument zur Priorisierung der relevanten Themen (► Kap. 4.2). Im Anschluss vertieft das Kapitel 4.3 die Diskussion um eine klar strukturierte Stakeholderkommunikation und Kapitel 4.4. schließt mit der [10]aktualisierten Analyse des CSR-Managements in der Wertschöpfungskette hieran an. Neu hinzugefügt sind dann die Kapitel 4.5 zu den vorgeschlagenen Instrumenten einer Wirkungsanalyse sowie das Kapitel 4.6 zu einer Zusammenfassung des gesamten Kapitels 4 mit der Betonung des für Unternehmen relevanten »kontinuierlichen Verbesserungsprozesses« bei der Umsetzung eines Verantwortungsmanagements.

[11]Vorwort zur 1. Auflage

Unternehmensethik, Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility: im Rahmen des wirtschaftswissenschaftlichen Bachelorstudiums sind dies wohl nicht die Themen mit der größten Anziehungskraft bei Studierenden, sondern eher »schwere Kost«? Im ersten Zugang sicherlich, aber: Zum Glück gibt es Unternehmensethik Interdisziplinarität, denn diese kann einen Kompass zur Orientierung im Umgang mit ethisch moralischen Entscheidungs- und Konfliktsituationen liefern. Leider zeigen die vielfältigen Praxis-Beispiele verfehlter ethisch-moralischer Handlungen in Unternehmen – von Enron über BP, Deutsche Bank bis zu VW –, dass es offensichtlich an einem solchen Kompass in der Führung und/oder bei den Mitarbeitern oder gar von Seiten des Staates gefehlt hat. Dieser Kompass gibt Orientierung hinsichtlich der Zielsetzung und zeigt auf, welche Wege zum selbst gewählten Ziel führen und welche nicht. Für diese Zielfindung gilt es, die empirischen Rahmenbedingungen der Unternehmen in der Marktwirtschaft zu berücksichtigen sowie die weiteren zur Verfügung stehenden praktischen Instrumente zur Zielerreichung zu kennen.

Der angesprochene Kompass wird im ersten Kapitel des vorliegenden Lehrbuchs eingeführt und erläutert. Dabei geht es um die theoretischen Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik, vom »moral point of view« und den Kompetenzen des moralischen Urteilsvermögens über die Unternehmen im marktwirtschaftlichen Koordinationsmechanismus bis zum Verhältnis von Unternehmensethik und Unternehmensverantwortung sowie Ethik-Management und -Audits. Im zweiten Kapitel wird mit dem Konzept der Nachhaltigen Entwicklung und den hiervon abgeleiteten Strategien für Gesellschaften und Unternehmen der Rahmen für die möglichen Wege zur Zielerreichung erläutert. Die grundlegenden Aspekte des Managements gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen beschreibt das dritte Kapitel und wirft dabei einen Blick auf die CSR-Konzepte und das CSR-Management in der Praxis, inklusive der Diskussion um CSR als Business Case, um dann die Verbindung des CSR mit dem Risikomanagement, insbesondere über die Reputationsrisiken sowie die operationellen Risiken herzustellen.

Wesentliche Bausteine zur praktischen Umsetzung des unternehmerischen Verantwortungsmanagements werden im vierten Kapitel vorgestellt. Zunächst sind dies die Bausteine einer konsistenten Verknüpfung von Unternehmensverantwortung und Unternehmensleitbild für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung sowie die praktischen Anforderungen des CSR an die Personalführungs- und Mitarbeiterverantwortung. Danach geht es um die praktische Umsetzung des CSR-[12]Managements in der Wertschöpfungskette sowie der Kommunikation mit den Stakeholdern.

Wir haben die »Verdaulichkeit« der schweren Kost im vorliegenden Lehrbuch mit einer Vielzahl von der öffentlichen Diskussion oder der praktischen Umsetzung entliehenen Beispielen erhöht. Neben der Erläuterung der zunächst theoretischen Konzeptionen ethischer Zielbildung und Entscheidungsfindung dienen die Praxisbeispiele auch dazu aufzuzeigen, dass fortschrittliche Unternehmen die diskutierten Philosophien, Strategien und Instrumente bereits umsetzen.

Lernkontrollfragen sollen dazu anregen, sich intensiv mit den vorgestellten Konzepten zu beschäftigen und diese auch in Seminaren und Lerngruppen zu diskutieren. Lösungshinweise werden über die Homepage des Kohlhammer-Verlages zur Verfügung gestellt.

Die Beschäftigung mit den Themen des vorliegenden Lehrbuchs erfordert bereits verfügbare Kenntnisse zu den Inhalten der höheren Semester eines wirtschaftswissenschaftlichen Bachelorstudiums.

[13]Inhaltsverzeichnis

Geleitwort des Reihenherausgebers

Vorwort zur 2. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

1

Unternehmensethik und Unternehmensverantwortung

1.1

Zum Glück gibt es Unternehmensethik und Interdisziplinarität!

1.1.1

Moralische Probleme, Konflikte und Dilemmata

1.1.2

Ein interdisziplinärer Ansatz: Trias aus Ethik, Ökonomik und Psychologie

1.2

Entscheiden und Handeln in moralischen Problemsituationen

1.2.1

Rahmenbedingungen menschlichen und wirtschaftlichen Handelns

1.2.2

Der Mensch als moralischer Akteur

1.2.3

Strukturen wirtschaftlichen Handelns: Transaktionen im gesellschaftlichen Wirtschaften

1.2.3.1

Das Transaktionsmodell

1.2.3.2

Transaktionen, Informationsasymmetrien und Dilemmata

1.2.3.3

Lösungen für Informationsasymmetrien und das Gefangenendilemma: Institutionen, Regeln und Normen

1.2.3.4

Transaktionen und Vertrauen

1.2.3.5

Transaktionen und Verantwortung

1.2.4

Prozesse menschlichen und wirtschaftlichen Entscheidens und Handelns

1.3

Der »moral point of view« und das moralische Urteilsvermögen

1.3.1

Intentionen, Ziele und Werte: Freiheit und Gerechtigkeit

1.3.2

Ansatzpunkte ethischer Argumentation

1.3.2.1

Aspekte moralischer Bewertungen: Intentionen, Absichten, Folgen, Tugenden und Institutionen

1.3.2.2

Methoden zur Urteilsfindung

1.3.2.3

Ebenen der Moral

1.3.3

Verantwortung

1.3.3.1

Definitionen und Voraussetzungen

1.3.3.2

Begriffe und Typen der Verantwortung

1.4

Situationen und Handlungsbedingungen: Unternehmen im marktwirtschaftlichen Koordinierungsmechanismus

1.4.1

Der marktwirtschaftliche Koordinierungsmechanismus

1.4.1.1

Vorteile des marktwirtschaftlichen Koordinierungsmechanismus für das gesellschaftliche Wirtschaften

1.4.1.2

Marktversagen und Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen

1.4.2

Moralische Eigenschaften des marktwirtschaftlichen Koordinierungsmechanismus

1.4.3

Der Unternehmer und das Unternehmen: ein Unterschied?

1.4.3.1

Ziel und Zweck des Unternehmens

1.4.3.2

Moralische Aspekte des Unternehmens

1.5

Menschliches Verhalten

1.5.1

Intentionen, Ziele und Werte: Altruismus und Fairness

1.5.2

Entscheidungen und Reflexion: Kognitive Beschränkungen, persönlichkeitsbezogene Aspekte und Heuristiken

1.5.3

Warum es so schwer ist, moralisch zu handeln

1.5.4

Konsequenzen für die Unternehmensverantwortung und Unternehmensführung

1.6

Von der Unternehmensethik zur Unternehmensverantwortung

1.6.1

Unternehmen als handlungsfähige moralische Akteure

1.6.2

Unternehmensverantwortung

1.6.2.1

Konzeptionelle Ansätze

1.6.2.2

CSR-Definitionen

1.6.2.3

Kritik an den CSR-Konzepten

1.6.3

Wirtschafts- und Unternehmensethik: Normative Grundlagen der Unternehmensverantwortung

2

Konzept der Nachhaltigkeit

2.1

Geschichtliche Hintergründe und Status der ökologischen, ökonomischen und sozialen Systeme

2.1.1

Von der »Industriellen Revolution« zur Globalisierung

2.1.2

Ressourcenausbeutung, Klimawandel, ökonomische Krisen und soziale Notstände

2.2

Grundlagen des Konzepts der nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development)

2.2.1

Ganzheitlichkeit als Generalprinzip

2.2.2

Brundtland-Report und Agenda 21

2.2.3

Drei-Säulen-Konzept: Gerechtigkeit, Management-Regeln und Sustainable Development-Strategien

2.2.3.1

Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Drei-Säulen-Konzept

2.2.3.2

Managementregeln

2.2.3.3

Nachhaltigkeitsstrategien und Nachhaltigkeitsindikatoren

2.2.3.4

Globale Nachhaltigkeitsziele der Sustainable Development Goals

2.2.3.5

Grundlegende Aspekte nachhaltiger Umweltpolitik

2.2.3.6

Die Globale Perspektive: COP, EU Green Deal und Climate Action Plan

2.3

Weiterentwicklungen des traditionellen Drei-Säulen-Konzepts

2.3.1

Kritik an dem Drei-Säulen Konzept und die IPAT-Formel

2.3.2

Das traditionelle Wirtschaftsmodell und die »parasitäre Ökonomie«

2.3.2.1

Bruttoinlandsprodukt und die Wachstumsillusion

2.3.2.2

Die »parasitäre Ökonomie«

2.3.3

Das Donut-Modell und die Gemeinwohlökonomie

3

Verantwortungsvolle Unternehmensführung

3.1

Von der Unternehmensverantwortung zur verantwortungsvollen Unternehmensführung

3.1.1

Unternehmensverantwortung und Normatives Management

3.1.1.1

Unternehmenszweck und Purpose

3.1.1.2

Leitbild, Vision, Mission, Wertesystem

3.1.1.3

Unternehmensstruktur und menschliches Verhalten

3.1.1.4

Unternehmenskultur

3.1.2

Unternehmensverantwortung und strategisches Management

3.1.2.1

Stakeholdermanagement

3.1.2.2

Risikomanagement

3.2

Dokumentation und Management der unternehmerischen Verantwortung und Verfahren ihrer Bewertung

3.2.1

Nachhaltigkeitsberichterstattung nach GRI und anderen Systematiken und Leitlinien

3.2.2

Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD)

3.2.3

CSR-Management-Gesamtschau: ISO 26001

3.2.3.1

Grundstruktur

3.2.3.2

Anwendungsbereich, Begriffe, Verständnis und Grundsätze

3.2.3.3

Kernthemen

3.2.3.4

Integration in die Organisation

3.2.4

Managementaspekt Umwelt: EMAS und ISO 14000

3.2.5

Managementaspekt Arbeit: SA 8000

3.2.6

Managementaspekt Kapital: ESG und die EU-Taxonomie-Diskussion

3.2.7

Reifegradmodell als Einordnungshilfe für die jeweilige Ausprägung gesellschaftlicher Verantwortung

3.2.8

Berichterstattungs-Ratings und Rankings

3.3

CSR und die Business Case Diskussion

3.3.1

Abgrenzung von Geschäftsmodell, Strategie und Business Case

3.3.2

Business Case for CSR

3.3.2.1

Business Case for CSR und Kosten-Nutzen-Überlegungen

3.3.2.2

Business Case, Investition, Innovation und Change-Management

4

Bausteine der Einführung eines Verantwortungsmanagements in Unternehmen

4.1

CSR, Personalführungs- und Mitarbeiterverantwortung

4.1.1

Personalführungsverantwortung

4.1.2

Mitarbeiterverantwortung

4.2

Priorisierung der Stakeholderinteressen – Wesentlichkeitsanalyse und Wesentlichkeitsmatrix

4.2.1

Wesentlichkeitsanalyse

4.2.2

Wesentlichkeitsmatrix

4.2.2.1

Theorie

4.2.2.2

Praxis

4.2.3

Wirkungsanalyse

4.2.4

Zusätzliche Potenziale der Wesentlichkeitsanalyse

4.3

CSR-Management in der Wertschöpfungskette

4.3.1

Grundlegende Aspekte – wie weit reicht die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen entlang der Lieferkette?

4.3.2

Regulierungsdynamik: Lieferkettensorgfaltspflichten in Deutschland und darüber hinaus

4.3.2.1

Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LKSG) in Deutschland

4.3.2.2

Modern Slavery Act in Großbritannien

4.3.2.3

Lieferkettengesetz-Entwurf des Europäischen Parlaments

4.3.3

Stufen des CSR-Managements in der Wertschöpfungskette

4.3.3.1

Status-quo-Analyse

4.3.3.2

Beschaffungspolitik und Richtlinien

4.3.3.3

Implementierung

4.3.3.4

Monitoring und Qualifikation

4.3.3.5

Controlling und Reporting

4.3.4

Innovationspotenziale und das Konzept der gemeinsamen Wertschöpfungskette

4.3.4.1

Die Grundidee des Konzepts der Shared Value Chain

4.3.4.2

Prinzipien und Bausteine des Shared Value Chain-Konzepts

4.4

CSR und Stakeholder-Kommunikation

4.4.1

Kommunikationsstrategien und -maßnahmen im Überblick

4.4.2

CSR- und Nachhaltigkeitsberichte als wichtiges Kommunikationsinstrument

4.4.2.1

CSR-Berichterstattung, PR und die Greenwashing-Falle

4.4.2.2

Adressaten, Themen und Leitlinien erfolgreicher Berichterstattung

4.4.2.3

Beurteilungsraster für die nicht-professionelle Nutzung von CSR-Berichten durch Kunden und die sonstige Öffentlichkeit

4.5

Abschließende Bemerkungen

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

[19]1Unternehmensethik und Unternehmensverantwortung

Nach der Bearbeitung dieses Kapitels sind Sie in die Lage,

grundlegende moralische Probleme, Konflikte und Dilemmata der Unternehmensführung zu erkennen, zu analysieren und zu bewerten (Fach- und Argumentationskompetenz),

im Rahmen eines interdisziplinären Ansatzes menschliches Entscheiden und Handeln in moralischen Problemsituationen zu analysieren und kritisch zu beurteilen (Fach- und Argumentationskompetenz),

Grundbegriffe der Unternehmens- und Wirtschaftsethik sowie den Begriff der Verantwortung zu erläutern und in Zusammenhang zueinander zu setzen (Fachkompetenz),

die Bedeutung des Unternehmers bzw. der Unternehmen sowie des marktwirtschaftlichen Koordinierungsmechanismus für die unternehmensethischen Fragestellungen zu erläutern und einer moralischen Bewertung zu unterziehen (Fach- und Argumentationskompetenz),

den Einfluss des menschlichen Verhaltens auf Entscheidungen und Handlungen in moralischen Problemsituationen zu identifizieren und zu analysieren (Fachkompetenz),

CSR-Konzepte und Definitionen zu beschreiben und einer kritischen Analyse zu unterziehen (Fach- und Argumentationskompetenz),

Kooperation, Vertrauen und Nachhaltigkeit als integrale Bestandteile eines funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Systems zu erkennen und ihre Bedeutung für die Lösung unternehmensethischer Fragestellungen zu erläutern (Fach- und Argumentationskompetenz),

die normativen Grundlagen der Unternehmensverantwortung zu erläutern und kritisch zu würdigen.

1.1Zum Glück gibt es Unternehmensethik und Interdisziplinarität!

Als integraler Bestandteil der Gesellschaft haben Unternehmen die zentrale und wichtige Aufgabe, die von der Gesellschaft gewünschten Güter und Dienstleistungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen und zur Steigerung gesellschaftli[20]cher Wohlfahrt im Zuge der Wertschöpfung bereitzustellen, wobei bei der Herstellung von Produkten stets Umweltgüter wie Rohstoffe oder Flächen in Anspruch genommen und Schadstoffe in Boden, Luft und Wasser emittiert werden.

Unternehmen tragen für ihr Handeln Verantwortung – nicht nur für ihr eigenes erfolgreiches Fortbestehen, sondern auch für die Auswirkungen ihres Handelns auf ihre Stakeholder, auf die Gesellschaft und die Umwelt. Die Berücksichtigung der Interessen anderer verlangt moralisches, prosoziales Handeln, denn nur so kann man der Verantwortung gerecht werden.

Moralisches Handeln ist allerdings nicht kostenlos, sodass das Streben nach Eigennutz einerseits und die Notwendigkeit eines moralischen, prosozialen Handelns als Bedingung für erfolgreiche Kooperationen andererseits in Konflikt zueinander geraten – das gilt für Individuen, die sich auf Anfrage für den Kauf von Bioprodukten aussprechen, aber letztlich doch günstiger hergestellte Produkte kaufen; das gilt für Regierungen, die andere Staaten wegen der Verletzung von Menschenrechten kritisieren, aber gleichzeitig mit ihnen Handel betreiben und es gilt für Unternehmen, die in ihren Unternehmensleitbildern, in ihrer Unternehmensphilosophie, Werte wie Integrität und Respekt als handlungsleitend formulieren und diese Werte dann im Zuge der Gewinnerzielung missachten.

Die Unternehmen sehen sich angesichts dieses Konflikts zwischen Gewinnerzielung und moralischem Handeln häufig mit moralischen Problemen konfrontiert; häufig spricht man davon, dass Unternehmen sich zwischen Markt und Moral, Gewinn und Gewissen entscheiden müssten.

Vielfach wird dabei ein Orientierungsverlust bei den wirtschaftlichen Akteuren festgestellt, das Fehlen eines ethischen Kompasses. Unternehmen sind im Zusammenhang mit moralischen Problemen in die Schlagzeilen gerückt: Fälle wie z. B. eine mangelnde Kontrolle entlang der Lieferkette mit der Folge von Menschenrechtsverletzungen, der Einsatz von Kinderarbeit und Nichtbeachtung von Sicherheitsvorschriften in der Produktion, falsche Qualitätsangaben über verkaufte Produkte gegenüber Kunden, Mitarbeiterobservierung durch versteckte Kameras, unerlaubte klimaschädliche Emissionen, Produktionsverlagerung in Entwicklungsländer mit geringeren Umweltstandards – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Hierdurch entsteht sowohl ein gestiegener Rechtfertigungszwang für unternehmerische Aktivitäten als auch die Forderung nach Transparenz hinsichtlich der Auswirkungen unternehmerischen Handelns.

Zudem besteht eine gewisse Erwartungshaltung der Gesellschaft bzw. einzelner Teile der Gesellschaft gegenüber Unternehmen. Kunden erwarten von einem Unternehmen mehr als preiswerte und qualitativ hochwertige und innovative Produkte. Mitarbeiter erwarten von ihren Führungskräften mehr als steigende Löhne. Die Politik erwartet die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Die Gesellschaft erwartet innovative, umweltfreundliche Produkte und Produktionsprozesse. Inwieweit Erwartungen einzelner Interessengruppen berechtigt sind, ist zu prüfen. Letztlich geht es hier für Unternehmen um die sog. »licence to operate«, die Erlaubnis der Gesellschaft für unternehmerische Aktivitäten, die sozusagen ein verantwortungsvolles, moralisches und prosoziales Verhalten voraussetzt. Insbe[21]sondere im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Klimawandels und dem Transformationsprozess der Nutzung von fossilen zu regenerativen Energien werden hohe Erwartungen an die Unternehmen gerichtet. Der Nachhaltigkeit kommt damit eine besondere Bedeutung bei den nachfolgenden Betrachtungen zu. Die Erwartungen der Gesellschaft lösen wiederum einen Rechtfertigungsdruck bei den Unternehmen aus mit der Notwendigkeit einer erhöhten Transparenz sowie einem steigenden Erklärungsbedarf.

Die hier angesprochenen moralischen Aspekte unternehmerischer Aktivitäten eröffnen den Raum für die Unternehmens- und Wirtschaftsethik und die Frage nach der Reichweite der Unternehmensverantwortung. Für praktische Lösungen müssen die zu treffenden Unternehmensentscheidungen und die daraus abzuleitenden Handlungen in einem realistischen Kontext behandelt werden. Die Lösung moralischer Probleme braucht einen moralischen Kompass für die zu verfolgenden Ziele und die dabei zu beachtenden Werte, eine fundierte Analyse der Situation und Handlungsbedingungen und die Berücksichtigung von Aspekten menschlichen Entscheidens und Handelns. Dies kann nur im Rahmen eines interdisziplinären Ansatzes erfolgen, der im Kern die Erkenntnisse der Philosophie, der Ökonomik und der Psychologie nutzt und zusammenführt.

Nur so lassen sich insbesondere vor den Herausforderungen für ein nachhaltiges Wirtschaften (► Kap. 2) allgemeine Grundsätze für ein ethisches Verhalten und konkrete Aspekte einer verantwortungsvollen Unternehmensführung formulieren, dokumentieren und bewerten (► Kap. 3). Unternehmen benötigen anwendungsbezogene und praxisrelevante Bausteine für die Umsetzung einer verantwortungsvollen Unternehmensführung, eines Verantwortungsmanagements. Diese Bausteine müssen verschiedene Aspekte abdecken (► Kap. 4): die unternehmensinternen notwendigen Strukturen und Prozesse für eine Good Corporate Governance, die die Personalführungs- und Mitarbeiterverantwortung fördern, die Priorisierung verschiedener gesellschaftlicher Interessen mittels der Wirkungs- und Wesentlichkeitsanalyse, das Management in der Wertschöpfungskette und schließlich die Stakeholderkommunikation.

1.1.1Moralische Probleme, Konflikte und Dilemmata

Menschliches Handeln ist häufig mit bestimmten Schwierigkeiten in praktischen Situationen verbunden, die dann Herausforderungen für den Akteur darstellen. Diese Herausforderungen münden im Allgemeinen in Aufgaben, die zu erledigen sind. Wenn ein Akteur sich im Handeln vor Probleme gestellt sieht, die über bloße Aufgaben hinausgehen, dann hat er bestimmte Schwierigkeiten und die damit verbundenen Herausforderungen bereits so interpretiert, dass sie für ihn ein Problem darstellen. Das heißt, Probleme sind weder Tatsachen noch Handlungssituationen, sondern das Ergebnis unserer Wahrnehmung und Bewertung der Tatsachen und Werturteile. Man kann mithin sagen, dass wir Probleme nicht einfach haben, sondern: wir haben Schwierigkeiten und Herausforderungen zu Problemen gemacht, wir haben problematisiert.

[22]Allerdings ist nicht jedes Problem zugleich auch ein moralisches Problem. Viele Probleme, vor denen wir in unserem Handeln infolge von Schwierigkeiten und Herausforderungen stehen, würden wir nicht gleich als moralische Probleme bezeichnen. Das liegt aber nicht daran, dass wir diese Handlungen nicht problematisieren können, denn im Prinzip kann jede Handlung moralisch problematisiert werden. Es bedeutet lediglich, dass sie nach vorherrschenden moralischen Normen als zulässig angesehen werden.

Was macht aber nun moralische Probleme aus? »Moralisch zu handeln« bedeutet, Handlungen auf eine bestimmte Weise zu vollziehen, nämlich so, dass sie moralisch gut bzw. moralisch einwandfrei sind – und selbstverständlich können frei entscheidende Individuen auch so handeln, dass die Handlungen als moralisch schlecht bzw. moralisch zu beanstanden beurteilt werden können.

Was genau ist mit moralischem Verhalten aber gemeint, wie wird moralisches Verhalten allgemeinverbindlich definiert? In der wissenschaftlichen Diskussion hat sich sozusagen ein Minimalkonsens ergeben: Jemand handelt unmoralisch, wenn er einem anderen absichtlich einen Schaden zufügt, wobei der Schaden in der Moralgemeinschaft als ein Unrecht angesehen wird (GERT, GERT 2020).

Was heißt es, wenn wir in der Alltagspraxis davon sprechen, ein Problem zu haben? Und was heißt es, ein moralisches Problem zu haben? Ein (moralisches) Problem lässt sich mit den folgenden fünf miteinander verbundenen Bedingungen beschreiben (KETTNER 2014), wobei die Unterscheidung eines moralischen Problems von einem allgemeinen Problem durch die Klammerzusätze in den Bedingungen 2 und 5 deutlich gemacht wird:

Akteur A meint mit Blick auf ein bestimmtes Vorgehen, dass etwas schlecht läuft.

A ist darüber betroffen, (dass A selbst bzw. Akteur B dadurch ein Schaden, der als ein Unrecht angesehen wird, zugefügt wird), weil

A der Meinung ist, dass es besser laufen sollte und könnte, und weil

A möchte, dass es auch besser läuft, und

A weiß nicht genau, was zu tun wäre, damit es besser laufen würde

(so dass A bzw. B kein Schaden, der als ein Unrecht angesehen wird, zugefügt wird).

Die erste Bedingung markiert den Ausgangspunkt eines Problems, da es die Wahrnehmung und das Urteil eines Individuums beschreibt, das in einer vorliegenden Situation, in der jemand gehandelt hat, handelt oder handeln wird, bestimmte Schwierigkeiten sieht.

Die zweite Bedingung verdeutlicht, dass Akteur A durch diese wahrgenommene Schwierigkeit betroffen ist und diese Schwierigkeit nicht nur beschreibt, sondern auch im Hinblick auf bestimmte Wertestandards beurteilt. Im Hinblick auf moralische Probleme besteht die Betroffenheit darin, dass jemandem – sowohl sich selbst als auch B – ein Schaden zugefügt wird, der als Unrecht angesehen wird.

Die dritte Bedingung besagt, dass A davon ausgeht, dass die Situation sowohl geändert werden sollte (und zwar gezielt nach moralischen Beurteilungsstandards) [23]als auch kann (d. h. es gibt eine faktische Möglichkeit des Akteurs, die Situation zu ändern).

Die vierte Bedingung besagt, dass A den Willen und die Willenskraft hat, die Situation gezielt nach den eigenen Wertstandards zu verändern.

Die fünfte Bedingung verdeutlicht, dass die Probleme wie auch die Problemlösungen von Unsicherheit geprägt sind. Im Hinblick auf moralische Probleme besteht die Unsicherheit darin, zu beurteilen, durch welche Handlung sowohl sich selbst als auch B kein Schaden zugefügt wird, der als Unrecht angesehen wird.

Eine wichtige Erkenntnis lässt sich aus dieser Problemstrukturierung ableiten: Bei moralischen Problemen kann hinsichtlich der Handlungen nicht mehr schlicht von gut und schlecht gesprochen werden, sondern von gut im Sinne von recht und schlecht im Sinne von unrecht. Wenn jemand ein Problem als moralisches Problem klassifiziert, muss er mithin zwingend auf der Grundlage einer bestimmten Moral darstellen und erläutern, wodurch jemandem, sei es A oder B, ein als Unrecht angesehener Schaden zugefügt wird. Das heißt auch, nicht jeder Schaden, der einem Individuum zugefügt wird, ist zugleich auch Unrecht und spiegelt unmoralisches Handeln eines anderen Akteurs dar. Die Moral soll in einer Gemeinschaft davor schützen, dass jemandem ein Unrecht geschieht. Moralisches Handeln ist somit prosoziales Handeln, da es zumindest keinen negativen, möglicherweise aber einen positiven Effekt auf den Nutzen anderer Individuen hat.

Eine weitere Erkenntnis aus der obigen Problemstruktur ist, dass die genannten Bedingungen des Problematisierens den Blick auf das Handeln, das Verhalten des Akteurs richten. Die erste Bedingung rückt die Wahrnehmung und die Analyse des Akteurs in den Vordergrund: Inwieweit sind Menschen in der Lage, eine Situation möglichst objektiv wahrzunehmen und inwieweit besitzen sie die nötigen Fertigkeiten und Fähigkeiten für eine fundierte Analyse? Die zweite Bedingung zielt auf die Urteilsfreiheit, die dritte auf die Handlungsfreiheit und die vierte auf die Willensfreiheit und die Willenskraft des Akteurs ab: Inwieweit kann ein Akteur eine ausreichende Urteilsfähigkeit erwerben, wie sind die persönlichen und situativen Bedingungen für das Wollen und Handeln ausgeprägt? Die fünfte Bedingung spricht die Fähigkeit des Akteurs im Risikomanagement an, das dazu dient, ihre Unsicherheit darüber, wie genau ein Unrecht verursachender Schaden vermieden werden kann, zu reduzieren. Somit müssen wir menschliches Verhalten in Fragen der Moral explizit betrachten.

Nun sind viele moralische Probleme keine moralischen Konflikte. Ein Problem kann einerseits dadurch entstehen, dass man schlicht Schwierigkeiten damit hat, moralisch zu handeln, also ein guter Mensch zu sein und entsprechend zu agieren. Andererseits kann man ein Problem damit haben, dass zwei im Widerstreit stehende Pflichten einen moralischen Konflikt verursachen: also eine Situation besteht, in der wir uns verpflichtet sehen, z. B. zwei Handlungen A und B durchzuführen, die auch beide durchführbar, aber nicht gleichzeitig realisierbar sind, da sie sich gegenseitig ausschließen. Der Akteur muss sich dann für eine Handlungsoption entscheiden. Er muss mithin in einer Konfliktsituation entscheiden, da für beide Handlungsoptionen moralische Überlegungen, scheinbar gute verpflichtende mo[24]ralische Gründe vorgebracht werden können. Ein moralischer Konflikt braucht also mindestens zwei Pflichten, die miteinander im Widerstreit liegen.

Man unterscheidet dabei moralische Konflikte, die in einer Person begründet liegen. Hier gibt es erstens persönliche Konflikte mit der Moral, die auf mangelnde Willensstärke zurückzuführen sind. Zweitens gibt es persönliche Konflikte über die Moral. Diese lassen sich zum einen durch eine vernünftige Aufklärung lösen, in der sich eine der Pflichten als Scheinpflicht entpuppt, so dass letztendlich nur eine zu erledigende Pflicht übrigbleibt; zum anderen kann der Konflikt manchmal durch eine aktive Änderung der Rahmenbedingungen der Situation entschärft werden, indem dadurch eine Pflicht aufgelöst wird. Schließlich bleiben diejenigen moralischen Konflikte, bei denen beide Pflichten bestehen bleiben. Diese Situation bezeichnet man als Dilemma, eine Situation, die prima facie unlösbar scheint. Hier geht es um die Frage, ob durch eine Reihung, quasi eine Rangliste der Pflichten, eine moralische Entscheidung herbeigeführt und damit das Dilemma aufgelöst werden kann. Die Kernfrage, ob echte Dilemmata überhaupt existieren oder ob diese stets aufgelöst werden können, ist in der Philosophie nicht abschließend geklärt. Drittens gibt es noch moralische Konflikte, die im Verhältnis zwischen zwei Personen begründet liegen, sog. soziale Konflikte über die Moral (BOSHAMMER 2008).

Veranschaulichen wir uns die verschiedenen persönlichen und die sozialen Konflikte anhand von praktischen Beispielen.

Beispiel 1: Ein Unternehmer vereinbart vertraglich mit einem Kunden, ein bestimmtes Produkt in einer Woche zu einem festgelegten Preis zu liefern. Am nächsten Tag kommt ein anderer Kunde und bietet dem Unternehmer den doppelten Preis für das Produkt.

Hier liegt lediglich scheinbar ein Konflikt vor, denn hier stehen sich keine zwei widerstreitenden Pflichten gegenüber. Sehr wohl kann man von einer Pflicht zur Einhaltung eines Vertrags, eines Versprechens sozusagen, sprechen. Man kann aber kaum eine Pflicht zur Erzielung eines höheren Preises behaupten. Der Akteur dürfte in diesem Falle auch nicht an der moralischen Pflicht zur Einhaltung des Vertrags zweifeln, selbst wenn er – wie hier gegeben – nach Vertragsabschluss einen höheren Preis erzielen kann. Er wird sich, wenn überhaupt, fragen, ob er es sich leisten will, auf die Preisdifferenz zu verzichten. Das Problem besteht hier allenfalls in der fehlenden Willensstärke, sozusagen in einem persönlichen Konflikt des Akteurs mit der Moral.

Beispiel 2: Ein Automobilhersteller verkauft ein Fahrzeug, bei dem sich nach einiger Zeit im Praxisbetrieb ein Produktionsfehler zeigt: Bei Auffahrunfällen wurde häufig der Benzintank aufgerissen, worauf das Auto Feuer fing mit Todesfolge für mehrere Tausend Insassen. Der Einbau einer Plastikpufferung zur Vermeidung der Brandgefahr und die damit verbundene Rückrufaktion lehnte das Management ab, da die erwarteten Kosten der Rückrufaktion die zu erwartenden Prozesskosten und die Kosten für den Schadensersatz überstiegen. Hier hätte das Urteil des Managements zugunsten des legitimen Sicherheitsinteresses der Kunden ausschlagen müssen. Die Einkommenserzielung, das Gewinnstreben lässt sich hier [25]angesichts der nachgewiesen zu erwartenden Schäden für Käufer und unbeteiligte Dritte nicht als legitimes Interesse darstellen. Die Lösung des Problems, hier ein persönlicher Konflikt über die Moral, besteht hier in einer vernünftigen Aufklärung über moralische Verpflichtungen.

Beispiel 3: Ein Hersteller von Wasseraufbereitungsanlagen hat einen Liefervertrag zur Erneuerung bereits bestehender Anlagen abgeschlossen. Der Kunde möchte die alten Wasseraufbereitungsanlagen aus Effizienzgründen vorzeitig ersetzen und ruft die bestellten Anlagen beim Hersteller ab. Zeitgleich gehen bei dem Hersteller Anfragen für den Kauf von Anlagen ein, die in einem von einer Naturkatastrophe heimgesuchten Gebiet dringend benötigt werden. Der Hersteller sieht sich nun in dem moralischen Konflikt, einerseits einen bestehenden Vertrag erfüllen zu wollen und andererseits die Anlagen in das Katastrophengebiet zu liefern, um ggf. Menschenleben zu retten. Das Problem, hier wiederum ein persönlicher Konflikt über die Moral, lässt sich hier durch eine Veränderung der Situation lösen. Man kann zwar nicht beide Kunden beliefern, aber man kann etwas unternehmen, damit man nicht beide beliefern soll. Die Konfliktbeseitigung besteht in der möglichen Enthebung von einer der Pflichten: Der Kunde, der seine alten Wasseraufbereitungsanlagen aus Effizienzgründen vorzeitig ersetzen will, kann den Hersteller aus der Pflicht der sofortigen Lieferung der Anlagen entlassen. Der Pflichtenkonflikt wäre somit aufgehoben.

Beispiel 4: Ein Krankenhaus bietet medizinische Dienstleistungen an. In der Corona-Pandemie waren viele Menschen mit schweren Krankheitsverläufen auf intensivmedizinische Betreuung angewiesen, aber die Zahl der Betten, Beatmungsgeräte sowie der Pflegekräfte war begrenzt. Wären die Intensivkapazitäten erschöpft müssten die Ärzte die moralische Entscheidung treffen, welcher Patient das letzte verfügbare, freie Beatmungsgerät erhält oder aber, welche bereits eingeleitete Beatmung zugunsten eines neuen Patienten gestoppt wird. Hierbei handelt es sich um ein sog. Triage-Problem. Einen derartigen praktischen Entscheidungskonflikt, für den es keine einwandfreie Lösung gibt, bezeichnet man als Dilemma. Sie sind ein spezieller Fall moralischer Konflikte. Der Arzt soll Handlung A tun, also Patient A an das Beatmungsgerät anschließen, und er soll B tun, also Patient B anschließen. Er kann aber nicht beides gleichzeitig tun – der Arzt ist mithin gezwungen, eine der bestehenden Pflichten zu verletzen. Wie soll man in diesem Fall entscheiden? Die Triage, also die Bestimmung der Handlungsreihenfolge während einer Notlage hat zum Ziel, möglichst viele Menschen in Zeiten knapper Ressourcen zu behandeln. Die klinische Erfolgsaussicht mit den Aspekten des Schweregrads der Erkrankung, dem allgemeinen Gesundheitszustand sowie möglichen, die Diagnose negativ beeinflussenden Begleiterkrankungen gilt als wichtiges Kriterium, das den Ärzten als Entscheidungshilfe an die Hand gegeben wird. Aspekte wie sozialer Status, Einkommen oder Bildungsstand werden in der Regel als Kriterien ausgeschlossen. Mithilfe dieser Kriterien kann dann eine Reihenfolge festgelegt werden, die zu einer Lösung des Dilemmas führen soll. Das Problem, hier wiederum ein persönlicher Konflikt über die Moral, lässt sich hier durch eine Rangliste bestehender Pflichten lösen.

[26]Beispiel 5: Ein Unternehmen produziert und liefert Waffen. Teile der Gesellschaft beurteilen die Herstellung und Lieferung von Waffen als unmoralisch, da hierdurch die Kriegsgefahr geschürt bzw. kriegerische Auseinandersetzungen zeitlich verlängert werden. Andere Teile der Gesellschaft wiederum halten die Produktion und Lieferung an eine angegriffene Partei für moralisch geboten, da diese hierdurch die Möglichkeit erhält, sich gegen den Aggressor zur Wehr zu setzen. Ähnlich gelagert sind Fragen zur Abtreibung, zur Sterbehilfe, zur Freigabe von Drogen, zum Organhandel etc. Hierbei handelt es sich um soziale Konflikte über die Moral, die die Frage aufwerfen, ob es eine für alle Menschen gleichermaßen gültige Moral gibt oder dass für unterschiedliche Kulturen auch unterschiedliche moralische Werte gelten. Der ethische Universalismus vertritt die Position, dass es – unabhängig von Ort und Zeit – für alle Menschen allgemeingültige moralische Normen gibt, wie z. B. die in der UN-Menschenrechtscharta festgelegten Menschenrechte. Der ethische Relativismus geht davon aus, dass Moralvorstellungen z. B. auf die Kultur zurückgeführt werden können. Demzufolge bestehen die kulturell verschiedenen Positionen gleichwertig nebeneinander und die jeweiligen Werte und Normen besitzen nur innerhalb der jeweiligen Kultur Gültigkeit. Eine insbesondere für international tätige Unternehmen bedeutsame Frage.

Nach diesem kurzen Aufriss zur Struktur und zum Inhalt möglicher moralischer Probleme, Konflikte und Dilemmata wenden wir uns im nächsten Abschnitt einem interdisziplinären Ansatz zu, der vor allem auf die Wissenschaftsbereiche der Moralphilosophie bzw. der Ethik, der Ökonomik und der Psychologie zurückgreift und die Grundlage für mögliche Lösungen bietet.

1.1.2Ein interdisziplinärer Ansatz: Trias aus Ethik, Ökonomik und Psychologie

Es hat sich gezeigt, dass sich die komplexen Probleme nur durch einen interdisziplinären Ansatz angemessen erfassen lassen. Problemlösungen müssen menschliches Verhalten, menschliche Werte und Zielsetzungen sowie die Handlungsbedingungen berücksichtigen. Hierzu ist es wichtig, zumindest die wissenschaftlichen Disziplinen der Ethik (Moralphilosophie), der Ökonomik (Wirtschaftswissenschaft) und der Psychologie gemeinsam und gleichzeitig zu Rate zu ziehen.

Aussagen wie »Der Markt wird’s regeln« suggerieren eine mechanistische Lösung von Problemen und führen zu einer Vernachlässigung der moralischen und der psychologischen Aspekte. Diese einerseits einseitige Konzentration auf »vulgärökonomische« Lösungsansätze greift offensichtlich zu kurz und kann zu Fehlschlüssen führen. Zumal in dieser Aussage der Markt selbst als ein Akteur erscheint, obgleich hier bekanntermaßen menschliche Individuen – mit diversen moralischen Werten, Einstellungen und Haltungen sowie diversen kognitiven Fähigkeiten und Emotionen – als Transaktionspartner auf der Angebots- und Nachfrageseite die eigentlichen Akteure sind und der Markt lediglich die Plattform für die Begegnung der Transaktionspartner darstellt.

[27]Die Fokussierung auf moralische Werte andererseits ist ebenfalls wenig hilfreich. Zunächst ist festzustellen, dass häufig unterschiedliche moralische Auffassungen diverser Akteure zu einem bestimmten Problem vorliegen. Dies kann dazu führen, dass einige Akteure ihre eigene Auffassung als wertvoller einschätzen als die ihrer Mitmenschen; diese Akteure werden dementsprechend wollen, dass ihre Mitmenschen die »wertvolle« Auffassung übernehmen müssten, da sie der Ansicht sind, dass diese die einzige wäre, der die Menschen überhaupt folgen sollten, dass diese – sozusagen im Sinne eines gutgemeinten Paternalismus – zum Gesetz gemacht werden sollte. In diesem Zusammenhang wird häufig von »Moralisieren« gesprochen, womit umgangssprachlich gemeint ist, in übertriebener Weise und sehr eindrücklich auf moralisch korrektes Verhalten hinzuweisen, und somit als »Moralapostel« aufzutreten. Gründe für das häufig zu beobachtende Moralisieren können darin liegen, dass verstärkt öffentlich zur Schau getragene moralische Überzeugungen für immer mehr Menschen eine identitätsstiftende Funktion darstellen, die früher vor allem von Religionen bereitgestellt wurde. Zudem könnte der zunehmend verbesserte Zugang zu Informationen dazu führen, dass Menschen sich infolge einer vermeintlich besseren Informationslage berufen fühlen, auch komplexe Probleme eher beurteilen zu können. Schließlich verkürzt die auf kurze Botschaften beschränkte, übliche Kommunikation in den Sozialen Medien die notwendige Diskussion eines differenzierten, moralischen Urteils. Dies verdeutlicht, wie die psychologischen Aspekte einer möglichen falschen Selbstwahrnehmung, einer möglichen Selbstüberschätzung sowie eventuell vorliegende Einschränkungen in den kognitiven Fähigkeiten der Menschen eine signifikante Rolle für das moralische Urteilsvermögen spielen können.

Und selbst wenn die diversen Akteure eine vorurteilsfreie und vernunftgeleitete Diskussion über moralische Regeln führen und zu einer gemeinsamen Auffassung gelangt sind, müssen derart entwickelte moralische Gebote berücksichtigen, ob der Adressat die von ihm geforderte Handlung auch umsetzen kann, d. h. ob er in der jeweils vorliegenden Situation und den vorherrschenden Handlungsbedingungen auch so handeln »kann« wie er es »soll«. Wir können also festhalten, dass eine moralische Diskussion stets auch die psychologischen und ökonomischen Aspekte berücksichtigen sollte, um Fehlschlüsse zu vermeiden. Um diese zu vermeiden, bietet sich die interdisziplinäre Perspektive an, die Ökonomik, Ethik und Psychologie umschließt. Darstellung 1.1 verdeutlicht diesen Ansatz.

Die Ökonomik ist als interdisziplinäre Wissenschaft angelegt, offen für Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen. Einige zentralen Ideen und Erkenntnisse der Psychologie und der Ethik finden sich bereits in den Werken des Urvaters der Ökonomik, Adam Smith, der von Haus aus Moralphilosoph war. In seinem ersten Werk, einem echten Bestseller »Theory of Moral Sentiments« aus dem Jahr 1759 befasst er sich eingehend mit den Motivationen der Menschen. So findet man in Smiths Werk bereits Ausführungen zu einigen Aspekte, die später in der Psychologie wissenschaftlich intensiv untersucht und ausgearbeitet wurden, so z. B. zum Phänomen der Selbstüberschätzung (Menschen überschätzen häufig ihre eigenen Fähigkeiten und schätzen die Wahrscheinlichkeit eines Gewinns höher ein als die

Dar. 1.1:Interdisziplinäre Perspektive: Trias aus Ethik, Ökonomik und Psychologie [zurück]

eines Verlusts), zur Verlustaversion (der Verlust eigenen Besitzes wiegt schwerer als der Verlust eines erwarteten Gewinns, Schmerz wird stets schlimmer empfunden als ein entsprechender Gewinn), zu intertemporalen Wahlhandlungen und zur Selbstkontrolle (Konflikt zwischen langfristigen vernünftigen Intentionen und kurzfristigen Leidenschaften, hyperbolisches Diskontieren). Die Ökonomik sieht mithin grundsätzlich von Anfang an Fragestellungen der Psychologie, die menschliches Erleben und Verhalten und deren Entwicklung im Laufe des Lebens unter Berücksichtigung der inneren und äußeren Einflussfaktoren und Bedingungen untersucht als einen notwendigen Bestandteil der Ökonomik.

In der Ethik, die als eine praktische Wissenschaft nach Kriterien für gutes und schlechtes Handeln sowie für die Bewertung der Motive und Folgen von Handlungen sucht, vertritt Smith die Auffassung, dass Menschen mit der Fähigkeit der Sympathie ausgestattet sind, die es ihnen erlaubt, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen – sozusagen mit ihnen die Plätze zu tauschen – und Mitgefühl mit jeder Art von Affekten, seien es Gefühle oder Leidenschaften zu empfinden. Mit ihrer Hilfe gelingt es den Menschen zu beurteilen, was gut und was schlecht ist.

Dabei unterscheidet Smith insbesondere in unsoziale und soziale Affekte. Zum einen betrachten wir Wut oder Vergeltungsgefühl als unsoziale Affekte in der Regel als verachtenswert; allerdings kehrt sich die Bewertung ins Gegenteil, wenn wir der Meinung sind, dass dem, der Vergeltung übt, unrechtmäßig Schaden zugeführt wurde: In einer solchen Situation sympathisieren wir mit ihm. Man könnte davon sprechen, dass unser Gerechtigkeitsgefühl hier verortet ist. Zum anderen führen Menschlichkeit und Wohltätigkeit als soziale Affekte dazu, dass wir grundsätzlich sowohl für den Wohltäter als auch für den Empfänger der Wohltat Sympathie empfinden. Wohltätigkeit erfolgt stets aus guten Motiven und stellt mithin ein Verdienst dar; allerdings darf das Fehlen, das Nicht-Gewähren von Wohltätigkeit nicht zu Vergeltungsgefühlen führen, weil diese ungerechtfertigt [29]wären. Wohltätigkeit kann man nicht verlangen. Smith kreiert in diesem Zusammenhang die Denkfigur des »unparteiischen Zuschauers« als Teil des Menschen, der seine Handlungen von einem externen Standpunkt aus betrachtet: Der Mensch setzt sich sozusagen mit sich auseinander, reflektiert seine eigenen Handlungen. Der unparteiische Zuschauer stellt mit anderen Worten das Gewissen des Handelnden dar. Nach Smith baut eine lebensfähige Gesellschaft darauf auf, dass gemeinsame Regeln der Gerechtigkeit eingehalten werden. Gesellschaften, in denen alle Menschen durch Liebe verbunden sind, aber auch die Gesellschaften, in denen nicht Liebe, aber Achtung und das Gefühl des Miteinanders zum gegenseitigen Vorteil und der Nützlichkeit füreinander vorherrscht, sind lebensfähig. Gesellschaften, in denen jeder dem anderen Schaden zufügen will, sind nicht längerfristig überlebensfähig.

Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek brachte die Anforderung an einen Ökonomen, der die Notwendigkeit eines interdisziplinär denkenden Akteurs widerspiegelt, auf den Punkt: »Der Physiker, der nur ein Physiker ist, kann immer noch ein erstklassiger Physiker und ein höchst wertvolles Mitglied der Gesellschaft sein. Aber niemand kann ein großer Ökonom sein, der nur ein Ökonom ist – und ich bin sogar versucht, hinzuzufügen, dass der Ökonom, der nur ein Ökonom ist, wahrscheinlich zu einer lästigen, wenn nicht gar positiven Gefahr wird.« (HAYEK 1956)

In der wissenschaftlichen Diskussion haben sich gerade in den letzten Jahrzehnten bilaterale disziplinübergreifende Perspektiven entwickelt. So untersucht die Wirtschaftsethik das Zusammenspiel von ethischen und ökonomischen Betrachtungen. Die Verhaltensökonomik (Behavioral Economics) und die Wirtschaftspsychologie wiederum verknüpfen die Untersuchungsmethoden der Ökonomik und der Psychologie, während die Verhaltensethik (Behavioral Ethics) die Psychologie mit der Ethik verbindet.

Die Verhaltensethik untersucht, warum selbst Menschen mit guten Absichten zuweilen schlechte ethische Entscheidungen treffen können und greift dabei auf Forschungsergebnisse aus den Bereichen wie der Verhaltenspsychologie, der Neurophilosophie, der Kognitionswissenschaft und der Evolutionsbiologie zurück. Im Unterschied zur traditionellen Philosophie untersucht sie, warum Menschen so handeln, wie sie handeln, anstatt zu fragen, wie Menschen sich verhalten sollten. Dabei zeigt sich, dass ethische Entscheidungen häufig nicht völlig rational getroffen werden, sondern vielfach gerade nicht nach sorgfältiger Analyse einer Situation, mithin eher intuitiv und emotional. Unethische Entscheidungen werden häufig unbewusst durch kognitive Beschränkungen und Heuristiken oder innere Voreingenommenheit wie z. B. Eigennutz, durch äußeren Druck wie z. B. Gruppendruck und durch situative Faktoren wie z. B. Wettbewerbsdruck beeinflusst.

Die Verhaltensökonomik (Behavioral Economics) untersucht menschliches Verhalten in wirtschaftlichen Situationen, insbesondere sucht sie im Verhalten von Menschen nach psychologischen Motiven, die im ökonomischen Kontext von Bedeutung sind. Dabei bringt die Verhaltensökonomik die sich im Zeitablauf unterschiedlich entwickelten Menschenbilder der Ökonomik und der Psychologie wieder zueinander, ganz im Sinne des Begründers der Ökonomik von Adam Smith. Im [30]Unterschied zur neoklassischen Ökonomie, die davon ausgeht, dass die meisten Menschen klar definierte Präferenzen haben und gut informierte, eigennützige und konsequente Entscheidungen auf der Grundlage dieser Präferenzen treffen, geht die Psychologie von einer begrenzten Rationalität, einer begrenzten Willenskraft und einem begrenzten Eigennutz aus.

Darüber hinaus gibt es freilich noch Disziplinen wie Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftsingenieurwesen, Politische Ökonomik, Wirtschaftssoziologe und Wirtschaftsgeographie, die zum einen auf die Notwendigkeit der Interdisziplinarität hinweisen und zum anderen die Anschlussfähigkeit der Ökonomik verdeutlichen.

Wir können zusammenfassend festhalten, dass die Praxisprobleme nur mit einem interdisziplinären Ansatz zu lösen sind. Die Ökonomik ist als Wissenschaft von ihrer Grundkonzeption her gesehen seit Anbeginn interdisziplinär angelegt. Für die wirtschafts- und unternehmensethischen Fragen und für Aspekte der Nachhaltigkeit sind die Erkenntnisse der Ethik und der Psychologie von entscheidender Bedeutung. Die Frage »wie sollen Unternehmen handeln?«, also die Frage nach der Verantwortung der Unternehmen, lässt sich nur im engen Zusammenspiel von Ökonomik, Ethik und Psychologie bzw. Wirtschaftsethik, Verhaltensökonomik und Verhaltensethik beantworten.

1.2Entscheiden und Handeln in moralischen Problemsituationen

Unternehmen müssen in einem sich rasch verändernden, globalen Umfeld Entscheidungen treffen und handeln. Wie wir gesehen haben, stehen die Unternehmen häufig vor moralischen Problemen, Konflikten und Dilemmata. Vielfach suchen sie dabei nach Orientierung für moralisches Handeln – aber nicht nur Unternehmen, auch Arbeitnehmer, Konsumenten und schließlich Politik und Gesellschaft sehen sich diesen Herausforderungen gegenüber. Um die sich in diesem Zusammenhang zumeist komplexen Fragestellungen zu behandeln, liegt ein interdisziplinärer Ansatz nahe.

Die Ökonomik bietet mit der Entscheidungstheorie ein praxisorientiertes Instrument für die Identifikation und Analyse von Problemen, die Entwicklung von Handlungsoptionen und ihre Bewertung sowie die Auswahl und die Umsetzung von Entscheidungen an. In diesem Kapitel werden wir in drei Schritten vorangehen:

Zunächst werfen wir einen Blick auf die Grundtatbestände des menschlichen und wirtschaftlichen Handelns, die die Rahmenbedingungen moralischen Entscheidens und Handelns markieren,

bevor wir im nächsten Schritt die Struktur des wirtschaftlichen Handelns mithilfe eines einfachen, in der Ökonomik häufig angewendeten Transaktionsmodells beleuchten,

[31]schließlich werden wir den Prozess des Entscheidens und Handelns in den Blick nehmen unter besonderer Berücksichtigung der verhaltensethischen und verhaltensökonomischen Aspekte.

1.2.1Rahmenbedingungen menschlichen und wirtschaftlichen Handelns

Die Rahmenbedingungen für unternehmerische Entscheidungen und die Unternehmensführung insgesamt sind zunehmend schwieriger geworden. Häufig wird davon gesprochen, dass sich die Unternehmen in einer VUCA-Welt befinden – ein Begriff, der aus den 1990er-Jahren stammt und vom US-Militär zur Beschreibung der neuen geostrategischen Lage nach dem Ende des Kalten Krieges diente und dann später in die strategische Unternehmensführung übernommen wurde. Dabei ist VUCA eine Abkürzung, die sich auf die Merkmale »volatility« (Volatilität), »uncertainty« (Unsicherheit), »complexity« (Komplexität) und »ambiguity« (Mehrdeutigkeit) des derzeitigen Unternehmensumfeldes bezieht.

Die Globalisierung hat die Komplexität der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen und Prozesse erhöht. Die Auswirkungen des Klimawandels üben im Transformationsprozess einen nicht unerheblichen Zeitdruck auf gesellschaftliche und unternehmerische Maßnahmen aus; dabei sind die zugrundeliegenden Prozesse vielfach volatil und nichtlinear, was in der Regel die Vorhersage erschwert. Technologische Disruptionen wie die zunehmende Digitalisierung und künstliche Intelligenz sowie die zunehmende Elektrifizierung im Verkehrs- und Gebäudesektor erfordern einen intensiven Lernprozess und lassen bisheriges Wissen zum Teil obsolet werden. Eine stärkere Ausdifferenzierung politischer und gesellschaftlicher Positionen, eine zunehmende Individualisierung und unterschiedliche internationale Wertesysteme erhöhen die Diversität. Zudem sorgt ein sich rasch veränderndes Unternehmensumfeld für ein erhöhtes Maß an Unsicherheit, die angesichts eines beschränkten Wissens auch die Mehrdeutigkeit bedingt.

Dar. 1.2:Rahmenbedingungen und Grundtatbestände menschlichen und wirtschaftlichen Handelns

[32]Für die weitere, auf die Behandlung moralischer Probleme zugeschnittene Diskussion untersuchen wir im Folgenden Merkmale bzw. Grundtatbestände wirtschaftlichen Handelns, die in Darstellung 1.2 aufgeführt sind und die VUCA-Merkmale abdecken. Wir werden zunächst a) die Grundtatbestände kurz beschreiben, danach b) ihre Relevanz für moralische Entscheidungen und Handlungen skizzieren, um dann schließlich c) mögliche Instrumente und Konzepte beispielhaft aufzuzeigen, mit der diese Faktoren in der Ökonomik und in der Unternehmensführung behandelt werden.

Knappheit

Knappheit beschreibt bekanntermaßen die Tatsache, dass die Menge der verfügbaren bzw. potentiell produzierbaren Güter, also der Waren und Dienstleistungen, und der für die Produktion dieser Güter benötigten Ressourcen geringer ist als die zur vollständigen Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse notwendige Menge an Gütern und Ressourcen. Somit ist die Knappheit der Grund des wirtschaftenden Handelns von Menschen. Preise, die sich beim Tausch von Ressourcen und Gütern auf Märkten ergeben, sind Ausdruck dieser Knappheitsrelation.

Knappheit impliziert ethische Fragestellung der Gerechtigkeit. Die Begrenztheit von Ressourcen und Gütern weist zum einen deutlich auf die Bedeutung der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit hin, wenn man »über den Tag hinaus« denkt. Zum anderen verdeutlicht die Verteilung knapper Güter/Ressourcen auf verschiedene Verwendungszwecke sowie verschiedene Menschen oder Gruppen von Menschen das Verteilungsproblem und die Notwendigkeit eines Verteilungsmechanismus, wie ihn z. B. der marktwirtschaftliche Koordinierungsmechanismus darstellt. Hierbei geht es offensichtlich um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit: etwa um intertemporale Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Generationen bei der ökologischen Nachhaltigkeit und um soziale Gerechtigkeit bei der Güter- und Ressourcenverteilung innerhalb der Gesellschaft (► Kap. 2.2.3.1).

Knappheit ist auch ein Problem in der Ethik, denn Moral ist ein knappes Gut. Moralisches, also prosoziales Handeln, das die Interessen anderer mitberücksichtigt, ist nicht kostenlos, da es zulasten des Eigennutzes geht. Deswegen gilt es ja in der Verhaltensethik zu untersuchen, warum es manchmal so schwer ist, ein guter Mensch zu sein.

Schließlich sind auch Kapazitäten für kognitive Prozesse des Menschen nicht im Überfluss vorhanden. Menschen nutzen häufig zwei unterschiedliche Systeme für Entscheidungen: das System 1 lässt uns intuitiv, ohne längeres Nachdenken entscheiden, während System 2 infolge der längeren Zeit zum Überlegen zu rational analysierten, fundierten Entscheidungen führt (KAHNEMAN 2012).

Die Ökonomik verfügt zur Behandlung der mit der Knappheit verbundenen Fragen über die notwendigen Konzepte: so z. B. über das Opportunitätskostenprinzip und das Konzept der einzelwirtschaftlichen und sozialen (um gesell[33]schaftliche Wirkungen zu untersuchen) Grenzkosten und Grenznutzen, über den Preismechanismus sowie über Konzepte zur Bepreisung öffentlicher Güter wie z. B. für den Klimaschutz.

Vielfalt und Diversität

Menschen sind vielfältig. Diversität bzw. Vielfalt beschreibt die Tatsache bestehender Unterschiede in der Ausprägung individueller (genetische und soziale Disposition) Merkmale von Menschen, wie z. B. Geschlecht und sexuelle Orientierung, körperliche und geistige Fähigkeiten, Abstammung, Rasse, Sprache, Nationalität, religiöse oder politische Anschauungen, soziale Herkunft. Dazu kommen sozialisationsbedingte und kulturelle Unterschiede z. B. im zwischenmenschlichen Umgang und Arbeitsstil und in Wahrnehmungsmustern. Auf gesellschaftlicher Ebene spricht man von kultureller Vielfalt; eine bestimmte kollektive Einheit, eine Organisation oder ein Unternehmen ist durch spezifische Merkmale gekennzeichnet und unterscheidet sich dadurch von anderen Einheiten.

Unterschiedliche individuelle Wertvorstellungen erfordern Abstimmungsprozesse, wenn man grundsätzlich gesellschaftlich allgemein anerkannte moralische Verhaltensregeln vereinbaren will. Dies wird insbesondere in einer globalisierten Welt deutlich, in der unterschiedliche Auffassungen zu individuellen Freiheitsrechten, zu materiellen Menschenrechten, zur unternehmerischen Entscheidungsfreiheit, zur Gleichstellung von Frauen im Bildungs- und Arbeitsprozess oder auch zu demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien etc. vorherrschen. Zudem verzeichnen wir in der Ethik unterschiedliche individuelle Wertvorstellungen und unterschiedliche ethische Bewertungsansätze zur Beurteilung von Handlungen; auch diese Diversität müssen wir bei der Lösung von moralischen Problemen berücksichtigen.

Vielfalt bzw. Diversität ist in der Ökonomik seit jeher ein wichtiger Grundtatbestand, denn die forschungsleitende Idee der Ökonomik basiert auf dem Gedanken des methodologischen Individualismus: Individuen stellen die Grundelemente der Gesellschaft, der sozialen Welt dar; soziale Prozesse und das Verhalten von Institutionen sind demzufolge stets unter Rückgriff auf Aussagen zum individuellen Verhalten und Handeln zu erklären; selbstverständlich muss dabei der gesellschaftlichen und institutionellen Bedingtheit des individuellen Verhaltens Rechnung getragen werden. Konzepte wie z. B. die Arbeitsteilung und die Spezialisierung, der komparativen Vorteile, der Produzenten- und Konsumentenrente, ja selbst des Tauschs wären ohne Vielfalt, ohne unterschiedliche individuelle Kompetenzen, Charaktere, Zielsetzungen und Wertvorstellungen nicht denkbar. In der Unternehmensführung spiegelt sich die Vielfalt z. B. im Stakeholdermanagement wider, das gerade auf die Kommunikation zur Identifikation der verschiedenen Interessen und Werthaltungen sowie zum Dialog zur Vereinbarung gegenseitig anerkannter Vereinbarungen abzielt (► Kap. 3.1.2.1). Ferner nutzen Unternehmen im Rahmen des Diversity Managements die Tatsache der Diversität zur Steigerung der Wertschöpfung im Unternehmen.

[34]Unsicherheit

Entscheiden und Handeln erfolgt stets unter Unsicherheit. Dabei beschreibt Unsicherheit einen von Entscheidern bewusst wahrgenommenen Mangel an Sicherheit, der durch das gänzliche oder teilweise Fehlen von Informationen verursacht ist: Informationen über zukünftige Umweltzustände, über die tatsächlichen Auswirkungen durchgeführter Handlungen sowie über das Verhalten anderer Menschen, die durch die Handlungen betroffen sind.

Aus moralischer Sicht wirft die Unsicherheit über Auswirkungen von Handlungen das Problem der Verantwortung der jetzt Handelnden für das Wohlergehen zukünftiger Generationen auf. Wie z. B. wirkt der Einsatz der Atomenergie in der Energieversorgung auf zukünftige Umweltzustände (► Kap. 2.2.3.1)? Des Weiteren stellt sich das Problem der wechselseitigen Unsicherheit über das Verhalten und die Eigenschaften von Transaktionspartnern. Diese sog. Informationsasymmetrie kann zu moralischer Ausbeutung eines Partners oder gar beider Partner führen, wenn sich die einzelnen Akteure opportunistisch verhalten und entsprechend handeln. Um diese als unmoralisch angesehene Ausbeutung zu verhindern, besteht grundsätzlich ein Anreiz auf beiden Seiten, mögliche negative Folgen dieser Verhaltensspielräume durch geeignete Maßnahmen der Selbstbindung und der Anreiz- und Risikoallokation zu begrenzen, z. B. durch Verträge, Regeln, Standards oder Vertrauen.

Die Ökonomik hält für die Behandlung ein ganzes Arsenal von Konzepten und Instrumenten bereit. Die präskriptive (normative, vorschreibende) als auch die deskriptive (beschreibende) Entscheidungstheorie liefert einen umfassenden theoretischen Rahmen für die Entscheidungen unter Unsicherheit (LAUX 2018). Die Unternehmensführung arbeitet mit Prognosen, Planungen und Strategien, die insbesondere im Bereich der strategischen Unternehmensführung, des strategischen Managements angesiedelt sind. Das Risikomanagement befasst sich explizit mit den zu erwartenden unsicheren Entwicklungen (► Kap. 3.1.2.2); Szenario-Analysen zu wahrscheinlichen, zukünftigen Umweltzuständen werden erarbeitet, zumeist mit externen Beratern, die eine externe Perspektive einbringen. Neuerlich wird die sog. Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit eines Unternehmens in Krisensituationen, diskutiert, nämlich ihre Fähigkeit, Risiken und Chancen frühzeitig zu erkennen, um langfristig überlebensfähig zu sein. In der Ethik hat sich insbesondere die sog. Verantwortungsethik bzw. Zukunftsethik mit diesen Fragen beschäftigt.

Wissen und Lernen

Wissen kann man als Bestand von wissenschaftlich überprüften Fakten, Theorien und Regeln bezeichnen, der für Individuen und Gruppen verfügbarer ist, so dass man von deren Gültigkeit ausgehen kann. Lernen als Prozess bedeutet der Erwerb von intellektuellen wie körperlichen, charakterlichen wie sozialen Kompetenzen (Fertigkeiten und Fähigkeiten). Die Lernfähigkeit und der Lernwille [35]sind Grundvoraussetzungen dafür, dass sich der Mensch den Rahmenbedingungen anpassen kann, um seine Ziele zu verfolgen.

Aus psychologischer und ethischer Sicht ist dabei für unsere Überlegungen wichtig, dass Lernen mehr als das reine Abspeichern von Informationen darstellt, sondern die Wahrnehmung und Bewertung des Umfelds und der Ereignisse sowie die Verknüpfung mit bereits gemachten Erfahrungen beinhaltet. Die Psychologie zeigt uns die kognitiven Verzerrungen und Beschränkungen unserer Wahrnehmung auf, die eine objektive Bewertung von Ereignissen erschweren können. Gerade die im Entscheidungsprozess durchzuführende Analyse sowie die Ableitung von Handlungsoptionen und ihre Bewertung sind auf das Lernen und Wissen der Menschen angewiesen.

In der Unternehmensführung ist das Wissensmanagement ein geeignetes Instrument, um Daten, Zahlen und Fakten personenunabhängig, besser gesagt personenübergreifend, zu erfassen und zu analysieren. Die Berichtspflichten eines Unternehmens sowie das strategische Controlling mit der Nutzung von Big Data und künstlicher Intelligenz sind Steuerungsinstrumente, um das Wissen über den Lernprozess zu erweitern. Das Konzept der lernenden Organisation wird zunehmend angewendet.

Zeit und Prozesshaftigkeit

Zeit lässt sich aus der Perspektive der Philosophie als die vom Menschen bewusst wahrgenommene Form von Veränderungen oder Sequenz von Ereignissen, also als dynamischer Prozess, beschreiben. Was bedeutet das für unsere Überlegungen? Zeit impliziert, dass Veränderungen und dynamische Prozesse explizit berücksichtigt werden müssen, dass also vergangene und zukünftige Entwicklungen sowie die Pfadabhängigkeit von Entwicklungen in Entscheidungen einzubeziehen sind.

Die Ethik nimmt den Faktor Zeit insbesondere bei der Behandlung intertemporaler bzw. intergenerationaler Probleme explizit in den Blick, so z. B. bei der Frage der Nachhaltigkeit unseres derzeitigen Lebensstils und seine ökologischen Auswirkungen auf die Entwicklung der natürlichen Umwelt oder der Frage nach den sozialen Auswirkungen signifikanter globaler Einkommens- und Vermögensunterschiede auf die gesellschaftliche Entwicklung und Stabilität. Aus verhaltensethischer Sicht stellen wir zuweilen Probleme der Menschen fest, langfristige Ziele zu verfolgen. Wir sprechen von der Myopie, der Kurzfristigkeit im Handeln der Menschen, die dazu führt, dass langfristige Probleme unterbelichtet bleiben.

Zeit wird in der Ökonomie explizit in der Unterscheidung der kurzen, mittleren und langen Frist berücksichtigt – die »klassische« Ökonomie ist grundsätzlich langfristig prozessorientiert. Begriffe wie Turnaround-Management (Prozess, der der Erneuerung des Unternehmens dient) und Change Management (als laufender Anpassungsprozess von Unternehmensstrategien und -strukturen an veränderte Rahmenbedingungen) zeigen die Prozessorientierung der Unternehmensführung auf.

[36]Komplexität

Grundlage für die Komplexität ist die Gesamtheit aller voneinander abhängigen Elemente, die in einem ganzheitlichen, vielfältigen und vernetzten Beziehungsgefüge bzw. System stehen. Hier kann man das Wirtschaftssystem mit den Elementen der Konsumenten, Arbeitnehmer, Unternehmen und staatlichen Einrichtungen als Beispiel heranziehen. Komplexität ist die Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten der einzelnen Elemente sowie die Veränderlichkeit der Wirkungsverläufe. Der Grad der Komplexität kann durch Anzahl und Art der Elemente und deren Beziehungen zueinander bestimmt werden. Komplexe Prozesse sind durch Rückkopplungseffekte sowie durch Eigendynamik gekennzeichnet; oft sind Prozesse irreversibel, Handlungen können nicht rückgängig gemacht werden. Die globale Finanzkrise 2007/08 als Teil der Weltwirtschaftskrise begann 2007 als Folge eines spekulativ aufgeblähten Immobilienmarktes in den USA und mündete dann infolge der Eigendynamik der Prozesse im finanzwirtschaftlichen Sektor und der starken Rückkoppelungseffekte mit dem realwirtschaftlichen Sektor in die weltweite Wirtschaftskrise 2009.

Ein entscheidendes Problem komplexer Situationen für die handelnden Akteure sind die schwer durchschaubaren, wechselseitigen Abhängigkeiten der Elemente sowie die ablaufenden Prozesse in einem weitgehend vernetzten System. Der Akteur hat keine Möglichkeit, Kausalitäten intuitiv zu erfassen. Auch analytische Methoden der Modellierung von Strukturen und belastbare Prognosen mittels statistischer Methoden kommen sehr schnell an ihre Grenzen. Daraus folgt, dass die Akteure die Konsequenzen ihrer Handlungen sowohl für den direkt von der Handlung Betroffenen als auch für das Gesamtsystem aufgrund der Komplexität nicht mehr verlässlich einschätzen können. Hinsichtlich der Verantwortung des Akteurs ist mithin die Frage der Begrenzung seiner Verantwortung einerseits und seiner Systemverantwortung andererseits zu stellen.

Die Ökonomik ist grundsätzlich gerüstet für die Behandlung komplexer Situationen. Die Mikroökonomik baut auf vereinfachenden Verhaltensannahmen für die einzelnen Akteure wie Konsumenten, Arbeitnehmer und Unternehmer auf. Die Preis- und Wettbewerbstheorie bringen dann die Akteure über Rückkopplungseffekte im Rahmen des Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage am Markt zusammen. Die Makroökonomie aggregiert die einzelnen Akteure zu Sektoren wie dem Sektor der privaten Haushalte, dem Unternehmenssektor, dem staatlichen Sektor und dem Sektor Ausland und untersucht auf dieser Ebene wiederum das Marktgeschehen über die Rückkopplungseffekte. Die Außenwirtschaft aggregiert die nationalen Sektoren zu Ländern und führt die Analyse fort. Alle Ebenen haben wiederum Auswirkungen auf die anderen Ebenen. In diesem stufenweisen Vorgehen kann man den Ansatz der Komplexitätsreduktion erkennen – ein Vorgehen, um die Komplexität in den Griff zu bekommen.

Zusammenfassend können wir festhalten, dass die hier lediglich holzschnittartig dargestellten Grundtatbestände des menschlichen und wirtschaftlichen Handelns [37]eine Herausforderung für unternehmerische Entscheidungen bedeuten. Allerdings bietet die Trias aus Ökonomik, Ethik und Psychologie einen Instrumentenkasten an, der zumindest Hilfestellungen bei der Problemlösung anbietet.

Wir werden uns im nächsten Schritt anhand eines einfachen ökonomischen Transaktionsmodells die Beziehungsstrukturen zwischen wirtschaftlichen Akteuren ansehen. Das Transaktionsmodell bietet die folgenden Vorteile:

es ermöglicht durch seine Einbettung in die durch die Grundtatbestände gegebenen Rahmenbedingungen menschlichen Entscheidens und Handelns sowohl eine allgemeine theoretische Betrachtung von Kooperationsbeziehungen als auch eine Betrachtung von konkreten Einzelfällen,

mit seiner Hilfe lassen sich sowohl bilaterale Beziehungen als auch negative externe Effekte einer Transaktion auf Dritte untersuchen,

es ermöglicht – besser erfordert – durch seine Fokussierung auf die Akteure der Transaktion die Einbeziehung zum einen der unterschiedlichen Werte, Ziele und Motivationen (Ethik) und zum anderen die unterschiedlichen Eigenschaften und Verhalten (Psychologie) der beteiligten Akteure bzw. Gruppen von Akteuren und verdeutlicht somit das zeitliche und inhaltliche Neben- und Miteinander von ökonomischen, ethischen und psychologischen Aspekten in einer Transaktion,

es ermöglicht die explizite Untersuchung von für moralische Problemstellungen bedeutsamen Informationsasymmetrien, also unterschiedlichen Informationsständen der verschiedenen Akteure,

es bietet einen Anknüpfungspunkt für die Behandlung von moralischen Dilemmasituationen und die damit verbundene Diskussion der individuellen und kollektiven Rationalität,

es bietet einen Rahmen für die Strukturierung des Beziehungsgeflechts der (Unternehmens-)Verantwortung.

1.2.2Der Mensch als moralischer Akteur

Der Mensch muss bei der Lösung moralischer Probleme, Konflikte und Dilemmata in der Praxis stets die gerade beschriebenen, in der Regel gleichzeitigen und sich zum Teil gegenseitig beeinflussenden Herausforderungen durch die Grundtatbestände menschlichen Entscheidens und Handelns berücksichtigen. Die Komplexität der Situation erschwert die Suche nach sowie die Umsetzung von Lösungen. Menschen suchen nach einer vereinfachenden Darstellung der Problemsituation, indem sie sich auf das Wesentliche konzentrieren, da bekanntlich die menschliche Auffassungsgabe beschränkt ist. Dies gilt sowohl für die Erarbeitung praktischer Lösungen als auch für die theoretische Befassung mit der Problematik. Die Wissenschaft arbeitet mit Theorien, die – grob formuliert – ein Bild bzw. ein Modell der Realität entwerfen, das sich zumeist auf einen spezifischen Ausschnitt der Realität beschränkt. Man spricht in diesem Zusammenhang von Komplexitätsreduktion.

[38]In der Ökonomik wird z. B. das Modell des Homo oeconomicus verwendet, um menschliches Verhalten in wirtschaftlichen Kontexten zu erklären. Die Modellierungg des Homo oeconomicus, eines wirtschaftenden Menschen mit dem handlungsbestimmenden unbegrenzten Eigennutzstreben, der Fähigkeit zu uneingeschränkt rationalem Verhalten (uneingeschränkte Rationalität) und uneingeschränkter Willenskraft bei vollständiger Information über alle Handlungsoptionen und deren Handlungsfolgen ist ebenfalls ein Instrument der Komplexitätsreduktion.

Im Zusammenhang mit dem Streben nach Eigennutz wird häufig der Begriff der Nutzenmaximierung verwendet – auch hier handelt es sich um eine Komplexitätsreduktion: Die Ökonomik hat im 19. Jahrhundert das in den seinerzeit sehr erfolgreichen Naturwissenschaften bestimmende mathematische Prinzip der Optimierung übernommen, um Entscheidungsprobleme stringent zu formulieren und einer eleganten Lösung zuzuführen. Für die ökonomische Befassung mit den Folgen des Eigennutzes ist diese Nutzenmaximierung freilich nicht erforderlich, es reicht das Postulat: Mehr ist besser als weniger (ALCHIAN, ALLEN 1983). Die Eigennutzorientierung formuliert letztlich das Ziel des Handelns.

Die Rationalität ist ein Grundprinzip vernünftigen menschlichen Handelns, das die konsequente Verfolgung der eigenen Ziele unterstellt, genauer gesagt, das ein bestimmtes Ziel (in unserem Falle das Streben nach Eigennutz) mit dem geringstmöglichen Mitteleinsatz bzw. mit einem vorgegebenen Mittelbestand ein möglichst großes Ausmaß der Zielerfüllung verfolgt. Das Rationalprinzip stellt mithin eine formale Beziehung zwischen den Zielen menschlichen Handelns und den zur Erreichung der Ziele notwendigen Mitteln dar. Wenn wir nun unterstellen, dass uneingeschränkte Rationalität und uneingeschränkte Willenskraft bei vollkommener Information gegeben sind, dann kennen Menschen stets alle zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen und deren Konsequenzen (vollständige Information), sie sind stets in der Lage, die einzelnen Handlungsoptionen fehlerfrei zu analysieren, zu bewerten und die für sie optimale Lösung zu finden. Ferner sind sie stets in der Lage, diese optimale Handlungsoption auch durchzuführen, da ja uneingeschränkte Willenskraft vorliegt.

Wenn wir diese Annahmen vor dem Hintergrund der oben skizzierten Grundtatbestände des menschlichen Entscheidens und Handelns betrachten, dann wird deutlich, dass Unsicherheit, Komplexität, Wissen und Lernen sowie Zeit und Prozesshaftigkeit als Einflussfaktoren entfallen. Denn vollständige Informationen bedeuten sichere Kenntnisse der situativen Umstände, so dass auch vollständiges Wissen und rasches Lernen gewährleistet ist. Vollständige Rationalität wiederum bedeutet, dass der Entscheidungsträger die komplexen Zusammenhänge überblickt und auch die Erkennung zukünftiger Entwicklungsprozesse ihm keine Schwierigkeiten bereitet. So verbleiben lediglich noch die Grundtatbestände der Knappheit und der Diversität.

Diese Fokussierung ist eine wissenschaftlich intendierte Vereinfachung, um das Augenmerk auf die Überwindung allgegenwärtiger Knappheit in einer Welt voller Diversität zu untersuchen. Kein Ökonom ist der Ansicht, dass es sich hier um die [39]Beschreibung eines leibhaftigen Menschen handelt, noch fordert ein Ökonom, dass Menschen sich so verhalten sollen. Wirtschaftsethisch kann dieses Modell aber durchaus dabei helfen, Interaktionsprobleme besser zu verstehen