Unterricht bei komplexer Behinderung -  - E-Book

Unterricht bei komplexer Behinderung E-Book

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Beschreibung

Lernende mit komplexer Behinderung zeigen Handlungs-, Kommunikations- und Selbstregulationsweisen, die stark von den alterstypischen Erwartungen abweichen. Den Alltag und den Unterricht mit ihnen "altersgemäß und entwicklungsgerecht" (W. Lamers) zu gestalten, wird dadurch zu einer anspruchsvollen Aufgabe. Denn die Lehrkräfte müssen zum einen die altersuntypischen Aneignungs-, Interaktions- und Regulationsmöglichkeiten der Lernenden berücksichtigen und sollen sich zum andern an den üblichen kulturellen (Schulfach-)Inhalten orientieren. Das Buch bietet hierzu grundlegende Hinweise für Pädagogik, Didaktik, Diagnostik und Kommunikation sowie Praxis-Anregungen zu den Fächern Deutsch, Mathematik, Kunst und Musik.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort der Reihenherausgeber

Zur Praxisreihe

Zu diesem Band

Vorwort

1 Komplexe Behinderung: Einführung und Grundlagen

1.1 Zum Begriff »komplexe Behinderung«

1.2 Komplexe Behinderung als Relation: grundlegende Merkmale

1.3 Aspekte der Entwicklung von Lernenden mit komplexer Behinderung

1.3.1 Lernformen

1.3.2 Emotionales Erleben und emotionale Bedürfnisse

1.3.3 Kommunikation

1.3.4 Fazit

1.4 Schulbesuch von Lernenden mit komplexer Behinderung

Literatur

2 Die Entwicklung von Pädagogik und Unterricht bei komplexer Behinderung: von Förderkonzepten zu Bildungskonzeptionen

2.1 Aspekte der Bildungsidee in früh entstandenen Förderkonzepten

2.1.1 Entwicklungsbezogene Förderung und Integriertes Lernen

2.1.2 Basale Stimulation

2.1.3 Sensumotorische Kooperation

2.1.4 Fazit: Leitintentionen des Lernens

2.2 Expliziter Diskurs um den Bildungsbegriff im Kontext komplexer Behinderung

2.2.1 Phänomenologische Schwerstbehindertenpädagogik

2.2.2 Allseitige Bildung in allen Lebensformen

2.2.3 Bildung als kulturelle Teilhabe

2.2.4 Zugänge zu allen Bildungsinhalten

2.2.5 Fazit: Charakteristika der Bildungsidee in der Pädagogik bei komplexer Behinderung

Literatur

3 Bildungssituationen für Lernende mit komplexer Behinderung gestalten

3.1 Allgemeine und kategoriale Bildung

3.2 Die Bildungsrealität von Lernenden mit komplexer Behinderung

3.3 Grundgedanken zur Gestaltung von Bildungssituationen für Lernende mit komplexer Behinderung

3.3.1 Grundgedanken zu den Inhalten

3.3.2 Grundgedanken zur (Eigen-)‌Aktivität

3.3.3 Grundgedanken zur Interaktion

3.4 Planung von Bildungssituationen durch Elementarisierung

Literatur

4 Diagnostik, Beratung und Bildungsplanung bei komplexer Behinderung

4.1 Vorweg – heilpädagogische Haltung

4.2 Fachliche Einordnung

4.2.1 Personenkreis

4.2.2 Pädagogische und schulpraktische Herausforderungen

4.3 Praktische Hinweise

4.4 Methoden

4.4.1 Gespräche

4.4.2 Verhaltensbeobachtung und -beschreibung

4.4.3 Strukturierte Beobachtungs- und Entwicklungsbögen

4.4.4 Standardisierte psychometrische Verfahren

4.5 Verfahren

4.5.1 Entwicklungsdiagnostik

4.5.2 Adaptive Kompetenzen

4.5.3 Kommunikation und Sprache

4.5.4 Verhalten und Interaktion

4.5.5 Spezifische Aspekte

4.6 Bildungsplanung

Literatur

5 Kommunikation mit Menschen mit komplexer Behinderung

5.1 Begriffliche Annäherungen

5.1.1 Historischer Blick

5.1.2 Pädagogischer Blick

5.1.3 Internationaler und wissenschaftlicher Blick

5.1.4 Systemischer Blick

5.2 Kommunikation bei schwerer und mehrfacher Behinderung

5.3 Unterstützte Kommunikation (UK)

5.3.1 UK-Nutzerinnen und -Nutzer

5.3.2 Einschätzungen expressiver Fähigkeiten – das Fähigkeitskontinuum

5.3.3 Das UK-Kontinuum

5.4 Unterstützung von Menschen mit komplexer Behinderung mit UK

5.4.1 Kontextbezüge und multimodale Förderung

5.4.2 Umsetzungsmöglichkeiten bei Menschen mit komplexer Behinderung

5.5 Die Rolle der Bezugspersonen

5.6 Fazit

Literatur

6 Vitale Bedürfnisse

6.1 Grundbedürfnisse

6.1.1 Grundbedürfnisse und Lernen

6.1.2 Schülerinnen und Schüler mit komplexer Behinderung

6.2 Sich bewegen

6.2.1 Bewegungsräume – Bewegungsmöglichkeiten

6.2.2 Bewegung – Wahrnehmung – Lernen

6.2.3 Bewegung – unterrichtliche Angebote

6.3 Sich waschen und kleiden

6.3.1 Möglichkeiten der Körperpflege

6.3.2 Waschen und Kleiden – unterrichtliche Angebote

6.4 Essen – Trinken – Schlucken

6.4.1 Essen – Trinken – Schlucken. Komplexe Behinderung

6.4.2 Essen – Trinken – Schlucken. Unterrichtliche Angebote

6.5 Schlussbetrachtung

Literatur

7 Basaler Literaturunterricht

7.1 Elementare Konzepte aus dem Bildungsbereich Deutsch

7.1.1 Leichte Sprache

7.1.2 Der erweiterte Lesebegriff

7.1.3 Lesen mit Schülerinnen und Schülern mit komplexer Behinderung

7.2 Basaler Literaturunterricht

7.2.1 Elementarisierung

7.2.2 Sinnliche Wahrnehmung

7.2.3 Unterstützte Kommunikation (UK)

7.2.4 Aktives Lernen

7.3 Exemplarische Unterrichtseinheit: das Märchen »Jorinde und Joringel«

7.3.1 Aufbau und Ziele der Unterrichtsreihe

7.3.2 Didaktisch-methodische Kommentierung der Unterrichtssequenz: »Der Traum – die rote Blume weist Joringel den Weg«

7.4 Schlussbetrachtung

Literatur

8 Mathematik und komplexe Behinderung

8.1 Inhalte mathematischer Bildung

8.2 Mathematische Bildung im Kontext komplexer Behinderung

8.3 Mathematische Bildung basal-perzeptiv

8.4 Mathematische Bildung elementarisiert

8.4.1 Zählen

8.4.2 Zeit

8.5 Ausblick und disziplinäre Aufgaben

Literatur

9 Ästhetische Bildung im Kontext komplexer Behinderung

9.1 Curriculare Ausrichtung

9.2 Bildungstheoretischer Zugang

9.3 Methodische Überlegungen

9.4 Umsetzungsideen

9.4.1 Arbeiten mit Naturmaterialien (Jackson Pollock)

9.4.2 Arbeiten mit Ton (geometrische Formen – Kandinsky)

9.4.3 Arbeiten mit Ton (Schmuck)

Literatur

10 Musik und komplexe Behinderung

10.1 Musikalische Bildung

10.2 Musikalische Bildung im Kontext komplexe Behinderung

10.3 Elementare musikalische Erfahrung

10.3.1 Hören in Bewegung

10.3.2 Basales Musiktheater

10.4 Elementares Musizieren

10.4.1 Liedgestaltung mit Gesang

10.4.2 Liedgestaltung mit Improvisation

10.4.3 Liedgestaltung mit klangmalender Begleitung

10.4.4 Liedgestaltung mit harmonischer Begleitung

10.5 Ausblick

Literatur

Autorinnen und Autoren

Register

Schule und Unterricht bei intellektueller Beeinträchtigung

Herausgegeben von Dr. Holger Schäfer und Dr. Lars MohrBand 3

Die Herausgeber

Dr. Holger Schäfer ist Förderschulrektor und Schulleiter (SGE) sowie Lehrbeauftragter am Institut für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er ist Beiratsmitglied und Mitherausgeber der Fachzeitschrift LERNEN KONKRET.Kontakt: [email protected]

Thomas Loscher hat Förderschullehramt für die Förderschwerpunkte Sehen und geistige Entwicklung an der PH Heidelberg studiert. Er war mehrere Jahre Klassenlehrer einer Klasse mit Lernenden mit komplexen Beeinträchtigungen. Derzeit ist er Konrektor der Johann-Peter-Schäfer-Schule in Friedberg (Hessen).Kontakt: [email protected]

Dr. Lars Mohr ist Sonderpädagoge und Dozent am Institut für Behinderung und Partizipation der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) sowie Lehrbeauftragter am Departement für Sonderpädagogik der Universität Fribourg.Kontakt: [email protected]

Holger Schäfer/Thomas Loscher/Lars Mohr (Hrsg.)

Unterricht beikomplexer Behinderung

Sonderpädagogischer Schwerpunkt Geistige Entwicklung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-040408-3

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-040409-0epub:ISBN 978-3-17-040410-6

Vorwort der Reihenherausgeber

Dr. phil. Holger Schäfer (*1974) ist Förderschulrektor und Schulleiter (SGE) sowie Lehrbeauftragter am Institut für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er ist Beiratsmitglied und Mitherausgeber der Fachzeitschrift LERNEN KONKRET.Kontakt: [email protected]

Dr. phil. Lars Mohr (*1976) ist Sonderpädagoge und Dozent am Institut für Behinderung und Partizipation der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) sowie Lehrbeauftragter am Departement für Sonderpädagogik der Universität Fribourg.Kontakt: [email protected]

Zur Praxisreihe

Die Praxisreihe Schule und Unterricht bei intellektueller Beeinträchtigung beschäftigt sich

mit zentralen didaktischen und methodischen Fragestellungen der Unterrichtsgestaltung,

angemessenen Möglichkeiten eines pädagogischen, interdisziplinären Zugangs und konkreter Intervention

sowie organisatorischen und strukturellen Aufgabenstellungen der Schulentwicklung im Kontext intellektueller Beeinträchtigung.

Die praxisnahen Anregungen berücksichtigen pädagogische und unterrichtliche Belange sowohl in Förderschulen als auch in einem inklusiven Setting unter den jeweiligen Bedingungen.

Die Autorinnen und Autoren sind tätig in der Aus- und Weiterbildung für Lehrpersonen bzw. für Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen und ausgewiesene Expertinnen und Experten in ihrem Fachbereich. Sie verfügen über Praxiserfahrungen und stellen das jeweilige Themenfeld in einem kompakten Bild ausbildungswirksam sowie mit konkreten unterrichtspraktischen Bezügen dar.

Die Ausführungen sind bundeslandübergreifend, beziehen Erfahrungen aus dem deutschsprachigen Raum ein und orientieren sich an den aktuellen erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen. Nationaler wie auch internationaler Forschungsstand finden Berücksichtigung. Als besondere Hinweise werden neben wichtigen Definitionen und Begrifflichkeiten auch Exkurse sowie Hinweise und Beispiele aus der Praxis grafisch hervorgehoben:

kennzeichnet Definitionen und Begriffsklärungen.

v

deutet auf Praxisbezüge und weiterführende Ideen hin.

verweist auf weiterführende Literatur.

bietet Links zu Quellen im Internet (zuletzt geprüft am 01. 02. 2024).

Die Praxisreihe möchte eine Lücke schließen in der Grundlagenliteratur für die Aus- und Weiterbildung im Studium und Referendariat sowie für die Kolleginnen und Kollegen in der Praxis, denen nun in einer stringenten methodischen Aufarbeitung die zentralen Themenfelder für die Gestaltung von Unterricht und die Schulentwicklung im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung (SGE) kompakt und aus einem Guss zur Verfügung stehen.

Dabei ist uns bewusst, dass in der Pädagogik für Schülerinnen und Schüler im SGE eine Vielfalt an Begriffen herrscht, die der Bezeichnung des Personenkreises dienen sollen. Man spricht und schreibt etwa von Lernenden mit kognitiver Beeinträchtigung, mit (zugeschriebener) geistiger Behinderung oder mit Lernschwierigkeiten (um nur wenige Beispiele zu nennen). In unserer Buchreihe kommen zudem Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Regionen und Ländern zu Wort, mit entsprechend unterschiedlichen Formulierungsneigungen.1Wir haben uns mit ihnen dankenswerterweise auf eine einheitliche Begriffsverwendung verständigen können: Im vorliegenden wie in den übrigen Bänden ist die Rede von Kindern und Jugendlichen im »sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung (SGE)« oder – angelehnt an den internationalen Sprachgebrauch – »mit intellektueller Beeinträchtigung«. Demgemäß haben wir auch der Buchreihe als Ganze den Titel »Schule und Unterricht bei intellektueller Beeinträchtigung« gegeben.

Folgende Bände sind bereits erschienen: Wirtschaft-Arbeit-Technik (Isabelle Penning), Konzepte, Verfahren, Methoden (Hans-Jürgen Pitsch & Ingeborg Thümmel), Wahrnehmungsförderung (Erhard Fischer) sowie Praxiswissen Schulhund (Holger Schäfer, Karin Schönhofen & Andrea Beetz).

Folgende Bände befinden sich in Vorbereitung: Unterstützte Kommunikation (Melanie Willke & und Karen Ling), Herausforderndes Verhalten (Lars Mohr & Alex Neuhauser), Unterricht gestalten (Arian Bühler & Albin Dietrich), Diagnostik und Förderplanung (Frauke Janz & Stefanie Köb), Psychische Störungen (Pia Bienstein), Autismus (Remi Frei), Sport und Bewegung (Christiane Reuter) (Hrsg.).

Weitere Hinweise zur Praxisreihe unter https://shop.kohlhammer.de/suib

Die Reihenherausgabe erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH Zürich (www.hfh.ch).

Zu diesem Band

Wir zwei Reihen-Herausgeber kennen uns schon etliche Jahre. Als sich unsere Lebenswege in den 1990er Jahren nach Abitur und Zivildienst zum ersten Mal kreuzten, waren wir Studenten der Sonderpädagogik an der Universität in Landau (Pfalz). Als Professor in unserer Hauptfachrichtung Geistigbehindertenpädagogik lehrte Andreas Fröhlich, die Professorin für Körperbehindertenpädagogik hieß Ursula Haupt. Unser Studium und in der Folge unsere Berufstätigkeit erhielten somit eine erste Prägung durch die Inhalte und Haltungen, die die beiden Hochschullehrenden als Pioniere der deutschsprachigen Pädagogik bei komplexer Behinderung eindrücklich zu vermitteln wussten. Die »Schule«, aus der wir kommen, so lässt sich wohl sagen, hat uns Gedanken und Herangehensweisen mit auf den Weg gegeben, die dem Förderkonzept Basale Stimulation naheliegen, mit dem der Name und der Werdegang unseres Professors eng verbunden sind und das durch das Wirken unserer Professorin entscheidende Anstöße gewann.

Ein Buch, das sich mit Schulpädagogik bei komplexer Behinderung befasst, ist vor diesem biographischen Hintergrund keine emotionslose Angelegenheit für uns – im Gegenteil. Wir freuen uns, diesen Band vorstellen zu dürfen – zugleich sind wir gespannt, welche Aufnahme er finden wird. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Basale Stimulation, als sie Ende der 1970er Jahre entstand, einen weiten Bogen um klassische schulpädagogische Begriffe machte, wie sie die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Buches ausführlich für ihre Überlegungen heranziehen, namentlich »Bildung« oder »Unterricht«.

Die Förderung von Lernenden mit komplexer Behinderung nicht »Bildung« und nicht »Unterricht« zu nennen (und schon gar nicht »Erziehung«), hatte zu der Zeit, als die Basale Stimulation entwickelt wurde, gute Gründe. Die Begriffe standen damals für eine Schule, die Kindern und Jugendlichen mit komplexer Behinderung ein Lern- (und Aufnahme-) Angebot weder machen konnte noch machen wollte (siehe dazu die Einleitung zu ▸ Kap. 2). Heute sieht es anders aus. Die vergangenen vier Jahrzehnte haben einen erheblichen pädagogischen und schulrechtlichen Wandel mit sich gebracht. Davon ausgehend soll die Verwendung der Begriffe »Bildung« und »Unterricht« im vorliegenden Band betonen, dass es um eine breite kulturelle Teilhabe für alle geht. Wir möchten damit die Botschaft senden, dass wir einen Schulbesuch, der sich ausschließlich um »gute Pflege« und um Alltägliches (wie den Obstsalat) dreht, für nicht zeitgemäß und pädagogisch für unzureichend halten (ohne aber gute Pflege und sorgfältige Begleitung des Alltags zu vernachlässigen).

Wir wissen zugleich, dass sich das leichter schreibt, als es getan ist. Komplexe Behinderung geht mit erheblichen Einschränkungen der Körperfunktionen einher, mit tiefgreifenden Entwicklungsschwierigkeiten, mit Anstrengungen und Belastungen der Lehr- und Bezugspersonen. Das sind keine Belanglosigkeiten. Umso wichtiger erscheint es uns, die kulturelle Teilhabe für die angesprochenen Kinder und Jugendlichen nicht nur einzufordern, sondern auch Umsetzungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wie sie für die Leserin oder den Leser im vorliegenden Band (so hoffen wir) ersichtlich werden. Dabei kommt es wesentlich darauf an, den Schülerinnen und Schülern mit Fachwissen über ihre Entwicklungsvoraussetzungen und mit emotionaler Zugewandtheit zu begegnen, mit Offenheit für die ungewohnten Weltansichten, die sie uns immer wieder schenken. Wir empfehlen daher dringlich neben dem vorliegenden Band die Lektüre eines weiteren, sehr grundlegenden und sehr praxisnahen Werkes: »Basale Stimulation« von Andreas Fröhlich (Düsseldorf 2015).

Bernkastel-Kues und Zürich, im Frühling 2024Dr. Holger Schäfer und Dr. Lars Mohr (Hrsg.)

Der Interkantonalen Hochschulefür Heilpädagogik Zürich (HfH)zum hundertjährigen Jubiläum:ad multos annos!

Endnoten

1Wir sprechen in unserer Praxisreihe immer von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern, weitere Geschlechter bitten wir mitzulesen und gedanklich einzubeziehen. Auch in diesem Kontext konnten wir uns dankenswerterweise mit dem Verlag sowie den Autorinnen und Autoren der Praxisreihe auf eine lesbare Form verständigen.

Vorwort

Fast ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit Wolfgang Lamers (2000) in einem viel beachteten Aufsatz die Forderung »Goethe und Matisse für Menschen mit einer schweren Behinderung« erhob und für den angesprochenen Personenkreis mehr »Begegnung mit anspruchsvollen Bildungsinhalten« anzuschieben suchte (siehe den Sammelband »Geistigbehindertenpädagogik als Begegnung«, herausgegeben von Norbert Heinen & Wolfgang Lamers, Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes Leben, S. 177 – 206). Der Autor nahm hier u. a. auf den Bildungsbegriff von Wolfgang Klafki Bezug, der ein formales und ein materiales Moment von Bildung unterscheidet: Formale Bildung bezieht sich auf die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten eines Menschen, materiale Bildung hingegen auf die Inhalte bzw. Kulturgüter, die – etwa im Schulunterricht – vermittelt werden sollen.

Lamers stellte damals fest, dass die bisherigen Förderkonzeptionen für Schülerinnen und Schüler mit komplexer Behinderung (von den 1970er Jahren bis zum Erscheinen seines Artikels) »zu einseitig« vom Gedanken geprägt waren, die funktionale Entwicklung der sensorischen, motorischen oder sozial-emotionalen Kompetenzen der Lernenden zu unterstützen, dass also zu sehr solche Gegenstandsbereiche im Mittelpunkt standen, die nach Klafki formaler Bildung zuzuordnen sind. Materiale Bildungsaspekte, wie sie in den fachbezogenen Lehrplänen des Regelschulsystems aufgeführt werden, insbesondere auch die Frage nach der Altersangemessenheit von Unterrichtsinhalten, hätten demgegenüber zu wenig Beachtung erfahren. Seine Beobachtung goss Lamers in eine pointierte, durchaus provokante These: »Je schwerer die Behinderung, umso weniger ›materiale Bildung‹ [...] ist notwendig« (ebd., 192). Er brachte so zum Ausdruck, dass Menschen mit komplexer Behinderung lediglich eine stark verminderte kulturelle Teilhabe ermöglicht wird bzw. dass ihre Lebenserfahrungen in Folge der mehr funktionalen Perspektive auf (klein-)‌kindliche Inhalte beschränkt bleiben.

Diese Feststellung in Verbindung mit der eingangs wiedergegebenen Forderung nach anspruchsvollen Inhalten hat gerade im wissenschaftlichen Kontext einen Nerv getroffen, der die Pädagogik bei komplexer Behinderung seither auf Trab hält: Unterrichtsplanung und -gestaltung sollten beides berücksichtigen, sowohl die formale als auch die materiale Seite von Bildung – Entwicklungsorientierung wie Altersgemäßheit. Obgleich als Haltung einsichtig, bleibt dieses (verschränkende) »sowohl als auch« in der Praxis eine didaktische Kunst und methodische Herausforderung. Denn für seine unterrichtliche Inszenierung im Alltag sind auch nach gut 25 Jahren noch zu wenige stimmige sowie auch fachlich anschlussfähige Handlungsmaßgaben gefunden sowie etabliert worden.

Der vorliegende Band möchte in diesem Zusammenhang einen kleinen Beitrag dazu leisten, die Lücke etwas zu schließen:

mit grundlegenden Überlegungen und Einordnungen (zum Personenkreis, zur Entwicklung der Bildungsidee, zur Diagnostik und Unterrichtsgestaltung),

mit dem Aufgreifen ausgewählter Aspekte der Entwicklungsförderung (Kommunikation, vitale Bedürfnisse)

und mit der Beleuchtung einiger schulfachorientierter Themen (Literatur, Mathematik, bildende Kunst, Musik).

Wir hoffen, dass dadurch der Teilhabe von Menschen mit komplexer Behinderung an einem breiten Spektrum von Kulturgütern ein Dienst geleistet werden kann – ebenso wie den Lehrpersonen, die sich mit ihren Schülerinnen und Schülern auf den Weg und engagiert an die Arbeit machen, in einem anspruchsvollen pädagogischen Feld.

Wir bedanken uns bei allen Kolleginnen und Kollegen, die an diesem Buch beteiligt sind und sehr konstruktiv mit uns zusammengearbeitet haben. Wir bedauern, dass wir im Rahmen des Bandes, der einen überschaubaren Umfang behalten sollte, nicht noch weitere Themenaspekte aufnehmen konnten. Sehr zu schätzen wissen wir die geduldige und professionelle Unterstützung durch den Kohlhammer-Verlag, und sehr gefreut haben uns die Empfehlung der Stiftung Leben Pur (www.stiftung-leben-pur.de) sowie der großzügige Support des Instituts für Behinderung und Partizipation (IBP) der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) (www.hfh.ch).

Bernkastel-Kues, Friedberg/Hessen & Zürich, im Frühling 2024Dr. Holger Schäfer, Thomas Loscher & Dr. Lars Mohr

1 Komplexe Behinderung: Einführung und Grundlagen

Lars Mohr & André Schindler

1.1 Zum Begriff »komplexe Behinderung«

Für das Phänomen, das im vorliegenden Buch vornehmlich »komplexe Behinderung« genannt wird, gibt es in der Fachliteratur eine Reihe bedeutungsähnlicher oder bedeutungsgleicher Parallelbegriffe. Bei einigen steht die Schwere der Entwicklungseinschränkung im Vordergrund, andere legen den Fokus auf den besonderen (sehr umfassenden) Unterstützungsbedarf der betroffenen Personengruppe. Das gilt sowohl für den deutschen als auch für den englischen Sprachraum. Gebräuchliche Bezeichnungen sind u. a. »schwere und mehrfache Behinderung«, »intensive Behinderung«, »schwerste Beeinträchtigung« oder »Menschen mit allumfassendem Hilfebedarf« (vgl. Bernasconi & Böing 2015, 17 – 19; Schindler 2021, 19 f.) respektive »profound intellectual and multiple disabilities«, »severe multiple disabilities«, »severe intellectual and motor disabilities« oder »children with complex needs« (vgl. Nakken & Vlaskamp 2007, 84).

Der Begriff »komplexe Behinderung« wurde in der deutschsprachigen Sonderpädagogik von Barbara Fornefeld (2008) vorgeschlagen bzw. eingeführt; mit einem etwas breiteren (und theoretisch auch akzentuierterem) Verständnis als im vorliegenden Buch. Bei Fornefeld bezieht sich die Bezeichnung zum Beispiel auch auf Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung und psychischer Störung, die wir im Folgenden weniger in den Blick nehmen. Dennoch haben wir den Begriff »komplexe Behinderung« gewählt, da er unseres Erachtens auf eine kompakte Art zum Ausdruck bringt, worum es geht: das Vorliegen einer sowohl mehrfachen als auch schweren Beeinträchtigung der individuellen Entwicklung und der Alltagsgestaltung eines Menschen, das mitunter das Eröffnen voraussetzungsloser Zugänge zur kulturellen Teilhabe notwendig macht.

1.2 Komplexe Behinderung als Relation: grundlegende Merkmale

Komplexe Behinderung steht im schulpädagogischen Kontext für ein extremes Missverhältnis zwischen den Lern- und Verhaltenserwartungen der regulären kindlichen Entwicklung und den tatsächlichen Lern- und Verhaltensmöglichkeiten eines Schülers bzw. einer Schülerin mit (sehr) starken und mehrfachen Beeinträchtigungen der Körperfunktionen. Damit ist komplexe Behinderung nicht als Eigenschaft des Individuums, sondern als Relation (»Verhältnis«) zwischen individualen und sozialen Faktoren bestimmt (vgl. Musenberg 2016, 216 oder bereits Bach 1985). Gleichwohl hängt ihr In-Erscheinung-Treten (auch) davon ab, welche Einschränkungen der Körperfunktionen beim Schüler, bei der Schülerin vorliegen und in welcher Ausprägung (Schwere) sie sich zeigen. Unter »Körperfunktionen« sind im Sinne der ICF (WHO 2005) alle physiologischen Funktionen des Organismus zu verstehen (auch die psychischen), insbesondere vitale (wie Atmung, Blutkreislauf, Verdauung), motorische, sensorische, kognitive und sozial-emotionale. Da bei komplexer Behinderung mehrere der genannten Funktionsbereiche beeinträchtigt sind, kann sie als intensive Form der Mehrfachbehinderung gelten.

Als ihre »Schlüsselmerkmale« werden in der Fachliteratur die kognitiven und die motorischen Einschränkungen ins Zentrum gerückt (Nakken & Vlaskamp 2007, 85; Granlund, Wilder & Almqvist 2014, 453). Damit gehen immer auch massive Störungen der Kommunikation einher. So können sich die Betroffenen meist nicht über die Verbalsprache ausdrücken. Ihre Kompetenzen im Bereich der rezeptiven Sprache sind nur sehr schwer einschätzbar (Klauß, Janz & Lamers 2007, 40; Sarimski 2019, 126 ff.). Organisch ist bei praktisch allen Lernenden mit komplexer Behinderung von einer schweren Hirnschädigung auszugehen, die auf Ursachen vor, während oder nach der Geburt zurückgehen kann (vgl. Arvio & Sillanpää 2003). Häufig kommen Sinnesläsionen dazu, bspw. Schwerhörigkeit oder eine Schädigung der visuellen Wahrnehmung, zum Teil auch die Notwendigkeit einer apparativen Sicherung von Vitalfunktionen, etwa durch ein Beatmungsgerät oder durch eine Magensonde (vgl. Sarimski 2022, 7 ff.). Ein beträchtlicher Anteil der Kinder und Jugendlichen zeigt daneben (stark) herausfordernde Verhaltensweisen, durch die sie sich selbst oder Andere gefährden oder verletzen können (Klauß, Lamers & Janz 2006, 130).

Aus den genannten Einschränkungen ergibt sich für die jeweiligen Personen ein hohes Maß an sozialer Abhängigkeit: Sie benötigen bei (nahezu) allen Aktivitäten des täglichen Lebens die Hilfe und Zuwendung Anderer (Hostyn & Maes 2009, 296 f.). Nach einer Zusammenstellung von Fröhlich (2015, 17) brauchen Schülerinnen und Schüler mit komplexer Behinderung vor allem Mitmenschen,

die sich auf ihre Möglichkeiten körpernaher Erkundung und Kommunikation einstellen und diese zu entfalten helfen,

die ihnen Positionsveränderungen und Fortbewegung nachvollziehbar ermöglichen,

die ihre tägliche Grundversorgung sichern, bspw. hinsichtlich Ernährung oder Hygiene – achtsam und im Dialog,

die ihnen Angebote zum Erschließen der Umwelt sowie zum spielerischen und kreativen Miteinander unterbreiten – und auf ihre Reaktionen eingehen.

Eine derart umfängliche soziale Abhängigkeit kennen wir ansonsten nur bei schwerer (bspw. demenzieller) Erkrankung oder bei Kindern in den ersten Lebensjahren. Gerade der Blick auf Letztgenannte hat in der sonderpädagogischen Praxis vielfach als Anregung für die Förderung gewirkt. Es liegt daher nahe, zur Beschreibung von Schülerinnen und Schülern mit komplexer Behinderung bzw. von ihren Lern- und Verhaltensmöglichkeiten mit sog. Entwicklungsanalogien zu arbeiten, die sich auf die frühe Kindheit beziehen (▸ Kap. 1.3). Sarimski (2022) äußert sich hierzu wie folgt: »Bei einer schwersten Behinderung liegen die kognitiven, sprachlichen und adaptiven Fähigkeiten unter dem Entwicklungsniveau einjähriger Kinder mit unbeeinträchtigter Entwicklung« (ebd., 12). Ähnlich sprechen Schäfer, Zentel und Manser (2022) davon, »dass bei diesen Kindern und Jugendlichen solche Kompetenzen vorliegen, wie sie sonst bei sehr jungen nichtbeeinträchtigten Kindern (ca. im Alter bis zu 12 Monaten) zu beobachten sind« (ebd., 23).

Die zitierten Autoren weisen allerdings auch die Grenzen der Analogiebildung aus (ebd.): Neben den Entsprechungen im Entwicklungsstand und in den Entwicklungsschritten gibt es durchaus Differenzen zwischen Säuglingen und Lernenden mit komplexer Behinderung im Schulalter. Vor allem haben Letztere eine weiter reichende Biografie und bereits etliche soziale und emotionale Erfahrungen gemacht. Sie mussten Schmerzen und Ängste aushalten – »mehr als manche Erwachsenen« (ebd.). Entwicklungsanalogien sind demnach so weit berechtigt, wie sie dazu beitragen, die Möglichkeiten der Informationsverarbeitung von Menschen mit komplexer Behinderung besser zu verstehen und Zugänge für Kommunikations- und Bildungsprozesse zu finden. Aber sie beschreiben die Lebenswelt der Betroffenen nur zu einem Teil und sollten in diesem Sinne mit Bedacht verwendet werden (Lamers 2017).

Für die Unterrichtsplanung heißt das: Hilfreich sind Entwicklungsanalogien in erster Linie im Methodischen, um geeignete Präsentations- bzw. Aneignungsmöglichkeiten für die Unterrichtsinhalte zu finden. Bei der Themenwahl hingegen rücken die Altersgemäßheit und die biografische Situation der Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund (▸ Kap. 3.3.1). Bleibt dies unberücksichtigt, besteht die Gefahr, die kulturelle Teilhabe der Lernenden stets auf kleinkindliche Erfahrungen zu beschränken (ebd.). Ein Modell, das die Passung von Unterrichtsinhalten und derzeitiger biografischer Situation von Kindern oder Jugendlichen mit komplexer Behinderung unterstützen kann, sind die »zentralen Lebensthemen«, wie sie im Konzept der Basalen Stimulation beschrieben werden (Reisenberger 2019, 339 f.). Die zentralen Lebensthemen wollen erschließen helfen, welche Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle einen beeinträchtigten Menschen in seiner momentanen Lebenssituation beschäftigen bzw. von großer Bedeutung für ihn sind. Im Einzelnen nennen Bienstein und Fröhlich (2021) die folgenden zentralen Themen (Näheres dazu: ebd., 67 – 81):

Leben erhalten und Entwicklung erfahren

das eigene Leben spüren

Sicherheit erleben und Vertrauen aufbauen

den eigenen Rhythmus entwickeln

das Leben selbst gestalten

die Außenwelt erfahren

Beziehungen aufnehmen und Begegnungen gestalten

Sinn und Bedeutung geben und erfahren

Selbstbestimmung und Verantwortung leben

die Welt entdecken und sich entwickeln

1.3 Aspekte der Entwicklung von Lernenden mit komplexer Behinderung

Um von einem Unterrichtsangebot zu profitieren, müssen die Lernenden das Geschehen in der Klasse mit ihren Möglichkeiten der kognitiven Auseinandersetzung, der Kommunikation und der Emotionsregulation verarbeiten können. Das ist im Grundsatz für alle Schülerinnen und Schüler gleich, mit oder ohne Behinderung. Insofern gilt das Diktum Ursula Haupts (2011, 7): »Ein Kind mit Behinderung ist vor allem ein Kind, und nicht vor allem behindert«. Zu beachten ist aber, dass die Lern- und Verhaltensmöglichkeiten bei komplexer Behinderung wie erwähnt stark von den Erwartungen einer regulären Entwicklung abweichen: Die betroffenen Jungen und Mädchen brauchen einen Unterricht, dem sie mit basalen Kompetenzen folgen können. Das heißt: Der Unterrichtsinhalt muss auf eine Weise präsentiert werden, die keine Wissens- oder Handlungsvoraussetzungen von den Lernenden verlangt (wie bspw. verbale Sprache, Umgang mit Stiften oder Schere). Bei einem basalen Angebot genügt die

»physische Gegenwart, das lebendige Anwesendsein allein [...], um in einen [...] Austauschprozess eintreten zu können. [...] Basal, so könnte man pragmatisch formulieren, umschließt das, was bei jedem Menschen Ausgangspunkt der Entwicklung ist« (Fröhlich 2016, 240).

Damit sind Fähigkeiten angesprochen, wie sie in der regulären Entwicklung im ersten und zweiten Lebensjahr auftreten und bei Lernenden mit komplexer Behinderung auch im Schulalter (und darüber hinaus) charakteristisch sind. Sie werden im Folgenden in einigen zentralen Aspekten beschrieben.

1.3.1 Lernformen

Damit sich Menschen in der Welt, in der sie leben, zurechtfinden können, sind sie darauf angewiesen, sich deren Themen und Dinge anzueignen, so gut es geht, d. h. gegenstandsbezogene Umgangsweisen und Vorstellungen (mentale Repräsentationen) aufzubauen. Die Tätigkeiten der Auseinandersetzung mit der Umwelt (und dem eigenen Körper), die eine individuelle Welt-Aneignung ermöglichen, entfalten sich bei jedem Menschen im Laufe seiner Entwicklung (Pitsch & Thümmel 2005, 47 ff.). Während Kindheit und Adoleszenz bilden sich sukzessive verschiedene dominierende Tätigkeiten heraus, die im Regelfall in einer jeweils typischen Altersspanne hervortreten. Dominierend wird diejenige Tätigkeit des Kindes genannt, mit der es sich auf seinem momentanen Entwicklungsstand Neues erschließt, also die umgebende Welt verstehbar und handhabbar macht und die eigenen Kompetenzen erweitert. Man kann gleichbedeutend von führenden Aneignungsmöglichkeiten oder Lernformen sprechen (ebd., 47).

Weiterführende Literatur

Pitsch, H.-J. & Thümmel, I. (2005): Handeln im Unterricht. Zur Theorie und Praxis des Handlungsorientierten Unterrichts mit Geistigbehinderten (Lehren und Lernen mit behinderten Menschen, Band 11). Oberhausen: Athena.

Sappok, T. & Zepperitz, S. (2019): Das Alter der Gefühle. Über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung. Bern: Hogrefe.

Terfloth, K. & Bauersfeld, S. (2019): Schüler mit geistiger Behinderung unterrichten. Didaktik für Förder- und Regelschule. München: Reinhardt.

Das Entwicklungsmodell der dominierenden Tätigkeiten (das auf den sowjetischen Psychologen Alexei Leontjew zurückgeht) wird in Grundzügen bei Pitsch und Thümmel (2005, 47 ff.) oder Terfloth und Bauersfeld (2019, 104 ff.) beschrieben (siehe Infokasten). Ergänzende Informationen zur Entwicklung der Lernformen (ohne Bezug zur Theorie Leontjews) bieten Sappok und Zepperitz (2019, 41 ff. und 133 ff.). Gemäß diesen Quellen lassen sich in den ersten Lebensjahren die perzeptive Tätigkeit (von Geburt bis ca. sechs Monate), die manipulative Tätigkeit (bis ca. 18 Monate) und die gegenständliche Tätigkeit (bis ca. drei Jahre) als dominierend beobachten. Sie stehen auch bei den meisten Schülerinnen und Schülern mit komplexer Behinderung als Aneignungsmöglichkeiten im Vordergrund. In wesentlichen Punkten können die genannten Tätigkeiten wie folgt gekennzeichnet werden.

Perzeptive Tätigkeit: Die Auseinandersetzung des Kindes mit der Umwelt (und mit sich selbst) erfolgt über die individuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten, also über körperliche Empfindungen (wie bspw. das Gleichgewicht), über Fühlen und Spüren, Riechen und Schmecken, Hören und Sehen. Besonders bedeutend sind die Nahsinne. Das Lernen bezieht sich folglich auf die sinnlich erfassbaren Eigenschaften von Dingen, Stoffen und Lebewesen, bspw. rund oder eckig, laut oder leise, warm oder kalt. Die mentalen Ressourcen des Kindes werden ganz davon beansprucht, sensorische Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten (Sappok & Zepperitz 2019, 135).

Manipulative Tätigkeit: Im Sinne eines Hantierens gelingt den Lernenden ein erstes selbstgesteuertes Erkunden von Objekten, etwa durch Greifen, Tasten, Werfen oder Schlecken. Dementsprechend sind die Hände und Arme, Beine und Füße oder der Mund wichtige Lern-Werkzeuge. Die Schülerinnen und Schüler sammeln Erfahrungen im Andauern-Lassen interessanter Ereignisse bzw. im Hervorrufen einfacher Effekte (bspw. Geräusche machen durch Patschen, Klopfen oder Umwerfen). »Der Umgang mit Material ist grobmotorisch und experimentell. Rohe, ungeformte Materialien wie Sand, Knete, Erde werden entdeckt« (Sappok & Zepperitz 2019, 46). Eine Verwendung von Gegenständen in ihrer gewohnten Funktion (bspw. Becher zum Trinken) stellt sich noch nicht ein.

Gegenständliche Tätigkeit: Der Umgang des Kindes mit Dingen seiner Umgebung (bspw. Löffel, Tasse, Duplo-Baustein) nimmt Formen an, die dem kulturell üblichen Gebrauch der Objekte entsprechen; zuerst ein Stück weit, einfach gehalten und mit Hilfe der Bezugspersonen, dann komplexer, versierter, eigenständiger. So werden alltagsnahe Fertigkeiten schrittweise erlernt und verfeinern sich. Gegenständliche Tätigkeit ist folglich »lebenspraktische Aneignung, und zwar in schlichten Handlungen, wie wir sie jeden Tag ausführen: Einen Wasserhahn aufdrehen, die Zahnpaste aus der Tube auf die Zahnbürste drücken gehören ebenso dazu wie den Mixer benutzen« (Pitsch & Thümmel 2005, 50). Bei komplexer Behinderung sind am ehesten einfache gegenständliche Aneignungsmöglichkeiten zu erwarten, d. h. das Ausführen von Handlungen, die feinmotorisch nur geringe Anforderungen stellen und wenige Teilschritte umfassen (bspw. das Betätigen eines »BIGmacks«).Zu einer besseren Orientierung in unübersichtlichen Situationen können eventuell Visualisierungen (Piktogramme, Fotos, optische Signale) verhelfen, die den Lernenden eine für sie erfassbare Struktur geben (vgl. Häussler 2022): in räumlicher Hinsicht (den Ort des Geschehens markieren), in zeitlicher Hinsicht (bspw. mit einem »Time Timer«) oder in aufgabenbezogener Hinsicht (Aufzeigen der Handlungsschritte). Im Verarbeiten von Visualisierungen als Information fürs eigene Handeln kommt bereits der nächste Schritt der Entwicklung zum Vorschein: die sog. »Spieltätigkeit« (Pitsch & Thümmel 2005, 50 f.) bzw. die »anschauliche Aneignung« (Terfloth & Bauersfeld 2019, 109; ▸ Kap. 2.2.4).

1.3.2 Emotionales Erleben und emotionale Bedürfnisse

Bei Lernenden mit komplexer Behinderung weicht nicht nur die kognitive Entwicklung von den alterstypischen Erwartungen ab, sondern in der Regel auch die emotionale. Das heißt, die Schülerinnen und Schüler haben emotionale Bedürfnisse, wie sie sonst eher bei kleineren Kindern üblich sind. Wenn sich die pädagogische Begleitung dem nicht anpasst, führt die mangelnde Passung häufig zu (für das Umfeld) herausfordernden Verhaltensweisen.

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Praxis

Die SEED-2 (Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik 2)Ein diagnostisches Instrument, das eine Einschätzung des emotionalen Entwicklungsstands aufgrund von Alltagsbeobachtungen erlaubt und sich (u. a.) für den Einsatz im Kontext komplexer Behinderung eignet, ist die »Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik 2«, abgekürzt »SEED-2« (Sappok et al. 2023). Sie wurde für die Arbeit mit Erwachsenen mit intellektueller Beeinträchtigung entwickelt (hier ist die Diskrepanz zwischen Entwicklungsstand und Lebensalter oft groß), lässt sich aber auch im Kindes- und Jugendalter sehr gut anwenden.

Die SEED-2 beruht auf einem Modell der emotionalen Entwicklung, das ursprünglich vom niederländischen Psychiater Anton Došen (2018) stammt und im deutschsprachigen Raum in jüngerer Zeit von Sappok und Zepperitz (2019) im Buch »Das Alter der Gefühle« beschrieben und verbreitet wurde. Das Modell umfasst die reguläre emotionale Entwicklung im Alter zwischen null und 18 Jahren. Eine Einschätzung mit der SEED-2 kommt folglich für Lernende in Frage, die einen emotionalen Entwicklungsstand zeigen, wie er bis zur Schwelle der Volljährigkeit charakteristisch ist.

Dabei werden sechs Phasen unterschieden (Sappok et al. 2023, 14; Sappok & Zepperitz 2019, 41 ff.): »Adaption« (Alter: 0 – 6 Monate), »Sozialisation« (6 – 18 Monate), »Erste Individuation« (18 – 36 Monate), »Identifikation« (4 – 7 Jahre), »Beginnendes Realitätsbewusstsein« (8 – 12 Jahre) und »Soziale Individuation« (13 – 18 Jahre). Soweit beobachtbar gleicht das Gefühlsleben von Menschen mit komplexer oder schwerster intellektueller Behinderung den Entwicklungsphänomenen, die in den drei ersten Phasen zentrale Bedeutung haben (Sappok & Zepperitz 2019, 43). Ausgewählte Merkmale dieser drei Phasen (Adaption, Sozialisation und erste Individuation) werden daher nachfolgend kurz beleuchtet.

SEED-Phase 1, Adaption (ebd., 42 – 45): Als emotionales Erleben signalisieren die Kinder eine grundlegende Unterscheidung von Stress versus Wohlbefinden (oder: Anspannung versus Entspannung). Mit dieser elementaren gefühlsmäßigen Einordnung reagieren sie unmittelbar auf das Alltagsgeschehen, das sie umgibt. Maßgebend dafür, dass sie sich wohlfühlen, ist die Befriedigung ihrer physiologischen Grundbedürfnisse: Keine Schmerzen, keinen Hunger oder Durst haben, ausreichend schlafen und frei atmen können, Schutz vor Hitze, Kälte oder anderen, überfordernden Reizen tragen zu einem entspannten Befinden bei (▸ Kap. 6). Die »Fähigkeit zur Selbstregulation [ist] minimal« (ebd., 44). Daher hängt die emotionale Ausgeglichenheit der Kinder von der Regulation durch die Bezugspersonen ab (in der Schule: durch die Lehrpersonen). Eine regulierende Interaktion gelingt »überwiegend auf körperlicher Ebene«, d. h. über Wiegen und Schaukeln, über Berührungen, sanfte Ansprache und Ähnliches (ebd.).

SEED-Phase 2, Sozialisation (ebd., 45 – 48): Die Lernenden bringen das Erleben verschiedener Grundgefühle zum Ausdruck, etwa Freude, Ärger, Neugier, Angst oder Überraschung. Allerdings können sie die Emotionen nicht mit Worten kommunizieren, sondern nutzen körpersprachliche (inklusive lautlicher) Mittel. Dazu zählen bspw. ein Juchzen, freudestrahlende Mimik, Körperkontakt, um Zuneigung zu zeigen, oder – besonders bei negativen Gefühlen wie Angst und Verzweiflung – auch selbstverletzende oder aggressive Verhaltensweisen. Das primäre emotionale Bedürfnis der Kinder ist die Sicherheit in der Beziehung zu ihren (Haupt-)‌Fürsorgepersonen. Deren Verfügbarkeit und Feinfühligkeit sind für die Emotionsregulation von zentraler Bedeutung und somit auch für Wohlbefinden, stressfreies Erkunden und Lernen. Als hauptsächliche pädagogische Aufgabe folgt daraus, einem Schüler, einer Schülerin (mit einem emotionalen Erleben im Sinne der SEED-Phase 2) eine feinfühlige Bezugsperson zu sein, bei der er oder sie keine Verlassenheit erlebt. Das schließt eine Lern-Unterstützung ein, die als Ermunterung und Begleitung beim Ausprobieren, beim Erkunden der Welt und des eigenen Körpers zu verstehen ist. Eine anhaltende Verfügbarkeit der Bezugsperson im täglichen Schulbetrieb sicherzustellen, kann indessen eine erhebliche Herausforderung sein (siehe dazu die Hinweise bei Sappok & Zepperitz 2019, 130 f., 150). Daher gilt zu betonen: Die Erkenntnis, dass die Präsenz der Lehrperson für einen Lernenden oder eine Lernende als emotionales Bedürfnis Vorrangigkeit hat, ist ggf. der Schlüssel dafür, ihm oder ihr weitere Entwicklung zu ermöglichen und etwaige Belastungen durch herausforderndes Verhalten deutlich zu mildern.

SEED-Phase 3, erste Individuation (ebd., 48 – 51): In der Psyche der Lernenden erwacht die Motivation zur Selbstbestimmung. »Der eigene Wille wird entdeckt und seine Durchsetzung hat hohe Priorität, auch wenn sich die Wünsche oft widersprechen oder unerfüllbar sind« (ebd., 49). Auf Alternativ-Vorschläge können die Kinder zuweilen eingehen, aber ihre Frustrationstoleranz ist insgesamt gering (auch bei der Erledigung von Aufgaben). Ihre Fähigkeiten, Emotionen selbst zu regulieren, sind noch sehr beschränkt. Hier brauchen sie weiterhin viel zwischenmenschliche Unterstützung. Das Zusammenwirken der genannten Faktoren (Priorität des eigenen Willens, geringe Frustrationstoleranz, beschränkte Fähigkeiten der Emotionsregulation) kann rasch zu Konflikten führen, samt emotionalen, teils aggressiven Eskalationen. In der pädagogischen Begleitung ist daher »die Kunst des Deeskalierens gefragt: Nachgeben, Kompromisse anbieten, auf andere Inhalte umlenken, um dem Konflikt die Intensität zu nehmen« (ebd., 50). Gleichfalls gilt es, den Lernenden zu vermitteln, dass Selbstbestimmung und etwaige Konflikte die schützende und feinfühlige Beziehung zu den Fürsorgepersonen nicht gefährden. Deren verlässliche (und nicht nachtragende) Präsenz ist nach wie vor gefragt.

1.3.3 Kommunikation

Menschen mit komplexer Behinderung haben große Probleme, sich anderen präzise mitzuteilen. Wegen ihrer kognitiven Einschränkungen steht ihnen in der Regel keine Verbalsprache zur Verfügung oder sie beschränkt sich auf wenige Worte (Sarimski 2019, 127 f.). Ebenso reduziert sind die Möglichkeiten, ein alternatives symbolisches Sprachsystem zu erlernen. Als Kommunikationskanäle treten vielmehr körpersprachliche oder vitale Ausdrucksmittel in den Vordergrund wie Laute und Atmung, Mimik, Blickänderungen, Muskeltonus, Bewegungen und Berührungen.

Diese Wege der Verständigung lassen sich als »basales« oder »somatisches« Kommunizieren bezeichnen (nach Fröhlich 2015, bes. 65 ff.; Fröhlich 1997; Mall 2008). Welche Verhaltensweisen man hierbei als bedeutungstragende Zeichen auffassen kann, wird nachstehend für die Atmung und den Muskeltonus exemplarisch konkretisiert (gemäß Niehoff 2019, 88).

Atmung: veränderter Rhythmus, veränderte Tiefe, Stocken, Gähnen, Seufzen, Husten, Räuspern

Muskeltonus: Entspannung der Stirnfalte, Entspannung der Lippen, Mund öffnen, Veränderung der Nasenflügel, Senken der Schultern, Lockerung der Nackenmuskulatur, entspannte Bauchdecke, Entspannung der Extremitäten, Nachlassen einer Spastik

Die starken Beeinträchtigungen der Körperfunktionen bei Lernenden mit komplexer Behinderung führen allerdings häufig dazu, dass Mimik, Blickverhalten, Muskelspannung und Bewegungen vom Gewohnten abweichen (Fröhlich & Simon 2004, 50 ff.). Es kommt folglich darauf an, die Äußerungen des jeweiligen Schülers, der jeweiligen Schülerin (mit der Zeit) spezifisch und ganz individuell deuten zu können.

Somatische Kommunikationsmittel, wie sie in der Aufzählung oben genannt werden, lassen augenscheinlich keine abstrahierenden Äußerungen zu. Sie sind an das Hier und Jetzt gebunden, an die konkrete Situation, und bringen emotionale oder körperliche Befindlichkeiten zum Ausdruck: etwa Aufregung oder Angst, Freude und Entspannung, Schmerz oder Begeisterung (Fröhlich 1997, 184). Es geht also um Botschaften wie »Mir tut etwas weh«, »Ich bin erleichtert«, »Das macht Spaß« oder »Ich bin müde«. Zum Teil gelingt es so den Jungen und Mädchen auch, Absichten oder Vorlieben zu übermitteln (bspw. »Ich möchte den Becher zum Trinken« oder »lieber Nutella als Marmelade«).

Am Anfang dieser intentionalen Kommunikation steht die Erfahrung, dass die eigenen Äußerungen eine Wirkung beim Gegenüber bzw. in der Umwelt haben, bspw. das Fortsetzen einer angenehmen Beschäftigung auslösen (ein »Nochmal«) oder das Beenden eines unangenehmen Geschehens (ein »Stopp«); mit anderen Worten: »Das Kind muss immer wieder den Signalwert seines Verhaltens erleben dürfen« (Fröhlich & Simon 2004, 88). Dazu können auch erste Mittel der Unterstützen Kommunikation eingesetzt werden wie einfach gehaltene Kommunikationstafeln oder »BIGmacks« (Boenisch 2019, 371 ff.; ▸ Kap. 5).

Zu Fragen der Kommunikation bei komplexer Behinderung sind in den letzten Jahren verschiedene Publikationen erschienen, die praxisrelevantes Wissen sowie Optionen des pädagogischen Vorgehens fundiert und anschaulich zusammenstellen. Sie seien nachfolgend als weiterführende Literatur empfohlen (vgl. außerdem ▸ Kap. 5).

Weiterführende Literatur (Förderung kommunikativer Entwicklung)

Fröhlich, A. & Simon, A. (2004): Gemeinsamkeiten entdecken. Mit schwerbehinderten Kindern kommunizieren. Düsseldorf: verlag selbstbestimmtes leben.

Hennig, B. (2017): Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen mit schwerster Behinderung und ihren Bezugspersonen: Aspekte des Gelingens. In: Fröhlich, A., Heinen, N., Klauß, Th. & Lamers, W. (Hrsg.): Schwere und mehrfache Behinderung – interdisziplinär. Oberhausen: Athena. 273 – 297.

Reisenberger, U. (2019): Anbahnung intentionaler Kommunikation. In: Mohr, L., Zündel, M. & Fröhlich, A. (Hrsg.): Basale Stimulation. Das Handbuch. Bern: Hogrefe. 339 – 359.

Sarimski, K. (2019): Kommunizieren und Menschen erfahren. In: Mohr, L., Zündel, M. & Fröhlich, A. (Hrsg.): Basale Stimulation. Das Handbuch. Bern: Hogrefe. 119 – 136.

Weiterführende Literatur (Unterstützte Kommunikation)

Bernasconi, T. (2023): Diagnostik und Interventionsplanung in der Unterstützten Kommunikation: Methoden und Einsatz in der Praxis. München: Rheinhardt.

Boenisch, J. (2019): Neue Ansätze Unterstützter Kommunikation bei schwerer Behinderung. In: Mohr, L., Zündel, M. & Fröhlich, A. (Hrsg.): Basale Stimulation. Das Handbuch. Bern: Hogrefe. 361 – 381.

1.3.4 Fazit

Schülerinnen und Schüler mit komplexer Behinderung lernen in erster Linie mittels perzeptiver, manipulativer oder (einfacher) gegenständlicher Tätigkeit. Sie setzen sich meist über ihren Körper und ihre Sinne mit der Umwelt auseinander (mittels Tasten und Spüren, Riechen und Schmecken, Hören und Sehen) bzw. über das Hantieren mit Objekten, bis hin zu einem ersten zweckgemäßen Gebrauch von Alltagsgegenständen wie dem Trinken mit einem Becher oder dem Betätigen eines Schalters. Die Lernenden erleben sich selbst und ihre Umgebung »in unmittelbarer emotionaler Betroffenheit« (Fröhlich 1993, 12). Das heißt, ihr emotionales Wohlbefinden hängt oft (noch) stark von der Regulation durch enge Bezugspersonen ab und somit von deren emotionaler Präsenz und Feinfühligkeit, sei es in familiären, schulischen oder anderen institutionellen Kontexten. Häufig kennen sie verschiedene Grundgefühle wie Freude, Ärger, Neugier, Angst oder Überraschung. Zumindest bringen sie angenehmes gegenüber unangenehmem Erleben zum Ausdruck (Stress versus Wohlbefinden). Die Kinder und Jugendlichen teilen sich vor allem nonverbal mit: über Bewegungen und Berührungen, über Laute, Mimik, Blinzeln oder Blickänderungen, über einfache Mittel der Unterstützten Kommunikation.

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Praxis

Hinweise für die Diagnostik und FörderplanungEine differenzierte Erfassung der Kompetenzen eines Schülers oder einer Schülerin mit komplexer Behinderung als Grundlage für die Bildungsplanung erlaubt die »Förderdiagnostik mit Kindern und Jugendlichen mit schwerster Beeinträchtigung« von Schäfer, Zentel & Manser (2022).

Für die Diagnostik im sozial-emotionalen Bereich (insbesondere im Zusammenhang mit herausforderndem Verhalten) ist die oben erwähnte SEED-2 zu empfehlen. Aus der Entwicklungseinschätzung mit diesem Instrument lassen sich ebenfalls konkrete Hinweise für die Förderplanung ableiten (Sappok & Zepperitz 2023).

1.4 Schulbesuch von Lernenden mit komplexer Behinderung

Empirische Daten zum Schulbesuch von Lernenden mit komplexer Behinderung sind im deutschsprachigen Raum nur spärlich vorhanden. Repräsentative Studien (in Hinsicht auf die im Folgenden dargelegten Gesichtspunkte) wurden im Jahr 2006 veröffentlicht: für Baden-Württemberg (Klauß, Lamers & Janz 2006) und für die Schweiz (Dietrich et al. 2006). Deren Erhebungen liegen allerdings gut 20 Jahre zurück, enthalten also keine aktuellen Zahlen. In Ermangelung neuerer Studien mit demselben Fokus stellen wir dennoch einige zentrale Befunde heraus, die sich bis heute wahrscheinlich nicht wesentlich geändert haben. Verwiesen sei daneben auf die neueren Erhebungen

zur Schülerschaft im sonderpädagogischen Schwerpunkt geistige Entwicklung in Bayern (Baumann et al. 2021) sowie

zur Schülerschaft an Sonderschulen für Lernende mit Körper- und Mehrfachbehinderungen in der Deutschschweiz (Willke & Schriber 2021).

Nach der erwähnten Betrachtungsweise lässt sich davon ausgehen, dass Kinder und Jugendliche mit komplexer Behinderung fast ausschließlich Förderschulen mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung (SGE) oder mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung besuchen (SME). Sie machen dabei (in Baden-Württemberg und der Schweiz) durchschnittlich einen Anteil von ca. 20 bis 30 % der Schülerschaft dieser Schulen aus (Dietrich et al. 2006, 40; Klauß, Lamers & Janz 2006, 30). Der Blick auf die Klassenzusammensetzung innerhalb der Schulen verrät, dass die meisten Lernenden mit komplexer Behinderung in Baden-Württemberg ausschließlich oder überwiegend zusammen mit ähnlich beeinträchtigten Schülerinnen und Schülern am Unterricht teilnehmen (Klauß, Lamers & Janz 2006, 312). Für die Schweiz stellen Dietrich et al. (2006) fest, dass 32 % der untersuchten Klassen (ebd., 126) und 13,5 % der untersuchten Schulen »ausschließlich [von] Lernende‍[n] mit schwerster Behinderung« besucht werden (ebd., 43).