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Eine ungewöhnliche und unterhaltsame Darstellung von 5000 Jahren Weltgeschichte
»Unterwegs in der Weltgeschichte« lädt zu einer spannenden Reise durch das Labyrinth der Weltgeschichte ein. Zu den Halte- und Wendepunkten, den Zwischenstationen, aber auch den Meilensteinen der Geschichte. Nicht immer sind es die ausgetretenen Pfade, häufig sind es eher versteckte Routen, auf denen die Geschichte voranschreitet. Immer aber sind es Orte und Zeiten, die Bewegung signalisieren und anzeigen, dass etwas Neues beginnt. Der große Alexanderzug gehört ebenso dazu wie der Geheimweg, auf dem die Perser den Engpass der Thermopylen überwanden. Natürlich das Mittelalter, als Herrschen für Kaiser oder Könige vor allem Herumreisen, Unterwegs-Sein hieß, aber auch die Seepassagen der Hanse oder der Karawanenverkehr auf der Seidenstraße; von all den Wegen, die nach Rom, zur Wartburg oder zu den Gewürzinseln im Fernen Osten führen, ganz zu schweigen.
Eine großartige Entdeckungsfahrt durch fünftausend Jahre Geschichte!
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Seitenzahl: 469
Hans-Christian Huf
Unterwegs in der Weltgeschichte
C. Bertelsmann
Warum man aus der Geschichte lernen kann
1. Das Projekt Mensch
2. Die Eroberung des Planeten
3. Blaues Wunder Babylon
4. Das Lächeln des Sphinx
5. Die Herren der See
6. Weltreise anno 1500 v. Chr.
7. Ein Gespenst kommt selten allein
8. Die Frösche am Teich und die Demokratie
9. Perser ante portas
10. Bis an das Ende der Welt
11. Alle Wege führen nach Rom – wirklich?
12. Felsen des Todes
13. Die Würfel sind gefallen
14. Wo die Erde den Himmel berührt
15. Helden und Hunnen
16. Allah unaufhaltsam
17. Ein Landweg für Schiffe
18. Das Kreuz und das Schwert
19. Wer ist der Größte im ganzen Land?
20. Die Macht und die 8
21. Ritter, Tod und Teufel
22. Kaufleute, Kriegsherren und Karawanen
23. Das große Leuchten
24. Der Umbau der Welt
25. Zum Teufel mit der Tinte
26. Geschmackstest für Gourmets
27. Ein Mann, ein Staat
28. König sein ist schwer – »erster Diener« noch viel mehr
29. Wie man sein Reich aufmöbelt
30. Sternschnuppen und Geistesblitze
31. Rollende Köpfe
32. Der Kuss des Leguans
33. Fahrstuhl in eine neue Welt
34. Freiheitsfackel im Sturm
35. Nationaler Horrortrip
36. Der große Knall und die Kraniche
37. Wer oder was sind wir?
38. Aufbruch ins 21. Jahrhundert
Dank
Bildnachweis
»Wunderbar war die Entdeckung von Amerika. Noch wunderbarer wäre es gewesen, wenn man es nicht entdeckt hätte.« Mark Twain
Die schönsten Pläne, das zeigt die Weltgeschichte immer wieder, können sich unversehens in Staub auflösen. Apropos, sehen Sie dort die Staubwolke? Scheinbar zieht ein gewaltiger Heerzug Richtung Westen. Es ist das Jahr 1241, Niederschlesien, wir sitzen auf einer Anhöhe. Man erkennt Pferde. Eine riesige Horde von Reitern. Eigentlich sogar die Horde, denn von ihr stammt das deutsche Wort »Horde« her. Nämlich vom Wort ordon, zu Deutsch »Palast«, mit dem das Palastzelt des Anführers dieser reitenden Krieger bezeichnet worden sein soll. Ahnen Sie was? Es sind die Mongolen auf ihrem Weg nach Westen. Sie haben soeben mit ihrem Erscheinen alle Kalkulationen auf ein ruhiges, normales Leben vom Tisch gefegt.
Die einen machen weiter wie immer, die anderen ändern alles im Handstreich. Das sind die zwei wesentlichen Kräfte in der menschlichen Geschichte. Sie kennen das aus Ihrem Büro. Aus dem Aufeinandertreffen dieser Kräfte entsteht Überraschung, das Unvorhersehbare, das Neue, Aufregende, oft auch Tödliche. Es ist ein immer gleiches Geschehen, aber in immer neuen Varianten. Was es so interessant macht, das ist der Nutzwert für die Gegenwart. Wir können von unseren Vorfahren lernen, weil sie uns so ähnlich sind. Gut, vielleicht würden wir ein paar Tische weiterrücken, wenn in unserem Lieblingslokal einer unserer Urahnen aus dem 16. Jahrhundert zum Abendessen erschiene. Schließlich waren die damaligen Deutschen in den zivilisierteren Ländern Europas berüchtigt für ihre ungepflegten Tischmanieren. Grundsätzlich aber wäre unser Vorfahr gar nicht so ungeheuer fern von unserer Welt, nur eben geprägt von seinen sehr viel härteren Lebensumständen und einer anderen Erziehung.
Die Welt insgesamt ändert sich gar nicht so schnell, wie wir das immer denken. Wenn man sich einmal umsieht in unseren Dörfern und Städten, dann erkennt man überall mittelalterliche Stadtplanung. Da ist die Burg, dort das Rathaus, der Markt wurde so breit angelegt, damit die sperrigen Ochsenkarren drauf wenden konnten. Oft stehen sogar die originalen Mauern noch, die von Touristen so gerne besucht und von uns so gerne bewohnt werden. Viele unserer Kirchen stehen seit dem Frühmittelalter auf demselben Platz. Gut, wir haben in den Großstädten die Pferdebahnen des 19. Jahrhunderts elektrifiziert und nennen sie Straßenbahnen, wir haben in unsere Kutschen Explosionsmotoren eingebaut und nennen sie Autos, aber mit den Straßen selber folgen wir immer noch den Wegen unserer Vorfahren aus dem Mittelalter. Die Auswirkungen der Geschichte zeigen sich überall. Bis heute sind wir Deutschen im Ausland dafür berüchtigt, dass wir viel Fleisch und Wurst essen, wenn wir können. Das las man so schon zu Zeiten unseres Urahns vor 500 Jahren. Offenbar hat sich gar nicht so viel geändert.
Es ist kein Zufall, dass die Drehbuchautoren der großen Hollywood-Filme ihre weltweit erfolgreichen Stories noch immer nach den Mustern antiker griechischer Dramen ausrichten. Da gibt es Geschichten von Verrat und Hass, politischen Intrigen und Familienfehden, von Freundschaften und verschmähter Liebe, von Helden, die etwas Verlorengegangenes mit allen Mitteln zurückerobern wollen. Zwar stammen diese Erzählungen aus einer Zeit, als noch leibhaftige Götter in der sonnendurchglühten Wildnis Griechenlands herumspazierten, immer auf der Suche nach einem kleinen Abenteuer mit einer gutwilligen Hirtin, aber in seinen Grundzügen funktioniert das antike Theater noch heute, 2500 Jahre später. Egal, wie verschieden die Ideen vom Leben und Sterben auch gewesen sein mögen, die Grundidee des menschlichen Handelns war und ist doch dieselbe. Wenn man die Aufzeichnungen aus historischer Zeit aufschlägt, sieht man bei allen Unterschieden von Sitten und Gebräuchen immer wieder dasselbe Bild.
Caesar, ohne den es das schöne deutsche Wort »Kaiser« nie gegeben hätte, strebt zur Macht, will sie erringen, nimmt tausend Schwierigkeiten in Kauf, führt Krieg in weit entfernten Weltgegenden, arbeitet sich mit tödlicher Konsequenz nach oben, um endlich den Lorbeerkranz zu tragen. Dann wird er vom Meuchelmörder aus dem Freundeskreis eben deswegen umgebracht. Sie sagen, Sie kennen die Geschichte schon? Jedenfalls so in etwa, nur ohne Mord? Von Ihrem Vorgesetzten, Amtsdirektor, Bekannten? Von einem bekannten Politiker unserer Zeit? Nehmen Sie statt Caesar John F. Kennedy oder einen anderen großen Namen der jüngeren Vergangenheit. Schon passt die Sache. Das Rad der Geschichte dreht sich, aber es kommt dabei nur sehr langsam voran. Paradoxerweise lohnt sich gerade deswegen die Betrachtung. Man kann aus der Betrachtung der Geschichte durchaus Nützliches für die Gegenwart lernen. Zum Beispiel die Grundmuster politischen Handelns.
Wenn man wieder einmal eine nervtötende Politikerrede gehört hat, kann man sich immer noch an den altrömischen Politiker Cato erinnern, der jede, und wirklich jede, seiner zahllosen öffentlichen Reden mit dem Satz abschloss: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam«, also: »Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.« Das tat er so lange, bis Rom, vollkommen entnervt von diesem unerträglichen Dauerfeuer, wirklich Karthago bis auf die Grundmauern niederbrannte und alle Karthager versklavte. Es hatte in dem Zusammenhang noch andere, weiter reichende Gründe für diesen verheerenden Kriegszug gegeben, aber Sie können sicher sein, dass Cato selbst sein rednerisches Talent als alleinige Ursache ausmachte. Catos endlose, immer wiederkehrende Formel ist sozusagen ein Urahn allen unerträglichen Politikersprechs und ein Beweis dafür, wie viel man erreichen kann, wenn man sich einfach immer nur wiederholt.
Ach diese Anführer! Alexander, Caesar, Napoleon, wie sie alle heißen. Alle wollen irgendwie nach oben. Und wenn sie dort erst mal sind, herrscht im besten Fall Ratlosigkeit. Das stärkste Gift der Welt, schrieb der englische Dichter William Blake einmal, wurde aus Caesars Lorbeerkranz destilliert. Alle, die nach ihm kamen, wollten davon kosten, meistens auf Rechnung ihrer näheren und weiteren Umwelt. Man muss es einfach akzeptieren: Die Mächtigen unterscheiden sich nicht so wesentlich von uns Normalmenschen, wie man das gerne glauben mag. Gut, manche sind gerissener, skrupelloser, böser, einige wenige vielleicht auch klüger. Sie haben tendenziell bessere Informationsquellen, was aber noch nicht heißt, dass sie aus diesen Brunnen der Weisheit auch schöpfen. Wir sind, wenn man mal ganz ehrlich ist, auch nicht besser, haben aber oft weniger Gelegenheit, Schaden anzurichten. Das ist ein Vorteil, zugegeben, aber an sich noch kein Verdienst. Wer oben auf dem Deck des Flaggschiffs steht, mitten in einer Seeschlacht, und den Admiralshut trägt, der muss auch als Admiral handeln. Der trägt damit auch das Risiko des Irrtums und des Scheiterns. Dummerweise hat das oft verheerende Konsequenzen.
Trotzdem sollte man aus der Geschichte nicht nur das Misstrauen gegenüber allen Mächtigen, sondern durchaus auch Verständnis für ihre Probleme lernen. Wenn man sich einmal in die Position des Admirals Horatio Nelson versetzt, der im Herbst 1805 vor dem Kap Trafalgar inmitten unerträglichen Lärms vom Dauerfeuer mehrerer hundert Kanonen auf Deck seines passend benannten Schiffs »Victory« steht, ungeschützt im Kugelhagel, inmitten von Pulverdampfschwaden, tödlich umherfliegenden Holzsplittern, umgeben von Toten und schreienden Verwundeten, mit seinem gut sichtbaren Hut eine lebende Zielscheibe, dann gewinnt man schon einen gewissen Respekt für die Leistung dieses Menschen. Mitten im Chaos gibt er noch ganz klare, kontrollierte Anweisungen, die eine Armada von tödlich bewaffneten Segelkriegsschiffen zu einem epochalen Sieg für das British Empire lenken.
Die meisten von uns wären längst kreischend über Bord gehüpft, aber nein, dieser kleine, schmächtige Mann, kriegsverwundet und früh gealtert, mit nur noch einem Arm und einem Auge, er steht da, gewinnt die Schlacht für England und lässt sich zur Belohnung von einem feindlichen Scharfschützen totschießen. Man mag das blutige Verblendung nennen, aber eine ungewöhnliche Leistung ist es doch. Angesichts solcher Heldensagen sollte man allerdings nicht vergessen, dass die meisten edlen Taten der Menschheitsgeschichte niemals aufgeschrieben wurden. Von den Matrosen auf Nelsons Schiffen ist beispielsweise deutlich weniger die Rede. Und den vielen Frauen der Geschichte hat ohnehin nie jemand ein Denkmal gesetzt. Haben Sie einmal gezählt, wie viele Statuen unter den Monumenten einer beliebigen europäischen Großstadt real existierende Frauen der langen europäischen Geschichte zeigen? Vermutlich keine einzige! Diejenigen Brunnen und Denkmalssockel, auf denen die Anwesenheit von Damen nur ein Vorwand ist, lüstern entblößte Weiblichkeit zu zeigen, sollen ausdrücklich nicht mitgezählt werden.
Die Eroberung der Welt
Immer gibt es jemanden, den man nicht mag. Diese Barbaren! Auch so ein Wort, das aus dem alten Griechenland stammt. Damals bezeichnete man damit jene ebenso bedauerns- wie verachtenswerten Menschen, die nicht ordentlich Griechisch sprachen. Ihre raue Rede klänge wie »br br«. Daher das Wort barbaroi. Interessanterweise sind es ja immer die anderen, drüben, jenseits der Grenze. Man selbst hat selbstverständlich immer recht. Aus diesem sehr eingeengten Blickwinkel auf das Fremde entstehen oft gröbere Irrtümer. Man sieht förmlich einen Politiker der römischen Zeit vor sich stehen, der im vierten Jahrhundert unserer Zeit inbrünstig die ewige Macht Roms beschwört und seine Rede mit den Worten enden lässt: Diese Barbaren werden niemals genug Macht erringen, um Rom gefährlich zu werden, denn sie sind unfähig zu jeder höheren kulturellen Entwicklung. Und wenig später erringen sie dann die Macht, und dann sind sie da. Oft stellt sich in der Folge heraus, dass der vermeintliche Barbar die jetzt Bezwungenen und vermeintlich Zivilisierten selber für Barbaren hält. Merke: Die Barbaren von früher sind gar nicht selten die Herrscher der Zukunft. Dann errichten sie ein neues Reich und missachten neue Barbaren an den Grenzen.
Auch dies kann man aus der Geschichte lernen: wie oft der Mensch darin zu kurz gedacht hat. Wenigen segensreichen Einsichten stehen lange Perioden totaler Verblendung gegenüber. Immer wieder haben Menschen sinnlose Feindschaften gepflegt, Kriege geführt, Mitbürger aus den aberwitzigsten Gründen ermordet. Es ist noch gar nicht so lange her, da konnten Frauen nicht wählen, da waren Arbeiter und Bauern nur dazu da, um den Mächtigen ein angenehmes Leben zu garantieren. Die Geschichte zeigt dem interessierten Betrachter in einem bunten Bilderbogen, was geschieht, wenn man so einfältig denkt. Wie steril und tot eine Gesellschaft ist, aus deren Mitte man die Frauen verdrängt! Wie krisengeschüttelt eine Ausbeutergesellschaft, in der jeder nur seinen Vorteil wahrnimmt und den Schwarzen Peter nach unten durchreicht! Wie aggressiv und am Ende selbstzerstörerisch der Hass auf alles Fremde und Andere sich äußert! Man kann sich angesichts dieser Vorgeschichte immerhin vornehmen, es besser zu machen, auch wenn durchaus nicht sicher ist, dass es einem auch gelingt.
Oft erreicht man ja genau das Gegenteil des ursprünglich Gewollten. Sehen Sie sich einmal um. Wir stehen auf dem Petersplatz, an einem lauen römischen Frühlingstag, und dort drüben, das sind die Mauern des Vatikans. Lange ging es in den ehrwürdigen vatikanischen Palästen trotz der göttlichen Berufung ihrer Bewohner überaus irdisch zu, da wurden Kinder gezeugt, Gifte an Konkurrenten ausprobiert, kurz: Der Papstpalast war ein Abbild der Welt, nur etwas konzentrierter. Machiavelli, der toskanische Theoretiker der Politintrige, dessen Name längst sprichwörtlich geworden ist, hat aus der Beobachtung unter anderem dieser Zustände seine Theorien vom Machterhalt entwickelt. Und über den hatten die Päpste allerdings vieles zu berichten, ebenso wie über die Erweiterung ihrer Macht. Bizarrerweise wandelte sich unter ihrer Herrschaft die friedliche Botschaft des jüdischen Philosophen Jesus zu einem angriffslustigen Dogma. Dieser Leiter einer jüdischen Splittergruppe hatte wenige Jahrzehnte nach dem Jahr eins seine Ansichten immer weiter reformiert und seinen sehr wenigen Anhängern radikale Wahrheiten von der Gnade Gottes und von der Feindesliebe verkündet. Mehr als tausend Jahre später überzogen völlig andere Menschen in seinem Namen die Welt mit Krieg. Ohne Jesus keine Bergpredigt und keine Christen, ohne Christentum kein Papst in Rom, keine Kreuzzüge, keine Ketzerverfolgung und kein europäischer Kolonialismus. So war das doch eigentlich nicht gedacht.
Die großen Eroberungszüge der europäischen Neuzeit boten für alle Beteiligten eine befriedigende Mischung aus heiligem Auftrag, Abenteuerlust, Gier und der Hoffnung auf einen angenehmen Platz im Paradies. Zu einer Zeit, als die irdische Existenz sehr schmerzhaft und kurz sein konnte, war dieser letzte Beweggrund nur zu verständlich. So begann für die Europäer die große Reise nach Übersee mit den mittelalterlichen Kreuzzügen. Ob dabei die eigentlich zu rettenden christlichen Heiligtümer Konstantinopel oder Jerusalem eher geplündert als gerettet wurden, wen kümmerte es. Weiter und weiter wagten sich die Europäer in die Welt hinaus, von der sie seit römischer Zeit immer mehr die Kenntnis verloren hatten. Man nennt es gerne das Zeitalter der Entdeckungen. Dazu sei ausdrücklich gesagt, dass Entdecken und Entdecktwerden zwei sehr unterschiedliche Angelegenheiten sind. So bekamen die Menschen am Rande der europäischen Welt ihre Kenntnis von den Fortschritten der Europäer immer dann, wenn wieder ein Heerzug in ihre Länder einbrach oder ein Kriegsschiff sich ihnen bedenklich näherte. Sehr viele von ihnen haben den wirtschaftlichen Aufschwung Europas mit ihrem Leben bezahlt. Sie legten vermutlich überhaupt keinen Wert darauf, von uns entdeckt zu werden.
Das mit der Entdeckung Amerikas war am Ende auch so ein Zufall. Was wäre eigentlich passiert, wäre Kolumbus daran vorbeigefahren oder vorher in einen tödlichen Sturm geraten? Wäre er dann so berühmt geworden, dass man – wie Mark Twain schrieb – in einem Museum in Havanna zwei seiner Schädel ausgestellt haben soll, den des jungen Kolumbus und den des erwachsenen? Die Geschichte des Entdeckers Christoph Kolumbus ist so abenteuerlich, dass sie eigentlich nur wahr sein kann. Er fuhr mit der sicheren Gewissheit los, in Richtung Westen den Osten zu erreichen. Die karibischen Inseln hielt er für Vorboten des indischen Festlands. Und bis zu seinem Tod hielt er daran fest, auf dem amerikanischen Festland eigentlich Indien entdeckt zu haben. Zum Dank nennen wir die Menschen, denen er dort begegnete, bis heute Indios beziehungsweise Indianer. Mit Kolumbus’ starrsinniger Suche nach den Reichtümern der östlichen Länder begann auf dem amerikanischen Kontinent der Wahnsinn des Goldrausches. Immer mehr Menschen strömten über das Meer, um irgendwo in Urwäldern, Steppen oder auf Bergen Städte aus Gold zu finden.
Reisen durch die Geschichte
Einer der Ideengeber für die Hatz nach der goldenen Stadt war daran vollkommen schuldlos. Er hieß Marco Polo, lebte in Venedig und hatte Jahrhunderte zuvor die Reise immer weiter nach Osten angetreten, weit über die Grenzen der bekannten Welt hinaus. Er war nicht der Erste in der Familie, denn er folgte den Spuren seines Vaters und Onkels, die beide schon Peking erreicht hatten und ihn nach ihrer Rückkehr mit auf eine zweite Reise durch das Reich des mongolischen Großkhans nahmen, der über große Teile Asiens herrschte. Obwohl alle drei wohlbehalten in ihre Heimatstadt zurückkehrten, ist nur Marco Polo der Nachwelt bekannt geblieben. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Er hat seine Reise aufgeschrieben für die Nachwelt und von unglaublichen Reichtümern im Osten berichtet. Menschen wie ihn gab es zu allen Zeiten.
Durch das antike Griechenland bis nach Ägypten wanderte Pausanias und schrieb alles auf, was ihm von Bedeutung erschien. Auch die islamische Welt des Mittelalters kannte phänomenale Reisende wie Ibn Jubayr und Ibn Batuta, die wirklich unglaubliche Touren durch ferne Gegenden und Kulturen unternahmen, alle Widrigkeiten und Gefahren überlebten und zu Hause von ihren Erlebnissen berichteten. Stellen Sie sich einmal vor, eine Reise in fremde Länder über viele Jahre zu unternehmen, ohne Reiseführer, Sprachkenntnisse, Reiseleiter, ohne Kreditkarte, Autos, Expeditionsbekleidung, ohne Medikamente oder Ärzte, ohne Landkarten oder Navigationsgeräte, durch Landstriche, in denen wilde Tiere und Räuberbanden den Reisenden erwarten, durch die Staaten verrückter Gewaltherrscher, in denen Krieg und Anarchie herrschen. Können Sie sich nicht vorstellen? Diese Reisenden haben genau das getan.
Mit den Eroberungszügen der Europäer und den verbesserten Verkehrsmitteln zu Wasser und zu Land wurde es dann immer einfacher, die Welt zu umrunden. Der Erste, der das aus rein touristischem Interesse tat, quasi unser aller Urahn im Bereich der Urlaubsreise, war ein heute ziemlich vergessener italienischer Kavalier namens Giovanni Francesco Gemelli Careri. Er startete seine Reise 1693 und brauchte für die Weltumrundung volle fünf Jahre. Nicht ganz 200 Jahre später ging das deutlich schneller. 1872 organisierte der britische Prediger Thomas Cook für eine Touristengruppe die erste kommerzielle Reise um die Welt. Zu sehr stolzem Preis enthielt sie den Dampfschifftransfer über den Atlantik, eine Postkutschenreise quer durch die USA, die Fahrt von der Westküste mit dem Schaufelraddampfer nach Japan und eine anschließende Landpartie durch China und Indien inklusive Rückreise. Thomas Cook und seine Gruppe benötigten dafür genau 222 Tage. Nur ein Jahr später schrieb der französische Abenteuerschriftsteller Jules Verne seinen berühmten Roman »In achtzig Tagen um die Welt«. Klar, woher er seine Inspiration hatte.
Rund um den Globus hatten die staunenden Reisenden Orte gefunden, an denen sich die Geschichte der Weltkulturen ablesen ließ. Was hatten diese Orte zu bedeuten, und wie hing das alles zusammen? Stellen Sie sich einmal vor, wir wären solche Reisende und flögen mit einem Heißluftballon über eine ganz unbekannte Landschaft. Das wäre ein Abenteuer! Nun, wagen wir einmal einen Blick hinunter über den Rand des Ballonkorbes. Hoffentlich sind Sie schwindelfrei. Eine trockene Ebene, darin ein Fluss, der in der Hitze ein bisschen ermüdet daliegt. Der Euphrat. Es ist gewaltig heiß, selbst hier oben im Ballon. In der flirrenden Hitze erkennt man auf einem gewaltigen Areal deutlich Reste von Lehmbauten. Das ist Babylon oder jedenfalls das, was davon heute noch übrig ist. Eigentlich unglaublich, dass ein solcher Mythos wirklich existiert. Aber hier ist der Beweis. Man spricht immer vom »Turmbau zu Babel«, vom »babylonischem Sprachengewirr«. Aber den Ort gibt es, man kann ihn ansehen. In Babylon wurde der erste Gesetzestext festgehalten, jedenfalls der erste, den man bisher gefunden hat. Sie werden lachen, aber letztlich gehen alle unsere Gesetze auf diese ersten Versuche zurück. Ein Grund mehr, sich mit dieser Geschichte konkret zu beschäftigen.
Nur ein Experiment: Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten für Sie eine Zeitmaschine gebaut. Sie dürfen den Apparat jetzt ausprobieren. Schnell die Koordinaten von Babylon eingestellt, die Zielanzeige wird auf das Jahr 1680 vor der Zeitenwende fixiert. Gut festhalten, es wird unruhig, immerhin reisen wir fast 3700 Jahre zurück in der Zeit. Ah, das Rütteln hört auf, wir sind offenbar angekommen. Nun die Tür der Zeitkapsel öffnen. Gleißendes Licht, furchtbare Hitze. Und da hinten eine gewaltige Lehmmauer, die sich aus der Ebene erhebt. Sieht aus wie eine Großstadt. Man ahnt die Zinnen vieler Türme. Hinter den Umfassungsmauern scheinen sich noch viel höhere Gebäude zu erheben. Der Weg durch eines der Haupttore, die mit bunt glasierten Ziegeln verkleidet sind, führt hinein in dieses Weltwunder, die Stadt des Gottes Marduk und seiner Könige. Man sieht die Türme der Tempel hoch aufragen, das ist wirklich unvorstellbar.
Noch ein Versuch gefällig? Gut, wir stellen den Apparat auf das alte Ägypten ein. Schon sind wir da. Sehen Sie diese steinernen Spitzen, gewaltige Baukörper, die aus der Wüste ragen? Man sieht Rampen, die hinaufführen, und Heerscharen von Arbeitern, die mit Seilen, Hölzern und Winden Steine über den Abhang nach oben fördern. Das sind die Pyramiden von Giseh, bis heute unbegreifliche Wunder der Ingenieurskunst. Sie bestätigen, dass die Menschen früherer Zeiten nicht dümmer waren, als wir es heute sind. Vielleicht können Sie mit Computern umgehen, aber diese Leute kennen dafür die Gesetze der Mechanik. Die wissen, wie man mit Seilen, Rollen, Schlitten und ein paar Kanthölzern schwerste Lasten bewegt. Die Pyramiden, die wir hier eben im Bau sehen, sind der Versuch, die Unsterblichkeit und unendliche Macht eines einzigen Menschen zu beweisen, des Pharao, des göttlichen Herrschers über ganz Ägypten. Tausende von Jahren besteht das ägyptische Reich mit seiner eigenen Schrift und Sprache, mit seinen Kulten, seiner komplizierten Landwirtschaft, die das Überleben im Niltal sichert. Was sind da schon ein paar Jahrhunderte unserer eigenen Epoche! Babylon und die Pyramiden von Giseh, das sind Monumente der Vergangenheit, die längst selber zu Begriffen geworden sind, zu Mythen unserer Welt. Jeder von uns hat ein Bild vor Augen, wenn man von ihnen spricht.
Das sind die Grundlagen unserer Kultur, in Stein gehauen: die weißen Steine der Akropolis, hoch oben über Athen, die immer noch gigantischen Reste der Bauten des alten Rom. Ohne Athen kein Rom, ohne Rom kein Europa. In Rom zeugen das Kolosseum und der mächtige Vatikan von den beiden Epochen seiner weltumspannenden Macht. Auf dem Tempelberg in Jerusalem, der Juden, Christen und Muslimen heilig ist, sieht man, wie diese scheinbar weit entfernten Religionen zusammengehören, wie sie aus einer gemeinsamen Wurzel stammen. In der Hagia Sophia im heutigen Istanbul, einst Kirche der byzantinischen Welt, dann Moschee, schließlich Gedenkort und Museum, wird die fließende Grenze zwischen dem sichtbar, was wir Orient und Okzident bzw. Westen nennen. In Aachen kann man heute den Kaiserthron bestaunen, auf dem Karl der Große vor 1200 Jahren Platz nahm, jener legendenumwobene Kaiser, der allen späteren Herrschern Europas zum Vorbild diente.
Die italienischen Städte Venedig und Florenz erzählen mit ihren Palästen und Museen noch immer von der Erfindung des modernen Kapitalismus in der italienischen Renaissance. Madrid mit den Goldschätzen der spanischen Könige ist der Ort des vollendeten Kolonialismus, Paris mit dem Palast von Versailles das Zentrum einer vollkommenen Königsmacht. Im Gegensatz dazu war Berlin lange eine verschlafene Kleinstadt, aber als die preußischen Könige das ganze Land zur gut gedrillten Kaserne umfunktionierten, da entstanden Fabriken und Vorstädte in der damals modernsten Stadt der Welt. In London fand die weltumspannende Industrialisierung, die Globalisierung des 19. Jahrhunderts, ihren Höhepunkt. Auf den Schlachtfeldern von Verdun endete dann für Jahrzehnte jede Hoffnung auf eine menschliche Gesellschaft. Und New York, das ist das Symbol unserer Zeit, eine Megacity voller Geschwindigkeit und Größe. Das Wahrzeichen der Stadt waren die sogenannten Twin Towers. Dass ebenso naive wie gewissenlose Verschwörer glaubten, sie müssten nur die Türme zu Fall bringen, um auch die von ihnen verabscheute Modernität abzuschaffen, zeigt, wie mächtig diese Symbole sind.
Der Sichtbarmacher
Nicht alle Zeugnisse der Vergangenheit sind so leicht erkennbar. Was im sogenannten Neolithikum geschah, in der Jungsteinzeit, das war mindestens so revolutionär wie die Industrialisierung der Welt in unserer Zeit. Vielleicht sogar bedeutender. Nur sind die Zeichen jener Epoche längst verfallen, alle Holzhäuser und Hütten verrottet, die Töpferwaren zu Scherben zermahlen, die Steinwerkzeuge unter der Erdoberfläche verborgen. Und kein Korrespondent, kein Reisender hat seine Erlebnisse aus dieser Zeit für uns aufgeschrieben. Dabei hätten uns die Menschen des Neolithikums viel zu erzählen, denn sie vollzogen den Übergang zum Ackerbau und zur Sesshaftigkeit in festen Siedlungen. Wie sie bearbeiten wir immer noch das Land und leben heute in unserem wohlgeordneten Wohnviertel. Wir sind unseren Vorfahren viel näher, als wir denken. Um diese ferne und doch nahe Vergangenheit aufzudecken, braucht man eine ganz andere Art von Reisenden. Er zieht nicht in die Ferne, sondern gräbt sich ganz geduldig und maulwurfsartig großflächig nach unten in Richtung Erdmittelpunkt. Das ist der Archäologe.
In den alten Städten Europas hat man immer wieder bei Bauarbeiten in den Kellergeschossen Überreste von Gebäuden gefunden, auch Statuen, Vasen, Reste von Werkzeugen. In Rom gab und gibt es Stadthäuser, in denen Kellertreppen steil in die Tiefe führen, bis man finstere Räume betritt, die mit geheimnisvollen Wandmalereien bedeckt sind, Tempel und Paläste aus antiker Zeit. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg hatten die Menschen offenbar immer wieder neue Bauten auf die alten gesetzt und dabei immer höhere Schuttberge angehäuft, zu deren unteren Schichten es schließlich nur noch wenige, verborgene Zugänge gab. Es war also logisch, die Zeugnisse älterer Zeiten weiter unten im Erdboden zu suchen. Und was man dort fand, das änderte die gesamte Ansicht der Weltgeschichte. Nicht nur Reste jungsteinzeitlicher Siedlungen wurden sichtbar, sondern ganz unbekannte Kulturen. Die antike Welt von Mykene, mit ihren rätselhaften Kulten und ihren prachtvollen Palästen, wäre völlig im Dunkeln geblieben, hätte man sie nicht Stück für Stück ausgegraben. Unter der Erde lagen völlig neue Einsichten, von den Archäologen aufzublättern wie ein Buch.
Aber was wäre der Archäologe ohne sein Pendant, den Schreibtischtäter der Geschichtsschreibung? Während der Archäologe eine Entwicklung der letzten hundert Jahre ist, gibt es den Historiker schon sehr viel länger, vermutlich schon so lange, wie man miteinander spricht. Im fünften Jahrhundert vor der Zeitenwende lebte der berühmteste aller Geschichtsschreiber, Herodot von Halikarnassos. Schon die Römer kannten ihn als »pater historiae«, das heißt auf Deutsch »Vater der Geschichtsschreibung«. Er beschrieb in seinen sogenannten Historien den Krieg der Perser gegen die Griechen. Selbstverständlich bezog er dabei Partei, nämlich die seines eigenen Volkes, der Griechen. Aber er bemühte sich doch, die ganze Geschichte zu verstehen, auch was dem Angriff der Perser nämlich vorausging und wie das Perserreich überhaupt dazu kam, Griechenland anzugreifen.
Das ist Geschichtsschreibung, das Zusammentragen vieler Berichte, das Bewerten, das Erzählen des Ganzen in einer Geschichte. Bis heute ist allerdings umstritten, ob Herodot überhaupt je, wie er behauptete, seinen Schreibtisch verließ, um an die Orte des Geschehens zu reisen. Immerhin berichtete er von Ameisen in der Größe »zwischen einem Fuchs und einem Hund«, die in Indien Gold ausgruben. Das wirft doch einige Zweifel auf, meinen Sie nicht? Am besten sollten Sie auch dem Historiker nicht einfach glauben, sondern selber weitere Nachforschungen anstellen. Sie würden ja auch Ihrem Chef in der Firma nicht einfach glauben. Wenn man selber Bücher liest, weiß man schon mehr. Vielleicht fährt man auch einfach mal hin an den Ort des Geschehens. Dann sieht man schon, ob die Ameisen dort wirklich so groß sind, wie sie scheinen. Und ob sie wirklich nach Gold graben. Wir haben das gemacht, wir sind einfach mal hingefahren.
Lassen Sie uns, den Aufzeichnungen aus früherer Zeit, den Erkenntnissen aus vielen Ausgrabungen und der Geschichtsschreibung zweier Jahrtausende folgend, einen kleinen Streifzug durch die Weltgeschichte machen. Dabei gehen wir keinen geraden Weg, sondern ziehen durch die Landschaft unserer eigenen Geschichte, wie es uns gerade gefällt. Auf diese Art, da werden Sie mir zustimmen, lernt man doch unbekannte Gebiete am besten kennen. Es geht auf und ab, über Stock und Stein. Ab und zu erreicht man Aussichtspunkte, von denen man die weite Landschaft der Vergangenheit überblickt. Wir werden dabei vielleicht niemals die ganze, unendlich komplizierte Wahrheit und alle ihre Details gleichzeitig sehen können, denn wir haben ja nur zwei Augen, und beide unpraktischerweise auf derselben Seite des Kopfes. Aber wir können dort an unserem Standpunkt beginnen, einen ersten Überblick zu gewinnen. Dann können wir auch anfangen, aus der Geschichte zu lernen.
Und das wäre doch wirklich wünschenswert, meinen Sie nicht?
Sicher haben Sie schon einmal die eindrucksvollen Tierdarstellungen gesehen, die vor rund 32 000 Jahren an die Felswände der französischen Grotte Chauvet gemalt worden sind. Oder Sie haben die großartigen Panorama-Bilder bewundert, mit denen Steinzeit-Künstler etwa 15 Jahrtausende später die 1940 entdeckte Höhle von Lascaux ausgeschmückt haben.
Was sind gegen solche grandiosen Zeugnisse prähistorischer Kreativität ein paar Fußstapfen in der Vulkanerde von Tansania? Und doch üben die insgesamt 69 fossilen Abdrücke, die sich in der wie Zement erhärteten Asche zu einer 27 Meter langen Fußspur addieren, auf den Betrachter einen merkwürdigen Zauber aus. Wer war es, der hier unterwegs war? Und wohin führt die Spur?
Die Spur führt tief in die Vergangenheit, und der Autor der Fußabdrücke war mit Sicherheit nicht allein. Es waren drei Vormenschen der Gattung Australopithecus, die hier in Laetoli in der Nähe des Vulkans Sadiman vor 3,6 Millionen Jahren unterwegs waren und in eine Aschewolke gerieten. Der feuchte Boden und die nachfolgende Sonneneinstrahlung konservierten ihre Schritte wie in einer Zeitkapsel.
Was mögen sie gesehen haben, als sie sich – wie die Abdrücke zeigen – in der Mitte der Spur umdrehten und nach Westen blickten? Wir wissen es nicht, aber wir wissen etwas anderes: dass sie auf zwei Beinen durch die Vulkanasche tappten und den Fuß dabei abrollten. Die Trittspuren von Laetoli sind ein einzigartiger direkter Beweis für das aufrechte Gehen in einer noch relativ frühen Epoche der menschlichen Evolution. Das Projekt Mensch war also – wortwörtlich – in Gang gekommen.
Dreieinhalb Millionen Jahre zuvor und rund drei Milliarden Jahre nach Entstehung des Lebens auf der Erde hatte die Natur mit diesem Experiment begonnen – ihrem größten und folgenreichsten. Das geeignete geologische Laboratorium dafür war soeben fertig geworden: der 6000 Kilometer lange Afrikanische Grabenbruch, das tektonisch labile »Great Rift Valley«, das in Nord-Süd-Richtung vom heutigen Syrien über Äthiopien und Tansania bis nach Mosambik reicht.
Die überdimensionale Furche, flankiert von feurigen Vulkanbergen, Nahtstelle nahrungsreicher Urwälder auf der einen, offener Savannen auf der anderen Seite, ist das Ergebnis auseinanderdriftender Kontinentalplatten. Die Erdkruste bricht auf, der Dschungel bekommt Lücken und Lichtungen, die Voraussetzungen zum Überleben verändern sich.
So entstehen – vor sieben Millionen Jahren – die idealen Kulissen und die perfekte Probebühne für den aufrechten Gang, mit dem später die Pioniere der Gattung Homo den Traditionsbruch zu ihren kletterfixierten Urahnen einleiten werden, um schließlich auf zwei Beinen von Ostafrika aus die Welt zu erobern. Wir werden, wenn es so weit ist, ihren Routen folgen.
Das menschliche Skelett setzt sich aus mehr als 200 Knochen zusammen. Verschwindend klein mutet dagegen das Knochenarsenal der Paläontologen an. Aus höchstens 3000 über den Globus verstreuten Funden versuchen sie die verschiedenen Akte und Akteure des Dramas der menschlichen Evolution zu rekonstruieren. Der Boden ihrer Forschungen hat sich dabei immer wieder als genauso schwankend erwiesen wie der afrikanische Graben selbst.
Doch auch hier gab es Lichtungen, Lichtblicke. Vor allem dann, wenn die Forscher dem folgten, was der reinen Lehre nach eindeutig dem genetisch gesteuerten Verhaltensprogramm unserer tierischen Vorfahren, nicht aber dem vernunftbegabten Handeln des Homo sapiens zuzuordnen ist: ihrem Instinkt.
So ließ sich der genialische Dickschädel Louis Leakey, der als Kind britischer Missionare in Kenia aufgewachsen war und dann in Cambridge Anthropologie studiert hatte, auch durch die geballte Missachtung der schädelforschenden Zunft nicht davon abbringen, die Anfänge der Menschheitsgeschichte auf einem zerklüfteten Flecken Erde im Norden Tansanias zu suchen. Seit Anfang der 1930er-Jahre bargen Louis und Mary Leakey an den Steilhängen der Olduvai-Schlucht westlich des Ngorongoro-Kraters Fossil um Fossil.
Nicht immer waren die Funde das, für das die Leakeys sie hielten, aber stets erwiesen sie sich als signifikante Elementarteilchen im großen Puzzle der Evolution. Und, in der Summe, als unwiderlegbares Votum für Afrika als Wiege der Menschheit, als Kontinent des Ursprungs. Das asiatische Modell, das manche Forscher über Jahrzehnte favorisiert hatten, war damit passé.
Das öffentliche Interesse an solch mühsamer anthropologischer Detektivarbeit hielt sich freilich sehr in Grenzen. Während das Katastrophenszenario, das zur Auslöschung der Dinosaurier führte, künstlerische Fantasien jeglicher Spielart beflügelt und nicht nur in den Kinos, sondern selbst in den Museen zu Besucherrekorden geführt hat, ließen die frühen Spuren der Menschheitsgeschichte das Publikum lange Zeit merkwürdig kalt.
Jenseits verständlicher Begeisterung für das unabweisbar Spektakuläre dieses Untergangs der Giganten, die über Jahrmillionen die Erde beherrscht hatten, mag ein feines Gefühl der Trauer und der Anteilnahme dabei mitgespielt haben. Trauer darüber, wie vergänglich auch das Große und scheinbar Unzerstörbare ist, vermischt mit der Ahnung, dass auch dem Homo sapiens eine Entwicklung bevorsteht, die auf Abschied und Endlichkeit weist.
Vielleicht waren die eigenen Knochen aber auch einfach nur zu mickrig und zu uninteressant.
Auf jeden Fall hat eine einzige Filmszene aus dem Jahr 1968 das alles geändert.
Sie stammt aus Stanley Kubricks Meisterwerk »2001 – Odyssee im Weltraum«: Der Anführer einer Affenhorde – im Drehbuch heißt er Moonwatcher, im Film bleibt er unbenannt – schleudert einen großen ausgebleichten Knochen in die Luft, den er soeben als Waffe benutzt hat. Die Kamera verfolgt seinen Flug bis zum Umkehrpunkt und darüber hinaus. Dann verwandelt sich das primitive Werkzeug in einen technologisch fortgeschrittenen Erdsatelliten.
Die grandiose Ur- und Urzeitszene wurde zu einer der meistzitierten Bildmetaphern, einem der berühmtesten Match Cuts der Filmgeschichte. Und sie sorgte für ein neu erwachendes Interesse des Menschen am Menschen.
Davon profitierte vor allem Lucy – verdienterweise, denn sie war und blieb das am besten erhaltene Skelett einer Vormenschenart, das bislang gefunden wurde. Ein amerikanisches Forscherteam um Donald C. Johanson entdeckte die Knochenreste 1974 in der Nähe des Awash-Flusses in Äthiopien und konnte sein Glück kaum fassen: Sie konnten einem einzigen Individuum zugeordnet werden, das mit 23 Prozent Skelettsubstanz eine ungewöhnlich breite Untersuchungsbasis bot.
Der Sensationsfund wurde unter dem Kürzel »A. L. 288« registriert und entpuppte sich als Australopithecus afarensis. Besser und weltweit bekannt aber wurde er als Lucy – eine Reverenz vor dem Beatles-Song »Lucy in the Sky with Diamonds«, den die nimmermüden Anthropologen in den Tagen vor und nach dem Glückstreffer häufig im Radio gehört hatten.
Die sogenannten Australopithecinen (aus lat. australis südlich und griech. pithekós Affe), die sich mit der schönen deutschen Übersetzung »Südaffen« schmücken dürfen, gehören zu den frühesten bekannten Vorfahren des Menschen. Vor vier Millionen Jahren hatten sich in den Landschaften Ostafrikas viele unterschiedliche Arten davon herausgebildet, die eines gemeinsam hatten: Sie gingen aufrecht, auf zwei Beinen, wie die Wanderer in der Vulkanasche von Laetoli oder wie Lucy aus der Region Afar in Äthiopien.
Aber hinter der Namensgebung für die mindestens 3,2 Millionen Jahre alte Vormenschendame steckt mehr als eine Laune. Dahinter verbirgt sich der Wunschtraum, den schon die Leakeys und vor und nach ihnen viele andere Anthropologen und Archäologen träumten: Aus den verstreuten Knochen, den Fußspuren oder Artefakten möge ein Mensch, ein Schicksal, ein Leben hervorblicken.
Dieser Wunsch blieb letztlich unerfüllt. Es gab jedoch, wenn Sie so wollen, eine Art »Ersatzmann«, dem die Sympathien der zuständigen Wissenschaften geradezu in den Schoß fielen und der von einer fürsorglichen Öffentlichkeit gleichsam adoptiert wurde. Allerdings trat er erst viel später in Erscheinung: gut drei Millionen Jahre später, wenn man seine Lebenszeit, und gut anderthalb Jahrzehnte später, wenn man das Entdeckungsdatum betrachtet. Machen wir also einen Exkurs, einen Zeitsprung, und schauen ihn uns an.
Sie ahnen es – es ist der Ötzi. Erst jene Gletschermumie aus dem Neolithikum, der späten Jungsteinzeit, die Urlauber am 19. September 1991 in Südtirol im Bereich der Similaungruppe der Ötztaler Alpen in 3210 Metern Höhe fanden, bot einen Ausgleich für so manche Enttäuschung der prähistorischen Knochensammler. Indem sie – sehr spät, sozusagen in der Nachspielzeit – ihrer Hoffnung entsprach, die Evolution möge ein Gesicht, wenigstens einer unserer frühen Vorfahren möge eine konkrete Biografie haben.
Verschleißerscheinungen am Gebiss, an den Gelenken, an der Wirbelsäule, gebrochene und wieder verheilte Rippen, ausgeprägte Wachstumsstörungen, mehrere bedrohliche Erkrankungen, die dem Tod vorausgingen, darunter möglicherweise ein Magengeschwür, Brot und Fleisch als letzte Mahlzeit – durchgecheckt wie ein verunglückter Bergsteiger des 20. Jahrhunderts, wurde der »Similaunmann« einer von uns.
Und die Steinzeit, die späte Jungsteinzeit, die schon zur Kupferzeit geworden war, verlor ein Stück ihrer kalten, unnahbaren Anonymität.
Den Radiokarbondatierungen folgend, kam der Ötzi um 3300 v. Chr. bei der Überquerung der Alpen ums Leben. Vermutlich hatte er braune (nicht, wie bisher angenommen, blaue) Augen, war 1,60 Meter groß oder vielmehr klein, fünfzig Kilogramm schwer und würde nach heutigen Maßstäben wahrscheinlich Schuhgröße 35 tragen. Er bleibt eine archäologische Sensation, weil er der einzige vollständig erhaltene, auf natürliche Weise konservierte und nicht bestattete Mensch aus vorgeschichtlicher Zeit ist. Und weil außerdem zahlreiche Gebrauchsgegenstände – darunter ein Kupferbeil – erhalten blieben, aus denen sich eine komplette jungsteinzeitliche Ausrüstung rekonstruieren ließ.
Aber zurück nach Afrika.
An eine Ausrüstung war beim Homo rudolfiensis, dem ersten Vertreter der Gattung Homo, dem frühesten Menschen der Geschichte, natürlich nicht einmal ansatzweise zu denken. Aber während seine Ahnen einen Teil des Tages noch auf Bäumen zubrachten, ist er bereits stärker an ein Leben in der offenen Steppe Ostafrikas angepasst: Die Stirn ist steiler, die Backenzähne sind kleiner als die der robusten Menschenaffen, Arme und Beine ähneln schon denen späterer Menschen, ermöglichen eine rasche Fortbewegung und die Bewältigung größerer Strecken.
Homo rudolfiensis, benannt nach seinem Fundort am Rudolfsee, dem späteren Turkanasee in Kenia, verfügt über ein beachtliches Gehirn, das auf ein durchschnittliches Volumen von 700 Kubikzentimetern anwächst. Zum Homo qualifiziert ihn außerdem die Tatsache, dass er mit seinen Händen bereits Splitter von Steinen abschlägt, um damit zu schneiden. Erstmals stellt also – vor rund 2,5 Millionen Jahren – ein Erdenbewohner planvoll Steinwerkzeuge her und gibt sein Wissen an nachfolgende Generationen weiter. So kommt der technische Fortschritt in die Welt – eine Traditionslinie, die bis zum Ötzi und zu Stanley Kubricks Erdsatelliten reicht.
Aus den ersten Formen der Gattung Homo, mit noch relativ langen Armen, entsteht nun vor 1,9 Millionen Jahren in Ostafrika Homo ergaster: ein hochgeschossener Savannenläufer, schnell, intelligent und neugierig. Sein Gehirn ist weitaus größer als das seiner Vorgänger, seine Werkzeuge werden raffinierter. Getrieben von einer unbändigen Neugier macht er sich schließlich auf, die Welt zu erkunden.
Der Mensch ist noch lange nicht fertig, aber reisefertig.
Können Sie sich eine Stadt ohne Straßen vorstellen? Wahrscheinlich nicht. Aber auch die Straße musste erst erfunden werden. Zuvor stellten Flachdächer und Leitern die Verbindung zwischen Häusern und Menschen her – wie hier in Çatal Hüyük in Anatolien, einer Siedlung aus dem siebten Jahrtausend v. Chr. Doch schon diese zivilisatorische Etappe bedeutet eine Revolution und stellt alles in den Schatten, was danach kam.
Homo ergaster, den »arbeitsamen« Menschen, haben Sie eben schon kennengelernt. Mit ihm beginnt das Reiseprogramm der Gattung Homo. Sie können gern daran teilnehmen, aber Sie sollten wissen, dass es Expeditionen ins Ungewisse sind. Wenn die Formel »Der Weg ist das Ziel« irgendwo zutrifft, dann hier. Und es ist ein weiter Weg aus der afrikanischen Savanne zu den Siedlungen von Çatal Hüyük oder Jericho.
Training und Vorbereitung sind bei Homo ergaster in guten Händen. Sie können sich den Clans anschließen, die er, mit stetig wachsendem Aktionsradius, durch die Graslandschaften seiner afrikanischen Heimat führt. Nach dem Exodus wandert er über Generationen nordwärts, erreicht den Kaukasus, und seine Nachfahren dringen vor rund 800 000 Jahren bis nach Zentralasien vor. Aber 40 000 Jahre vor unserer Zeit wird er wieder von der Erde verschwinden.
Falls Sie vorsichtig gewesen und zu Hause, das heißt in Afrika, geblieben sind, haben Sie jetzt zweimal die Chance, Europa zu entdecken – vor rund 1,2 Millionen Jahren mit dem etwas lieblos als »Vorläufer« benannten Homo antecessor oder 600 000 Jahre später mit dem Homo heidelbergensis, dessen Name auf die frühesten Fundorte seiner Knochen verweist. Homo heidelbergensis verfügt bereits über ein Hirnvolumen von 1300 Kubikzentimetern und gilt als der erste Großwildjäger. Er beherrscht das Feuer und konstruiert hölzerne Wurfspeere mit vorzüglichen Flugeigenschaften. Als erster Zweibeiner lässt er ein Fünkchen Kultur aufblitzen, indem er Schmuckgegenstände herstellt und Steinwerkzeuge als Totenbeigaben verwendet.
Berühmt geworden aber ist Homo heidelbergensis als der letzte gemeinsame Vorfahr des Homo sapiens, der sich in Afrika entwickelt, und des Neandertalers, der aus europäischen Populationen des »Heidelbergers« hervorgeht. Das Verhältnis der beiden ungleichen Verwandten beschäftigt die Wissenschaft bis heute. Die Verteilung der Sympathiewerte hat dabei bisweilen an die Geschichte von Kain und Abel erinnert.
Falls Sie auf den Homo sapiens, den »weisen« Menschen, gesetzt haben, müssen Sie vor seinem Siegeszug allerdings einen relativ erfolglosen Aufbruch aus Afrika vor etwa 100 000 bis 95 000 Jahren in Kauf nehmen, der an der Kälte scheitert und ihn in seine Heimat zurückwirft. Immerhin hat ihn der Vorstoß bis in den Nahen Osten und dort zu einem ersten Rendezvous mit den Neandertalern geführt, die aus dem Norden in diese Gegend kamen.
Erst in der letzten – entscheidenden – Auswanderungswelle vor rund 60 000 Jahren kann Homo sapiens außerhalb seiner Urheimat Fuß fassen. Noch in Afrika hat er eine immer komplexere Sprache entwickelt und gelernt, symbolisch zu denken. Zudem hat er neue, hocheffektive Distanzwaffen erfunden. Mit ihnen kann er nun Beute aus sicherer Entfernung erlegen und immer mehr Urmenschen um sich herum mit Nahrung versorgen.
Wenn Sie abenteuerlustig genug und bis jetzt dabeigeblieben sind, können Sie sich nun auf einiges gefasst machen. Die Auswanderer überqueren das Rote Meer, erreichen die Arabische Halbinsel und hinterlassen bereits wenige Jahrtausende später ihre Spuren am äußersten Zipfel Südostasiens. Vor 55 000 Jahren überwinden einige Vertreter der Reisegruppe Sapiens mit Kanus und Flößen fast hundert Kilometer offenen Ozeans und erreichen erstmals einen noch unbesiedelten Kontinent: Australien. Mit kontrollierten Flächenbränden – so haben Wissenschaftler herausgefunden – locken sie Beutetiere wie Kängurus oder Riesenechsen aus ihren Verstecken und verändern so allmählich Fauna und Flora.
Wie Sie längst gemerkt haben, gibt es keinen vorprogrammierten Reiseablauf. Die Kolonisierung der Erde ist kein planvolles Projekt. Die Migranten folgen einfach den Wildwechseln, suchen jagend und sammelnd neue Tiere und Pflanzen. Mit seiner Anpassungsfähigkeit kann Sapiens, der »moderne« Mensch, mittlerweile auch ungünstigen Umweltbedingungen trotzen. Also haben Sie sich für die richtige Reisegruppe entschieden, Homo sapiens wird überleben, alle anderen werden aussterben.
Aber zwei Erdteile fehlen noch. In etwas fernerer Zukunft – vermutlich 20 000 bis 15 000 Jahre vor unserer Zeit – werden »moderne« Menschen auch den amerikanischen Doppelkontinent erobern, wahrscheinlich von Sibirien aus. Doch jetzt, vor 45 000 Jahren, ist erst einmal Europa dran.
Hier hat sich inzwischen der Neandertaler einquartiert und mehr als 100 000 Jahre allein auf dem Kontinent existiert. Dank seiner kompakten Anatomie hat er sich immer besser an die Unbilden des Eiszeitalters angepasst und kann selbst Temperaturen von minus dreißig Grad Celsius ertragen. Seine Knochen sind kräftig, die Muskeln gewaltig, der Körperbau ist gedrungen – vermutlich, um möglichst wenig Wärme zu verlieren. Der Neandertaler ist ein Großwildjäger, der sich fast ausschließlich vom Fleisch der erbeuteten Tiere ernährt. Sein Gehirn ist größer als das des Neuankömmlings, aber seine flache Stirn und sein tonnenförmiger Körper haben ihn zum Primitivling gestempelt. Er gilt nicht als Urmensch, sondern eher als Unmensch. Erst in jüngster Zeit sind seine kulturellen, musischen und spirituellen Neigungen entdeckt worden.
Der neue Konkurrent, den er schon früher im Nahen Osten kennengelernt hat und der dann über die rumänischen Karpaten und die Schwäbische Alb nach Mittel- und Südeuropa gezogen ist, bedrängt ihn nun auf Schritt und Tritt. Eigentlich hätte der Neandertaler ein massives Symptom des Verfolgungswahns, eine handfeste Paranoia ausbilden müssen. Dem Homo sapiens wiederum musste es vorkommen wie in dem Märchen von Hase und Igel: Überall, wo er eintrifft, hat sich der Neandertaler bereits etabliert.
Wenig märchenhaft geht die Geschichte weiter. Im Unterschied zu den stagnierenden Alt-Europäern entwickelt Homo sapiens in den folgenden Jahrtausenden immer neue Fähigkeiten und »Begabungen«, stellt schlagkräftige Waffen her, produziert Wandbilder und Schnitzereien. Im Lauf der Zeit drängt er den Neandertaler aus der Evolution, der vor 27 000 Jahren ausstirbt.
An dieser Lesart der Forschung ist wohl nicht mehr zu rütteln, auch wenn einzelne Wissenschaftler die These vertreten, Homo sapiens habe Europa erst erreicht, als der Neandertaler bereits ausgestorben war, weil er sich zu langsam vermehrte und weil extreme Trockenheit seine Rückzugsgebiete zerstörte.
Jener einfältige »grobe Klotz«, auf den er lange Zeit reduziert wurde, war der Neandertaler jedenfalls nicht. Aber er war eben auch kein direkter Vorfahr des modernen Menschen. Dafür liefert seine DNA zu viele Unterschiede, vor allem in jenen kognitiven Bereichen, die das abstrakte und schöpferische Denken, aber auch die soziale Intelligenz und die Realitätskontrolle betreffen. Diese Faktoren waren die genetischen Schubkräfte, die dem Homo sapiens den unkündbaren Spitzenplatz in der Entwicklungsgeschichte des Menschen sicherten. Sie waren, sozusagen, seine evolutionäre Extrawurst.
Und dennoch bekommt das alte (Feind-)Bild des Neandertalers Risse.
Von einem ausschließlichen Verdrängungswettbewerb, auch von einem reinen Nebeneinander zwischen Neandertaler und Homo sapiens kann offenbar nicht mehr die Rede sein. Selbst eine friedlich-konstruktive Koexistenz, die auch den Austausch von Werkzeugen und Know-how einschloss, trifft die Sache noch nicht. Da war mehr. Mehr als ein Flirt. Mehr auch als ein Techtelmechtel. Neandertaler und Sapiens hatten Sex miteinander. Und es gab Nachkommen.
Der schwedische Paläogenetiker Svante Pääbo, Leiter des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig, hat die bislang eher rare Ausbeute an Neandertaler-DNA aus Knochenresten im Rahmen seiner Forschungen hochgradig steigern können. Etwa siebzig Prozent des Neandertaler-Genoms haben die Wissenschaftler inzwischen entschlüsseln und mit der DNA heute lebender Menschen abgleichen können.
Die Überraschung: Noch heute stecken im Erbgut des modernen Menschen ein bis vier Prozent Neandertaler-Eigenschaften. Noch verblüffter waren die Forscher darüber, dass der bullige Eiszeitmensch nicht nur in Europa, sondern auch in Papua-Neuguinea und in China genetische Spuren hinterlassen hat.
Und wo hat es gefunkt, wo stand das Bett, dem die Wiege folgte? Wohl dort, wo auch die Wiege der Kulturen gestanden hat: im Nahen Osten, vielleicht auch in Israel, wo die beiden Menschenstämme über Jahrtausende in denselben Regionen lebten. Dass es in diesem Nadelöhr, einem geografischen Reagenzglas gewissermaßen, das alle Afrika-Emigranten auf ihrer Weltreise passieren mussten, eben auch »passierte«, wird noch durch einen weiteren Befund gestützt: Heutige Europäer und Asiaten, die von der prähistorischen Familienzusammenführung beeinflusst wurden, stehen dem Neandertaler genetisch näher als die Afrikaner, die »nur« vom Sapiens profitierten.
Wir bleiben in Vorderasien. Als die letzte große Kaltzeit vor 11 000 Jahren endet, beginnt Homo sapiens damit, hier und später auch in anderen günstigen Klimazonen der Erde sesshaft zu werden. Er schickt sich an, Siedlungen zu gründen, Wildgräser zu kultivieren, Nutzpflanzen anzubauen, Vorräte anzulegen und Haustiere zu halten. Er wird vom Sammler und Jäger zum Landwirt, Viehzüchter und Wirtschaftsproduzenten. Er baut bald nicht mehr nur runde, sondern auch bequemere rechteckige Hütten und Wohnplätze. Er organisiert sich in Gruppen und Familien, er zähmt den Wolf zum Beschützer, er bedient sich der Töpferscheibe. Er verändert das Landschaftsbild durch Rodung, Bodenbebauung und Beweidung. Und er ändert sich selbst: Er plant, prüft, denkt voraus, zieht Schlussfolgerungen und handelt nach dem Prinzip Ursache und Wirkung.
Damit zettelt er eine Revolution an, die erste und historisch folgenreichste. Die Wissenschaft wird sie später die Neolithische Revolution nennen: Der Übergang von der aneignenden Wirtschaft der Altsteinzeit (Paläolithikum) zur produzierenden Wirtschaft der Jungsteinzeit (Neolithikum) ist der wahrscheinlich größte innovative Schub der Menschheitsgeschichte.
Diese »Revolution« geschah nicht von heute auf morgen. Aber schon für ihre Frühzeit lassen sich die ersten Siedlungen und Kultstätten nachweisen. Die steinernen Monumente der Tempelanlage von Göbekli Tepe (um 9500 v. Chr.) in Anatolien sind 6000 Jahre älter als die Pyramiden, lassen aber eine Arbeitsorganisation vermuten, die auf deutlich spätere Epochen vorausweist. In der Oase Jericho im Westjordanland, die einst der Römer Antonius seiner Geliebten Kleopatra zum Geschenk machte und deren Name auch mit dem Tod des Herodes und der Taufe Jesu verknüpft ist, waren schon um 8000 v. Chr. der älteste Steinturm und die erste Treppe der Welt gebaut worden. Sie wurden Teil einer ausgedehnten, mehrere Meter starken Stadtmauer, die später dennoch – nach Lesart der Bibel – durch die viel beschworenen Posaunenstöße zum Einsturz gebracht wurde.
Mit den ersten Städten der Erde und der seit dem sechsten Jahrtausend v. Chr. allmählich einsetzenden Entdeckung der Metalle, der um 3000 v. Chr. die Erfindung des Rades folgt, ist der Weg zu den Hochkulturen vorgezeichnet.