Unterwegs zwischen Grenzen - Ralf Grabuschnig - E-Book

Unterwegs zwischen Grenzen E-Book

Ralf Grabuschnig

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Beschreibung

In meiner Familie gibt es ein Geheimnis. Niemand hat darüber gesprochen, als ich im Kärnten der Neunzigerjahre aufgewachsen bin – und doch war es immer irgendwie präsent. Dieses Geheimnis ist die slowenische Sprache, die im Dorf meiner Großeltern bis vor wenigen Generationen noch alle gesprochen haben und von der heute kaum mehr jemand etwas wissen mag. Denn hinter diesem Geheimnis verbirgt sich eine schmerzhafte Geschichte der Verfolgung, Vertreibung und der sturen, unnachgiebigen Assimilation. Ich hatte irgendwann genug davon. Mein gemütliches Dasein in der angeblichen Mehrheitsbevölkerung, die einfachen Kategorien der Zugehörigkeit. Zum Teufel damit! Ich spürte, es war für mich an der Zeit, zu lernen, wie divers meine Heimat tatsächlich ist. Und nicht nur die, sondern unser gesamter Kontinent – sobald man nur hie und da leicht an der Tapete zieht. Nicht zuletzt war es für mich aber an der Zeit, meinen eigenen Platz in all dem zu finden. So reiste ich ein Jahr lang in die Grenzregionen Europas, sprach mit Menschen aus verschiedenen ethnischen Minderheiten und versuchte zu verstehen, was diese Länder an den Grenzen – diese Länder im Schwitzkasten der Nationen – so besonders macht. Dabei stieß ich auf die faszinierenden Geschichten dieses Kontinents, die an seinen Grenzen noch immer weiter geschrieben werden. Meine Reisen brachten mich in: - Die sorbische Lausitz - Das mythische Siebenbürgen in Rumänien - Die Jenische Welt Mitteleuropas in Österreich, der Schweiz und Deutschland - Das Burgenland - und schließlich nach Hause nach Kärnten Überall sprach ich mich Menschen aus nationalen Minderheiten über ihren Alltag und die Probleme des Erhalts ihrer Kultur: Mit Sorben und Sorbinnen, Siebenbürger Sachsen und Sächsinnen, mit Jenischen, Burgendlandkroaten und Kroatinnen und mit Kärnten Slowenen und Sloweninnen. Bist du bereit, mit mir an der Tapete der nationalstaatlichen Tapete zu ziehen? Dann lies gleich rein in dieses Reisebuch an die Grenzen Europas.

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Ralf Grabuschnig

Unterwegs zwischen Grenzen

Europas Minderheiten im Schwitzkasten der Nationen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Einleitung

Eine vertraute Fremde

Die sächsischsprechenden Niemands

Ein Volk ohne Sprache ist kein Volk

Ein diverses Österreich

Und so haben sie sich assimiliert

Was bleibt am Ende der Reise?

Impressum neobooks

Einleitung

Unterwegs zwischen Grenzen. Europas Minderheiten im Schwitzkasten der Nationen

In meiner Familie gibt es ein Geheimnis. Ach, was sage ich. Nicht nur in meiner Familie. Dieses Geheimnis teilen im Dorf meiner Großeltern so gut wie alle Familien, genauso wie in den Dörfern das Tal hinauf und hinunter. So betrachtet ist das Wort Geheimnis fast zu groß gegriffen. Wie auch immer: Als ich im Kärnten der Neunzigerjahre aufgewachsen bin, hätte diese Sache genauso gut ein Geheimnis sein können. Ich habe nichts davon gehört. Ich habe nichts davon gesehen. Ich habe nichts davon gewusst.

Das Thema kommt nur sporadisch in alten Familiengeschichten zum Vorschein. Wenn meine Tante etwa davon erzählt, dass meine Großeltern hin und wieder in eine den Kindern unverständliche Sprache verfallen sind, sobald diese etwas nicht verstehen sollten. Ich habe mir bei diesen Geschichten nie etwas gedacht. Ich selbst habe diese Sprache in meiner Zeit als Kind vor allem nie gehört. Oder zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.

Diese Sprache – dieses Geheimnis – ist das Slowenische. Im Dorf meiner Großeltern haben es noch vor wenigen Generationen so gut wie alle gesprochen. Heute nennen sie das Dorf Ratnitz. Früher ist es mal Ratenče genannt worden: von meiner eigenen Familie, von den Nachbarn, in den Dörfern das Tal hinauf und hinunter. Denn diese gesamte Gegend im Süden des österreichischen Bundeslandes Kärnten ist seit Jahrhunderten slowenischsprachig gewesen und auch wenn ein schleichender Prozess der Germanisierung die Sprachgrenze bereits weit in den Süden verschoben hat: Ganz erreicht hat sie die Gegend um Ratenče doch erst vor wenigen Generationen.

Bei näherer Betrachtung überrascht es trotz allem kaum, dass so selten über diese Geschichte gesprochen wird. Immerhin versteckt sich in meiner Familiengeschichte ein viel größerer Prozess, der sich in ganz Kärnten – Koroška – in fast identischer Form abgespielt hat. Es ist eine Geschichte der Gewalt, der Unterdrückung, Diskriminierung, ja zum Teil sogar der aktiven Vertreibung. Vor allem ist es aber eine Geschichte der schleichenden, hartnäckigen und unnachgiebigen Assimilation. Eine Geschichte des Lebens in einem gesellschaftlichen Klima, in dem es für Tausende von Menschen irgendwann eben „einfacher“ war, Deutsch zu sprechen anstatt ihre Muttersprache Slowenisch. In der Öffentlichkeit, im Beruf und letztendlich sogar in der Familie.

Nur so erklärt sich die eigentlich unerklärbare Tatsache, dass noch vor hundert Jahren ein Drittel der Kärntner Bevölkerung Slowenisch als Muttersprache angegeben hat – nicht nur in unserer Gegend, im äußersten Süden des Landes, sondern noch weit darüber hinaus. Nur so ist zu erklären, dass heute vielleicht noch ein paar Zehntausend davon übrig sind. Wenn es denn überhaupt so viele sind. Um in Ratenče noch Slowenisch zu hören, muss man inzwischen ziemlich genau wissen, wo man hinhören muss. In den Nachbardörfern Loče und Pogorje ist es ähnlich. Ein paar Kilometer weiter westlich im Gailtal ist die Sprache inzwischen fast gänzlich ausgestorben und auch in die andere Richtung im Rosental schaut die Lage nicht gerade – entschuldige bitte – rosig aus.

Als Kind und Jugendlicher wusste ich davon wie gesagt kaum etwas. Und ganz ehrlich: Es wäre mir auch herzlich egal gewesen. Als Jugendlicher im Villach der frühen Zweitausender hatte man nun wirklich andere Probleme. Mädchen zum Beispiel. Oder beim Fortgehen in der berüchtigten Villacher Innenstadt nicht aus Versehen abgestochen zu werden, weil man in den Augen irgendeines Halbstarken gar zu „blöd schaute“. Diese Ausrede lasse ich mir auch mit dem Blick von heute noch durchgehen. Aber ganz so leicht kann ich es mir selbst trotzdem nicht machen. Ich muss an dieser Stelle nämlich einen der größeren Widersprüche in meinem Charakter ansprechen: Ich bin im Alter von zwanzig Jahren nach Wien gezogen, um dort Geschichte zu studieren. Ja. Ausgerechnet Geschichte! Da hätte mich die ungewöhnliche Vergangenheit meiner Heimatregion und meiner eigenen Familie doch ein wenig mehr interessieren können. Aber nein. Bis vor Kurzem hatte ich darauf so gar keine Lust und es sind immerhin lockere fünfzehn Jahre seit Beginn meines Studiums vergangen.

Noch heute ist es so, dass ich Familiengeschichte oder beispielsweise Stammbäume an und für sich zwar faszinierend und manchmal auch erhellend finde. Aber das trifft eigentlich nur zu, wenn andere die Stammbäume machen. Mich selbst hinzusetzen, bei Verwandten nachzubohren, gar in Kirchenbüchern oder Ähnlichem zu schmökern … das hat mich nie gereizt und das ist bis heute so. Geschichte macht mir eben mehr Spaß, wenn sie weit weg von Zuhause stattfindet. So habe ich mich bald in den pompösen Hörsälen der Universität Wien wiedergefunden und Vorlesungen zur Antike im Mittelmeerraum gelauscht. Oder zur Neuzeit im Mesoamerika. Oder zur Moderne in Großbritannien. Nur nichts über meine Heimat und wie ihre Geschichte auch meine Familie und damit mein eigenes Großwerden beeinflusst hat.

Aber wenn du nun glaubst, die Geschichtsvergessenheit dieses jungen Geschichtsstudenten ende hier, liegst du weiter daneben als die Kärntner FPÖ von der Achtung von Minderheitenrechten. Meine slowenische Familienvergangenheit hätte mir zwar kaum egaler sein können. Slawische Sprachen und Gesellschaften an und für sich aber haben mich damals schon fasziniert. Neben meinem Geschichtsstudium bin ich als Frühzwanziger immerhin auf die Idee gekommen, mit Serbokroatisch eine neue Fremdsprache zu lernen!1 Diese Entscheidung sehe ich auch heute noch als eine der besten meines Lebens an. Die Kenntnis dieser Sprache hat mir in den vergangenen zehn Jahren Türen geöffnet, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren. Ich habe sogar ein Austauschjahr in Zagreb verbracht mit der obskuren Konsequenz, dass ich mich mit Kärntner Slowenen und Sloweninnen heute zwar nicht auf Slowenisch – der Sprache meiner Vorfahren – unterhalten, dafür aber gemeinsam jugoslawische Rocksongs aus den Achtzigerjahren singen kann.

Da drängt sich mir dann doch die Frage auf: Warum war das so? War es einfach nur Trotz? Die innere Abneigung der Heimat gegenüber, die mich davon abhielt, mich tiefgehender mit ihrer Geschichte zu beschäftigen? Das ist zumindest Teil der Erklärung. Als junger Erwachsener hatte ich diese Heimat immerhin gerade erst hinter mir gelassen und hatte nun keine Lust, gleich wieder auf sie zurückblicken. Mich interessierte die große Welt! Die Stadt Wien, die bedeutenden Zentren dieser Erde, vielleicht noch der Balkan. Aber doch nicht dieses kleine Koroška! Oder Ratenče. Oder gar meine eigene Familienvergangenheit.

Das Tragische an all dem sind aber nicht unbedingt meine eigenen Entscheidungen von damals. Immerhin ist doch niemand dazu verpflichtet, sich mit der Geschichte seiner Heimat zu beschäftigen – auch ein junger Geschichtsstudent wie ich nicht. Das Problem ist eigentlich ein viel größeres und führt uns zurück zur Frage der Assimilation. Denn was bedeutet dieses so epochale Wort denn letzten Endes? Es beschreibt doch nichts anderes als die Summe von vielen kleinen Entscheidungen einzelner Menschen, eine Sprache und Kultur zugunsten einer anderen zurückzulassen. In kleinen, meist ganz unbewusst gesetzten Schritten. Die einzelnen Personen tragen dabei freilich keine Schuld für die schwere Last der Geschichte. Man kann der Generation meiner Großeltern in Kärnten nur schwer anlasten, sich für den Weg ins Deutsche entschieden zu haben. Es mag für sie wirklich die einfachste Lösung gewesen sein. Man kann bei aller Selbstkritik – so würzig sie die Einleitung eines jeden Buches auch macht – wohl auch mir nicht ernsthaft anlasten, mich so lange nicht für diese Geschichte interessiert zu haben.

Aber doch bleibt ein bitterer Eindruck von Teilhabe. Auch ich habe da meinen Beitrag zur Germanisierung Kärntens geleistet und diese ewige Deutschtümelei hat dem Land über die Jahrzehnte nun wahrlich nicht gutgetan. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum sich mein Blick auf all das in den letzten Jahren doch verändert hat. Zu einem gewissen Teil hat sich wohl einfach mein Bezug zu Kärnten ganz allgemein verbessert und solche Probleme interessieren mich heute als Resultat mehr. Als junger Erwachsener habe ich vor fünfzehn Jahren nur weg von dort gewollt. Villach ist mir in der Zeit zu eng geworden – sowohl der physische Raum als auch der in den Köpfen der Menschen. Es war ja auch wirklich eine bittere Zeit in der Geschichte Kärntens. Die Ära Jörg Haider war zum Zeitpunkt meines Wegzugs gerade erst zu Ende gegangen und Kärnten nach wie vor eine waschechte Vorreiterregion des modernen Rechtspopulismus für ganz Europa. Keine Tatsache, für die ich damals oder heute sonderlich viel Stolz empfinden könnte.

Nun mag man sicherlich einwenden, dass das Kärnten der 2020er-Jahre nicht so viel besser ist. Möglich. Aber zumindest sehe ich die Dinge heute ein wenig anders. Ich habe die „große weite Welt“ inzwischen gesehen. Zumindest den einen oder anderen Teil von ihr. Vor allem habe ich für mich aber erkannt, dass man den Rest gar nicht unbedingt sehen muss. Mit dieser langsam reifenden Erkenntnis, und ja – vielleicht auch dem Ende einer gewissen Rastlosigkeit – habe ich mich im Laufe der letzten Jahre auch Kärnten wieder angenähert. Mit all seinen schönen Seiten und eben auch all seinen Problemen. Vielleicht habe ich das Land sogar erst jetzt richtig kennengelernt. Nicht als den Ort der Einöde und Einengung, wie ich ihn als Jugendlicher wahrgenommen habe, sondern als Ort der überraschenden Vielfalt und als Ort mit ganz besonderer Geschichte.

Den Punkt darf man hervorheben, denn er hätte mir als Historiker nun wirklich schon früher auffallen können! Wie viele Regionen Österreichs können schon von sich behaupten, historisch zweisprachig zu sein? Nun ich weiß schon: Es gibt da noch dieses Burgenland mit seinen gefühlt siebzehn Sprachen und auch in Vorarlberg werden mit dem alemannischen Vorarlbergisch und irgendeiner Form von (angeblichem) Deutsch zumindest zwei Sprachen gesprochen. Aber trotzdem sticht Kärnten unter den österreichischen Bundesländern doch heraus. In mir ist jedenfalls der Wunsch entstanden, mehr über dieses Land zu erfahren. Denn eine Sache ist mir bei allen Besonderheiten doch auch klar geworden: Kärnten ist keine Ausnahme! Es ist kein unerklärbarer Ort des politischen Horrors im Süden Österreichs, unser eigenes kleines Mordor ohne Vergleich in der Welt. Kärnten ist einfach nur ein Land an der Grenze!

Es ist letztendlich egal, ob eine Grenze nun eine so monumentale Barriere ist wie die Bergkette der Karawanken, die sich direkt hinter dem Haus meiner Großeltern in die Höhe reckt, oder nur eine politische. Sie hinterlassen immer Spuren in den Menschen. Länder in Grenzlagen sind Orte der Vielfalt. Sie sind Orte, an denen Sprachen und Kulturen zusammenkommen. Sie sind aber auch häufig vernachlässigte Orte weit abseits der politischen und wirtschaftlichen Zentren ihrer jeweiligen Länder. Menschen aus Grenzräumen müssen daher besser als manch andere in der Lage sein, sich an schwierige und wechselnde Bedingungen anzupassen. Wenn man sich ansieht, wie oft sich die Grenzen Europas in der Vergangenheit schon verschoben und dabei immer neue soziale und wirtschaftliche Räume geschaffen haben, hatten die Menschen auch gar keine andere Wahl. Das Resultat? Die große Politik ist in diesen Grenzräumen im ganz Kleinen spürbar wie kaum woanders in dieser Welt.

Nicht nur in Kärnten, sondern in ganz Europa finden wir solche Grenzräume vor.2 Überall haben sie Spuren in den Menschen hinterlassen und umgekehrt. Und genau an diesen Orten werden die oft geheimen oder zumindest lange vergrabenen Geschichten unseres Kontinents bewahrt und weitergeschrieben. Und da haben wir sie! Genau diese Geschichten sind es, die mich in den vergangenen Jahren so an Koroška fasziniert haben. Und eben diese bringen mich zurück zu meiner Familie und der slowenischen Sprache. Auch Koroška teilt sie mit vielen der anderen Grenzräume Europas: Jene verborgenen Geschichten unseres Kontinents werden nur zu oft von Menschen geschrieben, die sich zu ethnischen Minderheiten zählen. Manchmal, wie im Fall der Kärntner Slowenen und Sloweninnen, sind diese auf der „falschen“ Seite einer modernen Grenze gelandet. Anderswo haben die Menschen gar keinen Anteil an der Errichtung eines Nationalstaats gehabt oder sind von diesem sogar verfolgt worden. Und dann gibt es wiederum Gesellschaften, die zwar einen „ethnischen Mutterstaat“ kennen, aber Hunderte oder gar Tausende Kilometer von diesem entfernt leben.

Das ist das Geflecht der Minderheiten in Europa, zu denen sich doch immerhin geschätzte vierzehn Prozent der Europäer und Europäerinnen zählen – über 100 Millionen Menschen! Das ist die Welt von jenen, die Grenzen und Grenzräume besser kennen als die meisten von uns. Die von ihnen geformt worden sind, unter ihnen gelitten haben und noch leiden, die diese Grenzräume aber auch als Heimat und Orte der – entschuldige erneut – unbegrenzten Möglichkeiten sehen. Sie bewahren dadurch nicht zuletzt eine Version Europas, wie sie für die längste Zeit normal gewesen ist. In einer Zeit, bevor der Nationalismus diesen Kontinent mit harten Trennlinien auf den Karten und in den Köpfen durchzogen und in seinen Schwitzkasten genommen hat.

Es reicht! Ich habe genug davon, so gut wie nichts über diese Menschen und ihre Leben zu wissen. Mein gemütliches Dasein in der angeblichen Mehrheitsbevölkerung. Die einfachen Kategorien der Zugehörigkeit. Zum Teufel damit! Es ist für mich höchste Zeit herauszufinden, wie divers unser Kontinent wirklich sein kann, sobald man nur an der einen oder anderen Stelle leicht an der Tapete zieht.

Nicht zuletzt ist es für mich aber an der Zeit, meinen eigenen Platz in all dem zu finden. Wie hat der Grenzraum Kärnten mich und meine Familie geprägt? Wo verläuft hier die Grenze zwischen Mehrheit und Minderheit? Gehöre ich mit meinen slowenischsprechenden Vorfahren vielleicht gar schon zu dieser Minderheit? Und wenn dem so wäre: Würde das denn nicht auf fast alle Kärntnerinnen und Kärntner zutreffen? Fragen über Fragen.

Wie es sich für ein solches Buch gehört, mache ich mich also auf zu einer Reise zu mir selbst. Und das ausnahmsweise nicht in Nordindien, sondern in Kärnten, Österreich und Europa. Es ist Zeit für eine Reise zwischen die Grenzen.

Eine vertraute Fremde

Und schon stellt sich die grundlegende Frage: Muss man denn wirklich auf Reisen gehen, nur um mehr über die Grenzregionen Europas und die Leben der Menschen dort zu erfahren? Ehrlich gesagt: nein. Aber um an der Stelle mal ganz transparent zu sein: Es ist Ende 2021, als ich ernsthaft beginne, mit diesem Gedanken zu spielen. Nach zwei Jahren Corona klingt die Idee doch verdammt verlockend, ein Jahr lang quer durch Europa zu reisen. Eine so willkommene Ausrede lasse ich dann auch nicht einfach liegen.

Obendrein bin ich bei solchen Dingen aber schon immer recht praktisch veranlagt gewesen. Auch deshalb hat mich der klassische Beruf des Historikers wohl nie angesprochen. Es mir wochenlang mit Primärquellen hinter den verschlossenen Türen von Archiven „gemütlich“ zu machen: das hat für mich nie nach einem sonderlich überzeugenden Jobangebot geklungen.3 Aus genau demselben Grund habe ich einige Jahre nach Abschluss meines Studiums auch meinen Podcast Déjà-vu Geschichte gestartet. Learning by Doing eben!

Vielleicht ist mir deshalb so klar, dass ich allein durch die Recherche in Büchern nichts Grundlegendes über die Grenzregionen Europas und die Menschen dort erfahren werde. Das alles muss ich dann schon selbst sehen. Nach langem Zögern – teils bedingt durch Aufschieberitis, teils durch den einen oder anderen Lockdown – ist es im April 2022 dann endlich soweit: Ein Jahr voller Reisen steht bevor und ich beschließe dabei ganz bewusst, nicht daheim in Kärnten zu beginnen. Einerseits wäre das wohl kaum eine Reise. Andererseits wäre mir Kärnten aber auch zu vertraut , um mich wirklich darauf einlassen zu können. Ich weiß immerhin noch immer nicht, wonach genau ich eigentlich suche.

Um mich zumindest dieser grundlegenden Frage erstmals anzunähern, mache ich mich in diesem Frühjahr also stattdessen auf den Weg in die sächsische Oberlausitz. Das scheint mir in vielerlei Hinsicht der perfekte Ort zu sein, meine Reisen an die europäischen Grenzen zu beginnen. Am Papier erinnerte mich die Region sofort an Kärnten. Eine Gegend an der alten Sprachgrenze zwischen dem Deutschen und Slawischen und eine Ecke Deutschlands, in der mit dem Sorbischen eine eigenständige slawische Sprache überlebt hat. Und als Sahnehäubchen obendrauf: Nazis haben sie dort angeblich auch noch. Das klingt doch ganz wie zu Hause!

Übrigens: Du kannst meine Reisen für dieses Buch auch in Fotos und Videos mitverfolgen! Ich habe über 50 davon für die Empfänger und Empfängerinnen meines Newsletters zusammengestellt. Melde dich einfach unter ralfgrabuschnig.com/newsletter an und du bekommst sofort den Link. Natürlich ist der Newsletter kostenlos und mit einem Klick stornierbar.

Da ich Anfang April einige Tage für den Podcast im Norden Deutschlands zugebracht habe, reise ich nicht von Wien, sondern von Lübeck aus nach Bautzen/Budyšin an. Die Zugstrecke führt mich dabei südlich über Berlin und Dresden. Die von mir schon vorher verspürte Vertrautheit mit der Gegend scheint sich unterwegs dann auch überraschend schnell zu bestätigen. Spätestens ab Berlin kommen mit jedem Stopp mehr und mehr schräge Heimatgefühle in mir auf. Die Sprache wird immer … sächsischer … und als Österreicher vermisse ich irgendeine Form von Dialekt nach zwei Wochen im hohen Norden dann doch. Offenbar sogar so sehr, dass Sächsisch – ausgerechnet Sächsisch! – ein Gefühl von Heimat in mir auslöst. Und auch die Landschaft kommt mir mit jedem Kilometer vertrauter vor. Ganz anders als noch im flachen Norden beginnen hinter Dresden typisch mitteleuropäische kleine Hügel und Wälder am Zugfenster an mir vorbeizuziehen. Die Sonne geht gerade unter und die Szenerie gepaart mit der Anspannung auf das, was mich in der Lausitz erwarten wird, verbinden sich zu einer wunderbar gedankenschweren Stimmung.

Die Menschen hier leisten allerdings mit aller Kraft ihren Anteil an dieser Stimmung. Immerhin bin ich mit Budyšin nicht nur auf dem Weg in das sorbische Zentrum Deutschlands. Bautzen ist auch die neonazistische Hochburg des Landes. Und dass neben mir im Zug ein grimmig aussehender, glatzköpfiger Kerl sitzt, der ein Bier nach dem anderen runterhaut und die Flaschen dazu mit seinen Zähnen öffnet – nein, das ist keine Übertreibung – hilft da wirklich ganz und gar nicht. Er ist damit allerdings ohnehin eher erfolglos. Der selbst durch meine FFP2-Maske beißende Biergeruch teilt mir deutlich mit, dass da wohl nicht der gesamte Flascheninhalt den Weg in seinen unmaskierten Mund findet. So schaue ich lieber stur von ihm weg und fixiere den Blick wieder auf das Zugfenster in der Hoffnung, dass er mich nicht anspricht. Aber auch der Blick in die Landschaft birgt düstere Erwartungen. Ich gehe in jeder neuen Kurve davon aus, dass die lieblichen Wälder und Hügel da draußen gleich in die höllische Marslandschaft eines Braunkohletagebaus übergehen werden, von der ich so viel gelesen habe. Das tun sie zum Glück nicht und auch der Kerl neben mir lässt mich bis Bautzen am Leben. Gott, Wotan, Björn Höcke, oder woran auch immer er glaubt, meint es heute offensichtlich gut mit mir.

Erleichtert kann ich nach der Ankunft also mein kleines Zimmerchen mit Blick auf den Bautzener Hauptmarkt beziehen. Es ist sogar ziemlich gemütlich hier! Nun gut: Die Einrichtung ist vielleicht ein wenig in den Neunzigern hängen geblieben. Aus jeder Ecke des Raumes begrüßen mich helles Holz und mit blauen Polstern bestückte Stühle und den Vorhängen sieht man Jahrzehnte des Rauchens in diesem Zimmer deutlich an. Ich kann mich nicht festlegen, ob sie wohl immer schon beige waren, oder ihr Leben eines Tages in weiß begonnen hatten. Aber es macht auch nichts. Ich bin nach dieser Reise einfach nur hundemüde und falle glücklich in mein mit blau-pinkem Stoff überzogenes Bett. Für einen kurzen Moment bewundere ich noch den Röhrenfernseher im Eck und dann schlummere ich auch schon ein.

Meine Träume müssen mich in dieser Nacht genauso in die Vergangenheit getragen haben. Ich könnte jedenfalls schwören, von den Backstreet Boys, Power Rangers und Pokémon in irgendeiner Kombination geträumt zu haben. Was ich jedenfalls weiß, ist, dass ich mit einem hartnäckigen I Want It That Way im Ohr aufwache und mir die Einrichtung des Zimmers plötzlich überhaupt nicht mehr eigenartig vorkommt. Schlaftrunken wie ich bin, wundere ich mich auch nicht weiter über die Filterkaffeemaschine Baujahr 1995. Erst beim Verkosten des Kaffees – Röstjahr schätzungsweise 1992 – holt mich die Gegenwart dann mit voller Wucht ein. Ach stimmt! Ich bin im Bautzen des Jahres 2022 und ich habe doch noch etwas vor! Und dieser Kaffee ist gar abscheulich. Tell me why!

Ich verbringe meinen ersten Morgen also stattdessen in einem Café ums Eck auf der zentral gelegenen Reichenstraße. Für Anfang April ist es schon angenehm warm und ich kann mich sogar draußen in die Sonne setzen. Zum Wachwerden und Eingewöhnen spiele ich dann erst mal mein neues Lieblingsspiel Nazi oder nicht Nazi. Jeden Passanten und jede Passantin schaue ich mir im Vorbeigehen an und überlege mir, ob sie zu jenem Drittel der Stadt zählen, das in der letzten Bundestagswahl die AfD gewählt hat. Und ja: Ich habe tatsächlich große Freude an meinem elitären Überlegenheitskomplex. „Oh schau! Einer in Thor Steinar-Jacke vor der Konditorei gegenüber. Bingo!“

Nach ein paar Minuten und zwei Cappuccino wird es mir mit dem Spiel dann aber doch langweilig und ich spaziere die Reichenstraße hinunter in Richtung Bahnhof. Das WiFi in meiner Unterkunft scheint eher homöopathischen Charakter zu haben und ich brauche einen Ort, an dem ich noch ein paar Stunden arbeiten kann. Auf Google bin ich dann beim Kaffeetrinken auf den Kreativbunker gestoßen. Das scheint ein Co-Working Space zu sein und ist nur ein paar Minuten vom Zentrum entfernt. Für ein paar Euro kann ich dort den ganzen Tag arbeiten. Wirklich: Solche Deals findet man auch nur in Ostdeutschland. Und als was für ein Glücksgriff sich der Ort auch noch herausstellt! Gleich der erste junge Mann, den ich dort treffe, erwähnt seine sorbischen Wurzeln, nachdem ich ihm vom Grund meiner Reise erzähle. Nach diesem Vormittag und den mulmigen Gefühlen der Anreise bin ich echt heilfroh, so schnell in einen Teil des sorbischen Budyšin hineingeschlittert zu sein.

Der Mann im Kreativbunker – Christoph heißt er4