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(Nur) eine wie keine? Ein witziger Roman, den man sofort allen seinen Freundinnen schenken möchte! Die beste Freundin: Sie ist Beraterin, Trösterin und hat einen schon vor manchem Fehler bewahrt. Ob Sorgen, Ängste, Freud oder Leid, alles kann man ihr anvertrauen. Die beste Freundin ist der Mensch für alle Fälle. Ihr verzeiht man alles, mit ihr kann man alles teilen … nun ja, fast alles. Männer nicht. Und erst recht nicht über Jahre hinweg. Ihre ehemals beste Freundin Antje ist für die geschiedene Verlagsfrau Christine deshalb ein knallrotes Tuch. Und auch sonst trägt sie seither Frauen gegenüber nicht das Herz auf der Zunge. Wen wundert es da, dass sie bei einem Treffen mit einigen befreundeten Kolleginnen das Weite sucht, als eine von ihnen ein Lob auf die Herzensfreundin jeder Frau anstimmt? Ruth – Herausgeberin des Stadtmagazins, für das Christine nebenher Kolumnen schreibt – ist jedenfalls höchst erstaunt. Es kann doch nicht sein, dass frau aufgrund einer schlechten Erfahrung den Glauben an tiefe Frauenfreundschaften verliert! Diese Skepsis gilt es Christine auszutreiben, findet sie und erklärt den Freundinnen ihren Plan: Wie wäre es, wenn sie Christines alte Weggefährtinnen ausfindig machen und zu ihrem vierundvierzigsten Geburtstag einladen würden? Gesagt, getan. Mit Hilfe von Christines Geschwistern beginnt ein regelrechtes Detektivspiel. Christine, die von alldem nichts ahnt, hat indessen ganz andere Probleme … Ein herrlich humor- und gefühlvoller Roman über Frauenfreundschaften, den frau gleich mehrmals schenken muss: sich selbst, der Schwester, der Nachbarin, ihren Freundinnen... »Freuen Sie sich auf ein Lesevergnügen, das Sie zum Lachen, zum Weinen und zum Nachdenken anregt.« Bild der Frau
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Dora Heldt
Unzertrennlich
Roman
Für Rainer, nicht nur wegen der Korrekturen, für die alten Weggefährtinnen und für meinen Sylter Clan, ohne den ich mich nicht so viel trauen würde.
44. Es war ein Witz. Christine beugte sich näher zum Spiegel und starrte sich in die Augen. Immer noch blau. Immer noch dieselben Augen, dieselben wie mit sechs, mit zwölf, mit zwanzig, mit dreißig. Sie kniff sie leicht zusammen. Da war der Unterschied. Falten. Der Halbkreis von Augenwinkel zu Augenwinkel, strahlenförmig und unnachgiebig. Christine hob die Augenbrauen. Die Falten blieben. 44. Sie atmete tief durch, griff zum Lidschatten und verteilte mit einem Pinsel silbergrauen Puder auf die Lider. Silbergrau gibt einen strahlenden Blick. Versprach zumindest der Hersteller. Die Falten waren unter den Augen, man musste also den Blick nach oben lenken. Nach dem Puder kam der Lidstrich. Wenigstens zitterten ihre Hände noch nicht. Seit 24 Jahren zog Christine morgens Lidstriche. Sie stellte sich alle in einer durchgezogenen Linie vor und überlegte, ob sie sich schon einmal um die Welt gestrichelt hatte. Vermutlich schon. Als letzter Schritt wurden die Wimpern getuscht, jede Seite zweimal. Die meisten Frauen öffneten dabei den Mund, was völlig bescheuert aussah und keinen erkennbaren Grund hatte. Christine zwang sich dazu, die Lippen geschlossen zu halten, selbst wenn niemand sie beobachtete. Es war eine Frage der Disziplin. Sie trat vom Spiegel zurück und betrachtete sich prüfend. Die Haartönung war ein bisschen zu dunkel geraten, was sie blass machte, dafür wirkten die Augen blauer, was hoffentlich von den Falten ablenkte. Sie musste lachen, wie blöd war sie eigentlich? Eigentlich war es ihr egal.
Als ihre Mutter 44 wurde, war Christine 21, ihr Bruder Georg 18, Ines, ihre Schwester, 14. Charlotte wurde 44 und bekam von ihren Kindern ein elektrisches Messer geschenkt. Mit drei Klingen. Kein Parfüm, keine Unterwäsche, nein, ein Haushaltsgerät. Christine bat sie im Stillen um Vergebung. Obwohl … war das Geschenk wirklich so daneben gewesen? Sie würde Charlotte fragen. Falls sie damals gekränkt war, hatte sie sich das zumindest nicht anmerken lassen. Vielleicht wird man als Mutter so. Dankbar und unkritisch.
Das würde Christine in diesem Leben nicht mehr passieren, der Zug war abgefahren. 44, geschieden, keine Kinder, keine Haustiere. Beruflich erfolgreich. Privat eher mittelmäßig.
Seit ihrer Scheidung hatte sie sich in den Job gestürzt. Sie arbeitete im Vertrieb eines großen Verlages, fing morgens um 8 Uhr an, hörte abends um 19 Uhr auf, ging einmal in der Woche zum Yoga, manchmal mit Kollegen essen und schrieb in ihrer Freizeit Kolumnen für ein Stadtmagazin. Alles war durchgeplant und übersichtlich. Und vor allen Dingen ruhig. Manchmal allerdings auch langweilig. Das kam ihr entgegen, sie mochte keine Überraschungen. Ihr Bruder Georg bezeichnete sie als Kontrollfreak, er hatte recht, sie behielt gern den Überblick über ihr Leben, sie hatte genug Zeiten erlebt, in denen sie sich den Rhythmus anderer zu eigen machen musste. Heute wurde sie 44. Heute wusste sie, was sie nicht mehr wollte.
Die Türklingel unterbrach ihre Gedanken. Gleichzeitig wurde die Tür aufgeschlossen und Dorothea rief nach ihr. Sie waren seit Jahren eng befreundet und wohnten seit einiger Zeit in nebeneinander liegenden Wohnungen. Jede hatte den Schlüssel der anderen. Dass man klingelte, bevor man die Wohnung betrat, war ein stillschweigendes Übereinkommen. Ein Zeichen des Respekts vor der Privatsphäre der Freundin. Mehr nicht. Letztlich war die Zeitspanne zwischen Klingeln und Eintreten so knapp, dass Christine es nicht mal annähernd geschafft hätte, etwas Privates verschwinden zu lassen. Was auch immer das hätte sein sollen.
»Ich bin gleich fertig, Dorothea, schenk dir doch einen Sekt ein. Steht im Kühlschrank.«
Christine zog sich die Lippen nach und steckte den Lippenstift in die Handtasche. Dorothea stand im Mantel im Flur und sah sie erwartungsvoll an. Sie hatte ihr bereits am Morgen zum Geburtstag gratuliert, beide hatten noch schnell einen Kaffee bei Christine getrunken, in einer halben Stunde war ein Tisch beim Italiener bestellt, zehn Personen, Christines Geschwister, ein paar Kollegen und Freunde, wie immer.
Christines Begeisterung für Geburtstage hielt sich in Grenzen, zumindest für ihre eigenen. Dorothea trug einen neuen Rock unter ihrem Mantel, grün, aus Samt, mit Spitze, dazu ein tief ausgeschnittenes Top. Christines Blick war ebenso überrascht wie der Blick, mit dem Dorothea Christine musterte. Dorothea reagierte schneller.
»Sag mal, du hast Geburtstag, musst du da eine Jeans und einen grauen Rollkragenpullover anziehen?«
»Erstens ist mir kalt, zweitens ist der Pulli neu und war teuer, drittens gehen wir nur zum Italiener und viertens verstehe ich nicht, warum du dich so in Schale geschmissen hast. Aber wenn es dich beruhigt, ziehe ich eine Bluse an und friere mir den Arsch ab.«
Dorothea verdrehte die Augen. »Also, erstens ist es hier kalt, weil du alle Fenster aufgerissen hast, zweitens sieht man nicht, dass der Pullover neu ist, weil er genauso aussieht wie die anderen drei, die du schon besitzt, drittens haben wir eine kleine Änderung des Plans, was den Italiener angeht, und viertens habe ich mich in Schale geschmissen, weil du Geburtstag hast, Schätzchen.«
Christine starrte Dorothea an. »Was heißt hier Änderung des Plans?«
Dorothea fuhr sich vor dem großen Spiegel durch die dunklen Locken.
»Das heißt, wir gehen nicht zum Italiener. Jetzt reg dich nicht gleich auf und entspann dich.«
Sie beobachtete Christine im Spiegel, die etwas fassungslos wirkte. Es war zu befürchten, dass sie sich doch aufregte. Was dann auch geschah.
»Bist du irre? Ich habe den Tisch reserviert, das Essen bestellt, die anderen kommen um acht, soll ich das jetzt abblasen? Spinnst du?«
Dorothea betrachtete sich ungerührt im Spiegel und wischte sich etwas Wimperntusche aus dem Augenwinkel.
»Nun«, sagte sie, »und ich habe den Tisch wieder abbestellt und mir was Schöneres für deinen Geburtstag überlegt. Also, zieh dir jetzt was Schickeres an und komm. Ich fahre.«
Christine suchte nach Worten. Sie konnte Geburtstage nicht leiden, sie hasste Überraschungen und geänderte Pläne sowieso. All das wusste Dorothea. Und trotzdem hatte sie jetzt so eine Schnapsidee. Christine zwang sich, nicht die Nerven zu verlieren. Sie holte tief Luft.
»Also gut, ich ziehe mir eine Bluse an. Aber du weißt, dass ich so was blöd finde.«
Sie verschwand im Schlafzimmer. Dorothea sah ihr hinterher. Ein leichter Anflug von Zweifel beschlich sie. Das wird lustig, sagte sie sich.
Zehn Minuten später saßen sie in Dorotheas Mini. Christine hatte lediglich den Pullover gegen eine schwarze Bluse getauscht, über der sie einen schwarzen Blazer trug. Sie hatte Dorothea natürlich gelöchert, wohin sie fuhr, was das alles sollte, ob sie die anderen auch alle erreicht hatte.
Dorothea hatte nur lächelnd abgewunken.
»Warte einfach ab. Es wird bestimmt schön. Ewig dieser Italiener, das ist doch langweilig.«
Christine konzentrierte sich auf die Straßenschilder und versuchte herauszufinden, wo Dorothea hinwollte. Nach einer Weile gab sie es auf. In ihrem Kopf tobten die Gedanken. Plötzlich blitzten Bilder von irgendwelchen grässlichen Männerstripshows in ihr auf, diese Form von Frauenbelustigung, die mit Vorliebe am Vorabend von Hochzeiten besucht wurde. Aber sie würde am nächsten Tag nicht heiraten, sie wurde heute 44, das konnte doch kein Anlass sein. Oder etwa doch? Bitte nicht.
»Sag mal, wir fahren doch wohl nicht zu so einer lustigen Mädchenveranstaltung mit den California Dreamboys oder ähnlichem?«
Dorothea sah sie erstaunt an und lachte laut auf.
»Ach Gott, wären das deine Phantasien gewesen? Na, da hättest du doch nur etwas sagen müssen, das hätte ich organisiert.« Sie lachte weiter. »Schade, das kam jetzt zu spät.«
Christine war erleichtert und hakte nach: »Komm, Dorothea, mach doch mal eine Andeutung.«
»Nein, wir sind gleich da. Und es ist überhaupt nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Sei ganz beruhigt.«
Das Wort Überraschung stand fett und kursiv gedruckt vor Christines Augen. Dorothea arbeitete beim Fernsehen. Ein Gedanke fuhr ihr plötzlich durch den Kopf. Und ein Name: Kai Pflaume. Einer der Gutmenschen, der zerstrittene Liebespaare und verloren geglaubte Freunde wieder zusammenbrachte. Vor Millionen von Zuschauern. Um Himmels willen. In Zeitlupe zogen die Gesichter ihrer Exfreunde vor Christines geistigem Auge vorüber. Bernd, ihr Exmann vorneweg, dicht gefolgt von Holger, Denis und, oh Gott, Michael. Eine grauenvolle Vorstellung. Christine schüttelte sich und sah Dorothea von der Seite an. Das würde sie nicht tun, niemals. Hoffentlich. Sie schluckte, traute sich aber nicht zu fragen.
Dorothea bog in Richtung Hafencity ab. Christine atmete durch. Es war eine ihrer Lieblingsecken in Hamburg. In den letzten Jahren hatte hier eine Vielzahl von schönen Restaurants und Clubs aufgemacht. Vielleicht hatte Dorothea wirklich nur ein anderes Lokal ausgesucht. Das hätte sie aber einfach sagen können. Irgendetwas kam wohl doch noch.
Dorothea fuhr ihr Auto auf den Parkplatz eines Restaurants. »Indochine«.
Von außen sah es schön aus, der Parkplatz war voll. Dorothea zog den Zündschlüssel ab und strahlte Christine an.
»So, da wären wir. Auf in den Kampf.«
Als sie Christines erschrockenes Gesicht sah, lachte sie und stupste sie mit dem Ellbogen. »Alles Gute zum Geburtstag, das wird ein toller Abend.«
Christine ging hinter ihr die Treppe hoch. Als sie vor dem Eingang des Restaurants standen, ließ Dorothea ihr den Vortritt. Der schöne Kellner, der sie an der Tür empfing, führte sie in einen Nebenraum. Und dann stimmte ein etwa zwanzigköpfiger Chor »Happy birthday« an. Christine stand stumm vor ihnen, sah fassungslos in die Gesichter und wusste nicht, ob sie lachen oder schreien sollte.
In jedem Frühjahr gibt es diesen einen Tag, an dem man merkt, dass der Winter vorbei ist. Christine hatte es schon morgens gespürt, als sie mit dem Fahrrad zum Verlag fuhr. Die Luft war anders, kaum jemand trug noch eine Mütze und die Gesichter der Entgegenkommenden sahen gut gelaunt aus. Auch im Verlag herrschte Frühlingsstimmung, selbst der ewig muffige Herr Schlüter am Empfang schien Christine anzulächeln. In ihrem Büro waren die Fenster weit geöffnet, auf Gabis Schreibtisch stand ein Strauß Tulpen.
Seit fast drei Jahren arbeitete Christine im Vertrieb des Verlages, für den sie vorher im Außendienst unterwegs gewesen war. Gabi hatte ihr damals gesagt, dass es eine freie Stelle gab. Christine hatte sich sofort beworben, sie hatte die endlosen Autofahrten und die Hotelnächte satt. Sie bekam den Job, nicht zuletzt, weil Gabi, die seit zehn Jahren in der Abteilung saß, den Personalchef gut kannte und Christine eindringlich empfohlen hatte.
Seitdem teilten sich Gabi und Christine ein Büro. Gabi war eine angenehme Kollegin. Sie hatten ähnliche Arbeitsweisen, tranken beide Kaffee, beschränkten die privaten Plaudereien auf das Nötigste und hatten einen freundschaftlichen Umgangston miteinander gefunden.
Gabi sah hoch, als Christine zur Tür hereinkam.
»Guten Morgen, wir haben es geschafft, dieser Mistwinter ist wohl endgültig durch. Oder was sagt die Wetterfee?«
»Glaubst du, dass ich Wetterumschwünge in meinen zerschossenen Knien spüre?«
Gabi lachte. »Du, mein Opa konnte das, der sagte sogar die Windstärken voraus.«
»Schönen Dank auch.« Christine setzte sich an ihren Schreibtisch und fing an, die Post durchzusehen. Obendrauf lag ein Zettel: Ruth anrufen!
Ruth war die Herausgeberin des Stadtmagazins ›Kult‹, das ebenfalls in dem Verlag erschien, für den Christine arbeitete. Ruth war genauso laut und auffällig, wie Gabi zurückgenommen und leise war. Die beiden hatten im Verlag zusammen eine Lehre gemacht, waren seitdem befreundet. So unterschiedlich sie waren.
Vor zwei Jahren hatten Ruth und Christine auf der Weihnachtsfeier über den Sinn und Unsinn von Kolumnen diskutiert. Christine mochte Kolumnen, sie kaufte die ›Zeit‹ wegen Harald Martenstein. Ruth fand Kolumnen überflüssig. An diesem Abend schlossen sie eine Wette ab. Christine sollte eine Kolumne über Singlefrauen an Silvester schreiben und Ruth würde sie in der ›Kult‹ drucken. Gäbe es mehr als fünf Leserbriefe, müsste Ruth für Christine Kohlrouladen machen. Anscheinend gab es massenhaft Singlefrauen, die Silvester ratlos waren, jedenfalls schrieb ein Großteil von ihnen einen Leserbrief. Und Ruth musste ihren Wetteinsatz einlösen.
»Die größte Sauerei, die jemals in meiner Küche stattgefunden hat.«
Christine schaffte drei Rouladen mit anschließendem Schnaps und schrieb seitdem jeden Monat eine Kolumne. Das Thema gab Ruth vor. Kohlrouladen machte sie nie wieder.
Christine wählte und hatte nach zwei Freitönen Ruths Stimme im Ohr.
»Hallo, Ruth, ich sollte dich anrufen.«
»Ach, Christine, wunderbar, also einmal habe ich ein neues Thema für das Mai-Heft, nicht sehr originell, aber bitte, es geht um Zielgruppen. Ich möchte was zum Thema ›Meine erste Liebe‹. Schließlich kommen jetzt die Frühlingsgefühle. Apropos Frühling, bei dem Wetter sollten wir heute Abend die Alster-Saison eröffnen. Um 17 Uhr bei ›Prüsse‹? Schließlich ist Freitag.«
»Das klingt gut. Ich frage Gabi, ob sie auch mitwill. Gabi? ›Prüsse‹? Ja, Ruth, sie nickt heftig und arbeitet gleich schneller. Bis später.«
Das Café an der Außenalster war einer der beliebtesten Treffpunkte für das Feierabendbier. Noch war es glücklicherweise nicht so kultig, dass man es als Afterwork-Club bezeichnete, die Tätigkeit des Trinkens nach Büroschluss war ohnehin überall die gleiche.
Ruth saß schon an einem Tisch auf der kleinen Holzterrasse, als Christine und Gabi über den Steg liefen. Sie sah von einer Liste hoch, als sie die Schritte der beiden hörte, schob ihre Lesebrille auf den Kopf und legte die beschriebenen Blätter zur Seite. Dann stand sie auf und breitete theatralisch ihre Arme aus, um die obligatorischen Mädchen-begrüßen-sich-so-Küsse zu verteilen. Ihre Stimme schnellte eine Oktave höher.
»Hi, ihr Süßen, schön, dass ihr da seid.«
Christine verdrehte innerlich die Augen. Eigentlich mochte sie Ruth und fand sie ganz witzig, zumindest, wenn sie mit ihr allein war. Fühlte Ruth sich aber beobachtet, erfüllte sie alle Klischees, die man über Frauen haben konnte. Sie war Anfang dreißig, irgendetwas zwischen schlank und mager, ihre schulterlangen Haare waren blondiert und gesträhnt und wurden meistens von Sonnenbrillen zusammengehalten. Seit dem letzten Winter brauchte sie angeblich eine Lesebrille, Christine vermutete, dass es Fensterglas war, sie hielt die Haare aber zusammen. Während Ruth Gabi noch umarmte und küsste, setzte sich Christine schnell und kam so um die herzzerreißende Begrüßung herum.
So sind sie, die Mädchen, dachte sie und zwang sich, Ruth anzulächeln. Sie war ja wirklich nett.
Nachdem die Bedienung die Bestellung aufgenommen hatte, setzte sich Ruth bequemer hin und zog die Blätter wieder näher zu sich. Sie sah die beiden anderen an.
»Ich bin in wilden Planungen, meine beste Freundin heiratet nächsten Monat, ich bin natürlich Trauzeugin und möchte gern so ein bisschen Kokolores veranstalten. Jetzt suche ich händeringend nach guten Ideen. Fällt euch vielleicht was ein?«
Christines Antwort hatte nichts mit der Frage zu tun. »Man braucht doch überhaupt keine Trauzeugen mehr.«
»Ja, aber das ist doch auch symbolisch. Man bringt die beste Freundin vor den Altar. Nachdem wir so vieles zusammen erlebt haben, begleitet man sich schließlich auch am schönsten Tag des Lebens.«
Christine runzelte die Stirn. »Das ist doch nicht dein Ernst. Du liest zu viele Illustrierte. Der schönste Tag im Leben einer …«
Sie wurde vom Klingeln ihres Handys unterbrochen. Während sie es aus ihrer Jackentasche zog, versuchte sie, den Satz zu beenden.
»… einer Frau, so ein Schwachsinn. Ja, hallo? … Luise, du kannst gleich vorbeikommen, ich sitze mit Ruth und Gabi an der Alster, wir reden über Hochzeiten und ich erkläre Ruth gleich, wie man Papierblumen für Türkränze bastelt.«
Während Ruth verständnislos guckte, fing Gabi an zu lachen.
»Stimmt ja, Christine hat doch auf dem Land geheiratet, Ruth, da kriegst du gleich jede Menge Bräuche und Sitten geboten.«
Christine beendete ihr Gespräch mit Luise. Sie steckte das Handy in die Jackentasche zurück und sagte: »Sie kommt.«
Luise arbeitete ebenfalls für den gleichen Verlag, wenn auch im Außendienst. Sie besuchte die Buchhandlungen zwischen Flensburg und Göttingen und stellte dort die neuen Bücher des Verlages vor.
Sie kannte Christine lange als Kollegin. Nachdem Christine nach Hamburg gezogen war, um ihre Scheidung zu verarbeiten, leistete Luise Liebeskummer-Erste-Hilfe.
Als Christine mit dem Schlimmsten durch war, trennte sich Luise von ihrem Freund. Da waren sie dann in Übung. Und seitdem auch privat befreundet.
Ruth fing wieder an: »Wieso findest du das blöd? Du hast doch auch mal geheiratet. Habt ihr damals nicht gefeiert?«
In Christines Kopf liefen Bilder vorbei. Ihr Exmann Bernd, Antje und Adrian, die Trauzeugen, ihre Schwiegereltern, Nachbarn mit Schnapsgläsern vor der bekränzten Haustür, die teure Jazzband, die auf Zuruf der Gäste schließlich ›Das alte Försterhaus‹ spielte. Sie zuckte die Achseln.
»Oh, doch, drei Tage lang, ein großes Fest auf dem Land. Hat trotzdem nichts genützt.«
Gabi winkte ab. »Dass eine Ehe in die Grütze geht, hat ja nichts mit der Feier zu tun. Das war doch bestimmt ganz lustig, das Fest, meine ich. Was haben die Gäste denn für einen Kokolores gemacht? Gib Ruth doch mal ein paar Tipps.«
»Ja, bitte.« Ruth nahm den Stift in die Hand und sah Christine erwartungsvoll an. »Was hat deine beste Freundin zum Beispiel gemacht?«
»An dem Tag noch nichts.«
Christine verscheuchte eine unsichtbare Fliege und überlegte, ob sie weiterreden sollte. Gabi nahm ihr die Entscheidung ab.
»Tauben«, sagte sie verträumt. »Organisiere doch irgendwo weiße Tauben und lass sie vor der Kirche fliegen.«
»Ich weiß nicht, ist das nicht übertrieben? Sie heiratet ja nicht im Blitzlichtgewitter der ›Bunten‹.«
Christine lachte. »Und außerdem besteht die Gefahr, dass die Viecher ihr das Brautkleid vollscheißen.«
Gabi schüttelte den Kopf. »Du nimmst das nicht ernst, Christine. Außerdem bringt das Glück.«
»Und Flecken, die du nicht mehr rauskriegst, obwohl das egal ist, weil man das Kleid sowieso nie wieder anzieht.«
»Also, bitte, kann ich vielleicht mal eine richtige Idee bekommen? Christine, erzähl doch mal, wie das bei euch abgelaufen ist. Du hast es ja hinter dir. Und du hast dich doch bestimmt über die Überraschungen gefreut, die deine Freunde für dich gemacht haben. Hattet ihr eine Hochzeitszeitung?«
Christine sah Antje vor sich. Antje im lindgrünen Kostüm, der Rock etwas zu eng über der Hüfte, im Arm einen Stapel Hochzeitszeitungen. Dieses Ich-bin-deine-beste-Freundin-Lächeln im Gesicht.
»Hochzeitszeitung, um Gottes willen«, sagte sie schnell. »Alberne Kochrezepte und gestümperte Kreuzworträtsel. Da kann doch heute kein Mensch mehr drüber lachen.« Sie dachte kurz nach. »Bei uns haben sie das Lied ›An der Nordseeküste‹ umgedichtet. In ›Als Bernd Tine küsste‹. Das war in etwa das Niveau, auf dem man sich bewegt. Wenn du deine Freundin gut leiden kannst, erspare ihr das. Sie wird dir ewig dankbar sein.«
»Wer wird wem dankbar sein?«
Unbemerkt von den anderen war Luise an den Tisch getreten und stand plötzlich hinter Christines Stuhl. Ruth sprang sofort auf, um die Kusskampagne zu starten. Auch Gabi hielt es nicht mehr auf dem Stuhl. Christine blieb sitzen und sah mit etwas spöttischem Blick zu. Einen kleinen Moment und sechs Küsse später setzten sich die drei. Luise legte kurz die Hand auf Christines Arm. Sie war schon sehr rücksichtsvoll.
Ruth brachte Luise auf den neuesten Stand.
»Meine beste Freundin Hanna heiratet, ich bin Trauzeugin und wollte mir etwas Witziges für die Hochzeit ausdenken. Und unsere Freundin hier, Christine, hat drei Tage lang auf dem Land geheiratet, wahrscheinlich mit unglaublich viel Tamtam. Aber anstatt mir tolle Vorschläge zu machen, findet sie alles doof.«
Luise war irritiert. »Aber Christine ist doch seit fünf Jahren geschieden.«
Gabi verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen.
»Um geschieden zu werden, muss man ja wohl erst mal heiraten. Meine Güte, es geht nicht um die Ehe, es geht um die Hochzeit. Um die Feier.«
Luises Gesicht wirkte immer noch so verständnislos, dass Christine lachen musste. »Luise muss erst mal auf die Ebene von ländlichen Hochzeiten kommen, das geht nicht so schnell. Wo warst du denn heute?«
Luise kramte ihre Zigaretten aus der riesigen Handtasche. »In Bremen, ich hatte aber nur drei Termine. War nett.«
Sie zwinkerte Christine zu. Christine spürte, dass sie rot wurde. In Bremen lebte Richard. Luise gehörte zu den wenigen, die wussten, dass Christine eine Affäre hatte.
»Wieso, was ist mit Bremen?« Ruth entging selten eine Gefühlsregung. Neugierig sah sie Christine an.
»Du, nichts weiter. In meinen Außendienstzeiten mochte ich Bremen am liebsten. Mehr nicht.« Sie griff zu ihrer Kaffeetasse, trank, setzte die Tasse ab und hatte sich wieder im Griff. »Also, zurück zu deiner Hochzeit. Ich habe gar nichts gegen das Heiraten. Aber diese selbstgedichteten Lieder, diese scheinheiligen Reden, diese Spielchen, das kriegt alles schnell was Armseliges. Und kaum etwas ist dabei ehrlich.«
»Aber ich meine es doch ehrlich. Ich kenne Hanna ein Leben lang, ich weiß alles über sie, wir sind seelenverwandt. Da wird es in jedem Fall ehrlich.«
Christine bemerkte Luises Seitenblick. Sie räusperte sich. »Dann wird es wohl so sein. Vielleicht war meine Hochzeit auch nur von den falschen Leuten organisiert. Das kriegst du schon hin. Das mit der Ehrlichkeit, meine ich.« Sie sah auf die Uhr. »So, ich muss jetzt aber los, ich habe noch einen Friseurtermin. Wenn mir was einfällt, Ruth, rufe ich dich an. Und mit der Kolumne fange ich heute Abend an.« Sie stand auf und legte ein paar Münzen auf den Tisch. »Bleibt sitzen, wir telefonieren. Bis Montag, Gabi, Luise, wir sehen uns.«
»Warte mal, Christine.« Ruth war doch aufgestanden, sie wirkte auf einmal ganz aufgeregt. »Apropos Kolumne, ich möchte das Thema ändern. Für Hanna. Schreib doch bitte über ›Meine beste Freundin‹. Das finde ich gut.«
Christine runzelte die Stirn. Luise sah, wie sich ihre Schultern verkrampften. Sie konnte sich vorstellen, was Christine dachte, und versuchte einzugreifen.
»Wieso, was war das erste Thema?«
Ruth machte eine abfällige Handbewegung. »Ach, ich dachte zunächst an ›Meine erste Liebe‹, von wegen Frühling und so. Aber irgendwie ist das langweilig. Die meisten Leser sind Frauen, die können mit dem Freundinnenthema mehr anfangen. Schließlich hat doch jede eine.«
Christine wirkte unsicher. »Ich finde das mit der ersten Liebe aber besser.«
Gabi sah die anderen an, merkte, dass Christine sich innerlich dagegen sträubte, und versuchte einen Kompromiss. »Dann schreib doch über ›Meine erste Freundin‹ statt der besten. Das ist doch auch nett.«
Ruth strahlte. »Das ist noch viel besser. Hanna war ja auch meine erste Freundin. Super, Gabi. Also, Christine, wie findest du das?«
Christine nickte langsam. »O. k., ich versuche es. Ich maile es dir am Wochenende, dann können wir darüber reden. Also, Mädels, ich muss jetzt los, viel Spaß noch, bis bald.«
Ruth beobachtete Christine, die ihr Fahrrad aufschloss, noch mal in ihre Richtung winkte und es danach über den Steg schob. Sie drehte sich zu den beiden anderen. »Ist sie durch ihre Scheidung so frustriert, dass sie noch nicht mal über ihre Hochzeit reden kann?«
Luise schüttelte den Kopf. »Über die Scheidung nicht, nur das mit der besten Freundin und der Ehrlichkeit war ein gigantischer Fettnapf.«
»Wieso das denn? Sie kennt Hanna doch gar nicht.«
»Ihre Trauzeugin Antje war ein Leben lang mit ihr befreundet, hatte sich auch jede Menge lustige Geschichten zur Hochzeit ausgedacht und vier Jahre später mit Christines Exmann gevögelt. Übrigens einige Jahre lang, ohne dass Christine irgendetwas mitbekommen hat.«
Gabi verzog ihr Gesicht. »Widerlich. Und dann?«
»Na ja, dann hat Antje beschlossen, lieber einen offiziellen Mann als eine beste Freundin haben zu wollen, und hat Bernd die Pistole auf die Brust gesetzt. Entweder Trennung von Christine oder sie würde ihrer liebsten Freundin mal ein paar Dinge erzählen. Also hat sich Bernd unter irgendeinem albernen Vorwand von Christine getrennt, sie zog nach Hamburg und er behielt das gemeinsame Haus. Leider platzte die Bombe ein paar Monate später, es wussten schon zu viele Leute. Seitdem gibt es keinen Kontakt mehr, weder zu ihr noch zu ihm.«
Ruth hatte mit erschrockener Miene zugehört. »Ach du Scheiße, und ich erzähle diese ganze Hochzeitsgeschichte. Und finde diese blöde Kolumne mit der besten Freundin toll. Ganz schön bescheuert.«
Gabi strich ihr tröstend über den Arm. »Das konntest du ja nicht wissen. Ich wusste das übrigens auch nicht. Nur dass sie mal verheiratet war. Und dass es wegen einer anderen Frau auseinanderging. Wobei ich immer den Eindruck hatte, dass es für Christine das Beste war, was ihr passieren konnte. Das muss ein ziemlicher Idiot gewesen sein. Kennst du die beiden?«
Luise schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben uns erst näher kennen gelernt, als Christine schon in Hamburg wohnte. Sie redet manchmal über ihren Exmann, aber nie über Antje. Ich habe mich anfangs manchmal gewundert, dass Christine sich öfters so zurückzieht. Sie kommt nie ohne Anmeldung vorbei, ist ab und zu sehr distanziert, ich habe immer gedacht, es liegt an mir. Bis ihre Schwester Ines mir das von Antje und Christine erzählt hat. Für Christine war Antje dreißig Jahre lang eine richtige Lichtgestalt gewesen. Ich glaube, ihr Verrat hat sie viel mehr getroffen als das Ende ihrer Ehe.«
Gabi nickte zustimmend. »Stimmt, Christine blockt meistens ab. Wir fahren seit Jahren mit ein paar Kolleginnen im September für ein langes Wochenende nach Norderney. So ein richtiges Weiberwochenende. Sie ist nicht dazu zu bewegen, mitzufahren.«
Ruth hatte die ganze Zeit schweigend zugehört und Strichmännchen auf ihren Block gemalt. Sie sah hoch.
»Aber es kann doch nicht sein, dass man eine schlechte Erfahrung macht und damit seine Offenheit für alle kommenden Freundschaften verliert. Und den gesamten Glauben an Freundinnen!«
Luise winkte ab. »So weit geht es ja auch nicht. Sie ist mit Dorothea befreundet, die beiden wohnen jetzt auch nebeneinander. Und dann gibt es noch Marleen, die wohnt in Christines altem Dorf und hat ihr wohl sehr mit dem Umzug und der Trennung geholfen, sie ist auch öfter mal hier. Und wir treffen uns ja auch häufig.«
Ruth unterbrach sie. »Dorothea habe ich mal kennen gelernt, das ist doch die Kostümbildnerin, die mal mit Christines Bruder liiert war, oder?« Luise nickte.
»Das ist ja fast Familie. Aber hat sie denn sonst überhaupt keine jahrelangen Beziehungen? Keine Freundinnen, die sie seit der Schule kennt?«
»Wir haben irgendwann mal über Sentimentalitäten gesprochen«, sagte Gabi nachdenklich. »Christine meinte, daran würde sie merken, dass sie älter wird. Ihr würden immer öfter Leute einfallen, von denen sie seit Jahren nichts mehr gehört hätte. Plötzlich müsste sie an sie denken.«
»Und warum hat sie sie nicht mehr gesehen?« Ruths Gesichtsausdruck war neugierig. Luise antwortete.
»Wenn du nach einer zehnjährigen Ehe Hals über Kopf wegziehst, trennst du dich ja auch von deinem Freundeskreis. Und damit können viele nicht umgehen. Außerdem ist Christine Bundeswehrkind, ihre Eltern sind relativ viel umgezogen. Da sind Freundschaften wahrscheinlich immer schwer zu pflegen gewesen. Das ist schon blöd. Sie hat auch mal gesagt, dass sie bei jedem Ortswechsel fast alle Freundschaften zurückgelassen hat. Deshalb bräuchte sie sich auch nicht mit Sehnsüchten und Erinnerungen rumzuschlagen. Das fand ich ganz furchtbar.«
Ruth dachte nach. »Wie alt ist sie jetzt, Luise?«
»Sie wird im November 44.«
»Schnapszahl.« Ruth überlegte konzentriert. »Ich finde das traurig. Ich habe neben Hanna noch drei Freundinnen, die ich wirklich seit über zwanzig Jahren kenne. Das ist was sehr Schönes. Wir könnten doch versuchen, Christines alte Weggefährtinnen ausfindig zu machen. Die laden wir dann als Überraschung zu ihrem Geburtstag ein.«
Luise war skeptisch. »Ich weiß nicht. Zum einen mag sie keine Überraschungen und zum anderen weiß ich nicht, wie wir irgendwelche ehemaligen Freundinnen ausfindig machen sollen, von denen sie selbst seit Jahren nichts mehr gehört hat. Vielleicht will sie die ja überhaupt nicht mehr sehen.«
Gabi begeisterte sich jedoch langsam für die Idee. »Du kennst doch ihre Schwester ganz gut. Ines hat die sicher alle gekannt. Oder wir können ihre Eltern oder ihren Bruder fragen.«
Luise blieb skeptisch. »Ich weiß wirklich nicht. Das kann auch nach hinten losgehen. Dann bricht sie den Kontakt zu uns auch noch ab.«
»So ein Blödsinn.« Ruth war jetzt richtig in ihrem Element. »Ich finde das klasse. Und sie hat doch selbst gesagt, sie würde in letzter Zeit viel an alte Freunde denken. Man kann nur oft keinen Anfang mehr machen. Das kennt doch jeder. Irgendwann ist der Moment verpasst, an dem man an alte Zeiten anknüpfen kann. Das machen wir jetzt eben für sie.«
Luise gab nach. »Also gut, ich kann ja mal mit Ines reden. Mal sehen, wie sie die Idee findet.«
Ruth lächelte zufrieden. »Wunderbar! Ich liebe solche Geschichten. Ich glaube, Christine wird begeistert sein. Und einige dieser alten Weggefährtinnen auch, wer und wo immer sie sein mögen. Wir werden ihnen eine Einladung schicken und einen Fragebogen dazulegen. Wann sie Christine kennen gelernt haben, die schönsten Erinnerungen, was das Beste an ihr ist, so ein paar Dinge zum Einstimmen. Ich entwerfe da mal was. Das wird großartig.« Sie hob ihre Kaffeetasse. »Prost, ihr Lieben, wir machen die Welt schöner. Auf uns und auf die Frauenfreundschaften.«
Luises Blick war unsicher. Gabi lächelte.
1968 war das Jahr, das mein Leben veränderte. Es hatte nichts mit dem Attentat auf Dutschke zu tun, nichts mit den Olympischen Spielen in Mexiko und auch nichts mit der Tatsache, dass der 1. FC Nürnberg Deutscher Fußballmeister wurde und der 11-jährige Heintje seine erste Langspielplatte veröffentlichte. Das Wichtigste war etwas anderes: Ich wurde eingeschult und meine drei größten Wünsche erfüllten sich.
Der erste Wunsch war ein Paar rote Lackschuhe, vorne mit kleinen Löchern, hinten mit Riemchen. Ich hatte sie in einem Schuhgeschäft gesehen und wollte nicht mehr ohne sie leben. Meine Mutter sah das anders. Sie legte Wert auf vernünftiges Schuhwerk, geschlossene Schuhe mit ordentlichem Fußbett, sie hatte Photos von deformierten Kinderfüßen gesehen, von denen sie wahrscheinlich nachts träumte. Ihr Gegenvorschlag bestand aus einem Paar hellroter Hush Puppies aus Wildleder zum Schnüren. Ich weigerte mich, sie anzuprobieren, und heulte, sie verließ mit mir entnervt das Schuhgeschäft.
Der zweite Wunsch war eine kleine Schwester. Einen kleinen Bruder hatte ich bereits, der leider nicht das hielt, was man mir drei Jahre zuvor versprochen hatte. Ich fand ihn wahnsinnig langweilig und konnte nicht viel mit ihm anfangen. Ich setzte also alle Hoffnungen auf eine Schwester, die Chancen standen zu dem Zeitpunkt 50:50, meine Mutter war zumindest schwanger.
Den dritten Wunsch hatte ich niemandem erzählt. Ich wünschte mir eine Freundin, eine ganz für mich allein. Meine Mutter hatte so eine. Sie nannte sie Inge-Berg-Gartenzwerg, obwohl Tante Inge schon groß war. Es gab ein Bild von ihrer Einschulung, darauf sahen sie genau gleich aus und hielten sich an den Händen. Das wollte ich auch.
Meine Einschulung war am 8. August, drei Wochen vorher drohte die Stimmung zu Hause zu eskalieren. Ich hatte einen weißen Faltenrock und eine dunkelblaue Clubjacke bekommen. Das war zwar alles schön, ich wollte es aber nur mit diesen roten Lackschuhen anziehen. Zumal ich schon auf den roten Schulranzen verzichten musste, meiner war braun. Meine Oma hatte gesagt, ich könnte ihn sowieso nicht sehen, weil er ja auf dem Rücken hing. Das sah ich ein, blieb das Problem mit den Schuhen, meine Füße sah ich nun mal.
Also marschierte meine schwangere Mutter mit ihrem renitenten Kind durch die Flensburger Innenstadt. Es gab sechs Schuhgeschäfte, die besagten Lackschuhe standen im zweiten Laden, in dem wir waren. Im dritten und vierten Geschäft verweigerte ich jegliche Anprobe, im fünften kamen die Tränen und im sechsten wollte ich nicht mehr eingeschult werden. Kurz vor Feierabend waren wir wieder im zweiten Laden, ich probierte mit verheultem Gesicht die schönsten Schuhe der Welt an. Ich log auf die Frage, ob sie gut passten, sie drückten wie verrückt, aber ich bekam sie. Ich war selig.
Am Abend vor der Einschulung war mir furchtbar schlecht. Ob es die Aufregung oder der Toast Hawaii zu besonderen Anlässen war, weiß ich nicht mehr, nur dass ich mich die ganze Nacht übergeben musste. Morgens war ich übermüdet, mir war übel und meine Schuhe drückten. Als wir auf dem Schulhof standen und ich all die anderen Kinder sah, von denen ich keines kannte, wurde mir noch übler. Dann löste meine Mutter ihre Hand aus meiner und schob mich nach vorn. Wir mussten uns alle in eine Reihe stellen, ich starrte auf den Boden, damit niemand meine Tränen sah, und bemerkte, dass alle anderen Mädchen schwarze oder dunkelblaue Schuhe trugen, geschlossene Schuhe ohne Lack. Ich musste meine Zehen krümmen, damit die Schuhe nicht so doll drückten, und war verzweifelt. Danach gingen wir in unsere Klassen. Auf der Treppe entstand ein kleines Durcheinander, das die Reihenfolge änderte. Mein Blick war immer noch auf den Boden gerichtet und plötzlich sah ich sie. Ein zweites Paar roter Lackschuhe. Mein Herz schlug schneller. Über den Schuhen waren weiße Kniestrümpfe, dann ein weißer Faltenrock und eine dunkelblaue Clubjacke. Wir sahen genau gleich aus! Das Mädchen sah mich an, sie lächelte schüchtern und wartete auf mich.
Als wir nebeneinander standen, merkte ich, dass sie einen halben Kopf kleiner und gelbblond war. Aber sonst sahen wir gleich aus, fand ich. Im Klassenraum setzten wir uns zusammen in die dritte Reihe. Sie sagte, sie heiße Linda Liebe, ich hatte noch nie jemanden mit so einem schönen Namen kennen gelernt. Ich war sehr glücklich.
Lindas Vater war Schlachter, sie sagte Metzger, sie kam aus dem Rheinland und redete anders als ich, was sich sehr schön anhörte. Mein Schulweg führte an dem Laden vorbei, Linda saß jeden Morgen auf der Treppe und wartete auf mich. Wir erzählten uns alles. Sie hatte eine große Schwester, die ganz gemein war, Linda musste immer ihre abgelegten Sachen auftragen, die sie alle nicht leiden mochte. Ich schenkte ihr meinen gelben Pullover, sie musste die Ärmel hochkrempeln, weil ich viel größer war, aber sie sah trotzdem schön darin aus. In den Ferien fuhr ich zu meiner Oma, Linda blieb zu Hause, ich dachte, ich müsste sterben. Als die Schule wieder anfing, freute ich mich furchtbar. Ich hatte meine erste Barbiepuppe bekommen, die ich ihr ganz stolz zeigte. Linda war allerdings auf einmal ganz komisch. Sie fand Barbies doof, sie hatte eine Schildkrötpuppe, die Klaus hieß. Das fand ich komisch. Klaus hatte Zöpfe.
Trotzdem blieb sie meine beste Freundin. Wir gingen den Schulweg jeden Tag zusammen, manchmal Hand in Hand. Irgendwann schob Linda ihre Hände in ihre Anoraktasche, sie sagte, wir seien doch keine Babys mehr, die nicht alleine laufen können. Ich war ein bisschen traurig, aber sie hatte ja recht.
Wir spielten auch nicht mehr mit Puppen, Klaus sei zu schade für Barbies. Dafür spielten wir Gummitwist und Himmel und Hölle. Aber manchmal fand ich Linda verändert.
Plötzlich fand sie ihre große Schwester toll. Die machte mit ihr jetzt jeden Tag Schularbeiten, ihre Eltern hatten durch das Geschäft wenig Zeit.
Ein halbes Jahr später wurde mein Vater versetzt. Wir zogen von Flensburg nach Hamburg. Ich war sehr traurig und hatte Angst davor, es Linda zu erzählen. Schließlich begleitete mich meine Mutter zu Familie Liebe. Unsere Mütter setzten sich in die Küche und tranken Kaffee mit Schlagsahne, Linda und ich setzten uns auf die Stufen vor dem Ladeneingang. Ich suchte verzweifelt nach Worten und fing dann an zu weinen. Linda sah mich interessiert an. Irgendwann stieß ich Worte wie Umziehen, Hamburg und andere Schule hervor. Mir brach dabei das Herz, Linda pulte am Schorf auf ihren Knien. Nach einer Weile kamen unsere Mütter aus dem Haus. Meine Mutter gab mir ein Taschentuch und strich mir über den Rücken. Während sie sich von Frau Liebe verabschiedete, rannte Linda in den Laden.
Langsam ging ich neben meiner Mutter los, doch plötzlich stand Linda wieder vor mir. In der Hand hielt sie ein Würstchen. »Da«, sagte sie und streckte es mir entgegen, »ein Wiener. Und wenn ich in der zweiten Klasse bin, schreibe ich dir.« Ich habe das Würstchen auf dem Heimweg gegessen und es hat mich getröstet.
Mein dritter Wunsch wurde übrigens auch erfüllt. Meine Mutter bekam zwei Monate später ein Mädchen. Ines. Meine kleine Schwester.
Einen Brief von Linda Liebe habe ich jedoch nie bekommen. Dafür denke ich bei jedem kalten Würstchen an meine roten Lackschuhe. Und an meine erste Freundin.
»Linda Liebe!« Lachend schüttelte Georg den Kopf. »Das ist wirklich ein schöner Name.«
Er saß bei Ines in der Küche und aß Käsekuchen. Seine kleine Schwester entspannte sich nach beruflichen Stresssituationen durch Backorgien. Sie hatte am Vortag zwanzig Schüler durchs Altenpflegerexamen gebracht, das Endergebnis waren drei Käsekuchen. Anschließend hatte sie ihren Bruder angerufen. Er mochte Käsekuchen.
Während er aß, hatte Ines ihm die ›Kult‹-Kolumne der Mai-Ausgabe vorgelesen. Ines musste sich beim Lesen dreimal räuspern, Kindergeschichten rührten sie immer.
»Ich finde es ganz traurig, dass Christine nie einen Brief von Linda bekommen hat. Kannst du dich an sie erinnern?«
Georg dachte nach. »Nur ganz dunkel, ich war erst vier. Ich glaube, sie war ziemlich klein, hatte gelbe Haare und roch immer ein bisschen nach Wurst. Gib mir noch mal das Heft.«
Seine Hand griff ins Leere, Ines wehrte ab.
»Du hast ganz klebrige Finger, dann habe ich gleich Flecken drauf.«
Sie strich das Heft glatt, trennte vorsichtig die Seite raus, nahm eine Schere, schnitt den Rand gerade und stand auf. Aus einem Regal nahm sie eine Klarsichtfolie, schob das Blatt hinein, strich es noch einmal glatt und reichte es Georg.
»So, aber knick es nicht.«
Verblüfft sah ihr Bruder sie an. »Ich habe doch eine Kuchengabel benutzt. Machst du das mit allen Kolumnen?«
Ines zog einen Ordner aus dem Regal und legte ihn auf den Tisch. »Nur mit Christines. Ich habe sie alle abgeheftet.«
»Immer in Klarsichtfolie?«
»Sicher. Sonst vergilben sie und das sieht dann doof aus.«
Georg schüttelte den Kopf. »Beamtentochter.« Er überflog den Text, bevor er das Blatt übertrieben vorsichtig zurückreichte. »Hier, schnell weglegen, es könnte sonst zerstört werden.«
Ungerührt heftete Ines die Folie in den Ordner, den sie dann wieder ins Regal stellte. Sie setzte sich an den Tisch und schob ihrem Bruder die Kuchenplatte hin.
»Noch eins?«
Georg legte eine Hand auf seinen Magen. »Ich hatte drei, ich kann nicht mehr. Muss Christine keinen Kuchen essen?«
»Ich habe sie angerufen, aber sie hat keine Zeit. Sie hat einen Termin, wollte aber nicht erzählen, um was es geht. Vielleicht kommt sie später noch vorbei. Dafür kommt gleich Luise.«
»Luise? Wieso? Will sie die Verlagsvertretung an den Nagel hängen und Altenpflegerin werden?«
Ines lachte, während sie den Kuchen mit Alufolie abdeckte. »Das glaube ich kaum. Nein, sie hat mich letzte Woche angerufen. Sie will irgendetwas mit mir besprechen. Christines Kolleginnen haben eine Überraschung zu ihrem Geburtstag vor, mal sehen, was das wird.« Sie sah auf die Uhr. »Eigentlich müsste sie schon da sein.«
Wie aufs Stichwort klingelte es an der Tür. Ines öffnete und Luise, in einer Hand einen Strauß Blumen, in der anderen die ›Kult‹, trat in den Flur.
»Hallo, Ines, was riecht das hier gut, ist das Kuchen? Schön, dass das heute geklappt hat, die sind für dich.«
Sie drückte Ines die Blumen in die Hand und folgte ihr in die Küche. Georg war aufgestanden.
»Luise, grüß dich, das ist ja lange her.«
»Stimmt, das letzte Mal haben wir uns bei Christines Geburtstagsessen, beim Italiener, gesehen.« Sie umarmten sich. »Das passt gut, dass du auch da bist.«
Sie setzte sich an den Küchentisch und legte das Stadtmagazin in die Mitte. »Habt ihr denn schon diese zauberhafte ›Linda-Liebe‹-Kolumne eurer Schwester gelesen?«
Georg nickte. »Selbstverständlich, die ist hier auch schon in Plastik verewigt.«
Luise sah ihn verständnislos an. Ines klärte sie auf.
»Ich hefte die Kolumnen ab und schiebe sie vorher in Klarsichtfolie. Georg findet das übertrieben.«
»Wieso?« Luise sah Georg an. »Das ist doch gut, sonst vergilben sie und das sieht dann doof aus.«
Georg verdrehte die Augen. Ines entfernte die Alufolie vom Käsekuchen und stellte Luise einen Teller hin. Während Luise Kuchen aß, erzählte sie den beiden von dem Gespräch bei ›Prüsse‹, von Christines augenscheinlicher Haltung hinsichtlich Frauenfreundschaften und Ruths Begeisterung, alte Freundinnen von Christine bis zu ihrem Geburtstag ausfindig zu machen.
»Ruth hat schon gejubelt, als Christine ihr diese Kolumne geschickt hat. Sie sucht jetzt Linda Liebe.«
Georg wirkte skeptisch. »Dazu müsst ihr erst mal rauskriegen, wen ihr überhaupt sucht. Vielleicht heißt Linda Liebe heute Linda Müller. Na, dann mal viel Glück beim Suchen. Und wer und wo sind die anderen?«
Luise sah ihn an. »Genau das wollten wir von euch hören. Mit wem war Christine denn befreundet? Vor zwanzig und vor zehn Jahren?«
»Antje, aber das kannst du vergessen«, sagte Ines und verzog das Gesicht.
»Das weiß ich.« Luise wischte den Namen mit einer Handbewegung weg. »Die Geschichte kenne ich, aber genau darum geht es doch. Nur weil einen eine Freundin mal hintergangen hat, darf man doch nicht für immer misstrauisch sein. Antje war eine Ausnahme, es geht auch anders.«
»Eine hieß Frauke. Sie waren beide in David Cassidy verliebt, saßen auf Christines Bett und kicherten wie die Blöden.« Georg dachte angestrengt nach. »Da muss Christine so zwölf gewesen sein, grässliches Alter. Ich war neun und habe mich schrecklich für sie geschämt. Dann gab es eine Gudrun, das war in derselben Zeit. Christine war mit ihr reiten. Und, ach ja, Dani, mit der hat sie zusammengewohnt. Da waren sie Mitte zwanzig.«
»Christine hat jahrelang Handball gespielt.« Ines grübelte ebenfalls. »Sie hat eine Zeit lang auch eine Mannschaft trainiert, mit einer Freundin zusammen. Die hieß … genau, Lena. Den Trainerschein hat Christine an meinem 18. Geburtstag gemacht, da war sie also 25. Und Lena war ein oder zwei Jahre älter.«
Luise holte ein Notizbuch aus ihrer Tasche. »Ich wusste, euch fällt was ein.«
Ihre Stimme klang begeistert.
Ines stützte ihr Kinn in die Hand. »Warte mal, Luise, ich weiß keinen einzigen Nachnamen. Du, Georg?«
Ihr Bruder schüttelte langsam den Kopf. »Frauke … Schröder oder Schneider? Und das war alles woanders. Flensburg, Hamburg, Bonn, Cuxhaven. Dani wohnte mal in Wien und war noch auf Christines Hochzeit. Sie hatte ganz lange Haare. Und Gudrun hatte ein Pferd. Klar, das braucht man ja auch zum Reiten. Mehr fällt mir nicht ein. Tut mir leid.«
Luise seufzte. »Das gibt es doch nicht, Ines, Georg, denkt doch mal nach.«
»Lena ist 1,90 Meter groß und hat die meisten Tore geworfen. Und ist irgendwann aus Cuxhaven weg gezogen. Christine war da schon mit Bernd verheiratet. Ich weiß aber nicht, wohin. Ich war in der Zeit nicht so häufig bei Christine. Hm …«
Die drei sahen sich ratlos an. Ines stand plötzlich auf.
»Ich rufe unsere Mutter an. Sie hat ein Mordsgedächtnis, vielleicht fallen ihr ja die Nachnamen ein.«
Zur selben Zeit, ein paar Straßen weiter, saß Christine in der Redaktion der Frauenzeitschrift ›Femme‹. Die selbstbewusste blondierte Empfangsdame hatte sie in einen kleinen Warteraum geleitet, ihr einen Espresso und einen Aschenbecher hingestellt und um ein paar Minuten Geduld gebeten. Christine blätterte in den verschiedenen Ausgaben der Zeitschrift, die auf dem Glastisch drapiert waren.
Es war eine typische Frauenzeitschrift, sie wollte auch gar nichts anderes sein. Modephotos, Schminktipps, wie finde ich die große Liebe, Horoskope, Kochrezepte, ein Buch des Monats, in dem es um dieselben Themen ging, und eine Kolumne: ›Marions Sicht der Dinge‹. Christine hatte zwei Kolumnen gelesen, die sie witzig fand, als sich die Tür öffnete und eine rothaarige, sommersprossige Mitvierzigerin das Zimmer betrat und mit ausgestreckter Hand auf sie zukam.
»Frau Schmidt? Ich bin Ellen Wagner, es freut mich sehr. Gehen wir in mein Büro?«
Auf ihren Wangen tanzten zwei Grübchen, wenn sie redete. Christine fand sie äußerst sympathisch.
Das Büro passte zu ihr, es war groß, sonnig, hatte einen Schreibtisch aus Glas, in der Ecke stand eine Sitzgruppe. Zwei große Blumensträuße, Stapel von Büchern und Papieren, an den Wänden Fotos und Kinderbilder.
Sie setzten sich in zwei sich gegenüberstehende Korbsessel. Auf dem Tisch dazwischen standen frische Tassen, daneben lag die neueste Ausgabe der ›Kult‹.