Urangst - Dean Koontz - E-Book

Urangst E-Book

Dean Koontz

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Immer hat sich Amy für Schwache eingesetzt. Doch nun gerät sie selbst in größte Gefahr. Jemand verfolgt sie auf Schritt und Tritt. Dringt heimlich in ihr Haus ein. Und er ist nicht allein. Da gesteht Amys Freund Brian ihr ein fürchterliches Geheimnis aus seiner Vergangenheit. Beide sind zur Zielscheibe des Bösen geworden. Es gibt kein Entrinnen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 470

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ZUM BUCH

Immer hat sich Amy Redwing für Schwächere eingesetzt. Sie selbst musste schon in vielen Lebenskrisen Stärke beweisen: Ihre Eltern starben früh, ebenso ihre kleine Tochter, und ihr früherer Ehemann quälte sie, bis sie untertauchte und ein neues Leben unter neuem Namen begann. Nun hilft sie anderen, vor allem Hunden, die von ihren Haltern misshandelt werden. Doch dann dringt das Böse wieder in ihr Leben ein: Ein merkwürdiger Fremder taucht auf. Jemand verschafft sich heimlich Zutritt zu ihrem Haus. Und Amy hat das grauenhafte Gefühl, auf Schritt und Tritt überwacht zu werden.

Dann beichtet ihr auch noch ihr Freund Brian ein bitteres Geheimnis: Er war einmal einer Frau verfallen, Vanessa, die von nahezu dämonischer Bosheit ist. Sie haben ein gemeinsames Kind. Ein Kind, das Vanessa gnadenlos benutzt, um sich an Brian zu rächen. Als die Gefahr für sie immer größer wird, beschließen Amy und Brian, das Aussichtslose zu wagen und sich den Schatten ihrer Vergangenheit zu stellen.

PRESSESTIMMEN

»Koontz kennt unsere tiefsten Ängste und geheimsten Gefühle.« USA Today

ZUM AUTOR

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren und lebt heute mit seiner Frau in Kalifornien. Seine zahlreichen Romane – Thriller und Horrorromane – wurden in 38 Sprachen übersetzt und sämtlich zu internationalen Bestsellern. Weltweit wurden bislang fast 400 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. Zuletzt bei Heyne erschienen: Seelenlos.

Ein ausführliches Werkverzeichnis des Autors befindet sich auf den letzten Seiten dieses Buches.

Inhaltsverzeichnis

ZUM BUCHPRESSESTIMMENZUM AUTORWidmungERSTER TEIL
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32
ZWEITER TEIL
Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50
DRITTER TEIL
Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66
Der AutorCopyright

Für Gerda,

die eines Tages im nächsten Leben jubelnd von der goldenen Tochter begrüßt werden wird, die sie in dieser Welt so sehr und mit selbstloser Zärtlichkeit geliebt hat.

UND

Für Pater Jerome Molokie

für seine zahlreichen Gefälligkeiten, seine Ermunterungen, für seine Freundschaft und seine beflügelnde Hingabe an das Höchste, Wahre und Unermessliche.

ERSTER TEIL

»Der Wald ist dunkel, tief und lieblich anzusehen.«

ROBERT FROSTRast am Walde bei nächtlichem Schnee

1

Amy Redwing saß am Steuer ihres Ford Expedition Geländewagens und fuhr so, als sei sie unsterblich und hätte daher bei keiner Geschwindigkeit etwas zu befürchten.

In der launischen Brise wirbelte ein trichterförmiger Strom von goldenen Platanenblättern über die nachmitternächtliche Straße. Sie schoss hindurch, und spröder Herbst streifte die Windschutzscheibe.

Für manche ist die Vergangenheit eine Kette, jeder Tag ein Glied, die sich in mühsamer Kleinarbeit zu dem einen oder anderen Ringbolzen an dem einen oder anderen dunklen Ort zurückverfolgen lässt, und die Zukunft eine Sklavin der Vergangenheit.

Amy Redwing kannte ihre Herkunft nicht. Sie war im Alter von zwei Jahren ausgesetzt worden und hatte keine Erinnerung an ihre Mutter oder ihren Vater.

Sie war in einer Kirche zurückgelassen worden, mit an ihr T-Shirt geheftetem Namen. Eine Nonne hatte sie schlafend in einer Kirchenbank gefunden.

Höchstwahrscheinlich war ihr Nachname erfunden, um Nachforschungen zu erschweren. Die Polizei war jedenfalls daran gescheitert.

Redwing ließ auf indianische Vorfahren schließen. Rabenschwarzes Haar und dunkle Augen sprachen für Cherokee, aber ihre Eltern hätten ebenso gut aus Armenien, Sizilien oder Spanien stammen können.

Amys Geschichte blieb unvollständig, doch die fehlenden Wurzeln machten sie nicht frei. Sie war an einen Ringbolzen gekettet, der im Stein eines fernen Jahres verankert war.

Obgleich sie sich so unbekümmert gab, dass man den Eindruck gewinnen konnte, sie sei zu Höhenflügen fähig, war sie in Wirklichkeit so erdgebunden wie jeder andere auch.

Brian McCarthy saß angeschnallt auf dem Beifahrersitz, stemmte die Füße gegen nicht vorhandene Bremspedale und hätte Amy gern ermahnt, langsamer zu fahren. Er sagte jedoch nichts, da er befürchtete, sie würde auf seine Bitte um Vorsicht reagieren, indem sie den Blick von der Straße wandte.

Außerdem konnte es, wenn sie in einer Mission wie dieser unterwegs war, absurderweise passieren, dass jedes Flehen um Besonnenheit sie nur dazu anstachelte, noch mehr Gas zu geben.

»Ich liebe den Oktober«, sagte sie und wandte den Blick von der Straße ab. »Du nicht?«

»Wir haben noch September.«

»Ich kann den Oktober doch auch im September schon lieben. Dem September macht das nichts aus.«

»Pass auf, wo du hinfährst.«

»Ich liebe auch San Francisco, obwohl es Hunderte Meilen entfernt ist.«

»Bei deinem Fahrstil werden wir in zehn Minuten da sein.«

»Ich bin eine ausgezeichnete Autofahrerin. Keine Unfälle, keine Verstöße gegen die Verkehrsregeln.«

Er sagte: »Mein ganzes Leben zieht gerade vor meinen Augen vorüber.«

»Du solltest dir einen Termin beim Augenarzt geben lassen. «

»Bitte, Amy, sieh mich nicht ständig an.«

»Aber du siehst gut aus, Liebling, wenn du frisch aus dem Bett kommst. Verstrubbeltes Haar steht dir.«

»Ich meine, schau auf die Straße.«

»Dieser Marco, so heißt er, glaube ich – er ist blind, aber er fährt einen Wagen.«

»Welcher Marco?«

»Marco Soundso. Er lebt auf den Philippinen. Ich habe von ihm in einer Zeitschrift gelesen.«

»Kein Blinder kann Auto fahren.«

»Vermutlich glaubst du auch nicht, dass wir tatsächlich Männer auf den Mond geschickt haben.«

»Ich glaube nicht, dass sie dorthin gefahren sind.«

»Marcos Hund sitzt auf dem Beifahrersitz. Und Marco merkt dem Hund an, wann er nach rechts oder links abbiegen und wann er auf die Bremse treten soll.«

Manche Leute hielten Amy für eine charmante Spinnerin. Anfangs hatte Brian das auch getan.

Doch dann hatte er gemerkt, dass er sich irrte. Er hätte sich niemals in eine Spinnerin verliebt.

Er sagte: »Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass Blindenhunde Autofahren können.«

»Der Hund fährt doch nicht, du Dummerchen. Er führt Marco, wenn er am Steuer sitzt.«

»In was für einer bizarren Zeitschrift hast du das denn gelesen?«

»National Geographic. Es war eine so ermutigende Geschichte über die Bindung zwischen Mensch und Hund, über die Hilfe zur Selbsthilfe von Behinderten.«

»Ich würde wetten, dass es nicht National Geographic war.«

»Ich lehne jede Form von Glücksspiel ab«, sagte sie.

»Aber Blinde am Steuer lehnst du nicht ab.«

»Na ja, es müssen schon verantwortungsbewusste Blinde sein.«

»Kein Land der Erde«, beharrte er, »erlaubt Blinden das Autofahren.«

»Nicht mehr«, stimmte sie ihm zu.

Brian wollte die Frage eigentlich nicht stellen, konnte sie sich aber doch nicht verkneifen: »Dann darf Marco also nicht mehr Auto fahren?«

»Er ist andauernd irgendwo drangefahren.«

»Was du nicht sagst.«

»Aber dafür kann Antoine nichts.«

»Welcher Antoine?«

»Antoine. Der Hund. Ich bin sicher, dass er sein Bestes gegeben hat. Hunde geben immer ihr Bestes. Marco ist ihm einfach nur einmal zu oft zuvorgekommen.«

»Pass auf, wo du hinfährst. Achtung, Linkskurve.«

Sie lächelte ihn an und sagte: »Du bist mein ganz persönlicher Antoine. Du würdest niemals zulassen, dass ich irgendwo dranfahre.«

In dem salzbleichen Mondschein schienen sich die einstöckigen Häuser eines älteren mittelständischen Wohngebiets aus der Dunkelheit herauszukristallisieren.

Die Nacht wurde nicht von Straßenlaternen erhellt, doch der Mond versilberte das Laub und die hellen Stämme der Eukalyptusbäume. Hier und da hatten verputzte Wände den schwachen Schimmer von Ektoplasma, als handele es sich um die Phantombauten einer Geisterstadt, in der die Seelen von Verstorbenen hausten.

In einem Haus in der zweiten Reihe brannte hinter den Fenstern Licht.

Amy machte mitten auf der Straße eine Vollbremsung, und das Licht der Scheinwerfer wurde von den reflektierenden Ziffern der Hausnummer auf dem Briefkasten am Straßenrand zurückgeworfen.

Sie legte den Rückwärtsgang ein und stellte sich rückwärts in die Auffahrt. »In einer zweifelhaften Situation sollte man seinen Wagen stets so abstellen, dass man schleunigst verschwinden kann.«

Als sie die Scheinwerfer und den Motor ausschaltete, sagte Brian: »Zweifelhaft? Inwiefern zweifelhaft?«

Während sie aus dem Wagen stieg, sagte sie: »Bei einem wahnsinnigen Betrunkenen kann man nie wissen.«

Brian trat neben sie, als sie die Heckklappe öffnete. Er warf einen Blick auf das Haus und sagte: »Da drinnen ist also ein Wahnsinniger und er ist betrunken.«

»Am Telefon hat diese Janet Brockman gesagt, Carl – also ihr Mann – sei ein betrunkener Irrer, was wahrscheinlich bedeutet, dass er sich in den Wahnsinn gesoffen hat.«

Amy ging auf das Haus zu. Brian fasste sie an der Schulter, damit sie stehen blieb. »Was, wenn er in nüchternem Zustand schon wahnsinnig ist und es jetzt noch schlimmer ist, weil er sich betrunken hat?«

»Ich bin kein Psychiater, mein Goldschatz.«

»Vielleicht ist das eher etwas für die Polizei.«

»Die Polizei hat keine Zeit für betrunkene Irre wie den.«

»Ich würde meinen, betrunkene Irre sind genau das, womit sich die Polizei beschäftigt.«

Sie schüttelte seine Hand ab, ging weiter auf das Haus zu und sagte: »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Er ist gewalttätig. «

Brian eilte hinter ihr her. »Er ist wahnsinnig, betrunken und gewalttätig?«

»Wahrscheinlich wird er mir gegenüber nicht gewalttätig werden.«

Auf den Stufen zur Veranda sagte Brian: »Und was ist mit mir?«

»Ich glaube, seine Gewalttätigkeit richtet sich nur gegen den Hund. Aber wenn dieser Carl mir doch eine reinhauen will, dann geht das schon in Ordnung. Dafür habe ich ja dich dabei.«

»Mich? Ich bin Architekt.«

»Heute Nacht nicht, Süßer. Heute Nacht bist du mein Bodyguard.«

Brian hatte sie schon auf anderen derartigen Missionen begleitet, aber noch nie nach Mitternacht und in das Haus eines wahnsinnigen gewalttätigen Betrunkenen.

»Was ist, wenn ich Testosteron-Mangelerscheinungen habe?«

»Hast du Testosteron-Mangelerscheinungen?«

»Letzte Woche sind mir die Tränen gekommen, als ich dieses Buch gelesen habe.«

»Bei diesem Buch kommen jedem die Tränen. Das beweist nur, dass du menschlich bist.«

Als Amy nach dem Klingelzug griff, ging schon die Tür auf. Eine junge Frau mit einer grün und blau geschlagenen Mundpartie und blutender Lippe trat auf die Schwelle.

»Ms. Redwing?«, fragte sie.

»Sie müssen Janet sein.«

»Ich wünschte, ich wäre es nicht. Ich wünschte, ich wäre Sie oder sonst jemand, irgendjemand.« Sie trat von der Tür zurück und forderte die beiden zum Eintreten auf. »Lassen Sie nicht zu, dass Carl sie zum Krüppel schlägt.«

»Dazu wird es nicht kommen«, beteuerte Amy.

Janet tupfte mit einem blutigen Tuch ihre Lippen ab. »Mazie hat er schon verkrüppelt.«

Ein blasses Mädchen von etwa vier Jahren klammerte sich an Janet. Sein Mund war mit einem Daumen zugestöpselt und mit der Faust zerknitterte es die Schöße von Janets Bluse und hielt sich daran fest, als erwartete es einen plötzlichen Wirbelsturm, der es von seiner Mutter losreißen könnte.

Das Wohnzimmer war grau. Ein blaues Sofa und blaue Sessel standen auf einem goldgelben Teppich, aber zwei Lampen warfen ein Licht, das so matt und stumpf wie Asche war und die Farben dämpfte, als hätte der Rauch eines längst gelöschten Feuers alles mit einer Patina überzogen.

Wenn es in der Hölle offizielle Empfangsräume für die wartenden Massen gab, dann konnten sie durchaus so ordentlich und freudlos sein wie dieses Zimmer.

»Mazie hat er verkrüppelt«, wiederholte Janet. »Vier Monate später hat er …« Sie sah kurz auf ihre Tochter hinunter. »Vier Monate später ist Mazie gestorben.«

Brian, der gerade dabei war, die Haustür zu schließen, zögerte. Er ließ sie lieber halb offen. Es war eine milde Septembernacht.

»Wo ist Ihr Hund?«, fragte Amy.

»In der Küche.« Janet legte eine Hand auf ihre geschwollene Lippe und sprach durch ihre Finger. »Bei ihm.«

Das Kind war eigentlich zu alt, um so hingebungsvoll am Daumen zu lutschen, aber diese frühkindliche Angewohnheit beunruhigte Brian weniger als ihr starrer Blick. Die blauvioletten Augen waren erwartungsvoll aufgerissen und schienen durch frühere Erfahrungen lädiert.

Die Luft fühlte sich dicker an, wie es unter dichten Gewitterwolken der Fall ist, wenn sintflutartige Regenfälle drohen.

»Wo geht es zur Küche?«, fragte Amy.

Janet führte die beiden unter einem Bogen durch in einen Flur, den dunkle Zimmer wie überflutete Grotten säumten. Ihre Tochter glitt neben ihr her, so fest angesaugt wie ein Schiffshalter an einem größeren Fisch.

Der Flur lag im Dunkeln. Nur am hinteren Ende fiel ein dünner Streifen aus Licht aus einem dahinter liegenden Raum.

Die Schatten schienen näher zu kommen und sich wieder zurückzuziehen, um gleich darauf wieder näher zu kommen, aber diese eingebildete Bewegung war nur Brians kräftiger Puls. Sein Gesichtsfeld zog sich im Takt seines schwerarbeitenden Herzens zusammen und weitete sich wieder.

Exakt in der Mitte des Flurs lehnte ein Junge mit der Stirn an der Wand und hatte seine Hände an den Schläfen zu Fäusten geballt. Er war vielleicht sechs Jahre alt.

Er gab einen ganz leisen Klagelaut von sich, fast wie Luft, die, Molekül für Molekül, aus dem zugedrehten Ende eines Luftballons entweicht.

Janet sagte: »Es wird schon gutgehen, Jimmy«, doch als sie ihm eine Hand auf die Schulter legte, wich er ihr aus.

Gefolgt von ihrer Tochter setzte sie ihren Weg ans Ende des Flures fort und stieß die Tür auf. Aus der schmalen Lichtklinge wurde ein richtiges Breitschwert.

Als er hinter den beiden Frauen und dem Mädchen die Küche betrat, hätte Brian fast glauben können, der Golden Retriever sei die Lichtquelle. Die Hündin saß wachsam in der Ecke zwischen Herd und Kühlschrank und schien zu leuchten.

Sie war weder rein blond noch hatte sie den Kupferton mancher Retriever, sondern strahlte in vielen unterschiedlichen Goldtönen. Ihre Unterwolle war dicht, ihr Brustkorb tief und gut gewölbt, ihr Kopf wunderschön geformt.

Noch unwiderstehlicher als das Aussehen der Hündin waren ihre Körperhaltung und ihre Ausstrahlung. Sie saß mit erhobenem Kopf aufrecht da und ihre Wachsamkeit drückte sich in einem leichten Anheben der Schlappohren und dem unentwegten leichten Zittern ihrer geblähten Nasenflügel aus.

Sie drehte den Kopf nicht, richtete ihre Augen jedoch für einen kurzen Moment auf Amy und Brian – dann aber gleich wieder auf Carl.

Den Hausherrn konnte man im Moment nicht gerade als einen ganzen Mann bezeichnen. Aber vielleicht war er auch nur das, was am Ende aus jedem werden könnte, der sich ganz seinem Elend überlässt.

In nüchternem Zustand war sein Gesicht wahrscheinlich freundlich oder zumindest wie eines dieser Gesichter, die man zu Tausenden in den Straßen der Städte sieht, eine nichtssagende Maske aus gutartiger Teilnahmslosigkeit, die Lippen schmal, der Blick auf ein fernes Nichts gerichtet.

Als er jetzt neben dem Küchentisch stand, hatte er einen ausdrucksstarken Charakterkopf, wenn auch von der falschen Sorte. Seine Augen waren vom Alkohol wässrig und blutunterlaufen und starrten unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor wie die eines Stieres, der sich auf allen Seiten von herausfordernden roten Tüchern umgeben sieht. Sein Unterkiefer hing schlaff herab. Seine Lippen waren aufgesprungen, vielleicht von der chronischen Dehydrierung, unter der Alkoholiker oft leiden.

Carl Brockman richtete seinen Blick auf Brian. In diesen Augen glänzte nicht etwa die blinde Aggression eines Mannes, den das Saufen verblödet hat, sondern die böswillige Schadenfreude eines angeketteten Rohlings, den der Alkohol befreit hatte.

Zu seiner Frau sagte er mit erbitterter Stimme: »Was hast du angerichtet?«

»Nichts, Carl. Ich habe sie nur wegen dem Hund angerufen. «

Sein Gesicht war ein Knäuel verfilzter Drohungen. »Du willst dir offenbar eine fangen.«

Janet schüttelte den Kopf.

»Du hast es wirklich drauf angelegt, dir eine einzufangen, Jan. Als du das getan hast, wusstest du doch, was du dir damit einhandelst.«

Janet hielt sich eine Hand vor den blutenden Mund, als sei ihr der Beweis ihrer Unterwürfigkeit peinlich.

Amy ging in die Hocke und lockte die Hündin: »Komm her, meine Süße. Na, komm schon, Mädchen.«

Auf dem Tisch standen eine Flasche Tequila, ein Glas, ein Salzstreuer in Form eines weißen Scotchterriers und ein Teller mit Limonenschnitzen.

Als Carl die rechte Hand von seiner Seite nahm und sie hoch über seinen Kopf hob, kam ein Montiereisen zum Vorschein. Er hielt es am spitzen Ende gepackt.

Als er das Werkzeug fest auf den Tisch knallte, sprangen Limonenschnitze vom Teller. Die Tequilaflasche wackelte und das Eis im Glas klirrte.

Janet wand sich, das kleine Mädchen stöpselte einen Schrei mit dem Daumen zu, Brian zuckte zusammen und nahm eine angespannte Haltung ein, nur Amy ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Sie redete dem Retriever weiterhin gut zu, um ihn zu sich zu locken. Die Hündin reagierte weder erschrocken noch ängstlich auf das Geräusch, mit dem Eisen auf Holz knallte.

Carl holte mit dem Werkzeug aus und fegte alles vom Tisch. Am hinteren Ende der Küche ergoss sich der Tequila, Glas splitterte und der Scotchterrier aus Keramik verstreute Salz über den Fußboden.

»Raus«, herrschte Carl sie an. »Raus aus meinem Haus.«

Amy sagte: »Der Hund ist ein Problem. Sie können keinen Problemhund gebrauchen. Wir nehmen Ihnen dieses Problem ab.«

»Wer zum Teufel sind Sie überhaupt? Das ist mein Hund, nicht Ihrer. Ich weiß, wie man das Mistvieh behandelt. «

Der Tisch war nicht zwischen ihnen und Carl. Falls er mit einem Satz nach vorn sprang und mit dem Eisen ausholte, könnten sie es nur dann schaffen, einem Schlag auszuweichen, wenn der Tequila ihn langsam und ungeschickt machte.

Der Kerl wirkte aber nicht langsam und ungeschickt. Er schien eine Kugel im Lauf zu sein und jede falsche Bewegung, die sie machten, jedes falsche Wort, das sie sagten, konnte der Schlagbolzen sein, der ihn lossausen und sich auf sie stürzen ließ.

Carl wandte seinen bösartigen Blick seiner Frau zu und wiederholte: »Ich weiß, wie man das Mistvieh behandelt.«

»Ich habe doch nichts weiter getan, als das arme Ding zu baden«, sagte Janet unterwürfig.

»Es brauchte aber kein Bad.«

Janet versuchte zu erklären, ohne sich in einer Form zu verteidigen, an der er Anstoß nehmen könnte. »Carl, Liebling«, sagte sie, »sie war schmutzig, ihr Fell war ganz verfilzt. «

»Sie ist eine Hündin, du blöde Schlampe. Sie gehört auf den Hof.«

»Ich weiß. Du hast ja Recht. Du willst sie nicht im Haus haben. Aber weißt du, ich hatte einfach Angst, sie würde wieder diese wunden Stellen bekommen, die sie schon mal hatte.«

Ihr versöhnlicher Tonfall erstickte seine Wut nicht etwa, sondern ließ sie erst recht auflodern. »Nickie ist mein Hund. Ich habe sie gekauft. Ich bin ihr Besitzer. Sie gehört mir.« Er deutete mit dem Eisen auf seine Frau. »Ich weiß, was mir gehört, und was mir gehört, das behalte ich auch. Niemand schreibt mir vor, was ich mit meinem Eigentum zu tun habe.«

Als Carl zu seinem großspurigen Geschwafel ansetzte, erhob sich Amy aus der Hocke. Sie stand starr und stumm da und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Brian sah etwas Seltsames in ihrem Gesicht, einen Ausdruck, den er nicht beschreiben konnte. Sie war versteinert, aber nicht vor Angst.

Jetzt wies Carl mit dem Montiereisen nicht mehr auf seine Frau, sondern richtete es auf Amy und sagte: »Was glotzen Sie so? Was haben Sie hier überhaupt zu suchen, Sie blöde Kuh? Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Verschwinden Sie.«

Brian legte beide Hände auf einen der Stühle am Esstisch. Das war nicht gerade eine großartige Waffe, aber mit dem Stuhl könnte es ihm vielleicht gelingen, das Eisen abzuwehren.

»Ich bezahle Ihnen den Hund, Sir«, sagte Amy.

»Sind Sie taub?«

»Ich kaufe das Tier.«

»Es ist nicht zu verkaufen.«

»Tausend Dollar.«

»Sie gehört mir.«

»Fünfzehnhundert.«

Da er mit Amys Finanzen vertraut war, sagte Brian: »Amy?«

Carl nahm das Radeisen von der rechten Hand in die linke. Er bewegte die Finger seiner freien Hand, als hätte er das Werkzeug mit solchem Ingrimm festgehalten, dass er jetzt einen Krampf in den Fingern hatte.

Zu Brian sagte er: »Und wer zum Teufel sind Sie?«

»Ich bin ihr Architekt.«

»Fünfzehnhundert«, wiederholte Amy.

Obwohl es nicht allzu warm in der Küche war, glitzerte ein dünner, fettiger Schweißfilm auf Carls Gesicht. Auch sein Unterhemd war feucht. Es war der Schweiß eines Trinkers, dessen Körper darum ringt, Giftstoffe auszuscheiden.

»Ich brauche Ihr Geld nicht.«

»Ja, Sir, das weiß ich. Aber den Hund brauchen Sie auch nicht. Es ist nicht der einzige Hund auf der Welt. Siebzehnhundert. «

»Was ist los mit Ihnen – sind Sie übergeschnappt?«

»Ja. Das bin ich. Aber es ist eine gute Form von Verrücktheit. Ich meine, ich bin keine Selbstmordattentäterin oder so was.«

»Eine Selbstmordattentäterin?«

»Ich habe keine Leichen in meinem Hinterhof begraben. Oder doch, eine, aber das ist ein Kanarienvogel in einem Schuhkarton.«

»Mit Ihnen stimmt doch was nicht«, sagte Carl mit belegter Stimme.

»Er hieß Leroy. Ich wollte nie einen Kanarienvogel haben und erst recht keinen, der Leroy heißt. Eine Freundin ist gestorben, und Leroy hatte kein Zuhause mehr, nur seinen schäbigen kleinen Käfig. Keiner wollte ihn haben und deshalb habe ich ihn genommen und er hat bei mir gelebt, und dann habe ich ihn begraben, aber ich habe ihn erst begraben, als er tot war, weil ich, wie ich schon sagte, nicht zu dieser Form von Verrückten zähle.«

Unter seiner Stirn waren Carls Augen tiefe Brunnen mit fauligem Wasser, das auf dem Grund dunkel glitzerte. »Verarschen Sie mich nicht.«

»Das würde ich niemals tun, Sir. Ich kann es gar nicht. Ich bin mehr oder weniger von Nonnen erzogen worden. Ich verarsche niemanden, ich verspotte Gottes Namen nicht, ich trage keine Lacklederschuhe zu einem Rock und ich habe eine derart vergrößerte Schulddrüse, dass sie so viel wiegt wie mein Gehirn. Achtzehnhundert.«

Als Carl das Montiereisen wieder von der linken in die rechte Hand nahm, drehte er es um und hielt es jetzt am stumpfen Ende, das als eine Art Kreuzschlüssel diente. Er deutete mit dem Ende zum Lösen der Radkappen, dem spitzen Ende, auf Amy, sagte aber kein Wort.

Brian wusste nicht, ob das Schweigen eines prügelnden Ehemannes ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Er hatte mehr als einmal erlebt, dass Amy einen erbosten Hund, der knurrend die Zähne fletschte, dazu überredete, sich den Bauch kraulen zu lassen; aber er hätte sein letztes Hemd darauf gewettet, dass Carl sich nicht auf den Rücken legen und alle viere in die Luft strecken würde.

»Zweitausend«, sagte Amy. »Mehr habe ich nicht. Ich kann nicht höher gehen.«

Carl machte einen Schritt auf sie zu.

»Halt. Bleiben Sie, wo Sie sind«, warnte ihn Brian und hob den Stuhl, als sei er ein Löwenbändiger, wobei ein Löwenbändiger immerhin eine Peitsche besessen hätte.

Amy sagte zu Brian: »Immer mit der Ruhe, Frank Lloyd Wright. Dieser Gentleman und ich, wir bauen hier gerade eine Vertrauensbasis auf.«

Carl streckte seinen rechten Arm aus und hielt ihr die Spitze des Radeisens an die Kehle, genau in die Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen.

Als sei ihr überhaupt nicht bewusst, dass die Spitze einer tödlichen Waffe jeden Moment ihre Speiseröhre durchstechen könnte, sagte Amy: »Also gut – zweitausend. Sie sind ein harter Verhandlungspartner, Sir. Es wird eine Weile dauern, bis ich mir wieder ein Filetsteak leisten kann. Aber das geht schon in Ordnung. Ich bin ohnehin eher der Hamburger-Typ. «

Der prügelnde Ehemann war jetzt eine Chimäre, nur noch zur Hälfte zorniger Stier, der Rest war eine zusammengerollte Schlange. Finstere Berechnung hatte seinen Blick geschärft, und obwohl seine Zunge nicht gespalten war, glitt sie zwischen seine Lippen, um die Luft zu prüfen.

Amy sagte: »Ich kannte mal einen Typen, der wäre fast an einem Bissen Steak erstickt. Mit dem Heimlich-Handgriff ließ es sich nicht von der Stelle bewegen und daher hat ihm ein Arzt gleich dort im Restaurant einen Schnitt in die Kehle gesetzt und das Stück, das festsaß, rausgefischt.«

Die Hündin saß regungslos da, hatte aber nicht in ihrer Wachsamkeit nachgelassen, und Brian fragte sich, ob er sich ein Beispiel an ihr nehmen sollte. Wenn Carls aufgestaute Gewalttätigkeit wie aus einer entkorkten Sektflasche sprudeln würde, dann würde Nickie es gewiss als Erste wahrnehmen.

»Diese Frau an einem Tisch in der Nähe«, fuhr Amy fort, »war so entsetzt, dass sie ohnmächtig wurde und mit dem Gesicht in ihre Hummercreme gefallen ist. Ich glaube nicht, dass man in einer Schale Hummercreme ertrinken kann, es könnte sogar gut für den Teint sein, aber ich habe ihren Kopf trotzdem rausgezogen.«

Carl leckte sich die gesprungenen Lippen. »Sie halten mich wohl für blöd.«

»Es kann sein, dass Sie ungebildet sind«, sagte Amy. »Ich kenne Sie nicht gut genug, um das zu beurteilen. Aber ich bin absolut überzeugt davon, dass Sie nicht dumm sind.«

Brian merkte, dass er mit den Zähnen knirschte.

»Sie geben mir einen Scheck über zweitausend«, sagte Carl, »und zehn Minuten, nachdem Sie mit dem Hund zur Tür raus sind, lassen Sie ihn sperren.«

»Ich habe nicht die Absicht, Ihnen einen Scheck auszuschreiben. « Aus einer Innentasche ihrer Jacke zog sie eine Rolle Hundertdollarscheine, die von einer Haarspange in Form eines blau-gelben Schmetterlings zusammengehalten wurden. »Ich zahle bar.«

Brian knirschte nicht mehr mit den Zähnen. Ihm war der Kiefer runtergefallen.

Carl ließ das Montiereisen sinken und sagte: »Mit Ihnen stimmt wirklich was nicht.«

Sie steckte die Haarspange ein, fächerte die Hundertdollarscheine auf und sagte: »Abgemacht?«

Er legte die Waffe auf den Tisch, nahm das Geld und zählte es mit der Bedächtigkeit eines Mannes, dessen Erinnerung an Mathematik durch den Tequila verblichen ist.

Erleichtert stellte Brian den Stuhl wieder hin.

Amy ging auf die Hündin zu und fischte aus einer anderen Tasche ein rotes Halsband und eine zusammengerollte Leine. Sie befestigte die Leine an dem Halsband und legte dem Hund das Halsband an. »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Sir.«

Während Carl die zweitausend ein zweites Mal nachzählte, ruckte Amy sanft an der Leine. Die Hündin erhob sich augenblicklich und tappte an ihrer Seite aus der Küche.

Mit dem kleinen Mädchen im Schlepptau folgte Janet Amy und Nickie in den Flur, und Brian ging hinter ihnen her und blickte zurück, weil er keineswegs ausschloss, dass Carl seine Wut wieder fand und zum Montiereisen griff.

Jimmy, dessen leise Wehklage sie bei ihrem Eintreffen gehört hatten, war jetzt verstummt. Er hatte sich vom Flur ins Wohnzimmer begeben und stand dort am Fenster wie ein Gefangener an den Gitterstäben seiner Zelle.

Mit dem Hund an der Leine ging Amy auf den kleinen Jungen zu. Sie blieb neben ihm stehen und sprach mit ihm.

Brian konnte nicht hören, was sie sagte.

Die Haustür war offen, wie er sie zurückgelassen hatte. Der Hund lief sicher und gelassen an ihrer Seite, als Amy kurz darauf zu ihm auf die Veranda trat.

Janet stand in der Tür, als sie sagte: »Sie waren … ganz erstaunlich. Ich danke Ihnen. Ich wollte nicht, dass die Kinder sehen … dass sie es noch einmal passieren sehen.«

Im gelben Schein der Verandalampe war ihr Gesicht fahl und das Weiß ihrer Augäpfel ließ einen an Gelbsucht denken. Sie sah älter aus als sie war. Und müde.

»Wissen Sie, er wird sich einen anderen Hund zulegen«, sagte Amy.

»Vielleicht kann ich das verhindern.«

»Vielleicht?«

»Ich kann es versuchen.«

»War das, was Sie gesagt haben, als Sie uns die Tür aufgemacht haben, Ihr Ernst?«

Janet wandte den Blick von Amy ab, um die Türschwelle zu ihren Füßen zu mustern, und zuckte mit den Achseln.

Amy rief es ihr ins Gedächtnis zurück: »Sie wünschten, Sie wären ich. Oder sonst jemand. Irgendjemand.«

Janet schüttelte den Kopf. Sie senkte die Stimme zu kaum mehr als einem Murmeln. »Was Sie da drinnen getan haben, das mit dem Geld, war noch das Wenigste. Wie Sie mit ihm umgegangen sind – das schaffe ich niemals. Ich kann es einfach nicht.«

»Dann tun Sie das, was Sie können.« Amy beugte sich zu Janet vor und sagte etwas, das Brian nicht hören konnte.

Während sie gebannt lauschte, hielt sich Janet die rechte Hand vor die gespaltene und geschwollene Lippe.

Als Amy ausgesprochen hatte, trat sie einen Schritt zurück, und Janet sah ihr noch einmal in die Augen. Die beiden starrten einander an, und obwohl Janet kein Wort sagte oder auch nur nickte, sagte Amy: »Gut. In Ordnung.«

Janet zog sich mit ihrer Tochter ins Haus zurück.

Nickie schien zu wissen, wohin es ging, denn jetzt straffte sie die Leine und führte die beiden von der Veranda zu ihrem Wagen.

Brian sagte: »Trägst du immer zweitausend Dollar mit dir rum?«

»Immer, seit ich vor drei Jahren nicht in der Lage gewesen wäre, einen Hund zu retten, wenn ich nicht genug Geld dabeigehabt hätte, um ihn zu kaufen. Dieser Erste hat mich dreihundertzweiundzwanzig gekostet.«

»Das heißt also, manchmal musst du einen Hund kaufen, um ihn zu retten.«

»Gott sei Dank nicht oft.«

Unaufgefordert sprang Nickie in den Kofferraum des Geländefahrzeugs.

»Braves Mädchen«, sagte Amy und erntete heftiges Schwanzwedeln.

»Was du da eben gemacht hast, war verrückt.«

»Es war doch nur Geld.«

»Ich meine, dass du dir von ihm dieses Eisen an die Kehle hast halten lassen.«

»Er hätte es nicht benutzt.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Ich kenne diese Sorte Mann. Im Grunde genommen ist er absolut harmlos.«

»Ich halte ihn nicht für harmlos.«

»Er verprügelt Frauen und Hunde.«

»Du bist eine Frau.«

»Nicht sein Typ. Glaub mir, mein Goldschatz, zur Not hättest du ihm im Nu den Hintern versohlt.«

»Es ist schwierig, einem Kerl den Hintern zu versohlen, nachdem er ein Montiereisen in deinem Schädel versenkt hat.«

Amy knallte die Heckklappe zu und sagte: »Deinem Schädel würde nichts passieren. Aber das Radeisen wäre hinterher verbogen.«

»Lass uns von hier verschwinden, bevor er findet, er hätte auf dreitausend bestehen sollen.«

Sie klappte ihr Handy auf und sagte: »Wir brechen noch nicht auf.«

»Was? Wieso das denn?«

Während sie drei Tasten drückte, sagte sie: »Der Spaß geht jetzt erst richtig los.«

»Dein Gesichtsausdruck gefällt mir nicht.«

»Und was für ein Ausdruck ist das?«

»Leichtsinn und Ausgelassenheit.«

»Ausgelassenheit steht mir, dann sehe ich richtig goldig aus. Findest du nicht, dass ich goldig aussehe?«

Bei der Notrufzentrale nahm jemand ab und Amy sagte: »Ich rufe von einem Handy aus an. Hier schlägt ein Mann seine Frau und seinen kleinen Jungen. Er ist betrunken.« Sie nannte die Adresse.

Mit an die Scheibe gepresster Schnauze schaute der Golden Retriever aus dem dunklen Laderaum des Geländefahrzeugs, und zwar mit der Neugier eines Aquariumbewohners, der, ohne mit der Wimper zu zucken, an die Wände seiner Welt stößt.

Amy nannte ihren Namen. »Er verprügelt sie nicht zum ersten Mal. Ich fürchte, diesmal wird er sie zum Krüppel schlagen oder umbringen.«

Die Brise frischte auf und die Eukalyptusbäume schüttelten ihre Zweige, als schwirrten geflügelte Schwärme darin herum.

Während er das Haus anstarrte, fühlte Brian das Chaos nahen. Er hatte schon viele harte Erfahrungen mit dem Chaos gemacht. Er war während eines Tornados geboren worden.

»Ich bin eine Freundin der Familie«, log Amy. »Beeilen Sie sich.«

Nachdem Amy das Telefonat beendet hatte, sagte Brian: »Ich dachte, du hättest ihm den Druck genommen.«

»Nein. Mittlerweile hat er erkannt, dass er mit dem Hund auch seine Ehre verkauft hat. Daran wird er Janet die Schuld geben. Komm, schnell.«

Sie lief auf das Haus zu, und Brian eilte an ihre Seite. »Sollten wir das nicht besser der Polizei überlassen?«

»Es kann sein, dass die nicht rechtzeitig hier sind.«

Auf dem vom Mond versilberten Gehweg erschauerten die unklar umrissenen Schatten von Blättern, als strebten tausend Käfer zitternd schützenden Ritzen entgegen.

»Aber in einer solchen Situation«, sagte Brian, »wissen wir doch gar nicht, was zu tun ist.«

»Was wir tun, ist das Richtige. Du hast das Gesicht des Jungen nicht gesehen. Sein linkes Auge ist geschwollen. Sein Vater hat ihm die Nase blutig geschlagen.«

Eine alte Wut regte sich in Brian. »Was willst du dem Mistkerl antun?«

Sie stieg die Stufen zur Veranda hinauf und antwortete: »Das liegt ganz bei ihm.«

Janet hatte die Haustür einen Spalt offen stehen lassen. Vom hinteren Ende des Hauses drangen Carls zornig erhobene Stimme, Hammerschläge, Splittergeräusche und der süße verzweifelte Gesang eines Kindes bis zu ihnen.

Im Kern jedes geordneten Systems, sei es nun eine Familie oder eine Fabrik, herrscht Chaos. Aber inmitten des Strudels jeder Art von Chaos verbirgt sich wiederum eine seltsame Ordnung, die nur darauf wartet, gefunden zu werden.

Amy stieß die Tür auf, und sie betraten erneut das Haus.

2

Salz- und Pfefferstreuer aus Keramik, jeweils Hundepaare – sitzende Airdales, komische Beagles, grinsende Golden Retriever, tänzelnde Pudel, Schäferhunde, Spaniel, Terrier, edle irische Wolfshunde – warteten in geordneten Reihen auf Einlegeböden hinter offenen Vitrinentüren. Andere standen unordentlich auf einer Arbeitsplatte in der Küche.

Zitternd, blass und mit Tränen auf den Wangen nahm Janet Brockman zwei Hirtenhunde von der Arbeitsfläche und trug sie zum Tisch.

Das Montiereisen wurde hoch in die Luft gehoben, senkte sich, während sie die Streuer auf den Tisch stellte, und verfehlte nur knapp ihre eilig zurückgezogenen Hände. Von der Stelle, an der das Werkzeug auftraf, sprühten erst Salz und Keramiksplitter, dann Pfeffer und scharfkantige Scherben.

Auf das zweifache Krachen von Eisen auf Holz folgte Carls Befehl: »Die nächsten zwei.«

Während sie das Geschehen aus dem dunklen Flur beobachtete, ahnte Amy Redwing, dass Janet diese Sammlung kostbar sein musste, das einzige Geordnete in ihrem ungeordneten Leben. In diesen kleinen Keramikhunden fand die Frau eine Art Hoffnung.

Carl war das anscheinend auch klar. Er hatte die Absicht, sowohl die Figürchen als auch den verbliebenen Lebensmut seiner Frau zu zerschmettern.

Das kleine Mädchen hatte neben dem Kühlschrank Zuflucht gesucht und drückte ein ramponiertes rosa Kaninchen an sich, bei dem es sich auch um ein Hundespielzeug handeln mochte. Seine Augen, die wie Edelsteine funkelten, schienen auf eine Landschaft in ihrem Inneren gerichtet.

Mit einer kleinen, aber klaren Stimme sang sie in einer Sprache, die Amy nicht erkannte. Die betörende Melodie klang keltisch.

Jimmy, der Junge, hatte offenbar einen anderen Zufluchtsort gefunden.

Da ihr bewusst war, dass ihr Mann ebenso gern ihre Finger zerschmettert hätte wie die Salz- und Pfefferstreuer, zuckte Janet bei dem Klang, mit dem das Eisen durch die Luft sauste, zurück. Sie ließ ein Pärchen Keramikdalmatiner auf den Tisch fallen.

Als die Waffe ihr rechtes Handgelenk streifte, stieß sie einen Schrei aus und wich zurück, lehnte sich geduckt an den Ofen und hielt sich die Arme vor die Brust.

Als das Werkzeug auf das Eichenholz krachte und sowohl Salz- als auch Pfefferstreuer verfehlte, packte Carl einen der Dalmatiner und warf ihn seiner Frau ins Gesicht. Das Figürchen prallte von ihrer Stirn ab, schlug gegen die Ofentür und fiel zersplittert auf den Fußboden.

Amy betrat die Küche. Brian drängte sich an ihr vorbei und sagte: »Lassen Sie sie in Ruhe, Carl.«

Der Kopf des Säufers drehte sich mit der Bedrohlichkeit eines Krokodils, und eine Grausamkeit wie aus uralter Zeit verlieh seinen Augen ihre Kälte.

Amy hatte das Gefühl, dass in Brockmans Körper mehr als nur der Mann selbst lebte, ganz so, als hätte er einem nächtlichen Besucher die Tür geöffnet und sein Herz zu einer Löwengrube gemacht.

»Ist das jetzt Ihre Frau?«, fragte Carl Brian. »Ist das Ihr Haus? Meine Theresa dort drüben – ist sie jetzt Ihre Tochter? «

Das liebliche Lied des Mädchens erklang weiterhin. Seine Stimme so klar wie Luft und so eigentümlich wie seine Augen, aber geheimnisvoll in ihrer Klarheit und sanft in ihrer Fremdartigkeit.

»Es ist Ihr Haus, Carl«, sagte Brian. »Alles hier gehört Ihnen. Weshalb also sollten Sie etwas davon zertrümmern?«

Carl wollte etwas sagen, doch dann seufzte er nur matt.

Die Flut abscheulicher Gefühle in ihm schien sich zurückzuziehen und ließ sein Gesicht so glatt zurück wie überspülten Sand.

Ohne die Wut, die er bisher an den Tag gelegt hatte, sagte er: »Sehen Sie … so, wie die Dinge liegen … ist Zertrümmern die beste Lösung.«

Brian ging einen Schritt auf den Tisch zu, der zwischen ihnen stand, und sagte: »So, wie die Dinge liegen? Helfen Sie mir zu verstehen, wie die Dinge liegen.«

Die Augen unter den schweren Lidern wirkten schläfrig, doch es konnte gut sein, dass in dem reptilienhaften Verstand dahinter immense Berechnung unermüdlich zugange war.

»Falsch«, sagte Carl. »Die Dinge liegen völlig falsch.«

»Welche Dinge?«

Seine Stimme klang merkwürdig stumpf in ihrer tiefen Melancholie. »Man wacht mitten in der Nacht auf, wenn es stockdunkel und still genug ist, um endlich mal nachzudenken, und dann kann man fühlen, wie falsch das alles ist und dass es sich auf keine Weise jemals in Ordnung bringen lässt. Auf keine Weise jemals.«

Theresas Stimme, so klar und silbrig wie die Musik des Dudelsacks einer irischen Band, bewirkte, dass sich Amys Nackenhaare sträubten, denn die Worte des Mädchens, was auch immer sie bedeuteten, vermittelten ein Gefühl von Sehnsucht und Verlust.

Brockman sah seine Tochter an. Seine plötzlichen Tränen hätten dem Mädchen oder dem Lied gelten können. Oder ihm selbst.

Vielleicht drückte sich in der Stimme des Kindes eine Vorahnung aus, aber es konnte auch sein, dass Amys Instinkte durch den Umgang mit so vielen Hunden geschärft waren. Plötzlich war sie sich sicher, dass Carls Zorn nicht nachgelassen hatte, sondern im Verborgenen zu einem gewalttätigen Ausbruch anschwoll.

Sie wusste, dass das Eisen ohne jede Vorwarnung ausholen und das Gesicht der gebrochenen Frau treffen würde, um sie in zwei Teile und für alle Zeiten zu zerschlagen.

Als sei Vorahnung etwas so Reales wie Lichtwellen, schien sie sich von Amy zu Brian fortzupflanzen. Während sie noch Luft holte, um zu schreien, setzte er sich bereits in Bewegung. Er hatte keine Zeit, den Tisch zu umrunden. Stattdessen kletterte er vom Fußboden über den Stuhl auf den Tisch.

Eine Träne fiel auf die Hand, die das Eisen hielt, und die Finger spannten sich um die Waffe.

Janets Augen wurden groß. Aber Carl hatte ihre Lebensgeister ertränkt. Sie stand einfach nur da, reglos, atemlos und wehrlos unter einer erdrückenden Verzweiflung.

Während Brian einer Konfrontation entgegenstieg, begriff Amy, dass der Stahlknüppel nicht zwangsläufig die Frau treffen musste, sondern ebenso gut nach dem Kind geschleudert werden konnte, und sie näherte sich Theresa.

Vom Tisch aus packte Brian die Waffe, als sie sich gerade zu einem Hieb auf Janet senkte, und stürzte sich auf Brockman. Beide gingen zu Boden und landeten in Glasscherben, Limonenscheiben und Tequilapfützen. Amy hatte die Haustür offen gelassen und vom anderen Ende des Hauses erscholl eine Stimme. »Polizei.« Sie waren ohne Sirenen gekommen.

»Hier hinten«, rief sie und zog Theresa an sich, während das Lied des Mädchens verklang und von einem Murmeln zu einem Flüstern in der Stille überging.

Janet stand so starr da, als könnte der Schlag noch kommen, aber Brian erhob sich mit dem Montiereisen in der Hand.

Geflochtene Ledergürtel quietschten, als zwei Polizisten, beide mit der Hand an der Pistole im Holster, die Küche betraten, kräftige Männer in höchster Alarmbereitschaft. Einer sagte zu Brian, er solle das Eisen aus der Hand legen, und Brian deponierte es auf dem Küchentisch.

Carl Brockman zog sich mühsam auf die Füße. In seine blutende linke Hand war eine Scherbe Flaschenglas gedrückt. Sein tränenverschmiertes Gesicht war jetzt aschfahl und sein Mund vor Selbstmitleid weich geworden.

»Hilf mir, Jan«, flehte er und streckte ihr seine blutige Hand hin. »Was soll ich denn jetzt tun? Hilf mir, Baby.«

Sie machte einen Schritt auf ihn zu, blieb aber gleich wieder stehen. Sie warf einen Blick auf Amy und sah dann Theresa an.

Mit dem Daumen hatte das Kind sein Lied in seinem Innern verkorkt und die Augen geschlossen. Sein Gesicht war die ganze Zeit über vollkommen ausdruckslos geblieben, als sei das kleine Mädchen taub für alle Androhungen von Gewalt und für das Krachen von Eisen auf Eichenholz.

Den einzigen Hinweis darauf, dass sie auch nur den geringsten Realitätsbezug besaß, war die Heftigkeit, mit der sie sich an Amys Hand klammerte.

»Er ist mein Ehemann«, sagte Janet zu den Polizisten. »Er hat mich geschlagen.« Sie hob eine Hand vor ihren Mund und ließ sie wieder sinken. »Mein Ehemann hat mich geschlagen.«

»O Jan, bitte, tu das nicht.«

»Er hat auch unseren kleinen Jungen geschlagen. Ihm die Nase blutig geschlagen. Unserem Jimmy.«

Einer der Polizeibeamten nahm das Eisen vom Tisch, lehnte es außer Carls Reichweite in eine Ecke und wies ihn an, sich auf einen der Küchenstühle zu setzen.

Es folgten Fragen und unzureichende Antworten und ganz allmählich stellte sich eine neue Form von Schrecken ein: die Erkenntnis eingebüßter Hoffnung und der bittere Preis nicht gehaltener Versprechen.

Nachdem Amy der Polizei ihre Geschichte erzählt hatte und während die anderen noch ihre Versionen wiedergaben, führte sie Theresa auf der Suche nach dem Jungen aus der Küche und durch den Flur. Er hätte sich überall im Haus aufhalten können, aber es zog sie zu der offenen Haustür.

Auf der Veranda roch es nach nachtblütigem Jasmin, der durch die weißen Latten eines Spaliers geflochten war. Vorher hatte sie diesen Duft nicht wahrgenommen.

Die Brise war abgeflaut. In der Stille standen die Eukalyptusbäume da wie Trauergäste.

Hinter dem dunklen Streifenwagen am Randstein schienen der Junge und der Hund mitten auf der mondbeschienenen Straße miteinander zu spielen.

Die Heckklappe des Geländewagens stand offen. Der Junge musste Nickie herausgelassen haben.

Auf den zweiten Blick erkannte Amy, dass Jimmy nicht mit dem Retriever spielte, sondern versuchte fortzulaufen. Der Hund schnitt ihm jedoch immer wieder den Weg ab und versuchte, ihn zum Haus zurückzutreiben.

Der Junge fiel auf den Bürgersteig und blieb da, wo er hingefallen war, auf der Seite liegen. Er zog die Beine zur Fötushaltung an.

Der Hund legte sich neben ihn, als hielte er Wache.

Amy setzte Theresa auf eine Stufe der Veranda und sagte: »Rühr dich nicht von der Stelle, Süße. In Ordnung? Bleib hier sitzen und rühr dich nicht.«

Das Mädchen antwortete nicht und war vielleicht auch gar nicht dazu in der Lage.

Durch eine Nacht, die so still war wie eine aufgegebene Kirche und statt nach Weihrauch nach Eukalyptus roch, eilte Amy auf die Straße.

Nickie beobachtete sie, während sie näher kam. Im Mondlicht wirkte das Gold ihres Fells wie Silber und das gesamte Licht schien ihr allein zugedacht, als ob alles andere nur durch ihren Widerschein erhellt würde.

Als Amy sich neben Jimmy kniete, hörte sie ihn weinen. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er wich nicht vor ihrer Berührung zurück.

Sie und die Hündin musterten einander über den bekümmerten Jungen hinweg.

Das Gesicht der Hündin wirkte edel und ihre Miene wies keine Spur von der Komik auf, die sonst so typisch für diese Rasse ist. Edel und feierlich.

Sämtliche Häuser bis auf eines lagen weiterhin im Dunkeln, und die Straße war von der Stille der Sterne erfüllt. Diese Ruhe wurde nur durch das leise Jammern des Jungen gestört, der verstummte, als Amy ihm über das Haar strich.

»Nickie«, flüsterte sie.

Die Hündin hob weder die Ohren noch legte sie den Kopf zur Seite oder reagierte in irgendeiner Form, sondern starrte sie nur unentwegt an.

Nach einer Weile ermunterte Amy den Jungen, sich aufzusetzen. »Leg die Arme um meinen Hals, Schätzchen.«

Jimmy war klein, und sie hob ihn vom Bürgersteig hoch und hielt ihn in ihren Armen. »Nie wieder, Schätzchen. Das ist jetzt alles vorbei.«

Der Hund lief vor ihnen her zum Wagen, rannte die letzten Meter und sprang durch die offene Heckklappe.

Als Amy den Jungen auf dem Rücksitz absetzte, sah Nickie vom Kofferraum aus zu.

»Nie wieder«, sagte Amy und drückte dem Jungen einen Kuss auf die Stirn. »Das verspreche ich dir, Schätzchen.«

Dieses Versprechen überraschte und erschreckte sie. Dieser Junge gehörte nicht ihr und ihre Lebenslinien würden sich wahrscheinlich nur an diesem einen Punkt kreuzen und für kurze Zeit parallel verlaufen. Für ein Kind von Fremden konnte sie nicht das tun, was sie für Hunde tun konnte, und manchmal konnte sie nicht einmal die Hunde retten.

Und doch hörte sie sich die Worte wiederholen: »Das verspreche ich dir.«

Sie schloss die Tür und erschauerte in der milden Septembernacht, als sie einen Moment lang hinter dem Geländefahrzeug stehen blieb und Theresa auf den Stufen der Veranda beobachtete.

Der Mond malte täuschend echtes Eis auf die betonierte Einfahrt und täuschend echten Raureif auf das Eukalyptuslaub.

Amy erinnerte sich an eine Winternacht mit Blut auf dem Schnee und wüst aufstiebende Möwen, die unter hektischem Geflatter von den Traufen einer hohen Brüstung wegflogen; ihre weißen Flügel hatten für einen Moment einen blendenden Glanz angenommen, als sie sich durch den schwenkenden Lichtstrahl des Leuchtturms himmelwärts aufschwangen wie eine Ehrengarde von Engeln, die eine sündenfreie Seele nach Hause begleiten.

3

Die Büros von Brian McCarthy und seinen Partnern lagen im Erdgeschoss eines bescheidenen zweistöckigen Gebäudes in Newport Beach. Im oberen Stockwerk wohnte er selbst.

Amy stellte sich auf den kleinen Parkplatz neben dem Haus. Sie ließ Janet, die beiden Kinder und Nickie, die Hündin, im Geländewagen zurück und begleitete Brian zu der Außentreppe, die zu seiner Wohnung führte.

Am oberen Ende der langen Treppe schimmerte eine Lampe, aber am unteren Ende war die Dunkelheit undurchdringlich.

Sie sagte: »Du riechst nach Tequila.«

»Ich glaube, ich habe ein Stück Limone im Schuh.«

»Auf den Tisch zu klettern, um dich auf ihn zu stürzen – das war mutig.«

»Damit wollte ich nur meiner Verabredung imponieren. «

»Ist dir gelungen.«

»Jetzt würde ich dich wirklich gern küssen«, sagte er.

»Mach ruhig, solange wir nicht so viel Glut erzeugen, dass wir wegen unseres Beitrags zur globalen Erwärmung Ärger kriegen.«

Er warf einen Blick auf den Wagen. »Alle sehen zu.«

»Nach Carl können sie vielleicht genau das gebrauchen. Zu sehen, wie Leute sich küssen.«

Er küsste sie. Und sie machte ihre Sache wirklich gut.

»Sogar der Hund sieht zu«, sagte er.

»Nickie fragt sich sicher, wie viel ich dann wohl für dich bezahlt habe, nachdem ich für sie zweitausend hingeblättert habe.«

»Du darfst mir jederzeit ein Halsband anlegen.«

»Belassen wir es für den Moment bei Küssen.« Sie küsste ihn noch einmal, bevor sie zum Auto zurückkehrte.

Er sah ihr nach, als sie fortfuhr, und ging dann nach oben. Seine Wohnung war geräumig, mit Parkett aus Santos Mahagoni und buttergelben Wänden.

Die minimalistisch moderne Einrichtung und die dezente japanische Kunst vermittelten weniger den Eindruck einer Junggesellenbude, sondern erinnerten eher an die Klause eines Mönchs. Er hatte nur die Außenmauern und die tragenden Wände stehen lassen, zur Unterteilung neue Zwischenwände eingezogen und diese Räume eingerichtet, bevor er Amy begegnet war. Jetzt wollte er kein Junggeselle und auch kein Mönch mehr sein.

Er zog seine Kleider aus, die nach Tequila rochen, und stellte sich unter die Dusche. Vielleicht würde das heiße Wasser ihn schläfrig machen.

Da er anschließend immer noch so munter war wie eine Eule, zog er Jeans und ein Hawaiihemd an. Um zwei Uhr sechsundfünfzig fühlte er sich wach genug, um den neuen Tag in Angriff zu nehmen.

Mit einem Becher frisch gebrühtem Kaffee setzte er sich an den Computer in seinem Arbeitszimmer. Er hatte Arbeit zu erledigen, bevor der Schlafmangel seine Konzentration von den Rändern her schmelzen ließ.

Zwei E-Mails erwarteten ihn. Der Absender war Schweinehirte.

Vanessa. Seit über fünf Monaten hatte sie sich nicht mehr bei ihm gemeldet. Er hatte geglaubt, er würde nie mehr etwas von ihr hören.

Eine Zeit lang starrte er den Bildschirm an. Es widerstrebte ihm, ihr erneut einen Platz in seinem Leben einzuräumen. Wenn er ihre Nachrichten nicht las, nie mehr antwortete, würde er sie vielleicht mit der Zeit loswerden.

Gemeinsam mit ihr würde aber auch Hope für alle Zeiten verschwinden. Hope würde verloren sein. Der Preis dafür, Vanessa aus seinem Leben auszusperren, war zu hoch.

Er öffnete die erste E-Mail.

Piggy wünscht sich einen Welpen. Hast du so was Blödes schon mal gehört? Wie kann ein Ferkel für einen Welpen sorgen, wenn der Welpe gescheiter ist? Mir sind schon Zimmerpflanzen begegnet, die klüger waren als Piggy.

Brian schloss die Augen. Zu spät. Er hatte sich ihr geöffnet, und jetzt war sie auch in den beleuchteten Räumen seines Innern wieder lebendig, nicht nur in den dunklen Winkeln der Erinnerung.

Wie geht es dir, Bry? Hast du schon Krebs? Du wirst nächste Woche erst vierunddreißig, aber ständig sterben Menschen jung an Krebs. Es besteht also berechtigte Hoffnung.

Nachdem er ihre Nachricht ausgedruckt hatte, speicherte er die E-Mail unter Vanessa ab.

Um zu vermeiden, dass der Kaffee aus dem Becher schwappte, hielt er ihn mit beiden Händen. Er schmeckte zwar, aber jetzt war Kaffee nicht mehr das, was er brauchte.

Aus dem Sideboard im Esszimmer holte er eine Flasche Cognac. Er nahm sie mit ins Arbeitszimmer und goss einen großzügigen Schuss Rémy Martin in seinen Kaffeebecher.

Er trank normalerweise kaum etwas. Den Cognac hielt er für Besucher bereit. Heute Nacht hatte sich ein unwillkommener Gast eingestellt, der nur im Geiste anwesend war.

Eine Zeit lang schlenderte er durch die Wohnung, trank den Kaffee und wartete darauf, dass der Cognac seiner Nervosität die Spitze nahm.

Amy hatte Recht: Carl Brockman war harmlos. Der Säufer stank zwar nach Tequila, aber Vanessa roch sogar aus der Ferne nach Schwefel.

Als Brian sich dazu in der Lage fühlte, kehrte er an seinen Computer zurück und öffnete die zweite E-Mail.

He, Bry, habe ganz vergessen, dir was Komisches zu berichten.

Ohne weiterzulesen drückte er auf die Taste DRUCKEN und legte die E-Mail dann unter Vanessa ab.

In der Wohnung wuchs die Stille. Kein Laut stieg vom Büro darunter oder aus den dunklen Tiefen der Straße auf.

Er schloss die Augen. Aber nur echte Blindheit würde ihn von der Verpflichtung entbinden, den Ausdruck zu lesen.

Im Juli hat das Ferkelchen den ganzen Tag lang Sandburgen auf dem kleinen Strand gebaut, den wir seit unserem Umzug haben, und sich dabei einen tierischen Sonnenbrand zugezogen. Es sah aus wie ein Backschinken und konnte tagelang nicht schlafen. Es hat die halbe Nacht geweint. Dann hat es sich zu schälen begonnen und sich blutig gekratzt. Man hätte den Geruch von gebratenem Speck erwartet, aber den gab’s nicht.

Er war ein Schwimmer auf der Oberfläche der Vergangenheit und hatte einen Abgrund aus Erinnerungen unter sich.

Jetzt ist Piggy wieder rosa und glatt, aber sie hat einen Leberfleck auf dem Hals, der sich zu verändern scheint. Vielleicht hat der Sonnenbrand ein Melanom hervorgerufen. Ich werd dich auf dem Laufenden halten.

Er legte diesen zweiten Ausdruck zu dem ersten. Später würde er beide noch einmal lesen und nach weiteren Anhaltspunkten suchen, die ihm mehr Aufschluss geben könnten als »der kleine Strand«.

In der Küche schüttete Brian den Inhalt des Bechers in den Ausguss. Kaffee brauchte und Cognac wollte er nicht mehr.

Schuldbewusstsein ist ein unermüdliches Pferd. Bedauern reift zu Reue heran und Reue ist ein ausdauernder Reiter.

Er öffnete den Kühlschrank und schloss ihn gleich darauf wieder. An Essen war ebenso wenig zu denken wie an Schlaf.

Die Vorstellung, ins Arbeitszimmer zurückzukehren und an einem seiner derzeitigen Projekte für Häuser nach Kundenwünschen zu arbeiten, reizte ihn kein bisschen. Architektur mochte zwar erstarrte Musik sein, wie Goethe gesagt hatte, aber im Moment war er taub dafür.

Aus einer Küchenschublade zog er einen großen Block Zeichenpapier und einen Satz Zeichenstifte. Diese Dinge hielt er in jedem Raum der Wohnung bereit.

Er setzte sich an den Esstisch und begann ein Konzept für das Gebäude zu skizzieren, von dem Amy hoffte, er würde es für sie entwerfen: eine Unterkunft für Hunde, einen sicheren Zufluchtsort, an dem niemals eine Hand gegen sie erhoben würde. An dem jede gewünschte Zuneigung zu haben wäre.

Sie besaß ein Stück Land, auf dessen Hügeln Eichen ihre Kronen ausbreiteten und am frühen Morgen lange Schatten auf sanft abfallende Wiesen warfen, die sich zurückzogen, wenn der Tag voranschritt. Sie hatte eine Vision, was sie daraus machen wollte, und diese Vision inspirierte ihn.

Dennoch stellte Brian nach einer Weile fest, dass er vom Entwurf zum Porträt übergegangen war, von einer Zufluchtsstätte für Hunde zum Tier selbst. Er war für Porträtdarstellungen ziemlich talentiert, aber noch nie zuvor hatte er einen Hund gezeichnet.

Während seine Zeichenstifte flüsternd über das Papier glitten, beschlich ihn ein unheimliches Gefühl und etwas Seltsames passierte.

4

Nachdem sie Brian vor seinem Haus abgesetzt hatte, rief Amy Redwing ihre Nachbarin Lottie Augustine an und erklärte ihr, sie würde drei Gerettete zu ihr bringen, die keine Hunde waren und ein Dach über dem Kopf brauchten.

Lottie diente in dem Heer von Freiwilligen, das für Golden Heart arbeitete, die Einrichtung, die Amy gegründet hatte. Sie war schon früher mehrfach nach Mitternacht aufgestanden, um in einem Notfall einzuspringen, und sie hatte das immer gut gelaunt getan.

Lottie, die seit eineinhalb Jahrzehnten Witwe war und ihren Beruf als Krankenschwester bis zur Pensionierung ausgeübt hatte, fand ebenso viel Sinn darin, sich um die Hunde zu kümmern, wie sie früher Sinn darin gesehen hatte, eine gute Ehefrau und fürsorgliche Krankenschwester zu sein.

Die Fahrt von Brians Wohnung zu Lotties Haus verlief belastend stumm: die kleine Theresa schlief auf dem Rücksitz, ihr Bruder saß in sich zusammengesunken neben ihr und brütete dumpf vor sich hin, und Janet auf dem Beifahrersitz wirkte verloren und musterte die menschenleeren Straßen, als handele es sich nicht nur um eine Gegend, die sie nicht kannte, sondern um ein fremdes Land.

In Gesellschaft anderer Menschen konnte Amy Stille nur sehr begrenzt aushalten. Wenn sich das beiderseitige Schweigen in die Länge zog, hatte sie manchmal das Gefühl, die andere Person könnte ihr eine fürchterliche Frage stellen, deren Beantwortung sie, sobald sie die Worte aussprach, mit ebensolcher Gewissheit zerschmettern würde wie ein kraftvoll geworfener Stein eine Glasscheibe.

Also redete sie über dieses und jenes, auch über Antoine, den Hund, der den blinden Marco auf den fernen Philippinen beim Autofahren unterstützte. Doch weder eines der beiden bedrückten Kinder noch ihre Mutter nahmen den Köder an.

Als sie an einer roten Ampel hielten, bot Janet Amy die zweitausend Dollar an, die sie Carl gegeben hatte.

»Sie gehören Ihnen«, sagte Amy.

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Ich habe den Hund gekauft.«

»Carl ist jetzt im Gefängnis.«

»Er wird bald gegen Kaution wieder draußen sein.«

»Aber er wird den Hund nicht wollen.«

»Weil ich ihn gekauft habe.«

»Mich wird er wollen – nach dem, was ich getan habe.«

»Er wird Sie nicht finden. Das verspreche ich Ihnen.«

»Wir können uns jetzt keinen Hund leisten.«

»Kein Problem. Ich habe Ihnen den Hund ja abgekauft.«

»Ich würde Ihnen Nickie ohnehin geben.«

»Das Geschäft ist gemacht.«

»Das ist eine Menge Geld«, sagte Janet.

»So viel nun auch wieder nicht. Wenn ich mich einmal mit jemandem auf einen Handel geeinigt habe, dann bleibt es dabei.«

Die Frau schloss ihre linke Hand um das Bargeld und die rechte Hand um die linke, legte ihre Hände in den Schoß und senkte den Kopf.

Die Ampel wurde grün, und als Amy über die Kreuzung fuhr, sagte Janet leise: »Danke.«

Amy dachte an den Hund im Kofferraum und sagte: »Sie können mir glauben, Herzchen, ich habe das bessere Geschäft gemacht.«

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass der Hund über den Rücksitz hinweg nach vorn schaute. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel und dann sah Amy wieder auf die Straße vor sich.

»Wie lange haben Sie Nickie gehabt?«, fragte Amy.

»Etwas mehr als vier Monate.«

»Wie sind Sie zu ihr gekommen?«

»Das hat Carl mir nicht gesagt. Er brachte sie einfach eines Tages mit nach Hause.«

Sie fuhren auf der Schnellstraße, die an der Küste entlangführt, nach Süden und hatten Gestrüpp und Strandhafer zu ihrer Rechten. Hinter dem Gras lag der Strand. Das Meer.

»Wie alt ist sie?«

»Carl hat gesagt, vielleicht zwei Jahre.«

»Dann hatte sie ihren Namen also schon, als sie zu Ihnen kam.«

»Nein. Er kannte ihren Namen nicht.«

Das Wasser war schwarz, der Himmel war schwarz und die Pinselstriche des Malermonds wandten sich, obwohl er schon im Untergehen begriffen war, den Wellenkämmen zu.

»Wer hat ihr dann den Namen gegeben?«

Janets Antwort überraschte Amy: »Reesa. Theresa.«

Das Mädchen hatte an diesem Abend kein Wort gesagt, nur mit dieser hohen reinen Stimme in einer Sprache gesungen, die Keltisch hätte sein können. Im übrigen hatte sie so unbeteiligt gewirkt, wie man es bei einer milden Form von Autismus erwartet hätte.

»Warum Nickie?«

»Reesa hat gesagt, das sei schon immer ihr Name gewesen. «

»Schon immer.«

»Ja.«

»Aus irgendeinem Grund … Ich hätte nicht gedacht, dass Theresa viel redet.«

»Das tut sie auch nicht. Manchmal sagt sie wochenlang nichts und dann auch nur ein paar Worte.«

Im Spiegel der stetige Blick des Hundes. Im Meer der untergehende Mond. Am Himmel ein unermesslich weites ausgeklügeltes Räderwerk aus Sternen.

Und in ihrem Herzen regte sich ein Gefühl immenser Verwunderung, dem sie nur widerstrebend nachgab, denn es konnte nicht wahr sein, jedenfalls nicht in irgendeinem bedeutsamen Sinne, dass ihre Nickie zu ihr zurückgekehrt war.

5

Moongirl macht nur in vollkommener Dunkelheit Liebe. Sie ist der festen Überzeugung, dass ihr

Leben durch Leidenschaft bei Licht, als sie noch jünger war, für alle Zeiten an Wert verloren hat.

Demzufolge lässt der schwächste Lichtschimmer um eine heruntergezogene Jalousie herum ihr Verlangen verglühen.

Ein einziges Fädchen Sonnenschein in den Falten zugezogener Draperien bewirkt, dass sich ihre Lust in Sekundenschnelle auflöst.